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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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29.11.2011
 

Gemeinsame Anstrengung gefordert
Ratsvorsitzender Zehetmair besorgt um deutsche Sprache

Der Rat für deutsche Rechtschreibung kam jüngst zu seiner zweiten Sitzung der neuen Amtsperiode zusammen und hat sich im Rahmen seines Beobachtungsauftrages über den aktuellen Zustand der deutschen Rechtschreibung ausgetauscht. Dabei wurde deutlich, dass der Sprache und insbesondere ihrer Rechtschreibung hohe Bedeutung beigemessen, aber im Umgang mit ihr nachlässig verfahren wird.

In dieser Haltung ist mit eine Ursache dafür zu sehen, dass ungefähr zwanzig Prozent eines Jahrgangs der 15-Jährigen als Analphabeten gelten müssen; ein Zustand, der nicht hingenommen werden darf. Erforderlich ist es daher, dass sich die Sicht auf die Rechtschreibung ändern muss: „Rechtschreibung ist kein Gegenstand, der in Diktaten erlernt wird, sondern gemeinsamer Anstrengung bedarf“, so der Vorsitzende Hans Zehetmair. Rechtschreibung muss eine stärkere Rolle in Schule und Lehrerausbildung einnehmen.

Der Rat weiß um die Schwierigkeiten, die bereits in der Vermittlung von Rechtschreibung liegen: Didaktisch an die jeweiligen Jahrgangsstufen angepasste Konzepte sind rar, oftmals wird der betreffende Sachverhalt eins zu eins aus dem amtlichen Regelwerk in die Schulbücher kopiert. Das ist nicht im Sinne der Ersteller des amtlichen Regelwerks: Das amtliche Regelwerk ist von seiner Anlage her mit einem Gesetzestext vergleichbar, der für die einzelnen Benutzergruppen adäquat aufbereitet werden muss.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung unterstützt Bemühungen, die sich für einen bewussten Umgang mit der deutschen Rechtschreibung einsetzen. Er wird die weitere Entwicklung kritisch begleiten und die Diskussion zu befördern versuchen.

gez. Dr. Kerstin Güthert


Quelle: Rat für deutsche Rechtschreibung
Link: http://rechtschreibrat.ids-mannheim.de/download/mitteilung1111.pdf


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Kommentare zu »Gemeinsame Anstrengung gefordert«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.11.2011 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8736

Es ist lächerlich, daß die Reformer, nachdem sie die Schulen mit mindestens drei Rechtschreibreformen innerhalb von zehn Jahren belästigt haben, nun über die Versäumnisse des Rechtschreibunterrichts klagen.

Welchen Anteil die Reformen an dem heutigen Zustand haben, das könnte der Rat ja einmal untersuchen. Aber genau diese Frage ist natürlich tabu. Lieber schiebt man den Lehrern die Schuld zu.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.11.2011 um 16.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8737

Ich habe inzwischen beim Rechtschreibrat angefragt, worauf die Angabe von 20 Prozent Analphabeten beruht.
Wir haben schon früher gesehen, daß einschlägig interessierte Verbände (z. B. der Volkshochschulverband) die Zahl der Behandlungsbedürftigen gern in die Höhe treiben, der Grund ist ja klar genug.
Hinzu kommt, daß man den sehr dehnbaren Begriff der "funktionalen Analphabeten" abtrennen muß. Damit sind Menschen gemeint, die nicht viel und nicht gern und nicht ganz mühelos lesen. Und man muß auch bedenken, daß die Prosa unserer Zeitungen und unserer Rechtschreibräte nicht danach angetan ist, von Jugendlichen verschlungen zu werden.
Schließlich kann man auch die ausländischen Schüler nicht einfach über denselben Kamm scheren, denn die Probleme mit dieser Gruppe haben eigentlich gar nichts mit der Rechtschreibdidaktik zu tun.
Ich glaube, meine Kinder haben während ihrer gesamten Schulzeit noch nie einen echten Analphabeten kennengelernt.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 29.11.2011 um 18.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8738

Die Formulierung "Erforderlich ist es daher, dass sich die Sicht auf die Rechtschreibung ändern muss" zeugt nicht gerade von Sprachgefühl; das ist doch doppelt gemoppelt, um das mindeste zu sagen.

Jugendliche machen auch in Bereichen Fehler, die durch die Reform nicht berührt wurden; es kann also nicht nur an der Reform liegen. Etliche Schüler sind nicht in der Lage, von der Tafel fehlerfrei abzuschreiben. Sie bemerken es nicht, daß der Text auf der Tafel anders aussieht als der im Heft. Es fehlt jeder Sinn dafür, welche Vorteile eine geglückte Rechtschreibung bietet.
Und bei Facebook usw. kräht sowieso kein Hahn nach orthographischer Richtigkeit.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2011 um 09.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8739

Die Schüler dürften durch die Reform in der Tat nur unwesentlich beeinflußt worden sein, etwas anderes wird ja auch nicht behauptet. Hier geht es um die Lehrer. Nachdem sie sich zum korrekten Bewerten der Rechtschreibleistungen zeitweise fünf verschiedene Dudenausgaben auf den Schreibtisch stellen mußten (hätten stellen müssen), sind sie eben schwer frustriert, wie sie mir immer wieder berichteten, und ließen schließlich Gott einen guten Mann sein. Das bayerische Kultusministerium frohlockte ja zuerst darüber, daß im Gefolge der Reform der Rechtschreibunterricht intensiviert worden sei wie nie zuvor. Und das sind nun die Ergebnisse! Aber statt in sich zu gehen, schiebt der Hauptverantwortliche Zehetmair die Schuld auf seine ehemaligen Untergebenen, wie gewohnt. Ist das christlich?

Über das komische Deutsch aus Mannheim darf man sich nicht wundern, das ist Frau Gütherts Idiolekt, der immer dann hervorbricht, wenn sie glaubt, sich irgendwie amtlich ausdrücken zu müssen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2011 um 12.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8740

Dankwart Guratzsch rechnet mit Zehetmair ab – siehe hier.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.11.2011 um 12.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8741

Wenn die "Ersteller des amtlichen Regelwerks" wirklich als Gesetzgeber qualifiziert wären, wüßten sie, daß ein Gesetz am wirkungsvollsten durch wortwörtliche Anwendung auf Tauglichkeit und Fehler getestet wird. Aus Sicht des Braven Soldaten Josef Schwejk ist das sogar die beste Widerstandsmethode ("amtliches Rauchverbot in 30 m Abstand vom Sprengstofflager").


Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 30.11.2011 um 14.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8744

Das amtliche Regelwerk ist also für die eigentliche Zielgruppe ungeeignet, weshalb sie für diese „adäquat aufbereitet werden muss“. Wo sind sie denn nun, die Volketymologien und anderen angeblich das Schreiben vereinfachenden Anpassungen an die Schreibanfänger?

Zehetmairs Lehrerschelte („oftmals wird der betreffende Sachverhalt eins zu eins aus dem amtlichen Regelwerk in die Schulbücher kopiert“) beschreibt eigentlich eine logische Vorgehensweise: Wenn teils ideologisch verbohrte, teils schlicht desinteressierte Kultusbehörden ein Regelwerk verordnen, das nicht nur gegen eine gewachsene Konvention verstößt (folglich unwissenschaftlich ist), sondern Schulen nötigt, inkonsistente und sinnentstellende Schreibweisen zu predigen, dann werden doch gerade qualifizierte und engagierte Lehrer sich auf das offizielle Regelwerk zurückziehen. Oder sollte Herr Zehetmair etwa erwarten, daß auch Lehrer glauben und behaupten: „Nach kurzem Vokal gibt es ein Doppel-s, nach langem ein scharfes s“?

Die zahlreichen Schwächen des Regelwerks machen natürlich nur einen Teil der Rechtschreibmisere aus, es hat aber einen schon damals sichtbaren Trend massiv gefördert. Wer sich die Korrekturvorschriften an Schulen anschaut, der sieht, daß Rechtschreibfehler – und übrigens auch andere Sprachfehler – vorsätzlich bagatellisiert werden.

Der Begriff der "funktionalen Analphabeten" schließlich ist sicherlich dehnbar, was aber aus meiner Sicht auch sinnvoll ist: M. E. gibt es funktionalen Analphabeten auf niedrigem Niveau wie auf hohem Niveau: Während der eine, pointiert formuliert, kaum in der Lage ist, etwa ein Straßenschild zu entziffern, geschweige denn eine Schlagzeile der Boulevardpresse, ist der andere unfähig, z. B. „wildlebende“ von „wild lebenden“ Tieren zu unterscheiden oder „fleischfressende“ von „Fleisch fressenden“. Zu letzterer Kategorie gehören auch Juristen.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 30.11.2011 um 16.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8745

Daß Rechtschreibfehler in der Schule vorsätzlich bagatellisiert werden, stimmt so nicht. Vielmehr werden orthographische Fallen aufgestellt, in die die Schüler mit einiger Zwangsläufigkeit tappen.
In der Grundschule kommt nach der dusseligen unkontrollierten und unkorrigierten Drauflosschreibphase in der 3. Klasse das böse Erwachen; am Gymnasium sollen Rechtschreibfehler in der Mittelstufe in allen Fächern außer Deutsch nicht in die Bewertung einfließen, in der Oberstufe aber schon. Ein bis drei Notenpunkte (eine Drittel- bis eine ganze Note) sind abzuziehen.
Rechtschreibschwache Schüler sind so zweimal im Schulleben von heute auf morgen deutlich schlechter als gewohnt, ohne daß sich ihre Leistung geändert hätte. Daß sie auf diese Weise die Orthographie als ärgerliche Gängelung empfinden, die ihrem Schulerfolg im Weg steht, erscheint verständlich.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2011 um 17.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8747

Übrigens werden die Schulbücher von den Kultusministerien genehmigt ...


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 01.12.2011 um 19.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8748

Wenn das sog. amtliche Regelwerk ein Gesetzestext wäre, d. h. von entsprechenden Fachleuten formuliert, wäre es zumindest widerspruchsfrei. Frau Güthert und der Rest des Rates werden allerdings diese Tatsache niemals eingestehen.

Nebenbei: Für mich ist es erstaunlich, daß der Rat überhaupt nochmal Mucks sagt und in der Presse Widerhall findet.


Kommentar von VBE Baden-Württemberg, 30. November 2011, verfaßt am 02.12.2011 um 17.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8750

Rechtschreibung ist so wichtig, wie die Gesellschaft es möchte
VBE weist Kritik an der Lehrerschaft zurück

Stuttgart, 30.11.2011 - Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg weist die Kritik des Rats für deutsche Rechtschreibung (Mannheim) an den Lehrern in aller Deutlichkeit zurück. Korrektes Schreiben ist ordentlicher Bestand­teil aller Bildungspläne, wird aber in der Realität stets nur so viel Gewicht haben, wie die Gesellschaft der Rechtschreibung de facto auch einräumt.

In den 70er-Jahren wurde auch in Folge der Thesen des englischen Soziologen Basil Bernstein zu den schichtspezifischen Ebenen der Sprache ("elaborierter Code" der Ober- und Mittelschicht und "restringierter Code" der Unterschicht) der Wert von Rechtschreibung an sich immer mehr infrage gestellt. Das Ge­wicht, das in den Schulen auf "korrekte" Sprache und orthographisch richtiges Schreiben gelegt worden war, wurde hinterfragt. Nicht auf das "Vehikel" Schrift komme es an, sondern ausschließlich der Inhalt sei von Bedeutung, hieß es. Das "Mündliche" bekam gegenüber dem "Schriftlichen" ein besonders Gewicht.

In den "Hessischen Rahmenrichtlinien" von 1972 fanden diese Gedanken Nie­derschlag und provozierten damals – auch im deutschen Blätterwald – heftige Diskussionen. Man machte man sich verstärkt Gedanken darüber, ob richtiges Schreiben durch das häufige Diktieren von Texten, wie es in der Grundschule üblich war ("das wöchentliche Diktat"), wirklich "erlernt" werden könne.

Die Rechtschreibreform zur Jahrhundertwende (1998) ließ die Diskussion über den Wert richtigen Schreibens wieder aufflammen. Auch da ging es in emotio­nal geführten Debatten darum, ob mit einer veränderten Rechtschreibung der Untergang des Abendlandes drohe. "Lehrer halten sich an die Vorgaben der Bildungspläne", weist VBE-Chef Gerhard Brand, die Kritik des Rechtschreib­rates an die Adresse der Lehrerschaft zurück. Wenn der Rat etwas verändern wolle, müsse er bei den Lehrplänen ansetzen. Außerdem sei in der Gesellschaft noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, damit richtiges Schreiben nicht nur in der Schule wieder als wertvoll angesehen werde. Zurzeit sei die Rechtschrei­bung – insbesondere bei Kurznachrichten (SMS), in Chaträumen und Online-Foren – nicht einmal zweitrangig, sondern völlige Nebensache. Erst bei Bewer­bungsschreiben greife man dann sicherheitshalber zum Duden.

http://bildungsklick.de/pm/81474/


Kommentar dazu von Theodeor Ickler (a.a.O.):

Nach langer Zeit meldet sich der Rat für deutsche Rechtschreibung wieder einmal mit einer Pressemitteilung. Er beklagt die schlechten Rechtschreibkenntnisse der Schüler und weiß auch, wer daran schuld ist: Die Lehrer sind es. Kein Wort über die Verwirrung, die durch drei größere und mehrere kleine Rechtschreibreformen innerhalb von zehn Jahren hervorgerufen wurde. Der Ratsvorsitzende Zehetmair, als Kultusminister selbst maßgebend an der Einführung und gnadenlosen Durchsetzung der seither so oft geänderten Reformschreibung beteiligt, schiebt nach altbewährter Weise den Untergebenen die Verantwortung für das Scheitern des ganzen Unternehmens zu. Hat er vergessen, was er einst ankündigte? Das korrekte Schreiben sollte doch erleichtert werden. Lehrer, die das bezweifelten und sich zu einem reformkritschen Verein zusammenschlossen, wurden von Zehetmairs Ministerium beschimpft und bedroht. Und dieser Mann, der heute vor dem Trümmerhaufen namens Rechtschreibreform steht, hat nichts Besseres zu tun, als wiederum den geplagten Lehrern die Schuld an seinem Versagen in die Schuhe zu schieben.

Übrigens ging es - entgegen der Meinung des VBE - nie "in emotio­nal geführten Debatten darum, ob mit einer veränderten Rechtschreibung der Untergang des Abendlandes drohe." Vielmehr haben die Kritiker, zu denen ich selbst gehöre, stets nur auf die unglaubliche Fehlerhaftigkeit der Reform hingewiesen und genau die Folgen vorhergesagt, die nun eingetreten sind.


Kommentar von detektor.fm, 30. November 2011, verfaßt am 02.12.2011 um 18.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8751

Interview mit Jakob Ossner

Analphabetismus: Jeder fünfte 15-Jährige hat Probleme beim Lesen und Schreiben

Der Rat für deutsche Rechtschreibung warnt vor einer hohen Analphabetenrate in Deutschland. Rund jeder fünfte Jugendliche im Alter von fünfzehn Jahren sei davon betroffen. Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung?

[...]

Wie ist die hohe Zahl der Analphabeten in Deutschland zu erklären? Wann gilt jemand als Analphabet - und welche Ausprägungen gibt es? Darüber haben wir mit Jakob Ossner gesprochen. Er ist Professor für Sprachdidaktik und Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung.

(MP3-Datei unter http://detektor.fm)

(Zitate von Ossner in dem Interview:
"Diese 20 % ist – würde ich sagen – eine sehr zugespitzte Zahl des Vorsitzenden, um vielleicht auch das Problem in die Öffentlichkeit zu bringen. [...] Ob man jetzt dann gleich sehr zugespitzt von Analphabetismus sprechen kann, ist vielleicht eine andere Frage, aber diese Zahl ist alarmierend."
"Das Regelwerk und die Rechtschreibreform ist ohne Zweifel ein Problem; das muß man auch klar sagen. Die Rechtschreibreform hat zu einer ziemlichen Verunsicherung beigetragen, und man braucht auch jetzt [einen] längeren Atem, bis sich die Dinge wieder gelegt und beruhigt haben. Am Regelwerk – also jetzt nicht an dem, was zum Schluß herauskommt, sondern an den Formulierungen des Regelwerkes – muß man sicherlich arbeiten.")


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 03.12.2011 um 00.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8753

Das ist ja hochinteressant, jetzt erklärt ein Experte des Rechtschreibrates, man war in ca. 14 Jahren Reform nicht in der Lage, sie so zu formulieren, daß man sie auch verstehen kann!? Kann das ernst gemeint sein?
Angeblich sitzt doch dort die Creme de la Creme aus Didaktik, Linguistik und Journalistik. Wieso können diese Leute nicht verständlich formulieren?
Entweder sind sie allesamt unfähig oder es geht einfach nicht. Vermutlich ist beides, jedenfalls aber letzeres der Fall; verwunderlich nur, daß Hr. Zehetmair vor noch gar nicht so langer Zeit die Umsetzung der Reform in Deutschland als unproblematisch befand …


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2011 um 08.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8755

Die Alphabetisierungswirtschaft hat schon 1998 so argumentiert:

"Liebe Leserinnen und Leser,
die Rechtschreibreform hat die öffentliche Diskussion der vergangenen Monate bestimmt wie kaum ein anderes Thema. Ihr ist es zu verdanken, dass die Orthografie (wieder?) ins Bewusstsein der Menschen gerufen wurde. Die Debatte nach dem Sinn und Unsinn einer möglichen Reform wurde jedoch emotional und wenig sachlich geführt. “Alle reden mit, kaum jemand weiß, wovon er redet”, so Dieter E. Zimmer in einem Dossier der ZEIT (Nr. 47, 14.11.97, S. 17 ff.). Die einzelnen Änderungen durch die Reform stellte Klaus Heller bereits im Alfa-Rundbrief 28/1995 dar. Über den Streit um die vermeintlich richtige Form der Rechtschreibung geriet ihre Aneignung in den Hintergrund. Diesen Fehler wollen wir nicht begehen. Denn unabhängig davon, ob die Reform nun Vereinfachungen bringt oder nicht, ob sie vom Volk gewollt wird oder nicht – das Hauptaugenmerk muss auf den geeigneten Möglichkeiten des Erwerbs der Orthografie liegen."

("Editorial" zu ALFA-Forum 37)

So ähnlich hat 1996 ja auch Eisenberg argumentiert: Die Reform taugt zwar nichts, aber jetzt kommt es erst einmal darauf, sie den Lehrern möglichst schmerzlos zu vermitteln.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.12.2011 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8760

Der VBE wehrt sich zwar mit Recht gegen Zehetmairs Vorwürfe, hat aber selbst ein Problem mit der Glaubwürdigkeit. Er kann nämlich nicht einmal in Gedanken erwägen, ob vielleicht die Rechtschreibreform auch einen Beitrag zur Rechtschreibverdrossenheit der Lehrer geleistet hat. Besonders durch Ludwig Eckinger ist der VBE immer für die Reform eingetreten und mit Zehetmair durch dick und dünn gegangen.

Zur Erinnerung:

VBE-Pressedienst Nr. 50, Berlin, 13. Dezember 2001:

Eckinger: Mehr Leselust statt Rechtschreibdrill
»Die deutschen PISA-Ergebnisse stehen in keinem Zusammenhang mit der Rechtschreibreform«, betont der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Ludwig Eckinger. Es sei eine gespenstische Debatte, über die reformierte Rechtschreibung einen Bildungsverfall ausmachen zu wollen.
Eckinger, der Mitglied des Beirats zur Begleitung der Rechtschreibreform ist, meint: »Die Erfahrungen mit der Rechtschreibreform sind vor allem in den Grundschulen überwiegend positiv. Es schadet dem Sprachverständnis in keiner Weise, wenn Vereinfachungen gelehrt werden.« Sprache müsse als Tor zur Welt jedem Kind so weit wie möglich geöffnet werden, so der VBE-Bundesvorsitzende. In diesem Sinne habe Rechtschreibung die Funktion des Aufschließens und nicht des Verrammelns. »Der Beunruhigung über den hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit nur elementaren Lesekompetenzen und dem geringen Interesse am Lesen darf nicht mehr Rechtschreib- und Lesedrill im Unterricht folgen«, warnt Ludwig Eckinger. »Die Wörter richtig lesen und schreiben zu können, wird als Fähigkeit nur Bestand haben, wenn dies gleichzeitig mit der Lust am Lesen verbunden wird. Gerade der Deutschunterricht muss deshalb mit der Vermittlung des Handwerklichen in stärkerem Maße Lust und Phantasie beflügeln«. Lesen sei mehr als nur Kulturtechnik, es sei das Vergnügen des Verstandes und die Entdeckung des Herzens. »Wir gingen aber fehl, die Probleme dem Computer anzulasten«, sagt Eckinger. »Der Blick gerade nach Finnland belehrt uns eines Besseren. Buch und Computer gehören heute zusammen.«
»Den Migrantenkindern muss viel konsequenter der Zugang zur deutschen Sprache geschaffen werden«, fordert Bundesvorsitzender Ludwig Eckinger. »Vorschulische Sprachkurse, die auch gemeinsam mit Müttern besucht werden können, und verstärkter Fördersprachunterricht, zum Beispiel in internationalen Klassen in der Grundschule, muss flächendeckend Selbstverständlichkeit werden.« Diese Angebote sollten insbesondere die vielsprachliche kulturelle Situation der Kinder pädagogisch positiv nutzen und nicht als Benachteiligung vermitteln. »Insgesamt muss klar sein, dass wir aus dem PISA-Tief nur langfristig herauskommen, wenn wir die Primarstufe als entscheidende Phase unseres gesamten Bildungssystems aufwerten und dementsprechend stärken.«


Und Ende Juli 2006:

„Berlin - Ein Jahr nach Einführung der abgeänderten Rechtschreibreform an den Schulen zum 1. August 2006 zeigt sich der Verband Bildung und Erziehung (VBE) sehr zufrieden.

«Die Umsetzung der Reform verläuft ohne Probleme. Wir haben sehr positive Rückmeldungen aus den Schulen», sagte VBE-Vorsitzender Ludwig Eckinger, der als offizieller Vertreter der deutschen Lehrerorganisationen Mitglied des Rechtschreibrates ist. Am 1. August tritt die Rechtschreibform endgültig in Kraft: Dann läuft in den Schulen die einjährige Übergangsfrist aus, in der veraltete Schreibweisen nicht als Fehler gewertet wurden.
Die Hoffnungen auf eine Beruhigung der Konflikte und auf Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung hätten sich bestätigt. Eckinger: «Seit der Einführung der deutschen Rechtschreibung in der Fassung von 2006 ist in den Schulen aller Bundesländer die Situation wieder vergleichbar. Die Verunsicherung von Schülern, Eltern und Lehrern gehört der Vergangenheit an.» Im übrigen sei es auch eine große Unterstützung, dass sich die Medien bis auf wenige Ausnahmen der Reform angeschlossen hätten. Die Arbeit des Rechtschreibrates werde sich nun auf noch offene Themen wie die Schreibung von Fremdwörtern sowie auf die Sprachbeobachtung konzentrieren.“



Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.12.2011 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8761

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.12.2011 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8762

Die Zahlenangaben über den Analphabetismus dürften von der Hamburger Leo-Studie stammen. Diese untersucht nicht, wie gut die „Analphabeten“ tatsächlich im Leben und am Arbeitsplatz zurechtkommen. Sie behauptet einfach: „Betroffene Personen sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben.“
Offenbar eine Leerformel. In den Begriff der "Angemessenheit" kann man alles Beliebigen hineinstecken. Die UNESCO treibt es noch weiter, um möglichst hohe Zahlen von Behandlungsbedürftigen herauszubekommen. Das ist vergleichbar dem übersteigerten Gesundheitsbegriff der WHO ("ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen").

„Bei der Betrachtung der Alpha-Levels im Einzelnen zeigt sich, dass nur ein halbes Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf dem untersten Alpha-Level liegt, also die Wortebene beim Lesen und Schreiben nicht erreicht. Weitere 3,9 Prozent liegen auf dem Alpha-Level 2, erreichen also nicht die Satzebene, sondern können nur einige Wörter lesen und schreiben. Auf dem folgenden Level befinden sich weitere 10 Prozent der Bevölkerung, die zwar mit kurzen Sätzen umgehen kann, aber an Texten scheitert und sie vor allem vermeidet. Die Größenordnung des Funktionalen Analphabetismus in Deutschland ist mit 7,5 Millionen Menschen deutlich höher als der Schätzwert von etwa vier Millionen. Darüber befinden sich weitere 13,3 Millionen Erwachsene, deren Schriftsprache auch bei gebräuchlichem Wortschatz fehlerhaft ist.“

Zur Definition:

„Funktionaler Analphabetismus ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. [...] … wenn eine Person nicht in der Lage ist, aus einem einfachen Text eine oder mehrere direkt enthaltene Informationen sinnerfassend zu lesen und/ oder sich beim Schreiben auf einem vergleichbaren Kompetenzniveau befindet. Die UNESCO spricht von Funktionalem Analphabetismus bei Unterschreiten der vollen Teilhabe im Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Definition ist hoch und schwer operationalisierbar. Die Definition des Alphabunds verlangt eine Präzisierung auf einen Mindestrahmen. leo. differenziert daher nach Alpha-Level 1-6 aus und rechnet das Unterschreiten der Textebene (Alpha-Level 4) dem Funktionalen Analphabetismus zu.“


Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.12.2011 um 20.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8763

In denjenigen deutschen Landschaften, wo der Dialekt die Umgangssprache bildet, gibt es sehr viele Leute, die hochdeutsche Texte lesen und verstehen, aber nicht gut selber verfassen können. In welche Schublade gehören die?

Mit der Reform sollte doch ausdrücklich eine Erschwerung der Leseverständlichkeit zugunsten der Schreib-Erleichterung in Kauf genommen werden. Das war Absicht, und jetzt liegt das Ergebnis vor.

Die von den Reformern angeprangerten Zusammenschreibungen dienten ausdrücklich der Leseverständlichkeit, und die wurde durch die Wörter-Zerreißungen erschwert. Für diejenigen, die den Sinn weniger aus dem Satzzusammenhang als einfacher Wort für Wort erkennen können, ist die Reform eine klare Verschlechterung.

Die ganze Reform ist ideologie-überfrachtet, und eine objektive Diskussion ist von Seiten der Reformer unerwünscht.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2011 um 10.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8764

Inzwischen hat mir auch Frau Güthert geantwortet:

„Da die Medien die gleiche Fragestellung an Herrn Ossner herangetragen haben und dieser umfänglich darauf geantwortet hat und dabei insbesondere auf die verschiedenen Stufen von Analphabetismus und die herangezogenen Testungen eingegangen ist, darf ich darauf verweisen.“

Ich nehme an, sie meint das detektor.fm-Interview mit Herrn Ossner (MP3-Datei hier).

Ossner distanziert sich vorsichtig von Zehetmair, der die Zahlen zugespitzt habe. Auch er gibt der Rechtschreibreform eine gewisse Mitschuld an der "orthographischen Desorientiertheit". Außerdem erwähnt er die "Erlebnisgesellschaft", die den Schülern Spaß biete, aber nicht genug Gelegenheit zum Üben usw.

(Das ist insofern nicht ganz überzeugend, als ich in der Schullaufbahn meiner Töchter wenig Spaß wahrgenommen habe. Ausnahmeschulen? Wohl kaum. Die Mädchen haben viel gelesen und schreiben folglich ziemlich korrekt, eine sogar professionell. – Außerdem sollte doch die Rechtschreibreform das Schreiben erleichtern? Darauf spricht der Journalist leider Herrn Ossner gar nicht an.)


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.12.2011 um 14.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8765

Herr Ossner sagt, die Rechtschreibreformen hätten zur Verunsicherung beigetragen. Wenn es nur das wäre. Noch viel mehr haben sie zur Gleichgültigkeit beigetragen.

Er meint, die Probleme der Schüler kämen daher, daß die reformierten Regeln in Lehrbüchern nur wiedergegeben statt schülergerecht ausgelegt würden. War das etwa früher anders? Die neuen Regeln sind also für Schüler schwerer verständlich als die alten.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2011 um 16.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8766

Es stimmt ja auch gar nicht. In den mir bekannten Schulbüchern sind die Regeln durchaus didaktisch bearbeitet, für die Grundschule sogar manchmal versifiziert. Alle erdenklichen Materialien sind hergestellt worden, Peter Eisenberg zum Beispiel hat den Lehrern schon 1996 die neuen Regeln zu vermitteln versucht, in Bayern hat sich das ISB ins Zeug gelegt, anderswo andere staatliche und private Stellen usw. Viele tausend Broschüren, Lehrbücher und Wörterbücher sind auf den Markt geworfen worden.

Die Widersprüche sind natürlich durch Bearbeitung nicht beseitigt worden, z. B. wenn ausdrücklich zu lehren war, daß bestimmte Adverbien groß geschrieben werden sollen usw.

Und kaum waren die Regeln von 1996 einigermaßen in den Köpfen angekommen, wurden sie zweimal in nicht mehr überschaubarer Weise geändert. Daß dies die Unsicherheit verstärken mußte, war doch klar, und Zehetmair täte gut daran, es endlich zuzugeben.

Ganz abgesehen davon, daß Rechtschreibung nicht nach Regeln gelernt wird, sondern durch Lesen und Schreiben. Diese Überschätzung der Regeln war ja einer der Grundfehler der Reformer.

Nein, das Ganze bleibt ein schäbiger Zug Zehetmairs: erst die Reform durchpeitschen und nach erwiesener Erfolglosigkeit den Opfern die Schuld in die Schuhe schieben!


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.12.2011 um 23.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8767

Besonders lächerlich erscheint mir die wohlfeile Behauptung des VBE: "Die Erfahrungen mit der Rechtschreibreform sind vor allem in den Grundschulen überwiegend positiv."

Abgesehen von der ss/ß-Schreibung dürften die Grundschulen von den Schwierigkeiten der RSR doch kaum berührt gewesen sein.

Insbesondere hatten sie es kaum mit Schülern zu tun, die eine andere Rechtschreibung gelernt hatten. Damit durften sich die höheren Schulen 13 Jahre lang herumschlagen.

Es wäre natürlich interessant zu wissen, was die nicht überwiegenden negativen Erfahrungen in den Grundschulen waren.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.12.2011 um 07.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8768

Wer sich die (mutmaßliche) Herkunft der Zahlen zum Analphabetismus näher ansieht, erkennt, daß sie "nicht belastbar" sind (wie man heute sagt). Das Testverfahren ist fragwürdig, weil sehr weit von der täglichen Praxis entfernt. Die "Levels" sind willkürlich angesetzt. Testpersonen mit Migrationshintergrund (also Sprach-Ausländer), immerhin über 40 Prozent, sind einfach mit den deutschen Muttersprachlern zusammengefaßt, obwohl sie ganz andere Probleme haben. Wie viele der Ausländer sind bereits in ihrer Muttersprache alphabetisiert? Ossner sagt selbst, daß Zehetmairs zugespitzte Angaben dazu dienen, ein Problem sichtbar zu machen, sie sind also interessegeleitet verfälscht.

Bemerkenswert bleibt, daß der Rat zwar krasse Thesen verbreitet, aber nicht sagen kann oder will, worauf sie beruhen. Güthert verweist auf die persönlichen Ansichten, die ein Ratsmitglied in einem Interview geäußert hat und die keineswegs das hergeben, was der Vorsitzende daraus folgert. Schon früher hat der Vorsitzende eine Anfrage durch Eichinger beantworten lassen, ein weiteres Ratsmitglied ohne besonderen Auftrag.

Offiziell hat also der Rechtschreibrat keine Übersicht über die Lage an deutschen Schulen. Er hat auch niemals erörtert, wie die Durchsetzung der Reform funktioniert und die "Beobachtungen", mit denen er sich vorgeblich beschäftigt, beeinflußt.

Einen solchen Rat braucht niemand, sogar die KMK kann ihn nicht mehr gebrauchen, seit Zehetmair verklausuliert das Scheitern der Reform eingestanden hat.

Wer soll denn von einer verständlicheren Formulierung der Regeln einen Nutzen haben? Man schlägt im Wörterbuch nach oder läßt den Korrektor über die Texte gehen, Regeln nutzen da überhaupt nicht.


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 07.12.2011 um 09.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8769

Einen Vorteil könnte eine verständlichere Regelformulierung schon haben: dadurch kämen die Ungereimtheiten möglicherweise ins Bewußtsein der Autoren und sie stünden unter Druck, diese zu beseitigen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 07.12.2011 um 13.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8771

PHOENIX-Sendeplan für Donnerstag, 08. Dezember 2011:

[...]

22:15 PHOENIX-Runde

Über sieben Million Analphabeten – Wer hat versagt? Moderation: Alexander Kähler, Gäste: Marianne Demmer (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), Kerstin Güthert (Rat für deutsche Rechtschreibung), Helmut E. Klein (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) und Jutta Stobbe (ehemalige Analphabetin)

[...]

(www.finanznachrichten.de)


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 07.12.2011 um 14.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8772

Die (vor allem formulierungskünstlerischen) Qualifikationen von Frau Güthert sind auf diesen Seiten hinlänglich bekannt. Aber vielleicht ist ein Hinweis auf Frau Demmer willkommen – siehe hier. (Zugleich bietet das die Gelegenheit, noch einmal auf einen der überaus lesenswerten Beiträge von Helmut Jochems hinzuweisen.)


Kommentar von Germanist, verfaßt am 07.12.2011 um 14.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8773

Nach meinen Beobachtungen führt in der Grundschule die neue Regel "ss nach kurzem Selbstlaut" zu vermehrten "dass" in Relativsätzen. Abhilfe könnte der Ersatz des Relativpronomens "das" durch gleichwertige andere Wörter wie "welches, was" usw. bringen. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber jetzt ist es eine Diktatfalle.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 07.12.2011 um 15.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8774

Lieber Germanist,

das alles ist hier nicht wirklich neu.

Ich hatte früher in der Schule auch für kurze Zeit Probleme, zwischen dem Subjunktor und dem Relativpronomen zu unterscheiden. Meine Lehrerin hat dann die Unterscheidung zwischen "daß" und "dieses/ jenes/ welches" gebraucht, und nach ein paar weiteren Diktaten war die Sache für mich klar. Der geradezu inflationäre Gebrauch des vermeintlich eleganteren Relativpronomens "welche" in Wikipedia-Artikeln zeigt mir, daß es diese Taktik immer noch gibt.

Problematisch scheint vielmehr die graphische Ähnlichkeit von "dass" und "das" zu sein. Aber darauf hat Frau Pfeiffer-Stolz hier schon mehrmals hingewiesen (z. B. hier).

Und bei der Vermittlung der ach so einfachen Heyseschen s-Schreibung ist meiner Meinung nach vor allem in der Grundschule die allzu starke Vereinfachung dieser s-Schreibung für die Vermehrung des Relativpronomens "dass" verantwortlich. Die Regeln für die neue alte s-Schreibung sind nämlich viel komplizierter als es die Reformer verlautbaren lassen. (Frau Müncher hat sie hier sehr prägnant zusammengestellt und ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen; vgl. hier.) Wenn das schon die Lehrer nicht kapieren, wie sollen sie das dann vermitteln. So kommt es zum Doppel-s nach Kurzvokal und damit eben zum "Ereigniss" und anderen schönen Folgeschäden der Reform.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.12.2011 um 18.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8777

Laut Ankündigung des Senders will die Phönix-Runde heute abend über "20% Analphabetismus" diskutieren, also über ein Phantom. Unter den Diskutanten sind zwei heftige Befürworterinnen der Rechtschreibreform und kein Kritiker, soviel ich sehe.


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 09.12.2011 um 12.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8781

Wer von der Phoenix-Runde Beiträge zur Klarheit erwartet hat, ob die kolportierten Fakten überhaupt zutreffen, was ggfs. die Ursachen dafür sind und welche Maßnahmen erforderlich wären, um Abhilfe zu schaffen, der wurde enttäuscht.
Der Moderator glänzte durch Unvorbereitetheit und der Begriff Rechtschreibreform kam im Verlauf der Diskussion kein einziges Mal vor, ganz zu schweigen gar von der Mehrzahl.

Es dürfte vor allem eine Frage der Definition sein, was man als Analphabetismus bezeichnet. Sieht man sich durchschnittliche Internetforen an, sind orthographisch korrekte Beiträge eine Seltenheit. Wenn man hier schon von funktionalem Analphabetentum spricht, dann kommt man vermutlich weit über die kolportierten Zahlen hinaus.

Aber auch die Beispiele aus der leo.-Studie lassen Zweifel an der Testtreffsicherheit aufkommen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 16.12.2011 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8804

Video der Phoenix-Runde zu Analphabetismus:

www.phoenix.de


Kommentar von Eßlinger Zeitung, 24. 12. 2011, S. 15, verfaßt am 26.12.2011 um 12.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8835

Rechtschreibung ist wichtig
KREIS ESSLINGEN: Kritik an den Lehrern unberechtigt

(kh) - Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) im Kreis Esslingen weist die Kritik des Rats für deutsche Rechtschreibung an den Lehrern zurück. Korrektes Schreiben sei ordentlicher Bestandteil aller Bildungspläne, habe aber immer nur so viel Gewicht, wie die Gesellschaft der Rechtschreibung einräume.

Der VBE verweist darauf, dass in den 70er-Jahren die Zweifel am Wert der Rechtschreibung gewachsen seien. Das Gewicht, das in den Schulen auf korrekte Sprache und richtiges Schreiben gelegt worden war, sei in Frage gestellt worden. Nicht auf das Vehikel Schrift komme es an, sondern ausschließlich der Inhalt sei von Bedeutung, hieß es. Bei Zeugnisnoten habe das Mündliche gegenüber dem Schriftlichen ein größeres Gewicht bekommen. In den „Hessischen Rahmenrichtlinien“ von 1972 fanden diese Gedanken Niederschlag und provozierten heftige Diskussionen. Man machte sich verstärkt Gedanken darüber, ob durch das häufige Diktieren von Texten, wie es in der Grundschule üblich war, Rechtschreiben wirklich „erlernt“ werden könne. Nach der Rechtschreibreform 1998 und der Reform der Reform sei die Diskussion über den Wert richtigen Schreibens wieder aufgeflammt. „Lehrer halten sich an die Vorgaben der Bildungspläne“, betont VBE-Landeschef Gerhard Brand. Wenn der Rechtschreibrat etwas verändern wolle, müsse er bei den Lehrplänen ansetzen. Zudem sei in der Gesellschaft viel Überzeugungsarbeit zu leisten, damit richtiges Schreiben als wertvoll angesehen werde. Zurzeit sei die Rechtschreibung - insbesondere bei SMS, in Chaträumen und Online-Foren - Nebensache. Erst bei Bewerbungen greife man sicherheitshalber zum Duden.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.12.2011 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8836

VBE-Vorsitzender Eckinger sitzt doch im Rechtschreibrat, dort könnte er seine Kritik vorbringen, aber wie ich ihn kenne, grummelt er nur vor sich hin und traut sich nicht, Zehetmair die Meinung zu sagen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2012 um 18.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8838

Volksfreund vom 2.1.12:

Bedroht «Fetzenliteratur» die Rechtschreibung?
«Fetzenliteratur» auf Twitter oder in SMS bedroht nach Ansicht des Rechtschreibrats-Vorsitzenden Hans Zehetmair die Sprachkompetenz junger Leute.
«Eine junge Generation schreibt heute - um eine Liebe zum Ausdruck zu bringen - keine Briefe mehr, sondern "HDL" - "Hab Dich lieb"», bemängelte er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in München. «Unsere Zeit ist so schnelllebig geworden. Da müssen Sie sich nur die Twitter-Literatur ansehen, in der es keine ganzen Sätze mehr gibt.» «Fetzenliteratur» nennt Zehetmair, der auch Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung in München ist, das.

«Wir sind weltweit in zivilisatorischen Gesellschaften auf dem gefährlichen Weg, dass immer weniger gelesen, immer mehr Fetzenliteratur gepflegt, immer weniger geschrieben wird», sagte er. Auch die Schule komme ihrem Bildungsauftrag in dem Bereich nur begrenzt nach. «Die Lehrer sind auch Kinder unserer Zeit und - bei allem guten Bemühen - gibt es auch bei ihnen oft diese Fetzenliteratur: super, geil und alles mit Ausrufezeichen.» Hochschullehrer beklagten immer wieder die mangelhafte sprachliche Qualität von Diplom-, Magister- oder Bachelorarbeiten. «Man nimmt sich kaum noch die Zeit, ganze Sätze zu formulieren.» Nach Angaben von Linguisten müssten rund 20 Prozent der 15-Jährigen heute als Analphabeten bezeichnet werden, sagte Zehetmair.

Eine Schwierigkeit sei auch die steigende Zahl an Anglizismen, die die deutsche Sprache überflute. «Sprache ist in vielen Bereichen ausschließlich verzweckt worden und ist überbordet [?] mit Fremdeinflüssen. Ich bin nicht gegen Anglizismen im Allgemeinen, aber man sollte schon noch wissen, was die Worte auf Deutsch heißen.» Das fehlende Hinterfragen sei aber «symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht mehr hinter die Dinge blickt und die Hintergründe nicht mehr beleuchtet», sagte Zehetmair und warnte: «Eine solche Gesellschaft ist anfällig für Manipulation.»


(Link)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2012 um 20.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8864

"Mehrere Studien und Befragungen des Rats für deutsche Rechtschreibung haben ergeben, dass schätzungsweise jeder fünfte 15-Jährige in Deutschland Analphabet ist."

So beginnt eine Werbung für "Schaff-Ich"-Software.

Man sieht hier, wie der Unsinn immer weiter wuchert. Natürlich hat der Rechtschreibrat weder Untersuchungen noch Befragungen angestellt.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.01.2012 um 14.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#8876

Christa Dürscheid kritisiert mit Recht Zehetmairs Darstellung, aber wenn sie immer noch der Kleinschreibung nachtrauert, ist das nach vielen Jahren Beschäftigung mit Schriftlinguistik doch ein wenig enttäuschend:

http://derstandard.at

Auch könnte sie ja, wie die anderen Befürworter der Kleinschreibung, auf eigene Faust damit anfangen und den Erfolg abwarten. Bisher sind aber alle Kleinschreiber reumütig zur herkömmlichen GKS zurückgekehrt. Vielleicht warten sie ja auf ein staatliches Verbot der Substantivgroßschreibung, damit, wie auch sonst, niemand mehr Gelegenheit hat, das Bessere gegen das verordnete Minderwertige auszuspielen?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.10.2012 um 09.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#9136

"Selbstverständlich gibt es hochbegabte Kinder. Es gibt sie sicherlich sogar unter den 14 Prozent Schulabbrechern und den 20 Prozent funktionalen Analphabeten, die der Rat für Rechtschreibung im Bereich der Fünfzehnjährigen gemessen hat." (Junge Freiheit 4.10.12)

So erben sich diese willkürlichen Prozentangaben fort, und hinzu kommt nun noch, daß der Rechtschreibrat sie gemessen haben soll. (Der tagt übrigens heute wieder mal, keine Zeitung hat davon Notiz genommen.)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.01.2013 um 07.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=677#9254

In der Zeitung steht, nun sei die UN-Dekade der Alphabetisierung zu Ende gegangen. Hätten Sie's gewußt?
Die Zahl von 7,5 Mill. Analphabeten in Deutschland wird unendlich wiederholt. Da es sich um Menschen handelt, die "gar nicht oder nur eingeschränkt" ganze Texe lesten und verstehen können, sind der Willkür bei der Berechnung keine Schranken gesetzt. Die meisten "funktionalen Analphabeten" hätten feste Stellen, zum Teil gute Berufe.
In der Süddeutschen Zeitung steht heute, die Ansicht, daß weibliches Lehrpersonal die Mädchen begünstige, sei eindeutig widerlegt. Im Bayernteil derselben Ausgabe wird die widerlegte Ansicht als erwiesene Wahrheit dargestellt. Vielleicht weil in Bayern alles anders ist.
Für richtig halte ich die These, daß unter Jungen das Lernen und Sichhervortun im Unterricht als "uncool" gilt. Das setzt sich sogar unter Studenten noch fort. Die allgemeine Verehrung der "Gruppen" (Gruppenarbeit, Gruppenreferate, Teamfähigkeit usw.) setzt sich über die negativen Seiten der Gruppendynamik hinweg. Das weiß eigentlich jeder, aber es ist uncool, deshalb spricht man nicht darüber.



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