zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

Die neuesten Kommentare


Zur vorherigen / nächsten Nachricht

Zu den Kommentaren zu dieser Nachricht | einen Kommentar dazu schreiben


28.07.2008
 

Uwe Grund
Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform
Erste Ergebnisse vergleichender Studien (ergänzt)

An dieser Stelle veröffentlichen wir die Kurzfassung der Studien, die Dr. Uwe Grund auf der Jahrestagung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) am Wochenende in den Räumen des Ernst Klett Verlags in Stuttgart vorstellte. Die ergänzte Langfassung des Vortragsmanuskripts kann hier in Form einer PDF-Datei abgerufen werden.


Die Rechtschreibreform hat das korrekte Schreiben in den Schulen nicht „erleichtert“ (Duden, 22. Aufl. 2000, Vorwort), sondern erschwert. Nach allen vorliegenden Studien (eigene Primärerhebungen und Auswertung vorhandener Fremddaten) ist je nach untersuchten Quellen und Vergleichszeitraum die Fehlerquote (orthographische Fehler je 100 in Schülerarbeiten niedergeschriebene Wörter) gegenwärtig höher um

• 80 % (freie Aufsätze von Viertkläßlern)
• 110 % (Diktate in der gymnasialen Unterstufe)
• 120 % (Abituraufsätze)

Hinsichtlich der Fehlerarten zeigt sich, daß die Fehler gerade dort überproportional gestiegen sind, wo die Reform regulierend in die Sprache eingegriffen hat. Für die Viert- bis Siebtkläßler (nur für diese waren hinreichend spezifizierte Daten verfügbar) gilt:

Die Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung haben sich je 100 niedergeschriebene Wörter (Token) fast verdreifacht in den untersuchten gymnasialen Unterstufenklassen (Anstieg von 1970/1972 auf 2004/2006 um 176%) und mehr als verdoppelt in vierten Klassen der Grundschule (Anstieg von 1990/91 auf 2001 um 136%).

Verstöße gegen die korrekte Schreibung des s-Lautes haben sich, bezogen auf je 100 Wörter (Stichprobe Vergleichsdiktate in Klasse 5 bis 7 der Höheren Schule), in etwa verdoppelt sowohl bei den jetzt nach Heyse zu schreibenden Wörtern wie bei den sonstigen Schreibungen des s-Lautes.

Die Schüler werden zu falschen Analogiebildungen verleitet (fast ein Drittel einer Testklasse schreibt „Glockenschwängel“).

Am Beispiel der Änderung der Schreibung des s-Lautes (§ 25 der Amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung) kann belegt werden:

Die Reform operierte mit uneingelösten Prognosen: „[…] dürfte die Reduzierung des Anwendungsbereichs des Zeichens ß (inlautend und auslautend nach Langvokal und Diphthong) für den Schreiber gegenüber der bisherigen Regelung eine Vereinfachung darstellen.“ (Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache [Hrsg.]: Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung, 1985, S. 156f).

Eine quantitativ ins Gewicht fallende und damit notenverbessernde Wirkung konnte die Änderung der Regel bei der Schreibung des s-Lautes schon deswegen nicht haben, weil z.B. nach den für die Unterstufenklassen Höherer Schulen vorliegenden Daten nur rund jeder 50. Fehler zu diesem Fehlertypus gehörte (n = 148.750 Token).

Verstöße gegen die korrekte s-ss-ß-Schreibung lagen im Ranking nach Fehlerkategorien in einer 1980 publizierten, für die Klassen 5 bis 10 repräsentativen Erhebung (n = 91.455 Fehler) auf dem Gebiet der DDR auf einem 11. Rangplatz (4,18% aller Fehler). Es bleibt ausstehenden Untersuchungen vorbehalten zu klären, in welchem Ausmaß die gehäuft erst nach der Reform auftretenden Falschschreibungen wie z.B. [Behältniss], [Fäschen], [leiße], [Eiß] usw. mit dazu beitragen, die Chancen der heutigen Schülergeneration auf gute bis befriedigende Leistungen in der Rechtschreibung zu schmälern.


Ergänzung:
Empirische Studien zu den Folgen der Rechtschreibreform

Die Ergebnisse der vergleichenden Studie von Dr. Uwe Grund (Universität des Saarlandes) zu den Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform bestätigen die Befunde und Prognosen anderer Forscher. Aus diesen sei hier kurz zitiert.

Prof. Dr. Harald Marx (Universität Leipzig) kam bereits 1999 in seinem Aufsatz „Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern?“ (in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie 31 (1999), S. 180–89) zu folgenden vorläufigen Ergebnissen:

„Berücksichtigt man die Schwere und Auswirkungen des Fehlerbereichs der s-Laut-Schreibungen und stellt diesen die angedeuteten spezifischen Lerngelegenheiten als didaktische Hilfen beiseite, so müßten sich eigentlich die Rechtschreibleistungen bei konsequenter Anwendung der Reform gerade im Bereich der s-Schreibungen bereits kurzfristig verbessern. Darüber hinaus müßten sich längerfristig im Bereich der Wortschreibungen mit Dopplung und Dehnung ebenfalls Verbesserungen einstellen. Soweit die erwünschten Effekte der Rechtschreibreform.

Zur Überprüfung dieser Annahmen wurden zur Schuljahresmitte des Schuljahres 1997/1998 111 Zweit-, 111 Dritt- und 107 Viertkläßler, die seit Beginn des Schuljahres 1996/97 bereits nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden, mit einem neuen Rechtschreibtest untersucht. Deren Ergebnisse wurden denen von 110 Zweit-, 110 Dritt- und 98 Viertkläßlern gegenübergestellt, die genau zwei Jahre vorher mit dem gleichen Verfahren getestet worden waren. Ausgewertet wurden die Schreibungen getrennt für 34 Wörter ohne und 10 Wörter mit s-Laut, wobei sich bei fünf s-Laut-Wörtern reformbedingt die Schreibweise verändert hat.

Es zeigt sich, daß die älteren Klassenstufen der 98er Stichproben die von der Rechtschreibreform nicht betroffenen Wörter nicht besser schreiben können als diejenigen der 96er Stichproben. Deutlich wird aber auch, daß die Rechtschreibreform wirkt. Allerdings ist das Ergebnis bezüglich der s-Laut-Schreibung genau entgegengesetzt der erwünschten Richtung. Zum einen machen die Kinder aller Klassenstufen bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern signifikant mehr Fehler, zum anderen übergeneralisieren sie, indem sie offensichtlich die neuen Schreibweisen auch bei s-Laut-Wörtern anwenden, die nicht von der Reform betroffen sind.“

(Siehe dazu auch hier [Interview mit Prof. Marx in der Neuen Osnabrücker Zeitung, August 2004] und hier [Reinhard Markner: „Ohne Erfolgskontrolle“, Artikel in der Berliner Zeitung, September 2004]. Zitat: »Nachdem [Marx] 1999 die Resultate der ersten Testreihe veröffentlicht hatte, bat ihn die Rechtschreibkommission denn auch ausdrücklich, seine Untersuchungen fortzuführen. Am 9. November 2001 war er bei den Reformern in Mannheim zu Gast. Eine „muntere Diskussion“ sei das gewesen, erinnert sich Marx. In den dritten Bericht der Kommission – Berichtszeitraum: 1. 1. 2000 bis 31. 12. 2001 – sind ihre Ergebnisse nicht eingeflossen. Er trägt auf dem Titelblatt den Vermerk: „Redaktionsschluss: 8. November 2001“.«)

StR Christian Pießnack und Dr. Adelbert Schübel teilen in ihrer 2005 veröffentlichten Studie „Untersuchungen zur orthographischen Kompetenz von Abiturientinnen und Abiturienten im Land Brandenburg“ (Prüfungsjahrgänge 2000 bis 2002) folgende Beobachtung mit:

„Unbedingt angemerkt werden muss, dass sich im Bereich der s-Schreibung ein neuer Fehler in einer Größenordnung etabliert hat, die beunruhigt. 46% aller Fehler der s-Schreibung entfallen auf den Fehlertypus „ss statt ß“. Auch die stark zunehmende Kommaabstinenz, die die Lesbarkeit der Texte erschwert, muss weiter beobachtet werden.“

Beide Bereiche sind unmittelbar von der Reform betroffen.

Bei einer Expertenbefragung durch das Bundesinstitut für Berufsbildung stellte sich 2005 als signifikant heraus, daß Schulabgänger die reformierte Rechtschreibung heute schlechter beherrschen als vor 15 Jahren die herkömmliche.

Zu den auch von Dr. Grund herangezogenen Studien von Prof. Brügelmann gibt es ergänzende Anmerkungen seitens der Verfasser, die hier dargelegt sind. Dr. Grunds Erwiderung dazu ist in diesem Beitrag zu finden.



Diesen Beitrag drucken.


Kommentare zu »Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform«
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 29.05.2010 um 07.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8223

Lieber Herr Höher,

wer würde denn die literaturgeschichtliche Bedeutung Klopstocks bestreiten wollen? Doch wohl keiner der Diskutanten!

Mir ging es, wie Sie ja auch richtig betont haben, um den Einfluß seiner orthographischen Vorstellungen auf die Orthographie-Diskussion des 19. Jahrhunderts, und die muß wohl oder übel als gering veranschlagt werden.

Ich teile Ihren Enthusiasmus für die Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, aber mir ging es in erster Linie um orthographische Fragen und besonders um die Ursache für den (mich persönlich nicht) überraschenden Anstieg der ss/ß-Fehler nach Diphthong.

Prof. Stetter hat es ja treffend formuliert (ich paraphrasiere): Solange die Unterscheidung zwischen ss und ß von der Länge und der Betonung des vorausgehenden Vokals abhängig ist, geraten die Diphthonge in die unangenehme Situation, weder "lang" noch "kurz" zu sein. Die von mir zitierten und von Herrn Markner dankenswerterweise ergänzten Beispiele zeigen dies um so deutlicher, und sie dürften – unter Berücksichtigung der späteren Entwicklung – auch den Kultusministerien einen Hinweis geben (wenn sie denn daran interessiert wären), wo der Hase im Pfeffer liegt.

Wie war das doch alles so einfach vor der "Reform" ...


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 27.05.2010 um 19.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8222

Lieber Herr Schaefer,

wenn ich die Wirkung von Klopstocks Orthographie- und Grammatikschriften nur aus heutiger Sicht betrachte, muß ich Ihrem „Strohfeuer“ natürlich zustimmen. Aber damit wird man seiner historischen Stellung wohl nicht gerecht. Denken Sie nur daran, wie groß sein Ansehen war: Am 22.3.1803 erwiesen ihm über zehntausend Bürger Hamburgs bei seiner Beisetzung in Ottensen die letzte Ehre. Das war ein Staatsbegräbnis, wenn es denn damals schon einen deutschen Staat gegeben hätte. Man darf daher beispielsweise das Epigramm des jungen Lessing nicht für einen Ausspruch des späteren Literaturkritikers nehmen und überbewerten: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein! / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein“. Da reibt sich ein junger aufstrebender Autor an einem der Großen. Ebenso bedient sich der junge Grabbe Klopstocks Ruhm, um Pointen zu setzen (man denke an ein „altes, unfehlbares Schlafmittelchen, Klopstocks Messias“, das 1822/1827 in „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ erwähnt wird).

Ein Dokument der Krise der Klopstock-Rezeption zeigt sich im Todesjahr Tiecks öffentlich (der übrigens mehrmals vergeblich versuchte, sich für den „Messias“ zu erwärmen). 1853 erschien in Nürnberg die kleine Schrift von Johann Leonhard Hoffmann „Wie kommt es, daß Klopstocks Messias hochgeschätzt und doch nicht gelesen wird?“ Natürlich ist dieses zeitliche Zusammentreffen purer Zufall, da Hoffmann schon lange vorher, nämlich 1814 gestorben war. Somit zeigt diese kleine Schrift vielmehr die Probleme der Romantiker mit Klopstock, ganz ähnlich wie sich Arnim und Brentano in Heidelberg Auseinandersetzungen mit dem alten Voß geliefert haben.

Womit ich bei Voß und damit einem Beispiel für die Wirksamkeit von Klopstocks orthographischen Überlegungen bin. „Homers Odüßee“, übersetzt von Johann Heinrich Voß (Hamburg: auf Kosten des Verfassers 1781; die zweite Auflage hatte dann – zusammen mit der ersten Übertragung der „Ilias“ – 1793 wieder die damals gewöhnliche Orthographie), erschien bekanntlich in einer phonetischen Orthographie, die versuchte, die griechischen Laute mit deutschen Buchstaben auszudrücken. Nicht nur von Lichtenberg wurde Voß dafür gerügt (z. B. in „Über die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands verglichen mit der Pronunciation ihrer neuern Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh, eine litterarische Untersuchung von dem Concipienten des Sendschreibens an den Mond“, 1781 im „Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur“ veröffentlich; diese Satire zog eine öffentliche Auseinandersetzung mit Voß nach sich, die leider nur teilweise in der Hanser-Ausgabe von Promies abgedruckt ist). Dahinter steht natürlich Klopstocks Schrift „Ueber di deütsche Rechtschreibung“ (1778 als „Beilage zum zweiten Theile der Camoischen Erziehungsschriften“ erschienen). Im gleichen Jahr kamen dann auch Bürgers „Gedichte“ auf Subskription heraus, die immerhin acht Kupfer von Chodowiecki enthielten. Freilich erschien die zweite Auflage dann wieder in gewöhnlicher Orthographie, aber sie kam erst – wiederum auf Subskription – im Jahr 1789 heraus. Gute zehn Jahre lagen die Gedichte Bürgers somit in Klopstocks neuer Rechtschreibung vor. Man müßte einmal überprüfen, ob die zahlreichen Raubdrucker des 18. Jahrhunderts (Schmieder, Himburg und wie sie alle heißen) diese Orthographie komplett umgestellt haben oder lediglich punktuell in sie eingriffen – und damit das Chaos womöglich noch vergrößert haben.

Heute ist das alles tatsächlich „Strohfeuer“, aber damals hat es die Gebildeten beschäftigt. Und gerade bei Klopstock darf man nicht vergessen, daß der „Messias“ wie ein Erbauungsbuch gelesen und vorgelesen wurde und somit auch nicht-gebildete Leserschichten erreicht hat. Und immerhin hat Klopstock seinen Ruhm genutzt, um später auch sein Hauptwerk in seiner neuen Rechtschreibung erscheinen zu lassen. (Freilich war Göschen das Risiko zu groß, so daß er zur Sicherheit auch noch Ausgaben in gewöhnlicher Rechtschreibung drucken ließ. Verleger müssen eben rechnen!)


Kommentar von R. M., verfaßt am 27.05.2010 um 08.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8221

Das ſſ im Silbengelenk stand seinerzeit nicht nur nach Diphthongen. Knigge z. B. schreibt auſſer und lieſſen (Der Roman meines Lebens Bd. 3, 1782, S. 10 u. 7). In seinen orthographisch sehr exakten Briefen steht ſſ auch vor t.
http://books.google.ch/books?id=LM46AAAAcAAJ


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 27.05.2010 um 07.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8220

Ich bitte um Verzeihung, wenn mein letzter Eintrag nicht deutlich war, denn ich habe mehr oder weniger ein paar abgetippte Notizen und ein paar damit verbundene Gedanken eingestellt (u.a. den, "ss" vor t als Alternativschreibung [lässt|läßt] zu akzeptieren, solange der Rest wiederhergestellt wird).

Im wesentlichen ging es mir darum, aufzuzeigen, daß eine Ursache für den neuen Fehlertypus "ss nach Diphthong" eben nicht nur die fehlende Opposition von "lang" und "kurz" ist, wie es beispielsweise Prof. Stetter als Problem formuliert hat, sondern daß man den Ambisyllabismus im Sinne Eisenbergs (gibt es dieses Wort überhaupt?) früher auch auf Diphthonge ausgedehnt hat. Gerade bin ich wieder auf ein Beispiel gestoßen: "hinreiſſende" (Ernst Münch, Geschichte des Hauses Nassau-Oranien, Bd. 3, Aachen, Leipzig 1833).

Daß die Historische Schule sich über derartige Dinge hinweggesetzt hat und viel ältere Stufen der Sprachentwicklung zur Grundlage der Schreibung gemacht hat, versteht sich fast von selbst. Ich habe die entsprechenden Quellen nur als Belege erwähnt.

Meinen herzlichen Dank an Herrn Höher für die Erwähnung zusätzlicher Quellen, aber Klopstocks Ideen waren doch eher ein Strohfeuerwerk.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.05.2010 um 09.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8216

Hermann Pauls "Untersuchungen über den germanischen Vokalismus" (1879 bei Niemeyer) sind in "Schweizer" ss-Schreibung und außerdem in "Grimmscher" Kleinschreibung gedruckt. Pauls Sprache ist übrigens schon in diesen früheren Werken so schnörkellos und straff wie später. Kein Wort zuviel, sehr angenehm zu lesen. Wenn man über die frühere Weltgeltung der deutschen Sprache nachdenkt, sollte man auch diese Prosa aus dem (nach Göttert) "sprachlich trostlosen 19. Jahrhundert" berücksichtigen. Damals hatten die amerikanischen Sprachwissenschaftler, die zum Studium nach Deutschland pilgerten, noch keinen Grund, sich über den "teutonischen Stil" zu beklagen oder lustig zu machen.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 24.05.2010 um 14.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8215

Bei Hermann Paul ist noch zu ergänzen, daß die Ersetzung des ß durch Doppel-s zumindest für die Publikationen des Niemeyer-Verlages in Halle zutreffen. Publikationen in anderen Verlagen zeigen durchaus die damals üblichen Formen mit th (Theil, nothwendig), c (Präcision) und ß (Verhältniß). Ich habe allerdings noch keine Handschriften von ihm gesehen, so daß ich leider nicht sagen kann, welche Orthographie seine persönliche ist und was auf Verlage zurückgeht.

Erinnert sei auch an Christoph Martin Wieland (1733–1813), dessen Drucke verschiedene orthographische Metamorphosen durchlebt haben. Beispielsweise von "Der gepryfte Abraham" (erschienen in "Zyrich" bei Orell 1753), über "Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht in drey Büchern" (erschienen in Leipzig "bey" Weidmanns Erben und Reich 1768) bis schließlich zum Erscheinen seiner "Sämmtlichen Werke", die von 1794 an in vier unterschiedlichen Ausgaben herauskamen. Bekanntlich brachte es die inzwischen nachgedruckte "wohlfeile" Taschenausgabe auf Druckpapier bis zum Jahr 1813 auf 39 Bände (alle sechs Supplemente noch nicht eingerechnet). Diese Ausgabe erschien in Antiqua und verwendete keine ß-Type. Lang-s findet sich in Wörtern (auch in der Ligatur st) und Rund-s steht am Wortende, das ß wird als Kombination von Lang- und Rund-s gedruckt.

In der Liste von Herrn Schaefer fehlen noch Hinweise zur Orthographie der Sprachschriften von Klopstock (statistisch wäre dann noch nachzuprüfen, wie viele Autoren seinem seltsamen Beispiel immerhin kurzzeitig folgten, wobei ich vor allem an Bürger denke), der Wörterbücher Campes und der Sprachschriften Wolkes (man könnte überprüfen, ob sich außer Jean Paul noch andere Autoren von ihm anstecken ließen). Wielands eigene – keineswegs immer originelle – Beiträge zur Sprachkritik – sind allesamt im "Teutschen Merkur" veröffentlich worden. Nicht unwichtig ist abschließend der Hinweis, daß auch Lessing sich kritisch mit Adelungs Wörterbuch auseinandergesetzt hat. Leider blieb seine geplante Kritik – wie so vieles – in der Schublade liegen und wurde erst 1795 auszugweise in der Biographie des Bruders Karl veröffentlich. Interessierte können die Texte heute aber bequem nachlesen, etwa im fünften Bande der Hanser-Ausgabe der Werke Lessings (herausgegeben von Jörg Schönert, München 1973, S. 671–677). Lohnend ist die Lektüre allemal, da Lessing einige der Etymologien Adelungs zu weit hergeholt waren, was wir wiederum gut nachvollziehen können.


Kommentar von R. M., verfaßt am 24.05.2010 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8214

Adelung ist in seinem Wörterbuch dann zu reißen übergegangen,
http://www.zeno.org/Adelung-1793/K/adelung-1793-03-1067


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 24.05.2010 um 08.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#8213

Eine mögliche Erklärung für die Ergebnisse von Pießnack/Schübel sowie die darin angesprochenen Probleme mögen ein paar Notizen über Stichproben hinsichtlich der s-Schreibung im 18. und 19. Jahrhundert liefern (eine echte statistische Auswertung wäre freilich wünschenswert):

Gottsched (Versuch einer kritischen Dichtkunst, 1751, 4. Aufl.): ß am Silben- und Wortende sowie vor Konsonant/Diphthong: daß, Biß, reißt, mißt, aber auch im Silbengelenk: überflüßig. Zwischen Diphthong und nachfolgendem Vokal ß: heißen. Verteilung ſ/s konventionell (s. unter Adelung).

Johann Stephan Pütter (Ueber die Richtigkeit und Rechtschreibung der Teutschen Sprache, 1780): ß am Silben- und Wortende sowie vor Konsonant/Diphthong: daß, Biß, reißt, mißt, doppeltes ſ zwischen zwei Vokalen/Diphthong, egal ob lang oder kurz: vermiſſen, heiſſen. Begründung für letzteres: Trennbarkeit sowohl bei vermiſ-ſen als auch bei heiſ-ſen. Verteilung ſ/s konventionell (s. unter Adelung).

Adelung (Deutsche Sprachlehre, 1782, S. 39ff): ß am Silben- und Wortende sowie vor Konsonant/Diphthong: daß, Biß, reißt, mißt; doppeltes ſ zwischen zwei Vokalen, von denen der erste kurz ist, sowie nach Diphthong: vermiſſen, reiſſen. Begründung: Trennbarkeit sowohl bei vermiſ-ſen als auch bei heiſ-ſen. Verteilung ſ/s konventionell (s nur stimmlos [»ſscharf«] und nur am Silben- und Wortende), [ein interessantes Detail, das Gallmanns Theorie die Schweizer Trennung von ss betreffend zumindest nach Diphthong in Frage stellen dürfte], [S. 39: »Der Sauselaut, der Lieblingslaut, der Hoch- und Oberdeutschen ...«, »den gelindeſten ſ, den einfachen scharfen ß, den verdoppelten scharfen ſſ, und den harten z.«] [ſt scheint grundsätzlich als untrennbar angesehen zu werden]

Karl Philipp Moritz (Von der deutschen Rechtschreibung, 1784): wie Adelung

Heyse (Theoretisch-praktische deutsche Schulgrammatik, 1830): ß (=ſ+z) nach langen Vokalen und Diphthongen als Unterscheidung zum ſ: reißen/reisen; Heyse-ß (=ſ+s) nach kurzen Vokalen: Biß; kurze Vokale vor auslautendem Konsonant: läſſt, iſſt. [Wäre das eine mögliche Kompromißlinie?]

Weinhold (1852), Andresen, 1867 (Historische Schule): immer ß, niemals ss: daß, bloß(e), veranlaßt, dieß (=dies), gewißenssache, dafür aber auch (etymologisch begründet?): müste (=müßte), past (=paßt), kein ſ.

Gustav Michaelis (Die Vereinfachungen der deutschen Rechtschreibung vom Standpunkte der Stolzeschen Stenographie, 1854) (Historische Schule): Heyse, aber ohne Heyse-ß, dafür aber mit ſs (Antiqua): groß, wiſſenschaftlich, muſſten, daſs

Hermann Paul (verschiedene Schriften, alle in Antiqua): Durchgehend ss (Antiqua), kein ß, kein ſ.

Betrachtet man die Erstdrucke der populären Werke von Karl May, wie sie beispielsweise die Karl-May-Gesellschaft (http://karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/index.htm) anbietet, muß man zu dem vorläufigen Schluß kommen, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Frage entschieden war, und zwar entweder zugunsten einer modifizierten Adelungschen Schreibweise, in der nach Diphtong keinerlei Silbengelenk mehr empfunden wurde oder als Alternative zur heute so genannten Schweizer Schreibweise.

Die Reformer scheinen also in dem Bemühen um "Systematisierung" hier ein Faß aufgemacht (oder, je nach Geschmack, die Büchse der Pandora wieder geöffnet) zu haben, das längst auf dem Grund des Meeres verrottete.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.08.2008 um 15.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7350

Die Rechtschreibreform sollte uns bei Problemen helfen, die wir ohne sie nicht hätten.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 19.08.2008 um 14.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7324

Zu R. M. (#7123): »Aus der auch von Grund herangezogenen, neueren Vergleichsstudie zur Orthographie von Abiturienten:
http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/833/pdf/llh20_Piessnack_Schuebel.pdf

„Unbedingt angemerkt werden muss, dass sich im Bereich der s-Schreibung ein neuer Fehler in einer Größenordnung etabliert hat, die beunruhigt. 46% aller Fehler der s-Schreibung entfallen auf den Fehlertypus ‚ss statt ß‘. Auch die stark zunehmende Kommaabstinenz, die die Lesbarkeit der Texte erschwert, muss weiter beobachtet werden.“

Beides eindeutig Reformfolgen.«


Pießnack und Schübel haben nicht nur das festgestellt, sondern sehen auch folgenden Zusammenhang (loc. cit., S. 66 [PDF-Seite 17], hier ohne Kursivierungen):

»Bei der Auswertung der Kategorie I „Interpunktion“ wurde bereits darauf verwiesen, dass eine Hauptursache für die Subklasse „das statt dass“ in den Schwierigkeiten zu sehen ist, die sich bei den Schülerinnen und Schülern im Zusammenhang mit den Satzgefügen ergeben. Oftmals wurde in einem Satzgefüge, dessen Nebensatz mit der Konjunktion dass beginnt, das entsprechende Komma nicht gesetzt, so dass die Schülerinnen und Schüler das Dass auch nicht als Konjunktion erkannten und es durch das ersetzten. Demzufolge können auch Schwächen in der Interpunktion als eine Hauptursache für die vermehrten Fehlschreibungen in der Subklasse „das statt dass“ angesehen werden.«

Es führt also die reformbedingte Kommaabstinenz zu einer Vermehrung der das/dass-Fehler (fälschliches das, wo dass hingehört hätte). Oder, um es mit den Worten der Bild-Zeitung zu sagen: "Wegen Rechtschreibreform machen Schüler mehr Fehler".


Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 19.08.2008 um 09.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7322

Respekt, Herr Glück, daß Sie nicht lockerlassen!


Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 15.08.2008 um 09.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7302

Sehr geehrte Frau Bundesministerin!

Für Ihre ausführliche Stellungnahme über die Aufgaben des RfdR bedanke ich mich, auch wenn leider dies meine Anfrage ebenfalls nicht beantwortet. Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie über den doch besorgniserregenden Befund, daß das Massenexperiment Rechtschreibreform die Fehlerzahlen nicht gesenkt, sondern erhöht hat, denken.

Der "Befund" über die problemlose Umsetzung der Rechtschreibreform an österreichischen Schulen fußt allein auf im Dienstweg gewonnenen Meinungsbildern von Lehrern. Die tatsächlichen Folgewirkungen des Reformwerks auf österreichische Rechtschreibleistungen wurden durch Ihr Ministerium leider noch nicht evaluiert, und es ist auch nicht anzunehmen, daß diese Erhebung in Österreich durch den im fernen Mannheim situierten Rechtschreibrat übernommen werden wird.

Die Ergebnisse der vergleichenden Studie von Dr. Uwe Grund (Universität des Saarlandes) zu den Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform bestätigen die Befunde und Prognosen anderer Forscher. Aus diesen sei hier kurz zitiert.

Prof. Dr. Harald Marx (Universität Leipzig) kam bereits 1999 in seinem Aufsatz „Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern?“ (in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie 31 (1999), S. 180–89) zu folgenden vorläufigen Ergebnissen:

„Berücksichtigt man die Schwere und Auswirkungen des Fehlerbereichs der s-Laut-Schreibungen und stellt diesen die angedeuteten spezifischen Lerngelegenheiten als didaktische Hilfen beiseite, so müßten sich eigentlich die Rechtschreibleistungen bei konsequenter Anwendung der Reform gerade im Bereich der s-Schreibungen bereits kurzfristig verbessern. Darüber hinaus müßten sich längerfristig im Bereich der Wortschreibungen mit Dopplung und Dehnung ebenfalls Verbesserungen einstellen. Soweit die erwünschten Effekte der Rechtschreibreform.

Zur Überprüfung dieser Annahmen wurden zur Schuljahresmitte des Schuljahres 1997/1998 111 Zweit-, 111 Dritt- und 107 Viertkläßler, die seit Beginn des Schuljahres 1996/97 bereits nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden, mit einem neuen Rechtschreibtest untersucht. Deren Ergebnisse wurden denen von 110 Zweit-, 110 Dritt- und 98 Viertkläßlern gegenübergestellt, die genau zwei Jahre vorher mit dem gleichen Verfahren getestet worden waren. Ausgewertet wurden die Schreibungen getrennt für 34 Wörter ohne und 10 Wörter mit s-Laut, wobei sich bei fünf s-Laut-Wörtern reformbedingt die Schreibweise verändert hat.

Es zeigt sich, daß die älteren Klassenstufen der 98er Stichproben die von der Rechtschreibreform nicht betroffenen Wörter nicht besser schreiben können als diejenigen der 96er Stichproben. Deutlich wird aber auch, daß die Rechtschreibreform wirkt. Allerdings ist das Ergebnis bezüglich der s-Laut-Schreibung genau entgegengesetzt der erwünschten Richtung. Zum einen machen die Kinder aller Klassenstufen bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern signifikant mehr Fehler, zum anderen übergeneralisieren sie, indem sie offensichtlich die neuen Schreibweisen auch bei s-Laut-Wörtern anwenden, die nicht von der Reform betroffen sind.“

StR Christian Pießnack und Dr. Adelbert Schübel teilen in ihrer 2005 veröffentlichten Studie „Untersuchungen zur orthographischen Kompetenz von Abiturientinnen und Abiturienten im Land Brandenburg“ (Prüfungsjahrgänge 2000 bis 2002) folgende Beobachtung mit:

„Unbedingt angemerkt werden muss, dass sich im Bereich der s-Schreibung ein neuer Fehler in einer Größenordnung etabliert hat, die beunruhigt. 46% aller Fehler der s-Schreibung entfallen auf den Fehlertypus „ss statt ß“. Auch die stark zunehmende Kommaabstinenz, die die Lesbarkeit der Texte erschwert, muss weiter beobachtet werden.“

Beide Bereiche sind unmittelbar von der Reform betroffen.

Auf Wunsch kann ich Ihnen all diese Studien, über deren wissenschaftliche Integrität kein Zweifel besteht, im Volltext vorlegen.

Lassen Sie mich bitte wissen, wie lange die Österreichische Bundesregierung auf diesem längst verblichenen Gaul noch weiterzureiten gedenkt.

Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen

Alexander Glück


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 14.08.2008 um 23.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7300

Vielen Dank, Herr Glück. Ich habe ehrlich nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Den leicht ungehaltenen Zwischenton bilde ich mir wahrscheinlich nur wieder ein. Der spezifische Wiener Schmäh hat sich mir nie erschlossen. Ich fand auch Hans Moser immer nur mißmutig und übelgelaunt.

Wer genau hatte den Rechtschreibrat eigentlich zu einem "Fachgremium" ernannt? Etwa er selber?

Es bleibt nur zu hoffen, daß Frau Ministerin (elektronisch gefertigt oder nicht) eine Studie in der Schublade hat, um ihre Behauptung zu beweisen: "Daraus eine „längst fällige Neuorientierung“ in Österreich argumentieren zu wollen, erscheint nicht angezeigt, zumal die Reform in ihren einzelnen Schritten in österreichischen Schulen zufriedenstellend umgesetzt wurde."

Schön, daß wir nun also aus Österreich Daten erwarten können, die eine zufriedenstellende Umsetzung der Reform in ihren einzelnen Schritten in österreichischen Schulen hinreichend belegen.


Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 14.08.2008 um 10.18 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7293

Fortsetzung zu #7245


Sehr geehrte Frau Lukanz,

Ihre Nachricht beantwortet nicht meine Anfrage. Ich wollte wissen, wie die Frau Bundesministerin angesichts der bereits vorliegenden Ergebnisse zur Weiterführung dieses Massenexperiments und insbesondere zur Rolle Österreichs bei der längst fälligen Neuorientierung steht.

Ich bringe deshalb meine Anfrage als unbeantwortet nochmals ein und wäre für eine zielführende Stellungnahme sehr dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

Alexander Glück



Bundesministerium für
Unterricht, Kunst und Kultur
Geschäftszahl: BMUKK-23.700/0010-V/10/2008

SachbearbeiterIn: ADir. Susanna Lukanz

Abteilung: V/10

E-Mail: susanna.lukanz@bmukk.gv.at

Telefon/Fax: +43(1)/53120-2593/53120-81 2593



Antwortschreiben bitte unter Anführung der Geschäftszahl.

Anfrage betreffend Studie über Auswirkungen der Rechtschreibreform

Sehr geehrter Herr Glück!

In Beantwortung Ihrer neuerlichen Anfrage kann Folgendes gesagt werden:

Der Rat für deutsche Rechtschreibung wurde u.a. eingesetzt, die Praxis der (neuen) deutschen Rechtschreibung zu „beobachten“. Genau dies tut er unter Ausschöpfung fachlicher Expertisen.

Auch das Diskutieren eventueller Untersuchungen und Studien zur Rechtschreibung im Vergleich gehört zu diesen Aufgaben. Sollte das Fachgremium zur Erkenntnis gelangen, dass Ergebnisse vorliegen, die Adaptierungen empfehlenswert erscheinen lassen, wird dies nach ordnungsgemäßer Abstimmung als Vorschlag den für die Umsetzung der Rechtschreibung im öffentlichen Bereich zuständigen Behörden übermitteln.

Die Ausschnitte aus der von Ihnen zitierten Studie von Uwe Grund geben keinerlei Aufschluss über untersuchungsrelevante Faktoren wie Größe des Samples, Befragungszeitraum, Situation der Befragung, usw. Klar ist jedoch, dass es sich um eine in Deutschland durchgeführte und in ihrer Beschaffenheit nicht näher ausgeführten Studie handelt, die punktuelle Wahrnehmungen unbekannten Umfanges im österreichischen Nachbarland wiedergibt. Daraus eine „längst fällige Neuorientierung“ in Österreich argumentieren zu wollen, erscheint nicht angezeigt, zumal die Reform in ihren einzelnen Schritten in österreichischen Schulen zufriedenstellend umgesetzt wurde.

Wichtig ist es, für Sicherheit in der Schreibpraxis zu sorgen – der Übergangszeitraum ist mit 31.07.2008 für österreichische Schüler/innen ausgelaufen und die adaptierte Regelung gilt in vollem Umfang.

In der Hoffnung, Ihnen mit dieser ausführlicheren Darstellung gedient zu haben,

mit freundlichen Grüßen

Wien, 13. August 2008

Für die Bundesministerin:
Dr. Andrea Freundsberger
Elektronisch gefertigt


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 12.08.2008 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7279

Lieber D.A., Sie schreiben: "Die Schreibweise entscheidet Ihrer Meinung nach über die Wortart. Dass dem nicht so ist, lässt sich schon dadurch zeigen, dass es möglich ist, die Rechtschreibung gesetzlich festzuschreiben und zu ändern (die Rechtschreibreform ist das beste Beispiel), es aber niemals möglich sein wird, die Grammatik einer Sprache gesetzlich zu regulieren. Denn die kann nur unbewusst reguliert werden, und das wird sie, von jedem einzelnen von uns, tagtäglich, indem wir Sprache anwenden."

Zunächst einmal bedeutet die Tatsache, daß etwas geschieht, nicht, daß es auch zu Recht passiert bzw. daß ein gutes Ergebnis dabei herauskommt, mithin: daß es funktioniert. Die Rechtschreibreform ist also unabhängig von ihren Folgen kein Beweis für die Änderbarkeit und Regulierbarkeit der Rechtschreibung.
Im übrigen hat bislang nur niemand versucht, die Grammatik der Sprache zu ändern. Sollte das jedoch jemand tun, wird das auch irgendwie Wirkung zeigen. Nehmen Sie das dann als Beweis dafür, daß die Grammatik doch veränderbar (nicht veränderlich) ist?

"Also ist es umgekehrt: Nicht die Tatsache, dass man Mensch groß schreibt, macht das Wort zu einem Substantiv, sondern die Tatsache, dass es ein Substantiv ist, führt zu seiner Großschreibung (das wurde irgendwann mal so Standard; wie, darüber wissen Sie ja vermutlich bestens bescheid). Und dass es ein Substantiv ist, darüber entscheiden wiederum nicht obskure, von Menschen festgelegte Regeln, sondern etwa die Tatsache, dass es nach Numerus und Kasus flektiert werden, Kopf einer Argumentphrase sein kann usw. (diese Regeln sind natürlich sprachspezifisch, hier habe ich mich aufs Deutsche bezogen). Angenommen, die nächste Reform würde die Großschreibung von Substantiven regulär abschaffen, ähnlich wie in den Orthografien vieler anderer Sprachen: Wäre dann das nunmehr klein geschriebene mensch kein Substantiv mehr? Natürlich wäre es das noch, da nach wie vor die o.g. entscheidenden Kriterien erfüllt wären. In die Grammatik kann man eben nicht so leicht eingreifen."

Eben. Wie kann dann also das, was nach der Reform groß geschrieben werden soll, ein Substantiv sein? Beispiele: folgendes, im allgemeinen, leid tun, im übrigen etc. pp.
Genau diese "obskure, von Menschen festgelegte Regeln", die Sie kritisieren, waren es doch, die die Großschreibung herbeiführten.

Sie schreiben ferner: "Ähnlich ist es bei leid/Leid tun etc.: Die Rechtschreibreform hat hier nichts an der Grammatik geändert, zugegebenermaßen aber neue Ambiguitäten geschaffen (wobei ich im Falle derjenigen Interpretation von Leid tun, auf die Sie wohl anspielen, nämlich in etwa "Leid zufügen", wohl niemals Leid tun, sondern eben Leid zufügen sagen würde). Auch das kann man natürlich an der Rechtschreibreform kritisieren. Neben längst bestehenden Ambiguitäten der Rechtschreibung, etwa dass die Pluralform des Worts für den ersten Wochentag mit einem Synonym für Installation im Schriftbild zusammenfällt – jeweils Montage –, sind also neue hinzugekommen. Im Falle von Montage oder auch UMfahren und umFAHren wie im Falle von Leid tun wird sich der Leser auf Grund des Kontexts aber fast immer für die vom Autor intendierte Bedeutung entscheiden. Ein großartiges Problem, geschweige denn einen Eingriff in die Grammatik des Deutschen, sehe ich hier also nicht. Kritisieren kann man es natürlich trotzdem."

Das ist schön, daß Sie nicht "Leid tun", sondern "Leid zufügen" sagen würden. Können Sie das denn auch für alle anderen sagen? Und wenn Sie nicht erwarten, daß jemand mit "Leid tun" auch "Leid zufügen" meinen kann, haben Sie schon den ersten Schritt zum Mißverständnis getan.
Daß es auch andere Teekesselchen in der Sprache gibt, bestreitet niemand; das kann aber keine Rechtfertigung bzw. kein Beweis der Irrelevanz dafür sein, weitere zu kreieren.
Sie vertrauen wie die meisten Reformer darauf, daß der Kontext schon den richtigen Weg weist. Dafür muß es den Kontext aber erst einmal geben. Der Ausdruck allein reicht somit nicht mehr aus, er braucht erklärende Begleiter. Der Kontext selbst muß natürlich auch eindeutig sein, d. h., er darf keine mißverständlichen Formulierungen enthalten oder müßte im Falle dessen seinerseits durch flankierende Erläuterungen ergänzt werden.
Stellen diese Anforderungen tatsächlich eine Erleichterung des Schreibens dar?

Darüber hinaus gibt es beim Lesen und Schreiben keine Einbahnstraßen. Beim Schreiben schließt man von der Grammatik auf die Rechtschreibung und wählt so seine Worte. Beim Lesen schließt man von der Rechtschreibung auf die Grammatik, um den Sinn des Textes zu erfassen.
Da zitiere ich sinngemäß Herrn Stirnemann: "Wollen wir einander Rätsel aufgeben?" Wollen Sie, D.A., Ihren Lesern tatsächlich zumuten, sich unter mehreren möglichen Bedeutungen anhand anderer Ihrer Worte - so es sie gibt - für die wahrscheinlichste zu entscheiden? Täten Sie Ihren Lesern nicht einen Gefallen damit, unmißverständlich klipp und klar zu formulieren?

Wenn Sie fremden Leuten einen Brief schreiben, wissen Sie nicht, zu welchen Deutungen jene tendieren. Sie müssen sich also möglichst präzise ausdrücken. Das können Sie mit der bewährten Rechtschreibung besser. Warum probieren Sie es nicht einfach mal aus?

">>Diese seltsame Egal-Hauptsache-mir geht's-gut-Einstellung, die der Bremer Sprachblog an den Tag legt [...]<< Zum Glück nur in Bezug auf Rechtschreibung, und nicht auf Sprache. (Ja, ein provokativer Schlusssatz musste noch sein, gepaart mit einem provokativen Dreifach-s.)"
Wenn das für Sie ausreicht, um provokant zu sein, ist der Bremer Sprachblog ja ein ganz langweiliger Haufen.

Alles in allem verwundert mich Ihre Schlußfolgerung aus den Beiträgen der anderen. Niemand hat behauptet, die Rechtschreibung beeinflusse die Grammatik, sondern im Gegenteil wurde stets gegeißelt, daß mit der Reformschreibung grammatische Prinzipien und grammatische Vorgaben mißachtet würden.
Und noch mehr verwundert mich, daß Sie offenbar fordern, daß die Grammatik maßgeblich sein soll, dann aber verneinen, daß sich das in der Rechtschreibung niederschlagen sollte.
Herr Höher hat treffend zusammengefaßt, was das für das Lesen reformiert gesetzter Texte heißt.
Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines Menschen, der schlecht lesen kann, und in die eines Ausländers, der Deutsch lernt. Sie als sprachgewandter deutscher Muttersprachler verfügen über etliche Möglichkeiten, Ungenauigkeiten zu kompensieren, die Sie zudem noch unbewußt gebrauchen. Jene aber müssen sich den Sinn eines Textes durch Lesen und Anwenden gelernter Regeln erarbeiten. Ist es denen nicht eine Hilfe, wenn Grammatik und Rechtschreibung kongruent sind?


Kommentar von Red., verfaßt am 12.08.2008 um 11.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7278

Für solche Themen, die nichts mit dem Gegenstand der Meldung zu tun haben, steht das Diskussionsforum zur Verfügung.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 12.08.2008 um 10.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7277

Warum sollte man sich ein für alle mal dafür entscheiden, "Rad fahren" oder "radfahren" zu schreiben?
Für mich sind das verschiedene Dinge. Wenn ich "Rad fahre", kommt es auf das Rad an, und dann kann ich es auch mit Adjektiven erweitern.
Wenn ich "radfahre", radele ich einfach, und es ist belanglos, wie das Gerät beschaffen ist, also ist der Ausdruck auch nicht mit Adjektiven erweiterbar.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 12.08.2008 um 03.12 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7275

Herr Konietzko, Sie haben sicher recht. Mir ist bewußt, daß Auto fahren und Rad fahren sich in einer Übergangsstellung befinden. Der Schritt zum transitiven Gebrauch von fahren diente mir nur dazu, Rad und Auto hier als Substantive zu 'entlarven'. Bei eislaufen und den anderen berühmten Kandidaten geht das nicht, was ich am einfachsten dann erkenne, wenn ich versuche, das jeweilige Substantiv zu 'erweitern' (und ich hatte ja ausdrücklich gesagt, daß ich das als meine Privatmeinung und nur für mich so zurechtlege). Ich möchte das nicht vertiefen, denn ich fürchte, man wird uns übelnehmen, wenn wir das abgedroschene Thema neu aufrollen. Mein Beitrag zielte ohnehin in eine andere Richtung.


Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 12.08.2008 um 01.12 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7274

das gelbe Rad fahren und das neue Auto fahren sind keine Erweiterungen von Rad fahren und Auto fahren, denn man sagt ich bin Rad gefahren und ich bin Auto gefahren, aber ich habe das gelbe Rad / das neue Auto [durch die Gegend] gefahren. Daher sind die Wörter Rad und Auto in Rad / Auto fahren meines Erachtens keine »rein[en] Akkusativobjekte«.

Herrn Isleifs Schreibweisen Rad fahren und Auto fahren sind völlig in Ordnung; ich kritisiere lediglich seine grammatische Begründung.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 12.08.2008 um 00.46 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7273

Selbst mit gestandenen Germanisten kann man vortrefflich über Wortarten streiten (wobei Adjektive sich zu diesem Krieg noch besser eignen als Substantive). Kein Wunder, die Meinungen zu den Wortklassen gehen ja auch in den Lehrbüchern auseinander.

Ich habe schon vor Jahrzehnten die Substantive in 'Auto fahren' und 'Rad fahren' als solche behandelt, weil ich die beiden als reine Akkusativobjekte betrachte. Durch Erweiterung kann man sich das sehr schön selbst 'beweisen': Ich kann das gelbe Rad und wenn's regnet das neue Auto fahren, aber nicht die schwere Maschine schreiben oder die dicke Brust schwimmen. Um so etwas zu entscheiden habe ich den Duden nie gefragt; ich kann meine Privatmeinung ja so vertreten. Ich kann auch vor mir selbst rechtfertigen, warum ich 'die anderen' klein schreibe (schon etwas schwieriger) usw. – andere Leute brauchen meine Meinung nicht zu teilen. (Daß der Fall in der Schule komplizierter liegt, ist mir klar.)

In den Sprachwissenschaften scheint es nun seltsamerweise so zu sein, daß sich im Kopf eines (fast) jeden Professörchens kraft seines Titelchens die Zwangsvorstellung einnistet, seine im Kämmerlein ausgebrütete Privatmeinung dem Gesamtvolk per Verordnung auf's Auge drücken zu müssen. (Für diejenigen unter uns, die gerne in Latein schwelgen: momentan spricht man Ihre Helden Kikero und Kaesar aus; zumindest in Bayern ist das so, und wahrscheinlich auch nur so lange, bis sich die nächste Privatmeinung durchsetzt...)

Was, außer den Titelchen, waren die Kriterien für die Auswahl der Grammatiker für die geplanten gigantischen Verbesserungen von 1996? Freudig überrascht, aber mit sicherem Instinkt und ungehemmt ergriffen die jedenfalls ihre Chance auf ewigen Ruhm, und sie verordneten, regelten und definierten, was nur sie selbst als richtig erachteten. Keine Meßlatte dabei zu tief. Substantive sind ja nur ein Teil der 'veroffiziellten' Privatmeinung dieser 'so genannten' Wissenschaftler. Nur bei den Historikern findet man vielleicht noch ausgeprägtere Zeichen von Gutdünken. Etwas weniger Respekt gegenüber der Berufsgruppe der Wissenschaftler scheint angebracht!

Die Tendenz, sprachwissenschaftliche Axiome eigenmächtig zu definieren, gibt es heute noch. Je unsicherer das Eis der Rechtschreibung wird, auf dem sich nun alle bäuchlings vorantasten, desto kreativer werden die Verbesserungsvorschläge nach hausmacher Art. Auch in den Äußerungen scheinbar Gemäßigter kann man immer wieder zwischen den Zeilen lesen, dies gehöre 'zurückreformiert', aber jenes sei ganz anders noch besser! Ich glaube nicht, daß wir schon die Spitze des Chaosberges erreicht haben.

Den Unterschied zwischen verändern und beschreiben, den Herr Konietzko macht, sehe ich übrigens so nicht – besonders nicht im Fall meiner Muttersprache: wenn man sie lange genug falsch beschreibt, verändert man sie.


Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 11.08.2008 um 19.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7268

Unter der (von Peter Eisenberg und anderen bestrittenen) Voraussetzung, daß die Rechtschreibung nicht zur Grammatik gehört, trifft es tatsächlich zu, daß das amtliche Regelwerk die deutsche Grammatik nicht verändert hat; es stellt ›lediglich‹ falsche Behauptungen über diese auf und verordnet Schreibungen, die auf diesen falschen Behauptungen beruhen – was ja auch schon ein unerhörter Blödsinn ist. Die Welt verändern ist etwas anderes als die Welt falsch beschreiben.

Man muß sich darüber im klaren sein, daß das Wort Grammatik mindestens zwei Bedeutungen hat:
1. ›Gesamtheit der Regularitäten einer Sprache‹,
2. ›Beschreibung dieser Regularitäten‹.
D.A. scheint es in der ersten, Herr Wagner in der zweiten zu verwenden.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.08.2008 um 16.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7266

Ein Eingriff in die Grammatik liegt auch vor bei den Scheinsubstantiven "heute Mittag, gestern Abend" usw. In § 55 steht: "Substantive besitzen in der Regel ein festes Genus und sind im Numerus und im Kasus bestimmt." Laut Icklers "Kritischem Kommentar" hat der Reformer Peter Gallmann 1971 gezeigt, daß "Mittag" und "Abend" hier keine Substantive sein können, da ihnen hier die Kasusbestimmtheit fehlt. Prof. Ickler zitiert Klaus Heller, der in seiner Kurzfassung der Neuregelung davon spricht, daß in einer Reihe von Fällen ursprüngliche Substantive auch nichtsubstantivisch gebraucht und daher bisher klein geschrieben würden. Prof. Ickler zitiert den dtv-Wahrig mit "abend, Abend (Adv.) gestern , heute, morgen - (...)" und "mittag, >künftig groß > Mittag (Adv.) zur Mittagszeit" Laut Prof. Ickler wurde in dieser Zusammensetzung der "adverbiale Akkusativ" erfunden.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.08.2008 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7264

D. A. (#7247): »Ähnlich ist es bei leid/Leid tun etc.: Die Rechtschreibreform hat hier nichts an der Grammatik geändert, [...]«

Das ist ein Irrtum, wie man sich anhand des amtlichen Regelwerks klarmachen kann. Vor der Reform gab es nur leid tun, und hier war leid kein Substantiv, auch keine Desubstantivierung, sondern (und so steht es aus bei Prof. Gallmann, einem der Miturheber der Reform; siehe unten) ein adverbial verwendetes Adjektiv (wie es auch bei ich bin es leid, ... zu finden ist; schweizerdeutsch gibt es sogar eine attributive Verwendung: kä läidi Idee). Das amtliche Regelwerk legte 1996 jedoch fest:

»§ 34 Partikeln, Adjektive oder Substantive können mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden. [...] Dies betrifft:
[...]
(5) Substantiv + Verb, zum Beispiel:
Angst haben, Auto fahren, Diät halten, Eis laufen, Feuer fangen, Fuß fassen, Kopf stehen, Leid tun, Maß halten, Not leiden, Not tun, Pleite gehen, Posten stehen, Rad fahren, Rat suchen, Schlange stehen, Schuld tragen, Ski laufen, Walzer tanzen«

(Ich habe hier absichtlich die ganze Liste wiedergegeben, damit man sieht, was damals alles in einen Topf geworfen wurde.)

In einem sprachwissenschaftlichen Aufsatz merkte Prof. Gallmann dazu an:

»Zu erwägen ist eine Korrektur bei der Fügung Leid tun, da hier wohl nicht das Nomen Leid, sondern eher das standardsprachlich defektive Adjektiv leid vorliegt (in süddeutschen Dialekten sind attributive Formen dieses Adjektivs noch gelaüfig). Am besten schreibt man zusammen (in Abweichung sowohl von der 1901er- als auch von der 1996er-Regelung): leidtun, es tut mir leid, es hat mir leidgetan.«
(http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Pub/N-V-Verbindungen_1999.pdf – siehe dort Fußnote 16)

Im amtlichen Regelwerk von 2004 findet man dann:

»§ 34 Partikeln (Präpositionen, Adverbien), Adjektive oder Substantive können als Verbzusatz mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden. [...] Dies betrifft:
[...]
(3) Zusammensetzungen aus (teilweise auch verblasstem) Substantiv + Verb mit den folgenden ersten Bestandteilen:
[...]
leid-     leidtun (nach § 55(4) auch: Leid tun

Und im 2006er Regelwerk heißt es nun:

»§ 34 Partikeln, Adjektive, Substantive oder Verben können als Verbzusatz
mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden. [...] Dies betrifft:
[...]
(3) Zusammensetzungen mit einem substantivischen ersten Bestandteil.
Dabei handelt es sich um folgende Fälle, bei denen die ersten Bestandteile die Eigenschaften selbständiger Substantive weitgehend verloren haben:
eislaufen, kopfstehen, leidtun, nottun, standhalten, stattfinden, stattgeben, statthaben, teilhaben, teilnehmen, wundernehmen«

(Die Kleinschreibung leid bei Distanzstellung ist § 56 zu entnehmen.)

Wie man sieht, hat die Reform hier per Dekret aus dem Adjektiv ein Substantiv gemacht und damit sehr wohl in die Grammatik eingegriffen.


Kommentar von AG, verfaßt am 11.08.2008 um 11.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7263

Werter Herr Lachenmann, was von jemandem als Nachdenken gemeint ist, kann sehr wohl von jemand anderem als Gefasel verstanden werden. Wer will da richten?

Und haben Sie sich nicht auch selbst schon dabei erwischt, daß bei passender Gelegenheit Gefasel nicht nur ein inspirierendes Stilmittel ist, sondern auch eine probate Übung, das Hirn von allem Unrat freizufegen?

Zu Studienzeiten habe ich einen kennengelernt, der darin Meister war. Es eröffnet so viele assoziative Anknüpfungspunkte. Und dann kann auch das Gefasel sehr wohl bei Umstehenden als Nachdenklichkeit ankommen.

Wir können alles transzendieren. Mein Unterscheidungswunsch war jedoch nicht philosophisch gemeint, sondern ganz real: Rechtschreibung ergibt sich aus anderen Dingen als aus Verordnungen. Schreibung nicht.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.08.2008 um 20.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7262

Prof. Ickler hat die Substantive wie "des Öfteren, seit Langem, zu Schanden" usw. schon 1997 in "Die sogenannte Rechtschreibreform" "Scheinsubstantive" genannt. Ich nenne sie zusätzlich "monokasuale Substantive", weil sie nur einen einzigen Fall regieren, den mit der zugehörigen Präposition. Deswegen können sie auch keinen Satz als Subjekt anführen. Wegen ihres unvollständigen Deklinationsparadigmas könnten sie auch "defektive Substantive" genannt werden. Prof. Ickler zitiert den Reformer Dieter Nerius, der noch 1989 solche "Pseudosubstantivierungen" eindeutig in den nichtsubstantivischen Bereich eingeordnet hat (griech. pseudäs = täuschend, erlogen, unwahr, falsch, irrig).


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 09.08.2008 um 12.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7261

Ich muß mich noch einmal präzisieren.

In die Grammatik kann man eben nicht so leicht eingreifen.

Diesen letzten Satz hatte ich eigentlich nicht mehr von D.A. kopieren wollen, da mein gesamter Beitrag ihn ja widerlegt. Denn durch die grundlegende Veränderung der Rechtschreibung greift man sehr wohl in die Gramatik ein. Präziser: in die intuitive Grammatikkompetenz des Lesers und Schreibers.

Den folgenden Teil muß D.A. nun nicht mehr auf sich beziehen:

Somit ist Rechtschreibung und das Lesen reformierter Texte nur noch etwas für Menschen mit überdurchschnittlichen Grammatikkenntnissen. Also eigentlich etwas für die "Wohlgeborenen". Zugleich sind aber angeblich volksetymologische Schreibungen wie "Tollpatsch", "einbläuen", "gräulich" (nicht die Farbbeschreibung, die es ja so schon gab!), "nummerieren", "aufwändig" und "Zierrat" nur etwas für Menschen mit unterdurchschnittlicher Allgemeinbildung, da zuviel hiervon bei der reformierten Schreibung bekanntlich wieder hinderlich ist. Schließlich sind Eindeutschungen von Fremdwörtern nach dem Lotterieprinzip wieder etwas für Menschen, die ursprünglich einmal eine gute Allgemeinbildung und Fremdsprachenkenntnisse hatten, inzwischen aber einer Lobotomie unterzogen wurden. Denn nur so kann man angesichts der Schreibweisen "Tipp", "Top" (statt 'Topp'), "Pop" (statt 'Popp'), "Stopp", "Känguru", "Delfin" und "Anakonda" (statt 'Annakonda') nicht laut aufschreien.

Ich fasse mal zusammen: (1) geradezu wohlgeborene Grammatikkenntnisse, (2) eine deutlich unterdurchschnittliche Allgemeinbildung [das entspricht dem Ausscheiden in der zweiten oder dritten Runde bei Günther Jauch] und (3) Lobotomiepatient mit positiven (Rest)vitalfunktionen.
Das kann also nur die unheimliche Kreatur sein, die der Wissenschaftler Dr. Augst in seinem Laboratorium erschaffen hat. Ihr wurde das Gehirn des "erfundenen Laien" eingepflanzt. Ob das Wesen nach dem erfolgreichen Zusammenbau freilich lebensfähig war, konnte bis heute nicht eindeutig nachgewiesen werden. In letzten Interviews zum zehnten Jahrestag seiner Schöpfung faselte der Wissenschaftler nur noch etwas von einer gewissen s-Schreibung. Es muß sich hierbei um die Nähtechnik handeln, mit der das Wesen zusammengesetzt wurde. Unbekannten Quellen zufolge soll sie aus dem 19. Jahrhundert stammen. Ob wenigstens sie die erschaffene Kreatur zusammenhalten kann, bleibt aber abzuwarten.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 09.08.2008 um 11.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7260

Zu D.A. in 599#7247:

Um es gleich zu Beginn klar und unmißverständlich zu sagen: D.A faselt nicht, er argumentiert. Bezüglich der Probleme, um die wir uns alle pirouettenartig drehen, und der Qualität seiner Argumente, zum Kern dieser Probleme vorzudringen, kann man unterschiedlicher Auffassung sein.

Also ist es umgekehrt: Nicht die Tatsache, dass man Mensch groß schreibt, macht das Wort zu einem Substantiv, sondern die Tatsache, dass es ein Substantiv ist, führt zu seiner Großschreibung (das wurde irgendwann mal so Standard; wie, darüber wissen Sie ja vermutlich bestens bescheid). Und dass es ein Substantiv ist, darüber entscheiden wiederum nicht obskure, von Menschen festgelegte Regeln, sondern etwa die Tatsache, dass es nach Numerus und Kasus flektiert werden, Kopf einer Argumentphrase sein kann usw. (diese Regeln sind natürlich sprachspezifisch, hier habe ich mich aufs Deutsche bezogen). Angenommen, die nächste Reform würde die Großschreibung von Substantiven regulär abschaffen, ähnlich wie in den Orthografien vieler anderer Sprachen: Wäre dann das nunmehr klein geschriebene mensch kein Substantiv mehr? Natürlich wäre es das noch, da nach wie vor die o.g. entscheidenden Kriterien erfüllt wären. In die Grammatik kann man eben nicht so leicht eingreifen.

Bei der Funktion der Großschreibung von Substantiven scheint mir tatsächlich ein Mißverständnis vorzuliegen, denn ich simme dem obigen Absatz von D.A. uneingeschränkt zu. Nicht die Schreibweise ordnet ein Wort einer bestimmten Wortart zu, sondern zunächst die Grammatik. So weit folge ich D.A. Nun muß man sich aber überlegen, welche Funktion die Rechtschreibung hat. Und hier trennen sich unsere Wege wieder.

Meiner Meinung nach dient die Rechtschreibung dem Lesen. Solange ich Texte ausschließlich für mich und meine Schublade schreibe, spielt die Rechtschreibung überhaupt keine Rolle. Ich habe die Texte ja geschrieben und werde meine eigenen zu Papier gebrachten Gedanken auch nach ein paar Jahren noch verstehen können. Sobald ich aber möchte, daß auch ein anderer Mensch (meiner Sprache) diesen Text liest, halte ich mich an Regeln, die ihm das Lesen (und damit das Verstehen) erleichtern. Um bestimmte Wörter zu kennzeichnen hat die lateinische Schrift, wie sie in Deutschland verwendet wird, zunächst zwei Möglickeiten: die Großschreibung und die Zusammenschreibung bestimmter Worte. Da Substantive "Kopf einer Argumentphrase" sein können, im Satzgefüge als Subjekte und Objekte auftreten können, hebt man sie durch Großschreibung hervor. Noch einmal: die Grammatik legt fest, was Substantiv ist und dann als Subjekt oder Objekt im Satz steht, aber die Großschreibung hilft dem Leser beim Verstehen dieses Gefüges, indem sie diese Festlegung kennzeichnet. Denn beim Lesen eines Textes analysiert man nicht jeden Satz grammatisch.

Insofern mag ich mich mißverständlich ausgedrückt haben, bitte dafür um Entschuldigung und versuche, mich präziser auszudrücken. Durch die Großschreibung ändert also das Wort für den Leser visuell die Wortart. Das ist nun mit Sicherheit nicht gerade sehr elegant ausgedrückt, aber zumindest präziser.

Wenn in dem bereits hinlänglich bekannten Satz Die Fische in den Flüssen waren schadstoffverseucht das Partizip wieder in seine Bestandteile aufgelöst wird, um so dem 'verblaßten' Substantiv Schadstoff wieder zu seinem Recht zu verhelfen, dann ist es plötzlich beim Lesen auch visuell wieder als Substantiv da. Grammatisch bleibt es freilich bei Ihrer Feststellung: "[...]eine Abfolge von Determinator - Pluralnomen - Kopulaverb im Präteritum - Verb im Partizip Perfekt bzw. Adjektiv, i.e. im Kern identisch." Aber, analysieren Sie beim Lesen eines literarischen Textes jeden Satz grammatisch? Ich tue das jedenfalls nicht, stolpere aber beim Lesen jedesmal unwillkürlich über Groß- und Kleinschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung, die meinen Lesefluß bremst, weil ich dann doch kurz analysieren muß. "Schadstoff verseucht", aha, gemeint ist offenbar schadstoffverseucht. Das Lesen wird auf diese Weise nicht einfacher, sondern schwieriger. War Erleichterung nicht das erklärte Ziel dieses ganzen Schwachsinns? Die Reformer sind von Wenigschreibern und Weniglesern ausgegangen und genau das war der Fehler. Es mag für einen Dritt- oder Vierkläßler ganz hilfreich sein, visuell zu erkennen, daß schadstoffverseucht (ich weiß, dieses Wort geht man wahrscheinlich mit diesen Klassenstufen nicht durch, aber ich bleibe der Einfachheit halber dabei) sich aus Schadstoff und dem Partizip Perfekt von verseuchen zusammensetzt. Aber ich bleibe doch nicht bei einzelnen Sätzen, sondern komme zu Texten, die sich dann nicht mehr auf die maximale Zeichenzahl einer SMS reduzieren lassen. Und verstehen will ich es doch auch, oder warum lese ich es sonst! Aufgabe einer eigenständigen Untersuchung wäre bei dieser Gelegenheit herauszufinden, ob Jugendliche heute in ihrer 'SMS-Sprache' auch tatsächlich miteinander kommunizieren oder einfach nur Kommunikate absondern.

Herr Ludwig hat ganz recht, verstehen kann ich das alles durchaus noch, aber z. T. eben mit sehr viel Gehirnakrobatik. Je komplexer und ästhetisch anspruchsvoller nun ein Textgefüge wird, um so störender wird es, wenn sich Inhalt und Ästhetik erst nach mehrmaligem Lesen (und angestrengtem Nachdenken) entfalten können.


Kommentar von WL, verfaßt am 09.08.2008 um 09.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7259

Naja, lieber Herr Glück – das ist jetzt wohl eine Frage der Begriffsdefinitionen wenn nicht gar der Philosophie. Jedenfalls ist es doch wohl so, daß das »gemeine Volk« das, was die Politik in Sachen Rechtschreibung verordnet hat, für Rechtschreibung hält. Ist es dann auch Rechtschreibung? Ist das, was der Staat als »Recht« verordnet, tatsächlich Recht? Da kann man tatsächlich lange darüber nachdenken – oder auch faseln.


Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 09.08.2008 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7258

Herr Lachenmann, es tut meiner Anerkennung für Ihre überwiegend besonnenen Beiträge sicher keinen Abbruch, wenn ich in dem Punkt differenzieren will, daß der Staat wohl eine Schreibung, sicher aber keine Rechtschreibung verordnen kann.

Genausowenig, wie ein Gärtner zwar Spalierobstbäume in einer bestimmten Weise aufziehen, aber einem Apfelbaum nicht vorschreiben kann, daß er so wachse, wie er normalerweise wächst.


Kommentar von WL, verfaßt am 09.08.2008 um 09.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7257

D.A. faselt überhaupt nicht. Jedenfalls nicht mehr oder sogar weniger, als so manch einer, dem wir gerne unsere Zustimmung geben, weil er im Sinne der Reformkritik faselt. Solcherlei Bemerkungen sollte man bleiben lassen, wenn man an einer anständigen Diskussion interessiert ist.
Er hat ja völlig recht, wenn er behauptet, Rechtschreibung könne per Verordnung (gesetzlich oder nicht) vorgeschrieben werden. Wir haben es ja erlebt, das geht, Schulen und Öffentlichkeit machen mit. »Geregelt« allerdings ist sie hinterher weniger als zuvor.
Für jemanden, der mit der neuen Rechtschreibung aufgewachsen ist, muß es sehr schwierig sein zu erkennen, worin die Qualitätsunterschiede liegen. Er hat das Bessere ja nicht kennengelernt, und selbst die eigentlich »besseren« Schreibweisen der herkömmlichen Orthographie mögen ihn, wenn er so verfaßte Texte liest, eher verwirren als überzeugen, da sie seinen Lesegewohnheiten zuwiderlaufen. Man muß das Bessere gewöhnt sein und damit umgehen können, sonst kann man es nicht empfinden. Wie gut Eier von frei auf Wiesen und Äckern herumlaufenden Hühnern vom Bauernhof schmecken, weiß man nur, wenn man sie einmal gegessen hat. Solange man solche nicht bekommt, versteht man nicht, was Feinschmecker an Eiern aus Legebatterien auszusetzen haben – schmecken doch prima und machen satt!


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 09.08.2008 um 07.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7256

"D.A. faselt." — Nein, das tut er nicht, — jedenfalls nicht in allem, was er sagt. Jedoch sollte er seine Argumente besser bedenken. "Die Fische waren Schadstoff verseucht" und "Die Fische waren schadstoffverseucht" lesen wir verschieden, wie das Paradebeispiel "wohl verdient" und "wohlverdient" schon lange zeigt, und Intonation und Pausen gehören eben auch zu dem, was er "Grammatik" nennt und was Linguisten Struktur der Sprache nennen. So vieles bleibt in der Luft hängen, wenn wir nicht so schnell wie möglich verstehen, welche Funktion das "Substantiv" *Schadstoff/schadstoff-* in diesem Satz hat. Auch bei "Die Fische waren Schadstoff, verseucht und deshalb eben unbrauchbar" zeigt die Schreibung gleich, wie's gesprochen gemeint ist. Richtige Pausen- und Intonationsanzeiger gehören eben auch zum richtigen Schreiben zum richtigen Lesen.

Natürlich kommt Englisch ohne Großschreibung und auch mit weniger Zusammenschreibung aus als wir sie haben; es ist aber deshalb doch nicht einfacher, denn man muß beim Lesen tatsächlich öfter Sätze "noch einmal anfangen" als bei deutschen Texten. Natürlich verstehen wir meist, was ein reformiert-deformiert geschriebener Text mitteilen will. Ebenso verstehen wir ja auch meist, was ein Schüleraufsatz, der voller Rechtschreibfehler ist, mitteilen will. Aber damit geben wir uns doch nicht sorglos zufrieden! Und kulturell verantwortlich verweisen wir auf Sammlungen wie "GKS/GZS in der Praxis" und "Kommasetzung: Neue Regeln – neue Fehlerquellen". Derart sollte auch D.A. vorgehen. Es geht nämlich um was und nicht um fast nichts.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 09.08.2008 um 00.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7255

D.A. faselt.


Kommentar von D.A., verfaßt am 08.08.2008 um 23.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7254

In der Tat eine belustigende Formulierung des Dudens. Aha, sie werden also als Substantive angesehen; von wem denn, und was hat das damit zu tun, ob sie nun tatsächlich Substantive sind oder nicht? Wohl wissend, dass die Sache nicht so einfach ist (wie etwa zu sagen "Die Groß-/Kleinschreibung entscheidet über ihren Status als Substantive"), hüllt sich der Duden darüber in Schweigen.


Kommentar von Christian H., verfaßt am 08.08.2008 um 23.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7253

Anders als D. A. schätzt freilich der Duden die Lage ein: Was ein Substantiv ist, ist Ansichtssache. 23. Auflage (2004), S. 49 ("Groß- und Kleinschreibung"):

K 69 Die Bezeichnungen von Tageszeiten nach Adverbien wie "gestern", "heute", "morgen" werden als Substantive angesehen und großgeschrieben <§ 55 (6)>.

Der Gesetzgeber verfügt, daß sie als Substantive angesehen werden. Er glaubt, das verfügen zu können. Bei "früh" macht er eine Ausnahme: er erlaubt (bzw. glaubt, erlauben zu dürfen), sowohl "heute früh" als auch "heute Früh" zu schreiben. Und der Duden gibt es genau so getreulich an die Untertanen weiter.


Kommentar von D.A., verfaßt am 08.08.2008 um 23.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7252

Sollten Sie gemeint haben, dass die (neue) Rechtschreibung eben nicht gesetzlich festgeschrieben, sondern nur in der Schule verbindlich ist, so haben Sie natürlich recht und ich entschuldige mich für den unnötigen Fehler. Ich kann Sie und nachfolgende Leser aber insofern beruhigen, als er in meiner Argumentation keine große Rolle spielt, meine eigentliche Aussage also unberührt bleibt.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 08.08.2008 um 23.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7251

Nennen Sie uns doch einfach mal den Wortlaut des entsprechenden Gesetzestexts.


Kommentar von D.A., verfaßt am 08.08.2008 um 22.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7250

Wie schön, da ist sie wieder, die Ignoranz, die ich hier kurzzeitig schon fast vermisst hatte. Möglicherweise habe ich mich missverständlich ausgedrückt; dürfte ich also um eine Klärung Ihrer Beanstandung bitten? Fakten auszublenden war jedenfalls nicht meine Absicht.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 08.08.2008 um 22.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7249

Wenn jemand faselt, die Rechtschreibreform sei das beste Beispiel für die Möglichkeit, die Rechtschreibung gesetzlich festzuschreiben und zu ändern, braucht man gar nicht mehr weiterzulesen und schon gar nicht mehr zu diskutieren: Das ist jemand, der sich um Fakten und Logik nicht schert.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 08.08.2008 um 22.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7248

Die Rechtschreibreform hat viele neue sogenannte Substantive erfunden: Seit Langem, seit Kurzem, des Weiteren, des Öfteren u.v.a. Wo liegen diese Orte, was sind das für bedeutende Ereignisse und wer sind diese Personen? Da ist dringender Forschungsbedarf.


Kommentar von D.A., verfaßt am 08.08.2008 um 22.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7247

Ich denke, jetzt weiß ich, wo unsere unterschiedliche Betrachtung des Themas "Rechtschreibung in der Sprache" ihren Ursprung findet. Sie sind offenbar der Auffassung, die Rechtschreibung beeinflusse die Grammatik einer Sprache. So schreibt Herr Höher in #7237:

Wenn ich gut klein schreibe, handelt es sich um ein Adjektiv oder ein Adverb. Schreibe ich Gut jedoch groß, wechselt es die Wortart und ist nun ein Substantiv.

Die Schreibweise entscheidet Ihrer Meinung nach über die Wortart. Dass dem nicht so ist, lässt sich schon dadurch zeigen, dass es möglich ist, die Rechtschreibung gesetzlich festzuschreiben und zu ändern (die Rechtschreibreform ist das beste Beispiel), es aber niemals möglich sein wird, die Grammatik einer Sprache gesetzlich zu regulieren. Denn die kann nur unbewusst reguliert werden, und das wird sie, von jedem einzelnen von uns, tagtäglich, indem wir Sprache anwenden. So kommt es, dass heute das Präteritum von schrauben nicht mehr schrob, sondern schraubte lautet. Festgelegt hat das niemand, es wurde und wird ganz einfach so benutzt.

Also ist es umgekehrt: Nicht die Tatsache, dass man Mensch groß schreibt, macht das Wort zu einem Substantiv, sondern die Tatsache, dass es ein Substantiv ist, führt zu seiner Großschreibung (das wurde irgendwann mal so Standard; wie, darüber wissen Sie ja vermutlich bestens bescheid). Und dass es ein Substantiv ist, darüber entscheiden wiederum nicht obskure, von Menschen festgelegte Regeln, sondern etwa die Tatsache, dass es nach Numerus und Kasus flektiert werden, Kopf einer Argumentphrase sein kann usw. (diese Regeln sind natürlich sprachspezifisch, hier habe ich mich aufs Deutsche bezogen). Angenommen, die nächste Reform würde die Großschreibung von Substantiven regulär abschaffen, ähnlich wie in den Orthografien vieler anderer Sprachen: Wäre dann das nunmehr klein geschriebene mensch kein Substantiv mehr? Natürlich wäre es das noch, da nach wie vor die o.g. entscheidenden Kriterien erfüllt wären. In die Grammatik kann man eben nicht so leicht eingreifen.

Die Fische waren Schadstoff? Wie kann das sein? Auch wenn man diesen Satz grammatisch analysiert, kommt man doch zu einem anderen Ergebnis als bei dem Satz Die Fische waren schadstoffverseucht.

Nur, wenn man sich nur an der Orthografie orientiert. Grammatisch hingegen sind beide eine Abfolge von Determinator - Pluralnomen - Kopulaverb im Präteritum - Verb im Partizip Perfekt bzw. Adjektiv, i.e. im Kern identisch. Nur an der Darstellung hat sich etwas geändert. Dass man den Satz Die Fische waren Schadstoff verseucht auch anders interpretieren könnte (bzw. eben nicht könnte, es gibt meines Erachtens nur die vom Autor intendierte Interpretation), dürfen Sie gern kritisieren. Allerdings ändert sich an der Grammatik des Satzes nichts.

Ähnlich ist es bei leid/Leid tun etc.: Die Rechtschreibreform hat hier nichts an der Grammatik geändert, zugegebenermaßen aber neue Ambiguitäten geschaffen (wobei ich im Falle derjenigen Interpretation von Leid tun, auf die Sie wohl anspielen, nämlich in etwa "Leid zufügen", wohl niemals Leid tun, sondern eben Leid zufügen sagen würde). Auch das kann man natürlich an der Rechtschreibreform kritisieren. Neben längst bestehenden Ambiguitäten der Rechtschreibung, etwa dass die Pluralform des Worts für den ersten Wochentag mit einem Synonym für Installation im Schriftbild zusammenfällt – jeweils Montage –, sind also neue hinzugekommen. Im Falle von Montage oder auch UMfahren und umFAHren wie im Falle von Leid tun wird sich der Leser auf Grund des Kontexts aber fast immer für die vom Autor intendierte Bedeutung entscheiden. Ein großartiges Problem, geschweige denn einen Eingriff in die Grammatik des Deutschen, sehe ich hier also nicht. Kritisieren kann man es natürlich trotzdem.

Diese seltsame Egal-Hauptsache-mir geht's-gut-Einstellung, die der Bremer Sprachblog an den Tag legt [...]
Zum Glück nur in Bezug auf Rechtschreibung, und nicht auf Sprache. (Ja, ein provokativer Schlusssatz musste noch sein, gepaart mit einem provokativen Dreifach-s.)


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 08.08.2008 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7246

Lieber AG (ich werde nicht indiskret),

wahrscheinlich war das schon alles, was kommen wird. Welche andere Funktion hätte denn sonst das Modalverb "dürfen"? Ihnen darf eben nur die grandiose Ankündigung einer eigenen Studie mitgeteilt werden, eine erste Einschätzung des Befundes durch die Ministerin jedoch nicht. Womöglich gibt es auch gar keine Einschätzung.

Wer weiß, was für eine Antwort käme, wenn man Zehetmair wegen seiner geheimen Belege für die Erfolge der Reform anschriebe! (Bitte nicht als Aufforderung mißzuverstehen, denn es ist die Mühe nicht wert.)


Kommentar von AG, verfaßt am 08.08.2008 um 14.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7245

Weil meine Anfrage durch diese Ablenkung aber gar nicht beantwortet wurde, habe ich nochmal nachgehakt.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 08.08.2008 um 14.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7244

Der Rat für deutsche Rechtschreibung plant eine ähnliche Studie in großem Umfang - mit voller Absicht jedoch erst dann, wenn nicht mehr sogenannte Umlerner (also Schüler/innen, die noch in einer alten Version begonnen haben) im relevanten Jahrgang (wahrscheinlich 9. Schulstufe), weil sonst die Ergebnisse ziemlich wenig aussagen.

Spannend ist nicht nur, daß Ministerien "Folgendes" offenbar wirklich für ein Substantiv halten, sondern auch, daß entgegen Zehetmairs Beitrag zum Sommertheater nun wohl doch keine weiteren Reformen mehr beabsichtigt sind.

Und falls es doch weitere Subreformen geben wird, dann muß man die geplante Studie leider wieder verschieben, bis es erneut keine sogenannten "Umlerner" mehr gibt. Klingt ein wenig wie eine Ausrede: "Wir würden ja gerne eine Untersuchung durchführen, können das aber erst machen, wenn keine Schüler mehr in einer alten Reformversion zu lernen begonnen haben." Natürlich wird niemand sagen, daß das erst am Sankt Nimmerleinstag sein wird. Die Absichtserklärung, eine Studie durchführen zu wollen, wird schon ausreichen. Genau wie Zehetmairs Geheimdossiers zu den Reformerfolgen.

Schließlich ist mir noch aufgefallen, daß auch die Ministerien mit ihren Übergeneralisierungen der weiblichen Formen noch überfordert sind: wo sind denn bitte die "Umlernerinnen"?

Und damit genug der Polemik, in jedem Fall ist Herrn Glück für die Veröffentlichung seiner Korrespondenz zu danken. Ein Blick in die Mechanismen der Macht ist immer wieder lehrreich.


Kommentar von Pt, verfaßt am 08.08.2008 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7243

Müßte nicht ''sogenannte'' reformtreu zerrissen werden, oder hat man das irgendwann wieder rückgebaut? Oder liegt es an der Tatsache, daß Frau Lukanz ja auch nur ein Umlerner ist, und somit irrelevant? Die Ergebnisse dürften schon deshalb wenig aussagen, weil sie von den Reformern in Auftrag gegeben wurden. Aber so eine großangelegte Studie kostet natürlich Geld, und das zahlt natürlich – der Steuerzahler.


Kommentar von Tt, verfaßt am 08.08.2008 um 14.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7242

Es wäre genauso angelegt, wenn man die Deutschkenntnisse ausschließlich an Jugendlichen erheben würde, die in der Colonia Dignidad aufgewachsen sind.

Bemerkenswert ist aber auch der verunglückte Satzbau am Schluß der Antwort.


Kommentar von Pt, verfaßt am 08.08.2008 um 14.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7241

So werden mehrere Schuljahrgänge und ihre künstlich geschaffenen Rechtschreibprobleme als irrelevant abgetan. Als Schüler würde ich meine Schlüsse daraus ziehen.


Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 08.08.2008 um 12.59 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7240


–– Original Message ––
From: Alexander Glück
To: ministerium@bmukk.gv.at
Sent: Monday, July 28, 2008 2:44 PM
Subject: Anfrage

Sehr geehrte Frau Bundesministerin!

Soeben wurden Teile einer Studie über die Auswirkungen der sog. "Rechtschreibreform" veröffentlicht (www.sprachforschung.org). Diese Untersuchung kommt zu Ergebnissen, die Sie als Ministerin hellhörig machen müssen, weil sie nicht nur die Versprechungen der Reformbetreiber deutlich widerlegen, sondern Anlaß genug sein sollten, die Frage nach dem Sinn einer Weiterführung dieser Regelungen — wirklich ergebnisoffen — neu zu verhandeln:


Uwe Grund
Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform
Erste Ergebnisse vergleichender Studien (Kurzfassung)

Die Rechtschreibreform hat das korrekte Schreiben in den Schulen nicht „erleichtert“ (Duden, 22. Aufl. 2000, Vorwort), sondern erschwert. Nach allen vorliegenden Studien (eigene Primärerhebungen und Auswertung vorhandener Fremddaten) ist je nach untersuchten Quellen und Vergleichszeitraum die Fehlerquote (orthographische Fehler je 100 in Schülerarbeiten niedergeschriebene Wörter) gegenwärtig höher um

• 80 % (freie Aufsätze von Viertkläßlern)
• 110 % (Diktate in der gymnasialen Unterstufe)
• 120 % (Abituraufsätze)

Hinsichtlich der Fehlerarten zeigt sich, daß die Fehler gerade dort überproportional gestiegen sind, wo die Reform regulierend in die Sprache eingegriffen hat. Für die Viert- bis Siebtkläßler (nur für diese waren hinreichend spezifizierte Daten verfügbar) gilt:
Die Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung haben sich je 100 niedergeschriebene Wörter (Token) fast verdreifacht in den untersuchten gymnasialen Unterstufenklassen (Anstieg von 1970/1972 auf 2004/2006 um 176%) und mehr als verdoppelt in vierten Klassen der Grundschule (Anstieg von 1990/91 auf 2001 um 136%).

Verstöße gegen die korrekte Schreibung des s-Lautes haben sich, bezogen auf je 100 Wörter (Stichprobe Vergleichsdiktate in Klasse 5 bis 7 der Höheren Schule), in etwa verdoppelt sowohl bei den jetzt nach Heyse zu schreibenden Wörtern wie bei den sonstigen Schreibungen des s-Lautes.

Die Schüler werden zu falschen Analogiebildungen verleitet (fast ein Drittel einer Testklasse schreibt „Glockenschwängel“).

Am Beispiel der Änderung der Schreibung des s-Lautes (§ 25 der Amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung) kann belegt werden:
Die Reform operierte mit uneingelösten Prognosen: „[…] dürfte die Reduzierung des Anwendungsbereichs des Zeichens ß (inlautend und auslautend nach Langvokal und Diphthong) für den Schreiber gegenüber der bisherigen Regelung eine Vereinfachung darstellen.“ (Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache [Hrsg.]: Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung, 1985, S. 156f).

Eine quantitativ ins Gewicht fallende und damit notenverbessernde Wirkung konnte die Änderung der Regel bei der Schreibung des s-Lautes schon deswegen nicht haben, weil z.B. nach den für die Unterstufenklassen Höherer Schulen vorliegenden Daten nur rund jeder 50. Fehler zu diesem Fehlertypus gehörte (n = 148.750 Token).

Verstöße gegen die korrekte s-ss-ß-Schreibung lagen im Ranking nach Fehlerkategorien in einer 1980 publizierten, für die Klassen 5 bis 10 repräsentativen Erhebung (n = 91.455 Fehler) auf dem Gebiet der DDR auf einem 11. Rangplatz (4,18% aller Fehler). Es bleibt ausstehenden Untersuchungen vorbehalten zu klären, in welchem Ausmaß die gehäuft erst nach der Reform auftretenden Falschschreibungen wie z.B. [Behältniss], [Fäschen], [leiße], [Eiß] usw. mit dazu beitragen, die Chancen der heutigen Schülergeneration auf gute bis befriedigende Leistungen in der Rechtschreibung zu schmälern.

Ich bitte Sie hiermit um eine erste Einschätzung dieser Befunde. Es würde der Republik Österreich in dieser Situation sehr gut anstehen, den anderen deutschsprachigen Ländern jetzt den wichtigen Impuls zu einem Innehalten und zur Aufnahme von wirklich lösungsorientierten Gesprächen zu geben.

Herzlichen Dank und mit freundlichen Grüßen

Alexander Glück

www.glueck.eu.tt


–– Original Message ––
From: Lukanz Susanna
To: themenangebot@gmx.net
Sent: Friday, August 08, 2008 12:32 PM
Subject: WG: Ihre Anfrage an die Frau Bundesministerin


Sehr geehrter Herr Glück!

In Beantwortung Ihrer Anfrage an die Frau Bundesministerin bezüglich Einschätzung der Befunde über die Untersuchung der Auswirkungen der neuen Rechtschreibung darf Ihnen Folgendes mitgeteilt werden:

Der Rat für deutsche Rechtschreibung plant eine ähnliche Studie in großem Umfang - mit voller Absicht jedoch erst dann, wenn nicht mehr sogenannte Umlerner (also Schüler/innen, die noch in einer alten Version begonnen haben) im relevanten Jahrgang (wahrscheinlich 9. Schulstufe), weil sonst die Ergebnisse ziemlich wenig aussagen. [sic!]

Mit freundlichen Grüßen
S.Lukanz

RegR ADir.Susanna Lukanz
Abteilung V/10
Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
A- 1014 Wien Freyung 1
Telefon +43-1-53 120/2593
FAX +43-1-53 120/812593
E-Mail susanna.lukanz@bmukk.gv.at


Kommentar von Germanist, verfaßt am 07.08.2008 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7239

Nach meinem Verständnis ist nicht die gesprochene Sprache das Primäre, sondern der Gedanke. Allerdings ist schon das griechische Wort "logos" am Anfang der Schöpfungsgeschichte mehrdeutig. In Bayern sagt man: Die Preußen müssen den ganzen Denkvorgang laut mitsprechen, während die Bayern erst denken und dann reden. Wenn aber ein guter Gedanke nicht genau genug niedergeschrieben werden kann, ist das absolut frustrierend. Kein Wunder, daß in der Wissenschaft anfangs auf die französische Sprache ausgewichen wurde. Als die deutsche Sprache endlich zu genauen Formulierungsmöglichkeiten entwickelt war, wurde das von Staats wegen brutal kaputtgemacht. Ich glaube, daß das in der Weltgeschichte einzigartig ist. Gute Gedanken bleiben nicht gesprochen erhalten, sondern geschrieben, und das muß wieder möglich werden.


Kommentar von Pt, verfaßt am 07.08.2008 um 16.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7238

Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, damals gehört zu haben, daß man auch dies (die algorithmische Verarbeitung von Texten) durch die Reform erleichtern wolle. Es kam mir damals schon seltsam vor.

Durch n reformbedingte Zwei- oder Mehrdeutigkeiten wächst die Anzahl der möglichen Interpretationen ein und desselben Textes mit >= 2 hoch n, also exponentiell. Selbst wenn nicht alle dieser Möglichkeiten sinnvoll sind, so erfordert es Zeit, dies zu erkennen, und ''mentales Backtracking'', um den ''Sinnfaden'' des Textes wiederaufzunehmen. Ein solches Regelwerk wäre in der Informatik, was den praktischen Nutzen anbelangt, absolut unbrauchbar.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 07.08.2008 um 16.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7237

Womöglich ist sich D.A. tatsächlich nicht bewußt, daß mit der Schreibweise auch schon eine grammatische Entscheidung getroffen wird. Einen ähnlichen Verdacht habe ich übrigens bei Stefanowitsch, dessen "sprachlogische Neugierde" bekanntlich nicht von Rechtschreibung geweckt werden kann.

Wenn ich gut klein schreibe, handelt es sich um ein Adjektiv oder ein Adverb. Schreibe ich Gut jedoch groß, wechselt es die Wortart und ist nun ein Substantiv. Das kann mithin nicht egal sein, da es die Grammatik (und damit natürlich immer auch die Semantik) betrifft.
Der Mensch denkt in diesem Zusammenhang schon lange nicht mehr und Kollege Computer korrigiert das Nötigste. Vergangenes Jahr habe ich folgenden Satz tatsächlich in GEO gelesen:

Die Fische in den Flüssen waren Schadstoff verseucht.

Die Fische waren Schadstoff? Wie kann das sein? Auch wenn man diesen Satz grammatisch analysiert, kommt man doch zu einem anderen Ergebnis als bei dem Satz Die Fische waren schadstoffverseucht. Diese seltsame Egal-Hauptsache-mir geht's-gut-Einstellung, die der Bremer Sprachblog an den Tag legt, bestärkt die allgemeine Wurschtigkeit. Wenn es sogar Leuten wie dem Wissenschaftler Stefanowitsch egal ist, wie er schreibt, dann kann es ja nicht so wichtig sein. Führen durch Beispiel! Darüber hat man im Bremer Sprachblog wohl nicht nachgedacht. Mit "Leid tun", "Recht haben" und "im Allgemeinen" beweist man nicht gerade saubere Grammatikkenntnisse. Aber mit so langweiligen und grundlegenden Dingen weckt man eben keine sprachlogische Neugierde! Schade.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 07.08.2008 um 16.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7236

Mein Beitrag war eine Provokation, und ich stimme Pt in allen Punkten zu!
Seit 1998 habe ich auf die Probleme hingewiesen, die durch die Reform speziell bei der algorithmischen Verarbeitung von Texten, also insbes. in Suchmaschinen, entstehen. Die Reaktion war weithin nichts als Unverständnis und technische Naivität – wie ich es nun selber vorgetäuscht habe.
Ich hatte dazu sogar 1998 eine Korrespondenz mit Klaus Heller, damals Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen Kommission, der zugab, man habe darüber wohl nicht nachgedacht, und zurückfragte, ob denn das wirklich so schlimm sei. Nachzulesen hier:
www.allegro-c.de/formate/rref.htm
Aber noch immer reden Leute naßforsch daher, man sei leider gar nicht weit genug gegangen mit der Reform, und die Genauigkeit von Schreibweisen (also dier Konsistenz von Textbasen) sei ihnen schnuppe. Da fällt mir langsam nichts mehr ein.


Kommentar von Pt, verfaßt am 07.08.2008 um 15.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7235

Marco Mahlmann, verfaßt am 07.08.2008 um 11.33 Uhr, #7231:

''... ihre feinen Verästelungen, in denen man sich verlaufen kann und die einen doch wieder auf die feste Spur setzen. Sie werden ihre Komplexität erfahren, ihre Nuancen. ...''

Das ist zwar schön ausgedrückt, aber ich glaube nicht, daß das den Adressaten interessiert. Es waren doch gerade diese feinen Verästelungen, die die Reformer stutzen wollten.


Kommentar von Pt, verfaßt am 07.08.2008 um 15.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7234

@ b.eversberg, verfaßt am 06.08.2008 um 22.02 Uhr (#7226)

Leider habe ich in diesem Thread nur sporadisch mitgelesen, deshalb die Frage: meinten Sie, Herr Eversberg, diesen Beitrag ernst?

''Naja, die Suchmaschinen haben ein Problem damit, klar. Das Suchen wird weniger präzise, wenn es Varianten gibt. Aber Himmel, die sollen endlich Software entwickeln, die sich mit dem Sinn beschäftigt, statt nur mit den Zeichenfolgen! ...''

Wenn das so einfach wäre! Natürlich gibt es Vorschläge wie das ''Semantische Netz'' (semantic net), aber auch da muß der ''Sinn'' durch zusätzlichen Markup hinzugefügt werden, und dieses kann nur aus Zeichenfolgen (die eine vorher festgelegte Bedeutung haben) bestehen. Und wie wollen Sie z. B. mit Wortspielen umgehen, die mehr als eine Interpretation (Sinn?) zulassen? Wie wollen Sie ''Sinn'' formalisieren? (Wenn Sie sich nur auf gesprochene Sprache beschränken haben Sie nur Laute, so wie Sie nur Buchstaben haben, wenn Sie sich auf geschriebene Sprache geschränken. Wo ist da der Sinn? Er ergibt sich aus dem Kontext. Sie müßten also einer Suchmaschine den Kontext eingeben können, was aber sehr viel schwieriger sein dürfte, als nur ein oder zwei Begriffe einzutippen. Und wenn Sie nicht genügend Kontext mitliefern reicht es vielleicht nicht, den intendierten Sinn ''herauszuextrahieren''.)

''... Aber das ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie das hinkriegen.''

So optimistisch wäre ich da nicht!

Ganz abgesehen davon würde das mehr Verkehrslast im Netz verursachen und leistungsfähigere Rechner erfordern.

Mit Varianten und ''größeren Grauzonen'' zwingen Sie die Leute ja geradezu, Sinn zu rekonstruieren, also ihre wertvolle Lebenszeit für Dinge zu verschwenden, die mit ''relativ engen'' Rechtschreibnormen sofort offensichtlich wären. (Unter Zeitdruck erzeugen diese ''größeren Grauzonen'' dann auch grauenhafte Folgen, z. B. falsche Medikation bei mißverständlichen Beipackzetteln etc.)

Ihre Argumentation klingt so, als ob jemand bewußt die Radmuttern an allen Autos lösen will, um den Rädern größere Freiheiten einzuräumen, wohl wissend, daß das zu furchtbaren Unfällen führen wird.

Im 18. Jahrhundert konnte man damit leben, weil es damals, um im Bild zu bleiben, nur maximal Pferdekutschen gab und nicht jeder einen fahrbaren Untersatz sein eigen nannte.

Die strikteren Normen bis 1996 ermöglichten uns erst die Freiheit und den Genuß, die Schreiben mit sich bringt. Strenge bzw. strikte Regeln bedeuten nicht automatisch Einschränkung, aber Grauzonen bedeuten Unsicherheit und Lernschwierigkeiten.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 07.08.2008 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7233

Macht es für Sie, D.A. vielleicht gar keinen Unterschied, ob Ihnen jemand Leid tut oder leid tut?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 07.08.2008 um 11.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7232

Wenn Ihnen die Orthographie so herzlich egal ist, D.A., halten Sie es dann auch für belanglos, daß die von der Reform zunächst eingeführte Schreibung Leid tun wieder abgeschafft wurde? Hätte man die Ihrer Ansicht nach nicht einfach beibehalten können?


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 07.08.2008 um 11.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7231

Hallo, D.A., Sie schreiben: "Um eins klarzustellen, es ist nicht so, dass ich diese zwei Alternativen hätte – alte und neue Rechtschreibung, und mich zwingend für eine entscheiden müsste."
Doch, diese Wahl haben Sie. Sie sind ein freier Mensch. Sie müssen sich allerdings nicht für eine Alternative entscheiden, Sie können es vielmehr, brauchen es wiederum aber auch nicht zu tun.
Wir mußten seinerzeit auch die sog. Neue Rechtschreibung außerhalb der Schule lernen, und wir haben es getan. Ihnen ist es möglich, sich die bewährte anzueignen. Ihnen stehen Bibliotheken voller Bücher in herkömmlicher Rechtschreibung offen, Hilfsmittel wie der Mackensen oder der Ickler stehen parat.

Ich betone erneut, der wesentliche Unterschied zwischen der reformierten und der bewährten Orthographie ist nicht ss statt ß oder das dritte t im Bettuch. Das sind Marginalien, wenn auch ärgerliche. Entscheidend ist der Rückbau an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei geht es auch um Ambivalenz, auch um Mißverständlichkeiten. Zuvorderst ist es aber die genommene Chance, vielschichtig und differenziert zu formulieren.
Probieren Sie es aus! Spielen Sie mit der Sprache, testen Sie sie, greifen Sie sie an, fordern Sie sie heraus, entwickeln Sie Phantasie, schwelgen Sie in ihr. Die Sprache wird es Ihnen nicht übelnehmen, im Gegenteil, sie wird sich bei Ihnen bedanken, indem sie Sie ihre Vielfalt spüren läßt, ihre Fallhöhe, ihre Winkel, ihre feinen Verästelungen, in denen man sich verlaufen kann und die einen doch wieder auf die feste Spur setzen. Sie werden ihre Komplexität erfahren, ihre Nuancen. Sie werden ihr in die Falle gehen, Sie werden merken, daß Sie plötzlich auf ganz anderem sprachlichen Gebiet sind, als Sie sich wähnten. Trauen Sie sich! Es ist ein großer Spaß.

Warum sind Sie so sicher, daß die Rechtschreibung oberflächig sei? Und warum ist ein Mittel zum Zweck zwangsläufig oberflächlich?

Sie schreiben ferner: "mir geht es um Orthografien (oder Orthographien, suchen Sie es sich aus) ganz allgemein. Welche nun zu mehr "taugt", interessiert mich erst einmal nicht; meine Gedanken kann ich so und so ganz gut ausdrücken."
Ja, eben "ganz gut", aber nicht "sehr gut". Warum bringen Sie sich selbst um die Chance, etwas Besseres kennenzulernen? Lassen Sie bitte einmal einen Augenblick gelten, daß Orthographie (gleich welcher Sprache) nicht oberflächlich ist, und gehen Sie davon aus, daß Sprache erst einmal der Kommunikation dienen soll. Bedenken Sie darüber hinaus, welcher Reichtum der Sprache eo ipso eigen ist. Wollen Sie dann nicht diesen Reichtum schriftlich wirken lassen? Wollen Sie nicht etwas Unbeschränktes haben, um diesen Reichtum sichtbar zu machen?
Und selbst wenn Sie sagen, die Rechtschreibung sei oberflächlich; wünschen Sie sich dann nicht etwas Nichtoberflächliches, um die Faszination der Sprache, der Sie ja erliegen, greifbar zu machen? Wäre es nicht phantastisch, die Rechtschreibung könnte das leisten?

Noch ein Zitat: »"Und ist es dort üblich, "Ähnliches" und ähnliches groß zu schreiben?"
Ich meine schon, im Grunde ist es mir aber egal. Ich schreibe so, wie ich es für richtig und möglichst logisch und unmissverständlich halte, und empfehle das auch jedem anderen.
«
Was ist denn aber, wenn dieser andere Ihre Worte mißversteht bzw. Sie seine? Das "Ähnliche" ist etwas anderes als das "ähnliche", der "Andere" jemand anderes als der "andere". Ist es nicht gerade deshalb, um Mißverständnisse zu vermeiden, empfehlenswert, möglichst präzise zu formulieren? Ist es in diesem Sinne nicht kontraproduktiv, grundverschiedene Sachen gleich zu schreiben?

Als ich angefangen habe, Bücher zu lesen, habe ich über die Rechtschreibung überhaupt nicht nachgedacht. Es tat sich mir mit der Literatur ein neues Universum auf, eine wunderbare Welt. Als dann die sog. Neue Rechtschreibung kam, habe ich festgestellt, daß Texte in reformierter Rechtschreibung diesen Zauber nicht vermitteln konnten.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie sich von der in der Schule erlittenen Beschränkung lösen und Ihre Freiheit nutzen, die wundersame Welt der Sprache zu erleben. Und dabei werden Sie merken, daß die Orthographie nicht oberflächlich ist.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 07.08.2008 um 00.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7230

D.A.: „Sprache ist für mich, und darüber herrscht in der Linguistik weitgehend Einigkeit, aber etwas Abstraktes: Was wir hören, sind Schallwellen, was wir sehen, sind Buchstaben und Zeichen. Das, was jeweils dahintersteht, ist die Sprache. Grammatikregeln (i.e. die eigentliche Sprache) werden von jedem Muttersprachler unbewusst erworben, Rechtschreibregeln dagegen nicht, und so wird es auch nie sein.“

Wenn wir jetzt die vom Bremer Sprachblog geflaggte, allerdings von deren Teilnehmern gar nicht konsequent durchgehaltene Stringenz und Logik bei der Rezeption dieses Satzes anlegen, lesen wir, daß in der Linguistik weitgehend Einigkeit darüber herrscht, daß für D.A. Sprache etwas Abstraktes ist. Bei D.A. mag das ja so sein, als allgemeine Aussage erscheint mir diese Behauptung höchst fragwürdig. Was ist „etwas Abstraktes“? Sprache doch nicht! Sprache ist etwas sehr Konkretes, sie umgibt uns permanent, wir gehen mit ihr praktisch um, sie bestimmt unser Leben und unser Miteinanderleben in ganz bedeutender Weise.

Sprache ist nichts Materielles, aber sie ist dennoch sehr konkret – also das Gegenteil von abstrakt. Die Zerlegung in „Schallwellen“, „Buchstaben und Zeichen“ bringt doch im Hinblick auf ein Verstehen dessen, was Sprache ist, überhaupt nichts, das sind hilflose und deplazierte Dekonstruktionsversuche, über die die Wissenschaft inzwischen hinausgekommen sein sollte, wäre ihr an Erkenntnisgewinn gelegen. Auch sind „Grammatikregeln“ sicherlich nicht „die eigentliche Sprache“, so wenig wie Rechtschreibregeln, die übrigens sehr wohl unbewußt erworben werden, sofern sie überhaupt erworben werden. Niemand schreibt fehlerlos, weil er die Regeln kennt, sondern weil er durch intensives Lesen und Schreiben die richtigen Schreibweisen im Unterbewußten abgespeichert hat. Hier gibt es sicherlich unterschiedliche Begabungen, und aus eigener Beobachtung weiß ich, daß sehr wohl jemand, der Bücher geradezu leidenschaftlich verschlingt, ein miserabler Rechtschreiber sein kann. Alle diese pauschalen Behauptungen, mit der Sprache, mit der Rechtschreibfähigkeit usw. sei es so und so, halten bei genauerer Betrachtung höchst selten stand. Denn das gesamte Thema ist für Kategorien wie Logik, Regelhaftigkeit, zergliedernde Analysen usw. viel zu kompliziert, es ist Bestandteil des Lebens und ein herrliches Feld der bewundernden Beobachtung, aber sie entzieht sich ebenso wie das Leben jeglicher griffigen Definition und Zergliederung in eindeutig logische Regelhaftigkeiten oder gar gestalterischer Eingriffe im Sinne von Zweckmäßigkeiten. Wer solches dennoch versucht, geht in die Irre bzw. stiftet Schaden, so wie das die Reformer getan haben. Daß dieser Schaden von denjenigen, die nur die beschädigte Rechtschreibung kennen, gar nicht mehr wahrgenommen wird, macht die Sache noch trauriger. Sicherlich: D.A. kann alles ausdrücken, was er ausdrücken will, von den einfachsten Dingen bis zu komplizierten Zusammenhängen, weil er ein sprachbegabter Mensch ist. Aber er hätte es vor der Reform eben besser gekonnt, seine Texte wären lesefreundlicher gewesen und er hätte mehr Sicherheit gehabt, daß sie in seinem Sinne verstanden worden wären von seinen Lesern, weil deren Lese-„Code“ eben weitgehend ein gemeinsamer gewesen wäre. Wenn jeder nach eigenem Gusto schreibt, ist eine gemeinsame Rezeption des Geschriebenen fraglich, abgesehen von der darin liegenden grundsätzlichen Problematik von Mitteilen und Verstandenwerden.

Und ist es nicht recht sonderbar, daß die Reform einerseits zu einer einheitlicheren, logischeren Rechtschreibung führen sollte, andererseits zu weniger Fehlern und jetzt, wo das alles nicht eingetroffen ist, genau der Mißerfolg als Erfolg gewertet wird: die Beliebigkeit der Möglichkeiten, die Gleichgültigkeit der Orthographie sowohl für die Allgemeinbildung als auch für die schriftliche Kommunikation und die Abwertung ihrer Bedeutung in der Sprachkultur als „Nebensache“ (selbst durch Sprachwissenschaftler!). Und daß das sowohl tagtäglich augenfällige Überhandnehmen von Rechtschreibfehlern in allen geschriebenen Texten (Tagespost, Werbung, Zeitungen!) als auch in Schülertexten (bei allen Bedenken gegen Grunds Studie ist die deutliche Fehlerzunahme ja doch wohl unumstritten) seit der Reform begütigend relativiert wird, weil es da ja auch andere Faktoren gegeben haben könnte, die zu diesem Zustand geführt haben? Das hat es sicher, das bestreitet ja auch niemand, aber warum sind die erst in den letzten zwölf Jahren so auffällig? Und wie stellt man sich die Auswirkungen dieser Faktoren vor, wenn die Reform tatsächlich zu einer deutlichen Fehlerreduzierung geführt hätte? Exponentiell gestiegene Rechtschreibfehler durch soziale Faktoren, gerade noch einigermaßen aufgefangen durch die Reform?

Dem Bremer Sprachblog ist das alles egal, ihm geht es nur darum, die Untersuchung von Grund nicht allein zu kritisieren, sondern sie als völlig absurd und stümperhaft zu verdammen. Als Meinungsäußerung mag man dies zur Kenntnis nehmen, sie ist aber völlig uninteressant, da sie sich an Ansprüchen festmacht, die die Studie gar nicht unterstellt. Mir scheint hier eher ein Fall von Selbstdarstellung eines jungen ehrgeizigen Akademikers vor seiner Fangemeinde vorzuliegen, dessen Stärke Sachlichkeit und Besonnenheit nicht sind und der diesen Mangel durch schneidiges Auftreten ziemlich überkompensiert.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.08.2008 um 23.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7228

Zu D.A. 599#7222:

Zum Rechtschreibunterricht in der Schule und dem möglicherweise dogmatischen Einbleuen (ich hoffe doch, daß die Schüler dadurch nicht die Farbe wechseln) der reformierten Regeln kann und werde ich mich nicht äußern.

Aber unabhängig davon haben die Kultusminister 1998 einen nachhaltigen Eingriff in die Sprache vorgenommen, ohne sich über die Konsequenzen hinreichend Gedanken gemacht zu haben. Ein Hauptargument war, daß durch die Veränderung der s-Schreibung die Fehlerhäufung in diesem Bereich zurückgehen würden. Zahlen, die diese angebliche Fehlerhäufung belegen – und damit auch den Eingriff in die s-Schreibung rechtfertigen würden –, gibt es bis heute nicht. Diesen unhaltbaren Blödsinn bei den s-Schreibungen (das Haus, dass am Ufer steht...; Ereigniss; ausserdem, Atlass usw.) gab es jedenfalls vor der vermeintlichen Reform nicht. Die Tagespresse vor diesem Jahr sowie die Schul- und Sachbücher vor 1996 und die gesamte unreformierte Bellestristik bis zum heutigen Tag belegen das hinreichend. Was genau gibt es daran eigentlich nicht zu verstehen? Methode hin oder her. Somit war dieser Eingriff weder erforderlich, noch, was die Folgen und Kollateralschäden angeht, (wissenschaftlich) durchdacht.

Ein sehr unterhaltsames Gegenbeispiel ist übrigens das Satiremagazin "Titanic" (gedruckt und im Internet), wo man gerade die s-Fehler nur sehr selten finden kann. Die Adelungsche Schreibweise hat nämlich exakt eine Variante weniger und ist deshalb schon rein rechnerisch weniger fehleranfällig ("s/ ß" vs. "ss/ s/ ß").

Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten, Mobiltelephone und Veränderungen im Freizeitverhalten Jugendlicher hat es auch schon vor 1998 gegeben. Das ist schließlich gerade mal zehn Jahre her und nun tun alle so, als sprächen wir hier über die Steinzeit.

Und damit komme ich nun auch zu einigen Ihrer Punkte:

Stefanowitsch hat diese Faktoren eingeführt, um Beispiele dafür zu geben, was noch zum Anstieg der Fehlerzahl beigetragen haben könnte. Niemals hat er behauptet, dass diese Faktoren tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Sie könnten. Und das allein reicht, um nicht mit Sicherheit sagen zu können, dass die Rechtschreibreform einen Einfluss auf die Fehlerzahlen hat.

Zwischen den beiden von Grund angeführten Situationsbildern liegen die von Stefanowitsch festgestellten 34 Jahre. Aus diesem Zeitraum von 34 Jahren nennt er drei Faktoren, die es unmöglich machen, die Bilder zu vergleichen, eben weil "sich Deutschland völlig verändert hat".

Da sich die Welt aber nun einmal täglich ändert, wird man niemals exakt die gleichen – und somit auch vergleichbaren – Ausgangsbedingungen vorfinden. Soll man deshalb aufhören, Situationen miteinander zu vergleichen?

Herr Grund geht auf Seite 5 seiner Studie darauf ebenfalls ein, ohne freilich Beispiele zu nennen:

"Wir müssen natürlich damit rechnen, daß sich seit den 1970er und 1980er Jahren auch schon vor der Einführung der neuen Regeln die Rechtschreibleistungen verändert haben. Das müßte im einzelnen an geeigneten Korpora untersucht werden."

Das gehört somit in den Bereich der Forschungsdesiderate, die Grund ja bereits in seinem Untertitel anspricht. Genauso wie Grund im Titel auch nur "vorläufige Ergebnisse" präsentiert. Er hat auf der Grundlage des vorhandenen Materials ausgewählt und das erstellt, was man eine Metastudie nennen kann. Auf die Problematik des Zahlenmaterials aus der DDR geht er auf Seite 9 ein. Unmittelbar vergleichbar ist das Zahlenmaterial aus dem Projekt "NRW-Kids" mit den Vergleichszahlen von 1990/91, also fünf Jahre vor Einführung der Reform, und 2001, also fünf Jahre nach Einführung der Reform (vgl. Grunds Studie, S. 5).

Ich möchte nichts glattbügeln, denn Stefanowitsch meint dazu: "Was fällt hier auf? Der Autor vergleicht die „Alten Bundesländer“ 1990/91 mit „Nordrhein-Westfalen“ 2001. Er variiert also zwei Variablen gleichzeitig, nämlich Region und Zeitpunkt. Damit kann er nicht mehr behaupten, der Unterschied sei auf den Zeitpunkt zurückzuführen. Das ist ein so grundlegender methodischer Fehler, dass ich ihn meinen Studierenden nicht um die Ohren hauen müsste, weil sie ihn nämlich nie machen würden."

Wenn man sich nun die Einwohnerzahlen von Nordrhein-Westfalen ansieht, dann stellt man fest, daß gerade dieses Bundesland schon immer das einwohnerstärkste war. Grund mischt nicht etwa noch ein ostdeutsches Bundesland hinein, was dann tatsächlich problematisch wäre, da die Wiedervereinigung erst 1990 stattfand.

Insgesamt geht die Studie mit dem vorhandenen Material durchaus vorsichtig um. Wo etwas zu problematisieren ist, wird nichts verschleiert, die Quellen werden genannt, die Diktate kann man bei Grund anfordern, und wenn die empirisch-historische Unterrichtsforschung im Bereich der sprachlichen und literarischen Bildung noch in den Anfängen steckt (Grund, S. 1), woher soll Grund dann seine Zahlen nehmen?

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, diese Studie ist für mich nicht das Ende, sondern vielmehr der Anfang von Untersuchungen, die nun noch folgen müssen. Herr Ickler und Herr Markner wiesen hier schon darauf hin, daß es eigentlich die Aufgabe der Kultusminister sei, ihre Behauptungen (Fehlerverbesserungen, leichtere Lernbarkeit etc.) zu überprüfen. Das Ergebnis sehen wir aber tatsächlich jeden Tag in den Medien. Stefanowitsch forderte nun hier im Forum (599#7100) eine ergebnisoffene Untersuchung. Damit verkennt er wieder die Tatsache, daß die Ergebnisse (die vielzitierte Macht des Faktischen) längst vorliegen. Wenn ich mit bestimmten Symptomen zum Arzt gehe, dann will ich ja auch nicht, daß er nach eingehender Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, daß bei mir gewisse Symptome vorliegen, er aber noch nicht sagen kann, woher diese kommen. Ich möchte vielmehr wissen, welche Krankheit bei mir diese Symptome auslöst. Will sagen, weitere Studien müssen natürlich nun folgen und Faktoren, die ebenfalls die Rechtschreibleistungen von Schülern beeinflussen können, noch untersuchen. Schließlich wären noch ähnliche Untersuchungen (wenn es die denn gibt) in Österreich und der Schweiz zu berücksichtigen. Bei der Schweiz müßte freilich die s-Schreibung unberücksichtigt bleiben.

Auf BILDblog, Böll und Wallraff möchte ich nun nicht mehr eingehen. Auch zu Lob und Tadel im Bremer Sprachblog wurde von anderen inzwischen schon viel geschrieben. Getretener Quark wird bekanntlich nur breit und niemals stark. Auffallend finde ich nach wie vor, daß neben den Teilnehmern dieses Forums dort nur Maria und Christian abgestraft wurden. Aber bitte, ich bin nicht auf einem Kreuzzug.

Da es Stefanowitsch nach Ihrer Aussage nur um die Unsauberkeit der Methoden von Grunds Studie geht, bin ich jetzt gespannt, wann er bei Zehetmair die Unsauberkeit in dessen Argumentation zum Erfolg der Reform nachprüft. Spätestens dann wird er auch auf dessen geheime Untersuchungen stoßen und wir alle bekommen diese Zahlen auch endlich zu Gesicht.

Ich kann und werde nicht für die FDS sprechen, aber sobald Stefanowitsch von Zehetmair diese Zahlen eingefordert hat, werde ich alles in Bewegung setzen, was in meinen Möglichkeiten liegt, damit diesmal Stefanowitsch (und nicht wieder Grund) die Auswertung des Materials vornehmen darf.

Wenn ich da noch einen Hinweis geben darf: Herr Schmachthagen argumentiert auch seit Jahren mit Behauptungen, die er nicht beweisen kann und kommt zu fragwürdigen Ergebnissen. Da Hamburg jedoch näher an Bremen liegt als Bayern, könnte Herr Stefanowitsch doch einfach da anfangen. Ich werde jedenfalls dankbar sein für alles, was an Zahlen und Auswertungen noch kommt.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.08.2008 um 22.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7227

Die Nebensächlichkeit der Norm der Verschriftung stellt Deutsch auf eine Stufe mit unterdrückt gewesenen Minderheitensprachen wie Korsisch, Sardisch, Okzitanisch.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 06.08.2008 um 22.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7226

Aus dem Austausch mit dem Bremer Sprachlog ergibt sich für mich, daß das Reformziel einer neuen Einheitlichkeit noch gründlicher und nachhaltiger verfehlt ist als ich bisher dachte. Vielmehr ist es so, daß die Grauzone zwischen richtig und falsch, wie es auch schon einmal ausgedrückt wurde, sehr breit geworden ist und vielleicht noch breiter werden wird. Sie war nach hundert Jahren der Entwicklung ohne obrigkeitliche Eingriffe allein durch Konvention sehr schmal geworden. Dieser beengende Zustand ist nun überwunden.

Ich sage das jetzt ganz ohne Wertung, es ist ein sehr interessantes Experiment, das wohl noch nirgends angestellt wurde. Oder gibt es eine Sprachgemeinschaft, wo man es nicht genau nimmt, wo es nur darauf ankommt, daß der Sinn vermittelt wird, aber eine Norm der Verschriftung nebensächlich ist? Ich weiß es nicht. Im deutschen und im englischen Sprachraum bis zum 18. Jh. war es wohl so, und man konnte damit leben, danach wurden die Normen strikter, die Grauzonen schmaler, wenn ich das richtig sehe. Im Deutschen ist das jetzt wieder vorbei, aber vielleicht können andere daraus was lernen.

Naja, die Suchmaschinen haben ein Problem damit, klar. Das Suchen wird weniger präzise, wenn es Varianten gibt. Aber Himmel, die sollen endlich Software entwickeln, die sich mit dem Sinn beschäftigt, statt nur mit den Zeichenfolgen! Jetzt ist es so, daß Google zum Teil Hinweise gibt ("Meinten Sie vielleicht ..."), teilweise aber nicht, das ist wenig befriedigend. Z.B. wird man bei "Einsparpotential" nicht auf die Schreibweise mit z hingewiesen und umgekehrt. Besonders ärgerlich ist das ja bei Kombinationen von zwei Begriffen. Aber das ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie das hinkriegen.

Spannend ist, wie gesagt, das Experiment. Werden die Menschen sich allmählich befreit fühlen? Werden sie dann ganz unbefangen und souverän damit umgehen und die Stringenz alter Zeiten nur noch belächeln? Ich meine, wir erleben in diesen Jahren Umbrüche ungeahnter Dimensionen, warum sollte denn ausgerechnet unsere Orthographie daraus unverändert hervorgehen? Lassen wir's doch jetzt mal ein paar Jahre ruhen und reden wir dann weiter.


Kommentar von D.A., verfaßt am 06.08.2008 um 20.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7225

Herr Bluhme (#7223), Sie haben recht. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Wenn ich die Aussage "Stefanowitsch hat Fleißpunkte bei denen verteilt, die die neue Rechtschreibung loben" falsifizieren will, muss ich die Grundgesamtheit der Fälle, von denen man behaupten kann, dass Stefanowitsch Fleißpunkte verteilt hat, kennen. Die kenne ich, es sind vier Stück. In keinem dieser Fälle wurde die neue Rechtschreibung gelobt. Damit ist die Aussage falsifiziert, nicht?


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 06.08.2008 um 20.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7224

Solange Herr Stefanowitsch nicht Zehetmairs Untersuchungen mit demselben Maßstab mißt wie Grunds, sollten wir seinen Mist hier undiskutiert lassen.


Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 06.08.2008 um 20.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7223

Bitte? Herr Höher behauptete, Herr Stefanowitsch würde Fleißpunkte unter seinen Anhängern verteilen, die die neue Rechtschreibung loben. Wollte ich das widerlegen, so müsste ich – per definitionem – zeigen, dass dem nicht so ist. Ich habe kein Beispiel gefunden, in dem jemand die neue Rechtschreibung lobt und von Stefanowitsch gelobt wird, damit habe ich Höhers Aussage widerlegt.

Das ist mal eine spannende, neue Sichtweise von Falsifikation. Was würde Karl Popper wohl dazu sagen? Richtig: Alle Schwäne sind weiß!


Kommentar von D.A., verfaßt am 06.08.2008 um 18.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7222

Marco Mahlmann in #7208:

Nun, D.A., lernt man die Rechtschreibung nur in der Schule?
Dort jedenfalls im Regelfall zuerst. Und das hinterlässt nun einmal einen bleibenden Eindruck.

Und ist es dort üblich, "Ähnliches" und ähnliches groß zu schreiben?
Ich meine schon, im Grunde ist es mir aber egal. Ich schreibe so, wie ich es für richtig und möglichst logisch und unmissverständlich halte, und empfehle das auch jedem anderen.

Ihre Zitate bestätigen im übrigen das, was Herr Höher sagt. Wollten Sie ihn widerlegen, bräuchte es Beispiele, in denen Herr Stefanowitsch Reformbefürworter kritisiert.
Bitte? Herr Höher behauptete, Herr Stefanowitsch würde Fleißpunkte unter seinen Anhängern verteilen, die die neue Rechtschreibung loben. Wollte ich das widerlegen, so müsste ich – per definitionem – zeigen, dass dem nicht so ist. Ich habe kein Beispiel gefunden, in dem jemand die neue Rechtschreibung lobt und von Stefanowitsch gelobt wird, damit habe ich Höhers Aussage widerlegt.

Darüber hinaus widerspricht sich Herr Stefanowitsch selbst, wenn er einerseits sagt, die von Grund erhobenen Daten aus den siebziger Jahren seien zu alt, andererseits aber dem Teilnehmer "Abwarten" zustimmt, daß man erst nach Jahrzehnten verläßlich Bilanz ziehen könne, wie sich die Rechtschreibleistungen entwickelt haben.
Nein, denn was Stefanowitsch kritisiert, ist, dass die Daten von vor der Reform zu alt seien. Idealerweise bräuchte man Daten, die direkt vor der Reform erhoben wurden. So könnte man nämlich ausschließen, dass es in der Zeit zwischen Erhebung der Daten und dem Zeitpunkt der Reform einen Anstieg der Fehlerzahl gab, der das Ergebnis verfälscht. An diesem Umstand ändert sich nichts, wenn der Erhebung der Daten nach der Reform erst zehn Jahre später stattfindet.

Oliver Höher in #7210:

[...] Hier wird Stefanowitsch seiner eigenen Forderung – wer eine Behauptung aufstellt, muß sie auch methodologisch einwandfrei und statistisch sauber präsentiert beweisen – untreu. Denn nicht Grund, sondern Stefanowitsch hat diese Faktoren in seinem Blog eingeführt: [...]
Stefanowitsch hat diese Faktoren eingeführt, um Beispiele dafür zu geben, was noch zum Anstieg der Fehlerzahl beigetragen haben könnte. Niemals hat er behauptet, dass diese Faktoren tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Sie könnten. Und das allein reicht, um nicht mit Sicherheit sagen zu können, dass die Rechtschreibreform einen Einfluss auf die Fehlerzahlen hat. Wie Stefanowitsch richtig schreibt: "Die FDS ist es, die Behauptungen aufstellt, deshalb ist es auch die FDS, die die Beweise liefern muss." Wie kommen Sie nun darauf, dass Stefanowitsch irgendwelche Beweise liefern müsste? Hat er Behauptungen aufgestellt, und wenn ja, welche?

Wie BILD arbeitet, weiß man spätestens seit Böll oder Wallraff.
Wer alt genug ist, oder sich besonders dafür interessiert. Ich finde es sehr wichtig, dass es auch heute ein Medium gibt, das über die teils menschenverachtende Berichterstattung der BILD aufklärt. Das aber nur am Rande.

In #32 lobt Stefanowitsch Atkins Beitrag #15 in toto („auf den Punkt, wie immer!“). [...] Na wenn das kein Fleißpunkt ist!
Das bezweifle ich auch gar nicht. Die neue Rechtschreibung hat Atkins trotzdem nicht gelobt, daher ist Ihre Behauptung nicht bestätigt. Sie scheinen mich missverstanden zu haben: Ich habe nicht behauptet, es stimme nicht, dass Stefanowitsch Fleißpunkte verteilt. Ich habe behauptet, es stimme nicht, dass er Fleißpunkte verteilt, wenn seine "Anhänger" die neue Rechtschreibung loben.

Was sowieso? [bezogen auf Stefanowitschs Kommentar "das sowieso!"]
Ich vermute, Stefanowitsch bezieht sich auf Elstners Grundaussage, nämlich dass Grunds Beweisführung faktisch falsch ist.

Hierauf insgesamt mit „das sowieso!“ zu antworten, bezeichne ich als Verteilen von „Fleißpunkten“. Da löst sich nichts in Luft auf.
Siehe oben; hier liegt wohl ein Missverständnis vor.

Wer in diesem Chor nicht mitsingt, wird abgemahnt.
In welchem Chor? Nicht einmal die Befürworter der Studie werden pauschal abgemahnt. Stefanowitsch reagierte lediglich auf Marias Kommentar etwas hitzig, die selbst nach mehrmaligem Hinweis darauf nicht begriffen zu haben scheint, dass es ihm nicht um die Qualität der Rechtschreibung, sondern um Grunds Methoden geht.

Der einzige Beiträger, der zwar reformiert schreibt, sich aber dennoch weigert mitzusingen, ist Christian in #2.
Ich wüsste gern, was das zur Sache tut.

Sie haben doch einen Kopf zum Denken.
Tatsächlich, und diesem sei Dank bin ich zum Schluss gekommen, dass Rechtschreibung bei mir erst ganz zum Schluss kommt, wenn ich mich mit Sprache befasse.
Und glauben Sie mir, "blinden Kadavergehorsam" verurteile ich genauso wie Sie. Dass ich Elemente der reformierten Rechtschreibung verwende, hat ganz andere Gründe.

Warum [Stefanowitsch] sich dann gerade bei der Rechtschreibung so ereifert, ist für mich ebenfalls ein Rätsel. Aber womöglich können Sie mir ja auch dabei behilflich sein.
Nun, inwiefern "ereifert" er sich denn? Sind Sie noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass es ihm nicht um die Rechtschreibung geht (obwohl er das wiederholt so explizit formuliert hat)? Dass es ihm um die Unsauberkeit der Methoden von Grunds Studie geht, und dass er jede andere Studie, die solche Fehler macht, genauso kritisiert hätte, völlig unabhängig vom Inhalt der Studie?

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, forderte Kant 1783. Der Hauptunterschied des Forums der FDS zum Bremer Sprachblog scheint mir doch zusammenfassend der zu sein, daß genau diese Forderung Kants hier sehr willkommen ist [...]
Dass Sie diesem Leitspruch folgen, will ich Ihnen gar nicht absprechen. Mich würde nur interessieren, wie Sie auf den Gedanken kommen, dies sei im Bremer Sprachblog nicht der Fall.

Jan-Martin Wagner in #7214:

Ich hoffe, Sie meinen das ["Wie man etwas schreibt, kann einem auch ganz einfach egal sein"] nicht so weitgehend, wie Sie es hingeschrieben haben. Denn die natürliche Grenze dafür, "wie egal" es einem sein kann, ist doch wohl, daß das, was man geschrieben hat, für den Leser auch das bedeutet, was man gemeint hat, und nichts anderes (sofern zumindest eine inhaltliche Mißverständlichkeit ausgeschlossen bzw. schriftlich nicht genauer differenziert werden kann). Gerade bei der reformierten Rechtschreibung kann man sich allerdings nicht immer sicher sein, daß dieses Kriterium erfüllt wird.
Wenn es Sie beruhigt: Nein, das meine ich nicht so weitgehend, darum habe ich auch ein "Kurz gesagt" davor gefügt.

Marco Mahlmann in #7215:

Die Reformer haben ihr Ziel offenbar erreicht [...]
Nein, nicht die Reformer. Universitätsdozenten, die Linguistik unterrichten. Das hätten sie auch ganz ohne Reform erreicht, da bin ich mir sicher.

Schüler von heute sehen die Rechtschreibung als etwas Oberflächliches an, das mithin beliebig ist.
Genau das ist sie doch auch. Die Grammatik einer Sprache wird von Muttersprachlern im Kindesalter unbewusst erworben, und das ist doch der Kern der Sprache. Rechtschreibung ist ein Mittel zum Zweck, diese Sprache auszudrücken, ergo etwas Oberflächliches.

Daß man, wenn man nur die reformierte kennt, die Orthographie im ganzen für oberflächlich hält, leuchtet mir insoweit ein, daß die reformierte ja auch nicht zu mehr taugt (in meinen Augen).
Darum geht es mir aber gar nicht, mir geht es um Orthografien (oder Orthographien, suchen Sie es sich aus) ganz allgemein. Welche nun zu mehr "taugt", interessiert mich erst einmal nicht; meine Gedanken kann ich so und so ganz gut ausdrücken.

Wenn Sie aber so fasziniert sind von der Sprache, was ich Ihnen ohne weiteres glaube, warum sind sie dann ausgerechnet in den Bereichen, in denen die Neuregelungen sprachliche Unterscheidungsmöglichkeiten kaputtgemacht hat ("vielversprechend / viel versprechend"; "wohlverdient / wohl verdient", "Ähnliches / ähnliches"), nicht fasziniert von der Vielfalt des Deutschen?
Warum suchen Sie nicht nach einem Handwerkszeug, das Ihnen hilft, die Faszination, zu der die Sprache fähig ist, in wohlformulierten Worten auzudrücken?
Um eins klarzustellen, es ist nicht so, dass ich diese zwei Alternativen hätte – alte und neue Rechtschreibung, und mich zwingend für eine entscheiden müsste. Wenn ich das Gefühl habe, ein Text könnte ambig sein, und ich das durch eine andere Schreibweise vermeiden könnte, dann wähle ich auch die unmissverständliche Schreibweise. Im Falle von "daß"/"dass" sehe ich keinen Grund dazu.

Jan-Martin Wagner in #7220:

Eben das [dass Rechtschreibung höchstens peripher zur Sprache gehört] ist ein großer Irrtum. Man könnte versuchen, diese Ansicht zu rechtfertigen, indem man behauptet, unter "Sprache" sei ausschließlich die gesprochene Sprache zu verstehen, aber das greift zu kurz und ignoriert nicht nur den eigentlichen Sinn und Zweck der Sprache, sondern auch die Rolle der Schriftsprache und ihre lange Entwicklung.
Sprache ist für mich, und darüber herrscht in der Linguistik weitgehend Einigkeit, aber etwas Abstraktes: Was wir hören, sind Schallwellen, was wir sehen, sind Buchstaben und Zeichen. Das, was jeweils dahintersteht, ist die Sprache. Grammatikregeln (i.e. die eigentliche Sprache) werden von jedem Muttersprachler unbewusst erworben, Rechtschreibregeln dagegen nicht, und so wird es auch nie sein.

Deshalb ist die Rechtschreibung ein unverzichtbarer Teil der (Schrift-)Sprache.
Diese Aussage, zumindest wenn man den Inhalt der Klammer weglässt, lässt sich schon dadurch widerlegen, dass ein Großteil aller Sprachen nicht einmal eine Schrift hat, und trotzdem problemlos existiert. Schrift ist ein Mittel, Sprache auszudrücken, mehr nicht. Dass dieses Mittel nicht völlig beliebig verwendet werden sollte, ist mir bewusst, deshalb kann ich durchaus nachvollziehen, dass man sich über die Rechtschreibung Gedanken macht, und nicht alles hinnimmt, was einem der Staat vorschreibt (das ist mit anderen Dingen ganz genau so).


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.08.2008 um 16.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7221

Lieber Herr Metz,

ich habe den ursprünglichen (und so auch belegbaren) Beispielsatz ein wenig verändert, da mir das Original doch zu grotesk erschien. Aber bitte sehr, hier ist es (und gewiß als Perle der Reformschreibung schon hinlänglich bekannt):

Frau tot gefahren und anschließend Fahrerflucht begangen (als Schlagzeile!)

Auch diese fidele Leiche ist ja schließlich strafrechtlich nicht zu belangen. Das Problem ist nur das, was Herr Wagner zu Recht eingefordert hat: "[...] daß das, was man geschrieben hat, für den Leser auch das bedeutet, was man gemeint hat, und nichts anderes[.]" (#7214) Und genau das ist in beiden Sätzen (der fahrerflüchtigen Leiche und Herrn Müller) nicht mehr gegeben, oder es wird eben sehr absurd. Aber hier geht es ja um die Berichterstattung eines Unfalls, bzw. einen konstruierten Straftatbestand und nicht um ein Stück von Alfred Jarry, auch wenn "merdre" durchaus der erste Gedanke sein kann, der einem beim Lesen durch den Kopf schießt.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.08.2008 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7220

D.A. in #7212: "Anwendern der neuen Rechtschreibung automatisch ein 'Lobliedsingen' auf dieselbe zu unterstellen, geht jedenfalls zu weit."

Das ist vollkommen richtig (hier habe ich das "automatisch" im Sinne von "pauschal" verstanden) – wobei nicht auszuschließen ist, daß vereinzelt doch ein Loblied mitschwingt, aber darum geht es mir hier nicht. Mir kommt es auf einen anderen Punkt an: Auch ich habe vor einigen Jahren mal einen mehrseitigen Text zwar nicht in Reformschreibung verfaßt, so doch zumindest bezüglich der s-Schreibung reformkonform getrimmt – mehr war mir damals (ich hatte mich nur oberflächlich mit den reformierten Regeln befaßt) nicht geläufig. Es war ein rein technischer Gebrauchstext (ein Antrag auf Rechenzeitzuteilung), den ich quasi zum "Üben" verwendet habe.

Erst nachdem mich ein Doktorandenkollege auf einige Seltsamkeiten der Reformschreibung aufmerksam gemacht hatte und wir gemeinsam anfingen, uns intensiver mit der Reform und ihren Hintergründen auseinanderzusetzen, wurde mir nach und nach bewußt, was bei der Reform nicht nur an ihren konkreten "Ergebnissen" (den reformierten Schreibungen), sondern auch von der ihr zugrundeliegenden Konzeption her verfehlt und unbrauchbar ist. Einen Punkt, der von den Reformern änlich beurteilt wurde, nennen Sie bereits:

D.A. in #7212: "... dass Rechtschreibung höchstens peripher zur Sprache gehört."

Eben das ist ein großer Irrtum. Man könnte versuchen, diese Ansicht zu rechtfertigen, indem man behauptet, unter "Sprache" sei ausschließlich die gesprochene Sprache zu verstehen, aber das greift zu kurz und ignoriert nicht nur den eigentlichen Sinn und Zweck der Sprache, sondern auch die Rolle der Schriftsprache und ihre lange Entwicklung. Denn weder die gesprochene noch die geschriebene Sprache sind das, worum es eigentlich geht: Das Eigentliche ist die Kommunikation, die Verständigung, der Gedankenaustausch zwischen Menschen.

Salopp formuliert: Die gesprochene Sprache ist fürs Ohr, die geschriebene fürs Auge, beides sind mögliche Kommunikationswege. Dabei spielt es keine Rolle, ob einer von beiden als "primär" anzusehen ist, nach dem sich der "sekundäre" zu richten habe. Es sind zwar nur wenige Menschen taub, so daß die meisten es für selbstverständlich halten, daß die gesprochene Sprache zuerst kommt (einfach, weil man sie zuerst lernt), das begründet aber keine allgemeingütige Sichtweise.

Wie es bei der gesprochenen Sprache auf eine klare Artikulation ankommt, wenn man richtig verstanden werden will (von der Problematik Dialekt vs. Hochsprache mal abgesehen), kommt es bei der geschriebenen Sprache auf die richtige Schreibung an. Sinnerfassung durch Lesen ist Mustererkennung, und fehlerhafte Muster können zu fehlerhafter Kommunikation füren. Deshalb ist die Rechtschreibung ein unverzichtbarer Teil der (Schrift-)Sprache.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 06.08.2008 um 16.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7219

Im ersten Beispielsatz ist Frau Müller schon vor dem Schlagen tot und nicht erst danach.


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 06.08.2008 um 16.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7218

Wenn Herr Müller tot wäre (wie im ersten Beispielsatz), hätte er wenig zu befürchten, da Tote nach dem deutschen Strafrecht nicht schuldfähig sind.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.08.2008 um 16.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7217

Ich halte es für geboten, D.A. zunächst Zeit zu geben, sich ausführlicher zu äußern. Deshalb werde ich keine Replik zu seinen vorläufigen Entgegenungen liefern.

Aber etwas noch zu Herrn Wagners Hinweis (599#7214) auf die Mehrdeutigkeit des Geschriebenen, der wir seit 1998 so häufig begegnen. Aus genau diesem Grund waren und sind so viele Juristen gegen den Reformschrieb. Sie wissen (und müssen das schließlich auch), daß es einen gravierenden Unterschied gibt, ob 'Herr Müller seine Frau tot schlägt', oder ob 'Herr Müller seine Frau totschlägt'. Man möge im StGB nachlesen, in wie vielen Jahren sich diese Unterscheidung ausdrückt.

Einem weniger gewalttätigen Beispiel begegne ich zur Zeit morgens beim Frühstück. Ich habe mich hinreißen lassen, Honig in so einem seltsamen Flaschenspender aus Plastik zu kaufen (und möchte damit jetzt keine Umweltaktivisten wecken!). Dort kann ich jedesmal lesen: "Zum Dosieren Spender zusammen drücken." Heißt das nun, daß ich den Honig nicht aus der Flasche bekomme, wenn ich allein frühstücke? Damit haben natürlich die Umweltaktivisten auch schon gewonnen, denn derlei Interpretationsprobleme habe ich bei einem Glas mit Schraubverschluß nicht. Ob zusammen mit Lebensabschnittsgefährt(en)/Inn, mit Stoffteddy oder allein in kalter Küche.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 06.08.2008 um 15.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7215

D.A. schreibt: "Außerdem werden nicht nur Linguisten bestätigen können, dass, wer sich eingehend mit Sprache befasst, zum Schluss kommen kann (aber nicht muss, das ist mir durchaus bewusst), dass Rechtschreibung höchstens peripher zur Sprache gehört. Kurz gesagt: Wie man etwas schreibt, kann einem auch ganz einfach egal sein. So ist es bei mir; ich finde Sprache viel zu faszinierend und tiefgehend und spannend, als mich mit (so finde ich, Sie mögen es anders sehen und das respektiere ich!) Oberflächlichkeiten wie Rechtschreibung zu befassen."
Die Reformer haben ihr Ziel offenbar erreicht; Schüler von heute sehen die Rechtschreibung als etwas Oberflächliches an, das mithin beliebig ist. Und der Glaube, es ginge nur um ss oder ß, sitzt anscheinend so tief, daß darüber jedes Nachdenken über die bedeutungsrelevanten Änderungen versiegt.

Daß man die sog. Neue Rechtschreibung als Schüler heutzutage eben lernt und damit lebt, ist mir klar; ich will das nicht kritisieren. Daß man aber auch die bewährte Rechtschreibung kennenlernt, ist ebenso klar.
Daß man, wenn man nur die reformierte kennt, die Orthographie im ganzen für oberflächlich hält, leuchtet mir insoweit ein, daß die reformierte ja auch nicht zu mehr taugt (in meinen Augen).

Wenn Sie aber so fasziniert sind von der Sprache, was ich Ihnen ohne weiteres glaube, warum sind sie dann ausgerechnet in den Bereichen, in denen die Neuregelungen sprachliche Unterscheidungsmöglichkeiten kaputtgemacht hat ("vielversprechend / viel versprechend"; "wohlverdient / wohl verdient", "Ähnliches / ähnliches"), nicht fasziniert von der Vielfalt des Deutschen?
Warum suchen Sie nicht nach einem Handwerkszeug, das Ihnen hilft, die Faszination, zu der die Sprache fähig ist, in wohlformulierten Worten auzudrücken?
Wenn Sie alles Mögliche tun können, um der Sprache zu huldigen, warum machen Sie dann nur alles mögliche?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.08.2008 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7214

D.A. in #7212: "Wie man etwas schreibt, kann einem auch ganz einfach egal sein."

Ich hoffe, Sie meinen das nicht so weitgehend, wie Sie es hingeschrieben haben. Denn die natürliche Grenze dafür, "wie egal" es einem sein kann, ist doch wohl, daß das, was man geschrieben hat, für den Leser auch das bedeutet, was man gemeint hat, und nichts anderes (sofern zumindest eine inhaltliche Mißverständlichkeit ausgeschlossen bzw. schriftlich nicht genauer differenziert werden kann). Gerade bei der reformierten Rechtschreibung kann man sich allerdings nicht immer sicher sein, daß dieses Kriterium erfüllt wird.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 06.08.2008 um 15.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7213

Oliver Höher: "„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, forderte Kant 1783."
Sie bringen wieder einmal ein sehr treffendes Zitat, Herr Höher - Kompliment dafür (und auch zu Ihrer Antwort auf D.A.s Vorwürfe)!

Sich wider besseres Wissen mit der Rechtschreibreform abzufinden und sie anzuwenden, braucht Fügsamkeit, Sie schreiben "Kadavergehorsam". Sich dagegenzustellen, sich aufzulehnen, weil man spürt, daß sie falsch ist, braucht Mut. Man muß in Kauf nehmen, nicht dazuzugehören, man muß (öffentlich) dafür geradestehen, man muß sich sogar rechtfertigen. Und man braucht Durchhaltewillen, Spottresistenz, man muß sich gegen Angriffe mit leicht dahergeredeten scheinbaren Vorteilen des Reformschriebs wappnen, sich also informieren und sich die Mühe machen, die Argumente der Befürworter zu widerlegen. Und als Schüler von heute muß man die bewährte Orthographie außerhalb der Schule von Grund auf lernen.

Vielleicht aber ist das eine Chance. Eine Möglichkeit zur Rebellion. Sicherheit in der bewährten Rechtschreibung als Ausweis individueller Stärke jenseits obrigkeitsstaatlicher Untertänigkeit.

"Sie haben doch einen Kopf zum Denken. Gebrauchen Sie ihn auch (...)"
Lassen wir das uns allen eine Losung sein!


Kommentar von D.A., verfaßt am 06.08.2008 um 15.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7212

Ich weiß noch nicht, ob ich Zeit finde, ausführlicher auf Ihre Antwort (und die von Herrn Mahlmann) einzugehen; im Moment habe ich sie nicht, und komme deshalb nur kurz auf die Punkte zu sprechen, die mir spontan aufgefallen sind.

Zuerst ein kleines Missverständnis von Ihrer Seite (das will ich Ihnen selbstverständlich nicht ankreiden, nur darauf hinweisen): Dass der BILDblog-Beitrag gleich mehrmals Erwähnung findet, liegt nicht etwa daran, dass er im Sprachblog als so herausstellenswert betrachtet wird, sondern lediglich daran, dass in diesem Blog die Kommentare moderiert und somit erst freigeschaltet werden müssen. Will heißen: Als Herr Ammann in #27 auf den BILDblog-Beitrag hinwies, konnte er noch gar nicht wissen, dass das schon in den Kommentaren #19, 20 und 24 geschehen war, da diese noch nicht freigeschaltet waren.
Allerdings: Selbst wenn dem nicht so wäre – zumindest in den Kommentaren 19, 20 und 24 wurde völlig neutral auf den BILDblog-Eintrag hingewiesen. Und das auch völlig nachvollziehbar, schließlich passiert es nicht alle Tage, dass eins der größten deutschen Blogs zum Bremer Sprachblog verlinkt. Hieraus Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, was Sprachblog-Leser wohl vom BILDblog halten, schießt weit über das Ziel hinaus.

Stefanowitschs "das sowieso!" war mir vorhin entgangen, Verzeihung. Ich werde es mir später noch mal genauer ansehen.

Sie schreiben: "Zunächst einmal singt das Loblied auf die sogenannte reformierte Rechtschreibung, wer sie sichtbar anwendet. Denn man ist ja nicht gezwungen etwas anzuwenden, das man kritisiert." – Das mag auf viele zutreffen, jedoch nicht auf alle. Wer – wie ich – nur in der neuen Rechtschreibung unterrichtet wurde, muss sich doch nicht dafür rechtfertigen, dass er anwendet, was er gelernt hat. Zumal sich sicher einige der neuen Schreibweisen schon so sehr "eingebürgert" haben, dass sie dem Großteil der Menschen mittlerweile vertraut sind und somit auch von ihnen verwendet werden. Und ich rede von in dieser Hinsicht neutralen Menschen, nicht solchen, die von vornherein gegen die Reform waren. Außerdem werden nicht nur Linguisten bestätigen können, dass, wer sich eingehend mit Sprache befasst, zum Schluss kommen kann (aber nicht muss, das ist mir durchaus bewusst), dass Rechtschreibung höchstens peripher zur Sprache gehört. Kurz gesagt: Wie man etwas schreibt, kann einem auch ganz einfach egal sein. So ist es bei mir; ich finde Sprache viel zu faszinierend und tiefgehend und spannend, als mich mit (so finde ich, Sie mögen es anders sehen und das respektiere ich!) Oberflächlichkeiten wie Rechtschreibung zu befassen. Anwendern der neuen Rechtschreibung automatisch ein "Lobliedsingen" auf dieselbe zu unterstellen, geht jedenfalls zu weit.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.08.2008 um 14.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7210

Zu D.A. in 599#7207:

Zunächst einmal singt das Loblied auf die sogenannte reformierte Rechtschreibung, wer sie sichtbar anwendet. Denn man ist ja nicht gezwungen etwas anzuwenden, das man kritisiert.

Das bedeutet, daß im Falle des Bremer Sprachblogs (ohne statistisch einwandfreien Anspruch auf Vollständigkeit) Christian (auf den ich noch eingehen werde), Simone, Fabian, Andreas Ammann, Abwarten, Chodo, Jens Elstner, Frank Oswalt, Chat Atkins, Anatol Stefanowitsch, Krimileser und Sie selbst sich graphisch zum Reformschrieb bekennen. Aussagekräftig ist das so allein freilich noch nicht.

Christian in #2 schreibt zwar reformiert, äußert sich aber dennoch kritisch zu Stefanowitschs Ausführungen im Blog, wofür er dann prompt in #8 von Stefanowitsch zurechtgewiesen wird: „Nein, den Beleg muss ich nicht liefern. Die FDS ist es, die Behauptungen aufstellt, deshalb ist es auch die FDS, die die Beweise [dafür, daß auch in anderen Staaten der Welt Faktoren wie Einwanderung und Globalisierung die Rechtschreibkompetenz in der jeweiligen Landessprache dramatisch gesenkt habe] liefern muss. Ich stimme Ihnen aber zu, dass es sehr interessant wäre, solche Vergleichsdaten zu haben. In der Tat könnten Sie dabei helfen, den Effekt der Rechtschreibreform von anderen Einflussfaktoren zu isolieren.“

Hier wird Stefanowitsch seiner eigenen Forderung – wer eine Behauptung aufstellt, muß sie auch methodologisch einwandfrei und statistisch sauber präsentiert beweisen – untreu. Denn nicht Grund, sondern Stefanowitsch hat diese Faktoren in seinem Blog eingeführt:

„Mit anderen Worten, zwischen den beiden „Situationsbildern“ liegen 34 Jahre. Vierunddreißig Jahre. Vierunddreißig Jahre, in denen sich Deutschland völlig verändert hat — die Wiedervereinigung, die Globalisierung der Wirtschaft, Politik und Kultur, der Wandel von einem relativ abgeschotteten Fleckchen am Rande der westlichen Welt zu einem Einwanderungsland im Zentrum Europas sind nur drei relativ drastische Entwicklungen, die einem spontan einfallen (und nur, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich begrüße alle drei).“

Die „Macht des Faktischen“, die er in #32 gegen Maria vorbringt, muß bei diesen Faktoren also Stefanowitsch nachweisen. Ist es nicht auch sehr pseudowissenschaftlich, Grund noch schnell etwas unterzuschieben und ihm dann die Beweislast dafür zuzumuten?

Auffallend ist schließlich noch, daß BILDblog insgesamt gleich dreimal aufgeführt wird, um die sauberen wissenschaftlichen Methoden, die man in Bremen gegen die von der FDS vorgestellte Studie vorweisen kann, hervorzuheben. Natürlich arbeitet BILD unsauber, recherchiert praktisch gar nicht (selbst) und produziert letztlich nur Aufhänger. Ich gebe auch gerne zu, daß BILDblog gelegentlich ganz unterhaltsam sein kann. Aber insgesamt verbeißt man sich dort gerne in den Schnee von vorgestern. Wie BILD arbeitet, weiß man spätestens seit Böll oder Wallraff. Ein Hinweis hätte vermutlich auch gereicht. Gleich drei Verweise erinnern mich an eine Kanonade auf Spatzen.

Aber nun nochmal etwas genauer zum Verteilen von „Fleißpunkten“, wie ich es nannte. In #32 lobt Stefanowitsch Atkins Beitrag #15 in toto („auf den Punkt, wie immer!“). Vor allem der Zusatz „wie immer“, unterstreicht noch einmal die Qualität von Atkins’ Beiträgen per se. Na wenn das kein Fleißpunkt ist! Ebenso wird Jens Elstners Beitrag #21 mit „das sowieso!“ belohnt. Hier kommt daher sein kompletter Beitrag #21, bei dem ich nämlich Stefanowitschs „das sowieso!“ noch nicht verstanden habe:

„Hallo Allerseits,
ich hoffe dass keiner der Grund-”Befürwortern” Mathematik bzw. Statistik unterrichtet oder doziert. Denn die Ahnungslosigkeit steht den betroffenen in jeder einzelnen ihrer Zeilen ins “Gesicht” geschrieben. Jetzt weiß ich warum die Kultusminister mehr als 10 Jahre für eine Rechtschreibreform gebraucht haben, bei solch einer Art von “Diskussion” (ist ja fast wie im Sandkasten nur mit schöneren Worten). [Smiley]
Na ja … die statistische Beweisführung bei Herrn Grund ist jedenfalls faktisch falsch. Egal um welche Art von Aussagen es sich dabei handelt.
Einen schönen Tag noch. Tschüss.“

Was sowieso? Daß keiner der angeblichen Grund-Befürworter Mathematik oder Statistik unterrichtet? Daß den Betroffenen (soll wohl eher ein Substantiv sein) die Ahnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben steht? Daß Elstner jetzt weiß, warum die Kultusminister mehr als zehn Jahre für eine Rechtschreibreform brauchten? (Übrigens eine faktisch falsche Zahl, denn die Genese der Reform dauerte länger, hier scheint Stefanowitsch sich aber nicht an unsauberer Argumentation zu stoßen!) Oder schließlich daß die statistische Beweisführung von Herrn Grund faktisch falsch ist? Hierauf insgesamt mit „das sowieso!“ zu antworten, bezeichne ich als Verteilen von „Fleißpunkten“. Da löst sich nichts in Luft auf. Den Tenor der Beiträge zu seinem Blog formuliert Stefanowitsch in #53, was ich ja hier auch schon zusammengefaßt habe. Wer in diesem Chor nicht mitsingt, wird abgemahnt. Der einzige Beiträger, der zwar reformiert schreibt, sich aber dennoch weigert mitzusingen, ist Christian in #2.

(Eine Anmerkung noch zu meiner wohl mißverständlichen Grammatik. Ich meinte mit „wenn“ natürlich keinen Kausalsatz einleiten zu wollen, sondern vielmehr einen Temporalsatz. Der Konjunktor „wenn“ kann konditional oder temporal gebraucht werden [„immer wenn“], letzteres so hier bei mir.)

Abschließend noch etwas zu Ihrem letzten Absatz:

Und bevor irgendjemand fragt, warum ich die neue Rechtschreibung verwende, oder das was ich dafür halte, sei gesagt, dass ich nie eine andere gelernt habe. So einfach ist das.

Ich kritisiere gar nicht, was jemand in der Schule (oder anderswo) gelernt hat. Ich kritisiere vielmehr blinden Kadavergehorsam (deshalb auch das Zitat von Tennyson!), alles und jedes ungefragt hinzunehmen. So einfach ist es nämlich nicht und war es übrigens auch noch nie. Sie haben doch einen Kopf zum Denken. Gebrauchen Sie ihn auch und hinterfragen Sie in puncto Orthographie beispielsweise, warum die Menschen es in über 90 (!) Jahren nicht herausgefunden haben, daß „einbläuen“ von blau kommen soll, „im Allgemeinen“ ein Substantiv sein soll (‚verblaßt‘ kann es bei der Adelung durch Großschreibung ja nun nicht mehr sein) und das kleine unscheinbare Wort sehr auch zu einem Substantiv treten kann (Herr Stefanowitsch hat sehr Recht, wenn er behauptet …). Rechtschreibung weckt nach eigenen Aussagen auch nicht Stefanowitschs Sprachlogik. Warum er sich dann gerade bei der Rechtschreibung so ereifert, ist für mich ebenfalls ein Rätsel. Aber womöglich können Sie mir ja auch dabei behilflich sein.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, forderte Kant 1783. Der Hauptunterschied des Forums der FDS zum Bremer Sprachblog scheint mir doch zusammenfassend der zu sein, daß genau diese Forderung Kants hier sehr willkommen ist, mag sie auch zuweilen seltsame Blüten treiben.


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 06.08.2008 um 14.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7209

Neugierig geworden, habe ich mich gestern auch einmal im Bremer Sprachblog umgesehen. Was mir auffiel: Herr Stefanowitsch läßt keine Gelegenheit aus, sich als jemand zu präsentieren, der über den Dingen steht. Bei ihm – so zumindest mein Eindruck – gerät die Methode zum Selbstzweck. Seine (tatsächliche oder gespielte?) Distanz zum Gegenstand feiert er genüßlich als Beweis seiner wissenschaftlichen Seriosität. »Wenn mir jemand saubere Argumente gegen die neue und für die alte Rechtschreibung liefern könnte, würde ich mich den Reformgegnern sofort anschließen«, schreibt er, und unwillkürlich möchte man für ihn hinzufügen: »aber das kann eben niemand«. Nein, das kann wirklich niemand. Denn der Autor legt die Meßlatte für die Sauberkeitsprüfung, die er sich vorbehält, so hoch, daß kein Mensch auf Erden, auch nicht der seriöseste aller Forscher, sie je überspringen könnte. Angesichts der Fülle der Faktoren, die in irgendeiner Weise Einfluß auf die Entwicklung der Rechtschreibleistungen von Schülern gehabt haben könnten, wird der Nachweis eines Zusammenhangs mit der Rechtschreibreform nach seinen Maßstäben niemals gelingen. So ein Pech aber auch! Fragt sich nur, welche »sauberen« Argumente Herrn Stefanowitsch von den Vorzügen der Reformschreibung überzeugt haben.

Es ist schon wahr, ein Wissenschaftler darf sich nicht vom Offensichtlichen blenden lassen. Er darf sich dafür aber auch nicht mutwillig blind machen!


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 06.08.2008 um 13.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7208

Nun, D.A., lernt man die Rechtschreibung nur in der Schule? Und ist es dort üblich, "Ähnliches" und ähnliches groß zu schreiben?
Wenn Sie die Printmedien verfolgen, werden Sie etliche Varianten der sog. Neuen Rechtschreibung und auch oftmals, gerade in der Literatur, die bewährte Rechtschreibung finden (auch in der Schullektüre; sowohl im Deutsch- als auch im anderen Unterricht gibt es hinreichend Beispiele).

Ihre Zitate bestätigen im übrigen das, was Herr Höher sagt. Wollten Sie ihn widerlegen, bräuchte es Beispiele, in denen Herr Stefanowitsch Reformbefürworter kritisiert.

Darüber hinaus widerspricht sich Herr Stefanowitsch selbst, wenn er einerseits sagt, die von Grund erhobenen Daten aus den siebziger Jahren seien zu alt, andererseits aber dem Teilnehmer "Abwarten" zustimmt, daß man erst nach Jahhrzehnten verläßlich Bilanz ziehen könne, wie sich die Rechtschreibleistungen entwickelt haben.


Kommentar von D.A., verfaßt am 06.08.2008 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7207

Herr Höher: "Warum er dann freilich immer so etwas wie Fleißpunkte unter seinen Anhängern verteilt, wenn diese mal wieder die vermeintlich so neue Rechtschreibung loben, bleibt ein Rätsel."

Ihre Behauptung, Herr Stefanowitsch würde diese "Fleißpunkte" verteilen, wenn (oder weil?) seine "Anhänger" die neue Rechtschreibung loben, deckt sich ganz und gar nicht mit meinem Eindruck, deswegen habe ich noch mal genauer hingesehen:

Im Kommentar #8 im Bremer Sprachblog kann Stefanowitsch Simone (#5) "da nur zustimmen". In ihrem Kommentar schreibt sie, dass die gestiegene Fehlerzahl nicht automatisch auf die Rechtschreibreform zurückgeführt werden kann. Über die Qualität der neuen Rechtschreibung verliert Simone kein Wort.

Ebenfalls in Kommentar #8 hält Stefanowitsch das Argument von Abwarten (#7) für ein "gutes". Abwarten behauptet, dass man mehrere Jahrzehnte warten müsse, bis man aussagekräftige Daten über die Fehlerzahlen erheben könne. Über die Qualität der neuen Rechtschreibung verliert er/sie kein Wort.

In Kommentar #32 schreibt Stefanowitsch in Bezug auf Chat Atkins Beitrag (#15): "auf den Punkt, wie immer!" Inhaltlich stellt Atkins Ähnliches fest wie Simone in #5. Über die Qualität der neuen Rechtschreibung verliert er kein Wort.

Ansonsten konnte ich kein Verteilen von "Fleißpunkten" entdecken. Ihre Behauptung löst sich also in Luft auf. Das eigentliche Rätsel bleibt also, wie Sie darauf kommen.

Und bevor irgendjemand fragt, warum ich die neue Rechtschreibung verwende, oder das was ich dafür halte, sei gesagt, dass ich nie eine andere gelernt habe. So einfach ist das.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.08.2008 um 10.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7206

"Was z.B. am Malapropism belacht wird, ist nicht der Fehler, sondern die zu Fall gekommene Angeberei." (Ernst Leisi, Das heutige Englisch)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.08.2008 um 10.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7205

Bevor die Mißverständnisse weiter um sich greifen, möchte ich das Thema noch einmal neu formulieren. Natürlich kann und soll es keine zwei Rechtschreibungen geben, da hat Herr Isleif völlig recht. Andererseits muß man auseinanderhalten: Wie sollen professionelle Texte aussehen, und was kann man von Schülern (in den einzelnen Jahrgangsstufen usw.) erwarten? Dafür haben wir ja die gestuften Rechtschreibwortschätze (die seinerzeit in der journalistischen Öffentlichkeit als "Wortschätze für Schulkinder" mißverstanden und bekrittelt wurden!).
Ich glaube, das hat auch Herr Jochems nie anders gesehen, auch wenn schon zu seinen Lebzeiten manche überflüssige Diskussion sich um diesen Punkt drehte.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 06.08.2008 um 00.06 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7204

Zum Beitrag von Germanist 599#7193

"Man würde die Hauptschüler beleidigen, wenn man ihnen die Fähigkeit zu bedeutungsunterscheidenden Schreibweisen wie getrennt oder zusammen und klein oder groß absprechen würde. Aber mit Fremdwörtern sollte man sie verschonen. (...)"

Werter Germanist, Ihr letzter Satz führt den ersten ad absurdum und beleidigt die Hauptschüler noch mehr.

Es ist genau diese elitäre Sichtweise, die den selbsternannten Helfern der sogenannten Wenigschreiber (Euphemismus für: Deppen) in die Hände arbeitet, und die uns Reformgegnern das Genick brechen half. (Der Müntefering hat doch seine 'Hochwohlgeborenen' nicht aus der Luft gegriffen, sondern er hat sie bemüht, weil er, der Hauptschüler, die Diskriminierung erfahren hat.) Sie liegen mit Ihrer Sichtweise genau auf der Linie der Zabels - merken Sie das nicht? Oder wollen Sie das so? (Könnte sein, denn auch der selige Professor Jochems hat ja in 'Hunderten' von Beiträgen unverdrossen in diese Kerbe gehauen.) Wenn wir uns nicht von diesem unympathischen Elfenbeinturm runterbewegen, dann bleibt unsere Diskussion inzestuöses Gerede von Gleichgesinnten.

Mir ist jeder verdächtig, der sich sinngemäß für die da 'unten' stark macht. Ich, ein Kind der Unteren, bin sensibilisiert. Ich weiß, daß die Rede der Wohlmeinenden nur dem Zweck dient, den Höhenunterschied abzusichern.

Bevor also die Idee mit dem anspruchsvollen Duden und dem für Deppen weiter Platz greift - an alle Zabels und seine Verwandten im Geiste: Eure kommunistische Logik ('Wir wissen besser als ihr selbst, was gut für euch ist...') unterschätzt absichtlich die Leistungsfähigkeit von Mehmet, Igor und den übrigen 'Wenigschreibern', weil es sonst nichts mehr zu 'retten' gäbe. Hauptschüler wie Klein Mehmet nämlich und klein Igor und der wenigschreibende Depp (ich), wir können schwierige Dinge sehr wohl lernen, auch Fremdwörter, denn wir sind so gescheit wie ihr - mindestens. Wenn einige von uns keine Fortschritte machen, dann wegen sozialer, wirtschaftlicher oder irgendwelcher anderer Einflüsse, aber nicht, weil die Linguistik für uns zu hoch wäre. So, wie man nur eine Musik oder eine Medizin braucht, und nicht jeweils eine für die Deppen und eine andere für die Elite, so brauchen wir auch nur eine Rechtschreibung. Eine Orthographie also, q.e.d., komplett, mit Fremdwörtern.

Karl-Heinz Isleif
Tokyo, Japan



Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 05.08.2008 um 15.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7201

Nach mehreren Tagen hitziger und nicht immer sachlicher Auseinandersetzungen um Grunds Studie im Bremer Sprachblog hat Stefanowitsch nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen (ebd. #53): Wer nicht versteht, daß nur eine Studie kritisiert werde, die nicht zeige, was sie zu zeigen vorgebe, ist nicht qualifiziert, dort (also im Bremer Sprachblog) mitzudiskutieren. Schließlich verteufele niemand in seinem Blog die alte Rechtschreibung oder verteidige (gar) die neue.

Warum er dann freilich immer so etwas wie Fleißpunkte unter seinen Anhängern verteilt, wenn diese mal wieder die vermeintlich so neue Rechtschreibung loben, bleibt ein Rätsel. Qualifizierende Faktoren, die das Mitdiskutieren nicht nur gestatten, sondern es geradezu auszeichnen, sind etwa der „Faktor Wortende“ (ebd. # 45), den es vor der Reform bei der s-Schreibung zu berücksichtigen galt. Ich selbst bin natürlich ebenfalls völlig unqualifiziert, was sich daran zeigt, daß ich bislang immer dachte, Wörter hätten auch nach der Reform noch ein Ende.

Zu dieser Art von Kadavergehorsam fällt mir immer das Gedicht „The Charge of the Light Brigade“ von Tennyson ein. Und falls man in Bremer nun darüber wieder Geifer spuckt: der Hintergrund ist nicht etwa eine Rechtschreibreform, sondern der Krimkrieg. Aber sonst trifft es „auf den Punkt“, wie man in der ehrwürdigen Hansestadt so sagt.

Their’s not to make reply,
Their’s not to reason why,
Their’s but to do and die:
[…]
(Alfred Tennyson, 1854)

Methodologisch einwandfreie – hoffentlich auch jeder Nachprüfung standhaltende – bibliographische Nachweise liefere ich auf Wunsch.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.08.2008 um 13.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7193

Man würde die Hauptschüler beleidigen, wenn man ihnen die Fähigkeit zu bedeutungsunterscheidenden Schreibweisen wie getrennt oder zusammen und klein oder groß absprechen würde. Aber mit Fremdwörtern sollte man sie verschonen.

Die schrecklichsten Großschreibungen müssen noch zurückgebaut werden.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 04.08.2008 um 13.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7192

Aus der E-Mail von Herrn Schmachthagen an Herrn Isleif: "Dennoch gestalten sich die neuen Regeln und Schreibweisen – gerade für Klein Mehmet und Klein Igor, die zu Hause noch nie ein Wort Deutsch gehört haben – um ein Vielfaches einfacher als die alten."

Abgesehen davon, daß das eine unbewiesene und im Grunde bereits widerlegte Behauptung ist, ruft mir diese Formulierung etwas anderes in den Sinn.
War nicht eine der Begründungen, mit denen Rust und seine Mitstreiter Goebbels von der Notwendigkeit einer Rechtschreibreform überzeugen wollten, daß die Bevölkerung in den eroberten Gebieten nach dem Endsieg Erleichterungen beim Deutschlernen bräuchte, da sie ja von sich aus nicht in der Lage sei, die deutsche Orthographie in der seinerzeitigen Gestalt zu lernen?

Halten die Reformer von heute Immigranten tatsächlich für zu doof, die herkömmliche deutsche Orthographie zu lernen?


Kommentar von Philip Köster, verfaßt am 03.08.2008 um 13.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7186

Verehrter Herr Ickler,

ist der Satz "Mit der Rechtschreibreform sind wir neunzig Prozent aller Rechtschreibfehler los" eigentlich wirklich gefallen? Man helfe mir auf die Sprünge: Wer hat das wann wo gesagt? Mißt man diese Aussage an der Gegenwart, könnte das Urteil wohl kaum vernichtender ausfallen.

Auch wenn ich mich dieserart wiederhole: Ich könnte auch eine Rechtschreibreform einführen, die einfach alle Kommata abschafft. Danach könnte ich berichten: "Meine Schüler machen keine Kommafehler mehr."


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.08.2008 um 08.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7184

Mir ist kein Reformer und auch kein Kultusminister bekannt, der heute noch von einer Erleichterung des Schreibens durch die reformierten Regeln spricht - gar von einer Erleichterung "um ein Vielfaches"! Danach müßten sich ja die Rechtschreibleistungen der Schulkinder, besonders der ausländischen, enorm verbessert haben. Kann man mit jemandem diskutieren, der so etwas behauptet?

Schmachthagens Fixierung auf die FAZ, die er gleichwohl nicht zu lesen scheint, hat etwas Komisches.

Ob der Konzernchef weiß, wie Schmachthagen über ihn und seine Entscheidungen in Sachen Reform denkt?


Kommentar von stefan strasser zu 7180, verfaßt am 03.08.2008 um 07.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7183

Es ist bemerkenswert, wie Germanist Schmachthagen die Befindlichkeit vieler -zig Millionen Deutschsprachiger vollkommen egal ist (siehe Allensbach Studie), wenn nur Klein Mehmet und Klein Igor angeblich leichter deutsch schreiben lernen; was übrigens eine völlig unbewiesene Behauptung ist (nichts gegen Klein Mehmet und Klein Igor).
Der weiterführende Schluß, daß für jemand, der das bezweifelt, es egal ist, ob er die alte oder neue Schreibung nicht beherrscht, gibt weiteren Einblick in eine verwirrt-konfuse Weltanschauung. Was hat der Glaube an eine erfundene Behauptung mit der eigenen Rechtschreibfertigkeit zu tun?
Von solch absurd-unhaltbarer Qualität sind die Rechtfertigungen der Reformschreibweise aber in überwiegendem Maß.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 03.08.2008 um 02.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7182

Lieber Herr Isleif,

nicht nur daß Schmachthagen selbst die angeblich so segensreiche "neue" Rechtschreibung (er meint tatsächlich wohl die aus dem 19. Jahrhundert) nicht beherrscht (vgl. "Grüssen"), nein, er lügt auch noch, daß sich die Balken biegen. Welche der vielen Zeitungen beherrscht denn die angeblich so neue Rechtschreibung fehlerfrei? Wenn er da Nachweise erbringen kann, dann kann man vielleicht über die Segnungen und den ganzen anderen Blödsinn, von dem er schreibt, reden. Und bei den vielen unverdeckt verdeckten Anspielungen auf die F.A.Z. scheint er in seinem Delirium vollends zu übersehen, daß die sich (ebenfalls) eine Hausorthographie zugelegt hat.

Naja, solange er nur allenthalben brav und 'angepasst' sein blödes Doppel-s sieht, das aus den Tiefen des 19. Jahrhunderts stammt und danach leider von den Nazis wiederbelebt wurde, glaubt er schon, Reformschreibung vor sich zu haben. Der viele Geifer, den er da von sich gibt, läßt ihn schließlich sogar "grüssen".

Nehmen Sie es doch, Herr Isleif, einfach als einen zwar unerfreulichen, aber zugleich auch hoffnungslosen Fall von frühzeitiger Vergreisung mit ausgeprägten Symptomen von Altersstarrsinn. Bei dem einen setzt so etwas früher ein, bei anderen später. Zehetmair und Augst haben inzwischen auch weitgehend den Bezug zur Realität verloren. Wenn gelegentlich mal in einer Anstalt ein ganzer Trakt frei würde, dann könnte man die Herren doch gemeinsam unterbringen. So könnten sie sich als Zimmernachbarn den ganzen Tag gegenseitig auf die Schultern klopfen, zu den Reformerfolgen und ihren Geheimstatistiken gratulieren, sich morgens, mittags und abends 'grüssen' und würden niemandem mehr auf die Nerven fallen.

Da stellt sich mir doch die boshafte Frage, ob es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem geballten Schwachsinn der Rechtschreibreform und derartigen geistigen Aussetzern gibt. Das könnte doch eigentlich mal – methodologisch differenziert, terminologisch unverständlich und statistisch nach Gries'schem Vorbild – der Herr aus Bremen untersuchen. Zugleich gäbe das endlich einen neuen Eintrag für sein Blog: "Senile Demenz und Wahrnehmungsstörungen bei Initiatoren und Durchsetzern der Rechtschreibreform". Immer nur Grund und die FDS zerpflücken wird doch mit der Zeit lanweilig!


Kommentar von Philip Köster, verfaßt am 02.08.2008 um 23.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7181

Lieber Herr Isleif,

nach der unfreundlichen Eröffnung "auf das Anrempeln meiner Person, bei der Sie noch nicht einmal durch eine Art Grußformel den Anschein der Höflichkeit wahren, brauche ich nicht näher einzugehen. Ihr Stil interpretiert sich selbst" ist alles gesagt. Es ist das beste, gingen Sie darauf gar nicht erst ein. Wer sich im Deutschen nicht höflich auszudrücken vermag, möchte immer Gehör finden, auch wenn er es nur selten verdient hat. Diese Menschen mißbrauchen den Briefstil.

Was mich an dieser Debatte so stört: Die Reformbefürworter fordern von den Reformgegnern mehr Sachlichkeit, dabei wird diese Forderung von den Reformgegnern längst erfüllt: Sie bringen Beispiele und zeigen, daß da irgendwas nicht stimmen kann. Reformbefürworter verharren aber bis heute in Sandkistenspielen und üblen Verleumdungen.

Lieber Herr Isleif,

lassen Sie sich nicht aus der Fassung bringen. Das alles kann nur ein Furunkel sein, das bald wieder vergeht. Jedenfalls ist das meine tiefempfundene Hoffnung.

Grüße nach Tokio (oder schreibt man "Tokyo"?)
Philip


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 02.08.2008 um 22.12 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7180

Möglicherweise paßt mein Schriftwechsel mit Herrn Schmachthagen hier rein. Leider ist die chronologische Reihenfolge so, daß das Neueste oben steht. (Ein paar Tippfehler habe ich korrigiert):

Werter Herr Schmachthagen,

warten Sie, bis der nächste sprachliche Heilsbringer (sicher ein echter Germanist) kommt und Ihnen drei p am Tip vorschlägt (aber nicht am Trip, den machen wir später). Das Volk der Dichter und Denker wird zu 90% hinterherrennen und auch diese 'Regel' als fortschrittlich empfinden und sie brav befolgen. Meinetwegen, hinterfragen Sie als echter Germanist auch nie den Kuss im Bus, fasst und fast und die -Jährigen und den ganzen Rest des neuen Unsinns. Schließlich wollen Sie sich in Ruhe der neuen Wirklichkeit anpassen und endlich einmal echt germanistisch tippen. Aber lassen Sie doch bitte dem Rest derer, die schon schreiben, das bißchen Freude, ab und zu den Unsinn Unsinn zu nennen.

(Bei Germanisten ist das ja alles noch harmlos. Aber stellen Sie sich einmal vor, die Mediziner in Deutschland verstünden ihr Fach auf ähnliche Weise ...)

Freundlichst
Karl-Heinz Isleif
Tokyo, Japan

Date: Sat, 2 Aug 2008 15:30:19 +0200
Subject: AW: Mer Feler

Sehr geehrter Herr Isleif,
auf das Anrempeln meiner Person, bei der Sie noch nicht einmal durch eine Art Grußformel den Anschein der Höflichkeit wahren, brauche ich nicht näher einzugehen. Ihr Stil interpretiert sich selbst.

Falls Ihnen in Japan Folgendes unter Umständen nicht bewusst sein sollte: Die Rechtschreibreform ist im heutigen Deutschland Wirklichkeit in allen Medien, sogar in der FAZ. Stellen Sie sich einmal in eine deutsche Bahnhofsbuchhandlung und versuchen ein Printerzeugnis zu finden, in dem man seinen Tip mit einem p auf dem Tippschein mit zwei p eintragen soll – eines der armseligen Beispiele, die mich zu der Bitte veranlassten, sich zehn Jahre nach der Einführung endlich voll auf die Praxis der neuen Rechtschreibung zu konzentrieren.

Ich selbst hätte mit der alten Rechtschreibung leben können. Ich beherrschte sie nämlich recht gut. Dennoch gestalten sich die neuen Regeln und Schreibweisen – gerade für Klein Mehmet und Klein Igor, die zu Hause noch nie ein Wort Deutsch gehört haben – um ein Vielfaches einfacher als die alten. Wer das bezweifelt, bei dem ist es, wie ich schrieb, eh egal, ob er die alte oder die neue Rechtschreibung nicht beherrscht.

Es geht nicht darum, mit Quatsch Frieden zu schließen, sondern um die endgültige Weigerung, Frieden mit Quatsch zu schließen.

Mit freundlich Grüssen
Peter Schmachthagen (68, Germanist)

P.S.: Diese Antwort ist ausschließlich als persönliche Antwort des Autors des inkriminierten Artikels zu verstehen.

––-Ursprüngliche Nachricht––-
Von: Isleif
Gesendet: Samstag, 2. August 2008 16:13
Betreff: Mer Feler

Werte Redaktion,

Ein Mann namens Schmachthagen fand es in Ihrem Blatt an der Zeit, es gut sein zu lassen mit der Diskussion über die Rechtschreibreform. Ja, man weiß, einige Leute wollen ihre Ruhe haben. Und zwar die, die mit stolzgeschwellter Brust dem sprachlichen Fußvolk zwei p am Tip und ähnliche Änderungen als größte Denkleistung seit der Erfindung des Rades verkaufen wollen.
Einige anderen weigern sich halt, mit Quatsch Frieden zu schließen. Ist das so schwer zu verstehen?

Karl-Heinz Isleif
Tokyo, Japan


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 02.08.2008 um 08.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7179

Aus der Durchschnittsmeinung über die 10 zurückliegenden Reformjahre, die in diesen Tagen veröffentlicht wurden, sticht der Artikel von Journalist Schmachthagen heraus.
Während so gut wie alle anderen einen aufgrund der langen Diskussion erschöpft-kritischen bis sich lustig machenden Ton anschlagen, kommt der Herr Schmachthagen zu einem ganz anderen Urteil.
Man frägt sich, ist das seine ehrliche Überzeugung oder fühlt er sich, warum auch immer, jenen verpflichtet, die das ganze gegen das Volk vom Zaum gebrochen und bis heute stur umgesetzt haben?
Sieht man sich die Geschichte an, kann man eigentlich nicht auf die Idee kommen, so etwas auch nur entfernt als Erfolgsstory zu bewerten:

1996 überfallsartige Einführung, kein Feldversuch zur Erprobung
1996 Duden Nr. 21
1996-2000 inoffizielle Reparaturabeit hinter den Kulissen, daher:
2000 Duden Nr. 22
2004 weitere Reparatur und erste offizielle Revision mit neuem Regelwerk
2004 Duden Nr. 23
2004 Entlassung der "Zwischenstaatlichen Kommision" und Gründung des "Rates für deutsche Rechtschreibung"
2006 Vorschläge des Rates führen zu weiteren Reparaturen und zur zweiten offiziellen Revision mit wieder neuem Regelwerk
2006 Duden Nr. 24
2008 Hr. Zehetmair vom RfdR kündigt weitere mögliche Änderungen an

Es gibt also neben der ursprünglichen bisher 3 veröffentlichte Versionen der reformierten Schreibung.

Und täglich kann in Massenmedien bewundert werden, wie unsicher selbst Profischreiber mittlerweile in ihrem ureigensten Metier geworden sind - eine wirklich tolle Erfolgsstory ...



Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 01.08.2008 um 21.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7178

Gerade im Internet gesehen:

"hatt sich erledigt"


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 01.08.2008 um 19.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7177

Zu Germanist: Das ist nicht ganz richtig. Erst am 6.2.08 wurde eine Klage gegen unser Gymnasium abgewiesen; und am 15.7.08 wollte das OVG Schleswig noch die Entscheidung von Lüneburg 2005 demontieren. Solange die Gerichte den Spruch des Bundesverfassungsgerichtes als „Narrenfreiheit für die Kultusminister“ interpretieren, haben die besten Vernunftgründe keine Chance.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 01.08.2008 um 15.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7176

Aus der Tatsache, daß es keine neuen Gerichtsverfahren gegen Deutschlehrer und Schulen gegeben hat, muß man schließen, daß die Lehrer mit Fehlerwertungen "im Zweifel für den Angeklagten" entscheiden und daß deswegen die Ministerien keine Unruhe feststellen und auch die Eltern damit zufrieden sind. Man arrangiert sich eben irgendwie, auch mit unsinnigen Vorschriften. Die Reform wird als Naturereignis wahrgenommen.


Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 01.08.2008 um 15.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7175

http://de.youtube.com/watch?v=Nbu6wCdLWis


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 01.08.2008 um 14.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7174

Lieber AH, Sie fragen, "Was sollen die sagen, die 10 unerträgliche Jahre gegen bessere Erkenntnis mit der staatlich verordneten NRS nicht nur leben, sondern auch aktiv mit ihr umgehen mußten..."
Na was sollen die wohl sagen? Die sollen endlich überhaupt mal was sagen. Ich fass' es wirklich nicht, daß in der gesamten Lehrerschaft still vor sich hin gelitten wird und rein gar kein Protest, keine Richtigstellung den offiziellen "Null problemo"-Verlautbarungen entgegengehalten wird. Andererseits ist mir auch klar, daß die meisten Lehrer die Reform als eine unter vielen unausführbaren Zumutungen abgeheftet haben und die Bandbreite der Toleranz einfach ausweiten und zum Teufel mit den Konsequenzen - man hat da i.d.R. völlig andere Sorgen und längst gelernt, daß man den KuMis erzählen kann, was man will – es erreicht sie nicht, daß man aber oft auch machen kann, was man will – und sie merken es nicht. Der Aberwitz als Normalzustand.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 01.08.2008 um 13.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7173

Für die Verbraucher wird es einfacher, deutsche und italienische Spagetti / Spaghetti an der Aufschrift unterscheiden zu können. Sossen aus der Schweiz erkennt man auch sofort und Produkte aus Frankreich am ai statt ä.

Nur das englische Plural-s ist geschlechtsneutral.
Mark Twain fand, daß "die Engländerin" übercharakterisiert ist.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 01.08.2008 um 13.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7172

Lieber Herr Eversberg,

ich kann mich der Bitte von AH uneingeschränkt anschließen.

Es müssen ja auch gar keine weiteren Briefe mehr an Seifenblasenproduzenten (seien es nun Bundespräsidenten, Präsidenten des Goethe-Instituts oder Kultusminister) geschrieben werden. Sollen die Damen und Herren in ihrer rosaroten Wolke doch an Ignoranz und Indolenz der Wiklichkeit gegenüber eingehen!

Nicht zuletzt waren es Beiträger wie Sie, die mich irgendwann ermutigten, den Schritt vom lesenden zum schreibenden Teilnehmer dieser Seiten zu machen.

Wenn ich die Situation noch einmal mit Österreich im 19. Jahrhundert vergleichen darf: Dort dauerte der Spuk bekanntlich von 1879 bis 1901, also zweiundzwanzig Jahre. Bereits vor der offiziellen Einführung der ersten Duden-Reform war aber die vorige Rechtschreibung schon so marode geworden, daß wir uns vielleicht auf insgesamt 20 Jahre Heyse als Experiment im 19. Jahrhundert einigen können. Übertragen wir daher diese 20 Jahre auf die heutige Situation, so haben wir bereits zehn Jahre (oder zwölf, je nach Zählweise!) hinter uns gebracht. Die Reform bröckelt, bröselt und funktioniert nicht. Das sind die Tatsachen, die man jeden Tag wahrnimmt. Vielleicht läßt sich der Blödsinn daher noch vor zehn weiteren Jahren beenden. Aber doch bitte mit Ihnen!


Kommentar von AH, verfaßt am 01.08.2008 um 12.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7171

An b. eversberg! Ja, es interessiert mich, denn ich würde es sehr bedauern, wenn sich mit Ihnen tatsächlich von dieser Stelle gänzlich einer zurückzöge, mit dessen hochvernünftigen, dabei meist kompromißlosen Stellungnahmen zur NRS ich noch am ehesten jedesmal übereingestimmt habe. Natürlich ist Ihre Frustration verständlich angesichts der Ignoranz, Unbelehrbarkeit und Indolenz, deren diverse Ausdrucksformen gerade an diesem Jahrestag wieder schmerzlich zu beobachten sind, nicht zuletzt in den heuchlerischen Medien, vor allem denjenigen Printmedien, die noch immer zu Leitinstanzen der Rechtschreibung erklärt werden und sich in ihrer Eitelkeit auch dafür halten, ohne zu merken, daß sie von ganz anderswo gesteuert werden..

Aber Sie, b. eversberg, haben es doch anscheinend noch gut! Was sollen die sagen, die 10 unerträgliche Jahre gegen bessere Erkenntnis mit der staatlich verordneten NRS nicht nur leben, sondern auch aktiv mit ihr umgehen mußten: Morgens beruflich "dass", abends privat "daß" etc. etc. - das erzeugt Frustration! Und ein so Betroffener liest die Behauptungen, es funktioniere alles "ohne Probleme" (seit der Schuleinführung 1998!), sowie die hinterhältigen Aufrufe zur "Gelassenheit" nicht ohne Zorn!

Meine Bitte: Machen Sie weiter! Jeder Beitrag, der hier und anderswo auf den Nonsens aufmerksam macht, stärkt die Reformgegner in der Öffentlichkeit. Ich glaube, daß sie irgendwie in der Summe zur Kenntnis genommen werden. Nur so scheint mir unter anderem erklärbar, weswegen die Arien zum heutigen "Jubiläum" deutlicher in Moll ausfallen als je zuvor (sogar bei ap und dpa, die Haupttäter sind). Kaum jemand, außer relativ wenigen völlig mit Blindheit oder Böswilligkeit Geschlagenen (KMK, Hamburger Abendblatt), spricht noch von großartigen Segnungen der NRS. Ernstzunehmende scheinen mir nicht darunter zu sein. Ist das nicht schon ein Erfolg?


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 01.08.2008 um 12.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7170

Korrektur:

Natürlich muß es "Schmachthagen/ Meyer" heißen, ich war noch so von Zehetmair gebannt, daß auch ich übergeneralisierte. Verballhornungen von Namen erlaube ich mir eigentlich nicht. Aber wo ich gerade doch dabei bin, vielleicht deutscht Herr Z. ja seinen Namen analog zu den "beobachteten" italienischen Teigwaren noch zu 'Zetmeier' ein.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 01.08.2008 um 12.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7169

Es ehrt das "Hamburger Abendblatt", einen aktiven Beitrag zur Wiedereingliederung offenbar wahrnehmungsgestörter Patienten in den Alltag zu leisten. Fraglich bleibt, ob man sie – unter welchem lustigen Namen auch immer – gleich Artikel schreiben lassen sollte, die dann auch tatsächlich erscheinen. Schreiben für die Schublade scheint mir da doch als Therapie das zunächst die Umgebung weniger irritierende Vorgehen zu sein. Oder sollte sich Schmachthagen/ Meier in den letzten zehn Jahren von den Medien abgeschirmt aufgehalten haben? Er lobt so sehr die Reform von 1996/98 und bezeichnet diese als die besserschreibende "Orthografie".

Dabei sollten doch im Zuge der allgemeinen "Säuberungen" von Büchereien auch die Anstaltsbüchereien von psychiatrischen Abteilungen oder Kliniken inzwischen mal eine aktuellere Ausgabe des Duden angeschafft haben! Tatsächlich hat ja gerade die 24. (!) Auflage des bananengelben Buches mit der 21. von 1996 keine sehr große Ähnlichkeit mehr. Aber womöglich ist Schmachthagen ja bis zum 20. Jahrestag der gescheiterten Rechtschreibreform (er möge hierzu doch mal die Fehler und Kollateralschäden im eigenen Blatt zählen) endlich in der Lage, das Hohe Lied auf die bis dahin womöglich auch schon wieder veraltete 24. Auflage des Duden von 2006 zu singen. Manche Medikamente haben Nebenwirkungen, die zu einer deutlich zeitverzögerten Wahrnehmung führen.

Gut, daß ich diese Medikamente nicht nehme und so die Gelegenheit ergreife (ja, es ist noch früh am Tag, aber ich möchte auch einmal in einem Schmachthagenschen Zustand sein!), mit allen auf zehn Jahre offiziell (und zwölf Jahre inoffiziell) gescheiterte Rechtschreibreform zu trinken! (Keine Ahnung, wie spät es jetzt bei Ihnen, Herr Isleif und Herr Ludwig, ist.)

Wenn einem etwas Gutes widerfährt, dann ist das einen Schmachthagen wert! Ich denke, es wird auch gehen, wenn meine Sektmarke einen anderen Namen hat...


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 01.08.2008 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7163

10 Jahre sind genug. Seit 10 Jahren nutze ich jede Gelegenheit, hier und anderswo gegen den organisierten Humbug aufzubegehren – vergebens. Es sind Schäden sichtbar geworden, aber das kümmert nur eine Minderheit. Eine Schmerzgrenze ist offenkundig noch nicht erreicht, die Schäden werden also weiter wachsen, denn noch rührt kein einziger, der etwas bewegen könnte, einen Finger. Der Unfug wird also weitergehen, und auch wenn sich eine langsame Rückbewegung andeutet, wird es bis zu einer neuen Einheitlichkeit sehr lange dauern. Der unnötige Bruch der Kontinuität ist aber nicht mehr zu heilen, und zwar vornehmlich, weil Einsicht und Wille fehlen, weil Schäden und ihr Zusammenhang mit der Reform schlankweg negiert werden. Dabei ist allein schon die unnötige Belastung und Belästigung einer ganzen Bevölkerung ohne Ende ein Schaden und politischer Skandal ohne Beispiel, und andauernde Zwietracht wurde ausgelöst, wo man vorher keine kannte. Wir leisten uns eine orthographische Spaltung, stand irgendwo – eine Mauer, quer durch eine Bibliothek.

Aber wer weiß – vielleicht hätte es ohne Reform ganz andere und noch größere Schäden gegeben? Abgewendet durch die Kultusminister, getreu ihrem Amtseid.

Hinreichend heimisch in zwei anderen Sprachwelten, der englischen und der polnischen, kann ich leichter Abstand nehmen. Beide sind irgendwie unverwüstlich, robust, elegant (ja, auch das Polnische), bei aller Dynamik aber stehen sie fest in ihrer Überlieferung und erfreuen sich als Kulturgut hoher Wertschätzung aller Muttersprachler. Jeder unserer Reform vergleichbare Vorschlag hätte keine Chance, ernstgenommen zu werden, aber es kommt auch niemand auf so eine Idee, obwohl das Englische (nicht aber das Polnische), nach den Maßstäben unserer Reformer, einen -zigfach größeren Reformbedarf hätte. Was hier bei uns vorgegangen ist, wird verlacht oder gar nicht für möglich gehalten. Weil es aber doch passiert ist, beschädigt es die Meinung von den Deutschen als Kulturvolk. Aber auch von der deutschen Sprache als solcher, gilt sie doch in beiden Welten, so verschieden sie sind, als eher grob, laut, polternd, tolpatschig – im Englischen sagt man "gawky". Neue Anreize, Deutsch zu lernen, hat die Reform daher natürlich nicht geschaffen, und schweigen wir von der unsäglichen, alle Überlieferung negierenden Haltung des Goethe-Instituts. Büchervernichtung allein wegen der Orthographie, sowas zu erzählen wagt man kaum, ist es doch ein krasses Armutszeugnis für die, die auf solche Ideen kommen, nicht weniger aber für die, die es geschehen lassen – u.a. alle, die irgendwo für Kultur Verantwortung tragen, auch die Medien.

Man muß seine Prioritäten setzen. Fruchtlosen Zeitaufwand muß man sich irgendwann verbieten, man lebt ja nur einmal. Deshalb ist meine Betätigung an dieser Stelle, falls das jemand interessiert, hiermit zu Ende. Es waren aber lehrreiche Jahre, vielen Dank dafür. "Viel Erfolg" zu wünschen, das wäre wohl leider eine leere Floskel. Ein Erfolg, wie ihn Herr Ickler erreichte, wird kaum nochmals möglich sein.

Ob ich jetzt 'dass' schreiben werde und 'muss'? Bin doch nicht blöd! Ich gehe zu den 86%, die, den Freibrief aus Karlsruhe in der Tasche, Herrn Z – wie heißt er doch? – einen eitlen alten Mann sein lassen. Aber nicht gut sein, was schlecht ist.


Kommentar von Charlotte, verfaßt am 01.08.2008 um 10.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7162

Der Kommentar im Hamburger Abendblatt ist eine echte Zumutung:

"Zehn Jahre danach: Lasst es endlich gut sein!
Mer Feler wegen Rechtschreibrevorm?

Von Peter Schmachthagen (= Peter Meyer)

"Fluss" statt "Fluß": Seit zehn Jahren weiß es (fast) jedes Kind. Auf den Tag genau vor zehn Jahren wurde die Rechtschreibreform an den deutschen Schulen eingeführt, und Millionen von Schülern haben sie überlebt. Genau genommen handelte es sich nur um ein "Reförmchen", denn 98 Prozent der Schreibweisen aus der 20. Auflage des Dudens (alte Norm) wurden auch in die 21. Auflage (neue Norm) übernommen. Trotzdem erleichterten die neuen Regeln gerade Kindern und Ausländern das Lernen.

Wer behauptet, die früheren, im Laufe der Jahre seit 1901 metastasenartig ausgewucherten Regeln wären "klarer" gewesen und hätten sich "bewährt", der sagt entweder die Unwahrheit, oder bei ihm ist es eh egal, ob er die alte oder die neue Rechtschreibung nicht beherrscht.

Es gibt Leute, die werfen noch heute mit orthografischen Nebelkerzen. Jeder Germanist hat sicherlich andere Vorstellungen, wie eine "Gutschreibreform" aussehen sollte, aber die Änderungen von 1996/98 können zumindest als "Besserschreibreform" bezeichnet werden.

Und dann gibt es Leute, die berufen sich auf fragwürdige Untersuchungen, nach denen die Rechtschreibfehler in Abituraufsätzen um 120 Prozent zugenommen haben. Das mag ja sein, die Frage bleibt nur, ob die Rechtschreibreform daran schuld ist und wie die Aufsätze nach alter Norm ausgesehen hätten. Um hier einen Vergleich ziehen zu können, hätten wir eine Kontrollgruppe zehn Jahre lang nach alter Rechtschreibung unterrichten und von der Reform abschirmen, sie andererseits aber der stetig zunehmenden Lese- und Schreibfeindlichkeit, dem Internet, dem Fernsehen, den PC-Spielen, der Handy-Sprache und den leistungsfremden Lehrplänen aussetzen müssen.

Genauso gut könnte ich eine Studie veröffentlichen, der Birnbaum im Garten meiner Urgroßmutter habe 1901 mehr Früchte getragen als der Apfelbaum heute vor meinem Haus.

Und schließlich gibt es noch den Rat für deutsche Rechtschreibung, dessen Vorsitzender Hans Zehetmair (CSU) die deutsche Sprache weiterentwickeln will: aus "Spaghetti" möchte er "Spagetti" machen. Guten Appetit, der Duden erlaubt beide Formen.

Nach zehn Jahren - lasst es endlich gut sein! Selbst Totalverweigerer der Reform haben inzwischen ihre letzte Festung verloren: die "Frankfurter Allgemeine" (FAZ) benutzt nun auch die neue Rechtschreibung.

erschienen am 1. August 2008"
http://www.abendblatt.de/daten/2008/08/01/914990.html


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 31.07.2008 um 22.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7158

Die Rechtschreibreform habe sich nach Ansicht des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz, Erich Thies, bewährt, meldet heute die Nachrichtenagentur dpa und zitiert ihn: "Die Unzufriedenheit hält sich so in Grenzen, dass sie kaum bemerkbar ist." Dann heißt es: "Man werde nun [']behutsam' analysieren, ob es weitere Veränderungen geben muss."

Darauf kommt es nämlich an beim Analysieren, daß man behutsam vorgeht. Davon hätte sich Herr Grund mal eine Scheibe abschneiden sollen, dann wäre ihm der Tadel aus Bremen sicherlich erspart geblieben. Das Verfahren hat bloß einen Nachteil: Je behutsamer einer analysiert, desto weniger bemerkt er. Daraus ergibt sich, zumindest aus der Sicht des Laien, so etwas wie ein methodologischer Zielkonflikt. Irgendwie hegt wohl auch der Redakteur der Agentur diesen Verdacht; anders jedenfalls kann ich mir nicht erklären, warum er das Wort behutsam auf der rechten Seite mit einem Gänsefüßchen versah. Aber Herr Mackowiak wird uns hier gewiß zu näherem Aufschluß verhelfen.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 31.07.2008 um 20.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7156

Der Weg über die Lehrer hätte zweifellos den Vorteil, das wissenschaftliche Gewissen zarter Seelen wie Herrn Stefanowitsch nicht zu belasten. Aber ich sehe eher den Auftrag beim IDS landen. Frau Dr. Güthert scheint mir bestens qualifiziert, das gewünschte Ergebnis mit Hilfe von 1-2 Doktorandinnen zu erzielen.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 31.07.2008 um 19.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7155

Bei "Lehrer-Befragen" muß ich immer gleich daran denken, wie die Bayerische Schulministerin Monika Hohlmeier (Tochter von F.J.Strauss) die gegen die Mißstände der überstürzten Einführung des G8-Gymnasiums protestierenden Lehrer und Direktoren abgebürstet hat, weil sie nur Jubelmeldungen hören und an Edmund Stoiber weitergeben wollte.

Lehrer bitten meistens die Schüler-Eltern, Druck zu machen, weil nur diese das ohne Gefahr für ihre berufliche Benotung tun können. Es gilt daher, die Eltern zu sensibilisieren, daß ihre Kinder wegen mehr Fehlern möglicherweise schlechtere Deutschnoten bekommen.


Kommentar von R. M., verfaßt am 31.07.2008 um 18.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7154

Blüml hat damit ja Erfahrung. Man fragt die Lehrer, wie sie die Reform finden. Das ist zwar irrelevant, verspricht aber bessere Ergebnisse als eine Überprüfung der Schreibfähigkeiten der Schüler.


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 31.07.2008 um 18.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7153

Daß eine großangelegte Untersuchung über die neue Rechtschreibung durchgeführt werden soll, ist zu begrüßen. Einen Wert hat so eine Untersuchung aber nur dann, wenn sie von unabhängigen, unvoreingenommenen Organisationen durchgeführt wird.
Die Ankündigung Blümls klingt mir aber irgendwie so, als hätte man bereits ein Konzept entworfen, das das gewünschte Ergebnis liefern wird. Aber lassen wir uns überraschen.


Kommentar von Thomas Paulwitz, verfaßt am 31.07.2008 um 17.55 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7152

Es war Herr Blüml, nicht Herr Z., Herr Eversberg. Aber sicher steht der eine dem anderen nicht nach.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 31.07.2008 um 17.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7151

"... ob es noch Knackpunkte in der Akzeptanz gibt" - man hält's also eher für möglich, daß es keine mehr gibt! Krasser konnte Z. seine Weltfremdheit nicht unter Beweis stellen.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 31.07.2008 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7150

Auch wenn man die Reform als Ursache nicht wahrhaben will, ist doch die zeitliche Korrelation der Fehlermehrung mit ihr oder mit einem noch zu findenden anderen Ereignis offensichtlich.

Wenn man Aufwand und Nutzen bilanziert, sind die für die Reform ausgegebenen öffentlichen Gelder ein Fall für den Bundesrechnungshof oder die Landesrechnungshöfe.


Kommentar von OÖN, verfaßt am 31.07.2008 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7149

(...) Der Rat für die deutsche Rechtschreibung will im Herbst dennoch eine groß angelegte Untersuchung über die neue Rechtschreibung beschließen. Das Konzept sei bereits fertig, nun werde noch nach einer Finanzierung gesucht, sagte Blüml. Dabei sollen in Österreich, Deutschland und der Schweiz Publikationen analysiert und Untersuchungen an Schulen durchgeführt werden. „Wir wollen feststellen, ob es noch Knackpunkte in der Akzeptanz gibt“, sagte Blüml. (...)
http://www.nachrichten.at/regional/715973


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 31.07.2008 um 16.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7148

Überzeugte Reformanhänger, genauer: Gegner der Reformgegner, werden die »offenkundig erwiesenen Mißstände« (#7107) immer bestreiten oder bagatellisieren, da kann Petrus noch so viele »Taubenei große« Hagelkörner vom Himmel schleudern. Solange man sich über den Wert wissenschaftlicher Studien über die Auswirkungen der Reform nicht einigen kann, interessiert mich zuallererst, welche offenkundig erwiesenen Mißstände seinerzeit die Reform aus Sicht ihrer Befürworter unausweichlich gemacht haben. Waren es Probleme mit Rhythmus und Cappuccino, mit Uhr und Kur, Stiehl und Stil, mit wieder-/wider- und daß/das? Sicher nicht, denn diese offenkundig schwierigen Fälle haben die Reformer ja links liegenlassen. Auch Probleme bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, dem Kernstück der Reform, taugen nicht zu deren Rechtfertigung. Denn selbst wenn es so gewesen sein sollte, daß vor 1996 viele etwas links »liegen ließen«, war dies kein Indiz für einen Mißstand, sondern allenfalls ein Beleg dafür, daß die Dudennorm in manchen Fällen zu eng gefaßt oder falsch begründet war. Wer dennoch glaubhaft machen kann, daß es in diesem Bereich früher gravierende Probleme gegeben hat, müßte zunächst einmal mitteilen, für welchen der beiden grundverschiedenen Lösungsansätze (1996 oder 2006) er plädiert. Wer für die 1996er GZS ist, müßte eigentlich beklagen, daß man ein erfolgreiches Experiment ohne Not abgebrochen hat, und der Zukunft pessimistisch entgegensehen. Wer aber für 2006 ist, müßte argumentieren, daß man zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht feststellen kann, ob sich die neue Neuregelung bewährt hat, und mindestens vehement für eine Verlängerung der Übergangszeit eintreten.

Nebenbei: Echte Mißstände bekämpft man nicht mit »behutsamen« Eingriffen, schon gar nicht mit solchen, die – wie die Reformbefürworter vermeinen – das Schriftbild der Texte weitgehend unangetastet lassen.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 31.07.2008 um 16.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7147

Lieber Glasreiniger,

natürlich nimmt sich hier und im Bremer Sprachblog niemand Zehetmairs Zahlen vor. Wie denn auch, wo sie doch so geheimnisvoll sind, daß niemand auf sie zugreifen kann.

In einem anderen Strang streitet man sich gerade um Wittgenstein, den ich deshalb hier zitiere: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." ("Tractatus logico-philosophicus, 6.522")

Und wer wollte denn Zehetmairs mystische Zahlen analysieren?


Kommentar von jms, verfaßt am 31.07.2008 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7146

Ein solches Ergebnis war vorauszusehen. Doch die Verantwortlichen stecken lieber den Kopf in den Sand. Die Rechtschreibreform und der heutige Umgang mit ihr sind Indizien dafür, daß in unserem Staat einiges oberfaul ist und daß die Medien – anstatt ihrer kritischen Wächterpflicht nachzukommen – praktisch gleichgeschaltet sind. Die bekannte Begründung einer Kultusministerin, daß die Reform nur aus Gründen der Staatsräson beibehalten wurde, macht deutlich, auf welch dünnem Eis sich die politische Klasse befindet. Dabei wäre eine Rücknahme ein Zeichen der Stärke gewesen. Denn wer einen Irrtum eingesteht und ihn korrigiert, hat nicht nur weniger Schaden angerichtet, sondern verdient auch Respekt. So aber haben Politik und Medien durch ihr Verhalten bei klugen Menschen in diesem Lande sehr viel Vertrauen unwiederbringlich verspielt. Das ist die Bilanz nach 10 Jahren dieses unseligen Projekts.


Kommentar von Erich Kästner, verfaßt am 31.07.2008 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7145

Ja, die Bösen und Beschränkten
Sind die Meisten und die Stärkern
Aber spiel nicht den Gekränkten
Bleib am Leben, sie zu ärgern!


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 31.07.2008 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7144

Gegner und Befürworter der Reform liefern sich einen ungleichen Kampf. Die Gegner appellieren an Vernunft und Sachverstand, bieten auch wissenschaftliche Arbeiten auf, um der Sache beizukommen. Die Befürworter scheren sich nicht darum und setzen einfach Dinge in die Welt, die sie gerade brauchen.
So sind die nicht angreifbaren Studien, von denen Glasreiniger spricht, genau das Problem. Es ist irrelevant, ob die Studien, auf die sich Zehetmair beruft, existieren oder nicht bzw. ob sie das aussagen, was er angibt. Wenn jemand wie Zehetmair öffentlich erklärt, es gebe Studien, die den Erfolg der Reform belegen, glauben ihm die Leute. Zumindest stellen sie nicht in Frage, daß es Studien zur Erfolgskontrolle der Reform gibt. Und daß es keine Kritik an diesen Studien gibt, nehmen sie wiederum zum Anlaß, sie für zutreffend zu halten.

Die Grund-Studie geht wissenschaftlich vor: Sie greift eine Frage auf ("Wie haben sich die Rechtschreibleistungen der Schüler nach der Rechtschreibreform entwickelt?"), beantwortet sie ("Die Rechtschreibleistungen haben nachgelassen."), leitet daraus eine weitere Frage ab ("Wie kommt es, daß die Leistungen schwächer geworden sind?") und beantwortet auch diese ("Es ist unter anderem die Rechtschreibreform selbst.").
Damit bietet sie den Reformbefürwortern eine Angriffsfläche. Und die nehmen die Gelegenheit dankbar an und schießen aus allen Rohren. Dabei kümmert es sie nicht, welche Munition gefragt ist. Sie ballern drauflos, irgendwas wird schon treffen.
Auf diese Weise kann aber ein Reformkritiker nichts erreichen. Er hat keine solche Angriffsfläche, weil die Reformer sie nicht bieten. Jene legen keine Untersuchungen vor, die handfest wissenschaftlich diskutiert werden könnten.
Und so bleibt diese Studie leider nur ein ehrenvoller Versuch in einer nichtehrenvollen Umgebung.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 31.07.2008 um 15.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7142

Die reflexartigen, heftigen Ausbrüche in Bremen (S. ist ja da nicht der einzige) sind einer redlichen Diskussion abträglich, das ist keine Frage. Das Verhalten erklärt sich am leichtesten dadurch, daß diese Diskutanten sehr wohl schon wissen, daß sie einem Humbug aufgesessen sind (Himmel, sogar die KuMis wissen das), diese peinlich späte Einsicht jedoch um keinen Preis zugeben können. Sie verteidigen ja in der Tat die Reform an keiner Stelle, nennen sie sogar "schlecht", tun dann aber alles, um Vorwürfe anderer von ihr abzuwenden und schrecken dabei vor albernsten Ausflüchten nicht zurück.

Im Prinzip vollführen auch die meisten Medienbeiträge diesen merkwürdigen Spagat: Keinerlei Lob für die Reform, aber auch keine grundsätzliche Infragestellung oder gar so etwas wie der Ruf nach einer Evaluation. Daß die KMK keinen Handlungsbedarf sieht (und damit Allensbach sowie die Grund-Studie völlig ignoriert), solche Dinge werden gleichmütig referiert, unbelegte Behauptungen, alles laufe gut, werden nirgends hinterfragt. Anscheinend auch nicht in Bremen, während man eine um Fakten bemühte Studie in der Luft zerreißt - warum nehmen sie sich die gesammelten Äußerungen von Z. nicht vor? Die Peinlichkeiten erreichen immer neue Gipfel.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 31.07.2008 um 14.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7141

Nicht angreifbar sind beispielsweise die Studien, auf die sich Zehetmair beruft, wenn er sagt, daß es in den Schulen keine Probleme gebe.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 31.07.2008 um 14.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7140

Ich habe gesagt, daß die Studie dadurch angreifbar wird, daß sie eine Frage stellt, die sie selbst aufwirft. Von "falsch" und "richtig" war nicht die Rede.

Und als die "sauberere" Methode hätte ich einen anderen Ansatz deswegen gehalten, weil jetzt der Klassifizierungsschematismus der Reformbefürworter bzw. Reformkritikergegner leichte Hand hat, die Studie als Kampfschrift der Ewiggestrigen hinzustellen.
Ich halte es für ungerechtfertigt, der Studie mangelnde Wissenschaftlichkeit vorzuwerfen. Die üblichen Verdächtigen tun das aber. Und die gleichen Leute lehnen sie von vorneherein ab, weil sie sie mit der reformkritischen FDS in Verbindung bringen. Und da beklage ich einfach, daß die Studie es ihnen so leicht ermöglicht.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 31.07.2008 um 14.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7139

Jetzt muß ich schon mal ganz naiv fragen: Was ist daran falsch, wenn eine Studie eine Antwort gibt auf eine Frage, der (oder die) sie sich stellt? Sie soll, so meint Herr Mahlmann, die Ergebnisse darlegen und keine Schlüsse daraus ziehen, das soll sie anderen überlassen. Daß andere, die an der Studie gar kein Interesse haben und denen deren Ergebnisse unangenehm sind (und das sind in unserem Fall diejenigen, die an dem Mißstand und dessen Verharmlosung die Schuld tragen), keine Schlüsse aus den Ergebnissen ziehen werden, ist Herrn Mahlmann auch klar. Wenn man dieser Wissenschaftsethik folgen will, ist es also nicht in Ordnung, wenn man Ursachen für Mißstände untersucht, an deren Aufklärung in der Öffentlichkeit aus gesellschaftlichen oder politischen Gründen kein Interesse besteht. Schöne Auffassung von der ethischen Verantwortung der Wissenschaft!


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 31.07.2008 um 13.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7138

Ich habe die Studie gelesen.
Auf S. 11 z. B. steht: "Wie unsere Stichprobe in den Vergleichsdiktaten angedeutet hat, ist erst durch die Neuregelung in diesem Bereich [S-Schreibung, Wechsel von ss auf ß und umgekehrt] die Fehlerzahl (absolut und anteilig) in die Höhe geschnellt. Erst die Reform-Regel hat die Probleme geschaffen, die sie, unter Berufung auf offenbar unzureichende statistische Daten, aus der (Schul-)Welt schaffen wollte."

Das bestätigt meine Behauptung, daß die Studie die Rechtschreibreform als Ursache der verminderten Rechtschreibleistungen darstellt. Weder aber habe ich gesagt, die Studie spreche von der Reform als alleinige Ursache, noch habe ich nämliche Aussagen anderer aufgegriffen.

Die Studie nennt die Reform deutlich eine Ursache und mißt ihr durch die o. a. Beschreibung eine maßgebliche Bedeutung zu.
Das habe ich gemeint: Die Studie stellt ein Problem dar (höhere Fehlerzahlen), ordnet es in eine Ereigniskette ein (nach der Rechtschreibreform) und begründet das eine durch das andere - wobei ich nicht bestreite, daß sie auch andere Ursachen erwähnt und gelten läßt.



Kommentar von R. M., verfaßt am 31.07.2008 um 13.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7137

In der Studie – auch Herr Mahlmann sollte sie vielleicht einmal lesen – wird dargelegt, daß die Fehlerzahlen auch in den Bereichen (weiter) angestiegen sind, „in denen die Reformer regulierend in die Sprache eingegriffen haben“. Dieser Befund wird durch die Untersuchungen von Marx und Pießnack/Schübel bestätigt. Daß die Reform allein für die Verschlechterungen der Rechtschreibleistungen im langfristigen Vergleich verantwortlich sei, hat – wie schon mehrmals betont – niemand behauptet. Das ist alles nicht wirklich schwer zu verstehen.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 31.07.2008 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7136

Herr Lachenmann schrieb:
"Muß ich denn, wenn es hagelt wie soeben hier auf dem Lande, eine meteorologisch-wissenschaftliche Untersuchung erarbeiten, die allen stefanowitschschen Kriterien standhält, um davon überzeugt zu sein, daß es wirklich hagelt? Und daß die Zerstörungen in den Gärten und auf den Feldern tatsächlich vom Hagel herrühren und nicht etwa auf das Urwaldsterben in Brasilien, das Überhandnehmen von Nacktschnecken in Mitteleuropa oder gar die Ruck-Rede von Altbundespräsident Herzog zurückzuführen sind?"

Man kann schon berechtigterweise fragen, warum es hagelt. Dafür wird man eine ganze Reihe an Gründen finden. Und dann ist der Hagel nicht mehr der Grund für die Schäden, sondern eine Folge der Ursachen, die eben weitere Schäden anrichtet.
Zurückübertragen auf die Rechtschreibreform ergibt sich, ob nicht die Rechtschreibreform auch Folge einer Geisteshaltung, einer Lesart, einer gesellschaftlichen Überlegung ist. Und wenn man das bejaht, kommt man zum einen nicht umhin, auch für möglich zu halten, daß dieser Ursprung andere Aktionen mit anderen Ergebnissen zur Folge hatte, und zum anderen muß man anerkennen, daß es auch andere Geisteshaltungen etc. gibt und gab, die ebenso umtriebig für Folgen gesorgt haben.

Die Grund-Studie ist schlichtweg dadurch angreifbar, daß deutlich die Rechtschreibreform als Ursache der verminderten Rechtschreibleistungen dargestellt wird. Die Studie gibt eine Antwort auf die Frage, die sie selbst aufwirft: Wie kommt der Anstieg der Fehler in den Schülerarbeiten zustande?
Hätte die Studie es bei den Erhebungen belassen und die Zahlen für sich sprechen lassen, hätte die o. g. Frage in einer anderen Abhandlung beantwortet werden müssen/ können.

Auf die reine Orthographie bezogen gab es in den letzten vierzig Jahren - also seit den ältesten von Grund beigezogenen Leistungsnachweisen der Schüler - nur die Rechtschreibreform als wirklich bedeutsamen Einschnitt. Wir schließen daraus, daß die vielen Fehler - insonderheit bei den von der Reform berührten Fällen - maßgeblich auf die Reform zurückzuführen seien.
Diesen Schluß sollten aber die Leser der Studie selbständig selber ziehen. Daß sie das aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht tun werden, ist bei den Reformern selbst zu erwarten, auch bei vielen Journalisten. Trotzdem wäre es die "sauberere" Methode gewesen.
Gleichwohl kann man natürlich all jene, die die Rechtschreibreform als alleinige Ursache für die schlechten Leistungen nicht gelten lassen, fragen, welche anderen Faktoren sie im Auge haben, und weshalb sie diese für so folgenschwer halten. Und warum wirken sie sich ausgerechnet in dem Bereich so deutlich aus, der von der Reform betroffen ist?
Anschließend müßte man sie natürlich auch fragen, weshalb sie denn nicht diese anderen Aspekte öffentlich kritisieren und für Abhilfe sorgen wollen.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 31.07.2008 um 11.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7135

Mackowiak: «Statt korrekter phänomenologischer Vorarbeit mit methodisch sauberer Auswertung findet sich leider nur eine tendenziöse, propagandistischen Zwecken dienende Schmähschrift, die methodologisch ähnlich arbeitet wie andere pseudowissenschaftliche Schriften zu Themen wie etwa Evolution, PSI und ähnlichen Dingen. Leider steht die "Studie" somit genau auf dem NIveau wie die "Beweise" der Kreationisten und anderen Anhänger wissenschaftlichen Obskurantismus.»

Als Vorwürfe hatten wir schon "8 gegen 80 Millionen" (aus dem RAF-Kontext entlehnt) und "Ewiggestrige" (aus dem Altnazi-Kontext entlehnt). Nun also "Kreationisten".

Schaum vor dem Mund «ist in der Regel ein sicherer Hinweis auf unseriöse Arbeitsweise und fehlende wissenschaftliche Kompetenz».



Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 31.07.2008 um 09.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7134

"Monokausale Ursachen". Sehr hübsch. Da kann man nur hoffen, daß in den Bremer Methodikseminaren auch eine Note für Fleiß und Mitarbeit vergeben wird.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 31.07.2008 um 09.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7133

Die Leidenschaftlichkeit, mit der Herr Stefanowitsch die Arbeit des Herrn Grund, den er nicht ohne Herablassung als »eine Art Kollegen« bezeichnet, in »Grund« (und Boden) verdammt, ist schon erstaunlich und läßt vermuten, daß weder Methode noch Qualität noch Ergebnis dieser Untersuchung seinen Zorn so entfacht haben, denn über all dies könnte man ja in vernünftiger Argumentation und in aller Ruhe diskutieren, ohne was auch immer wem auch immer »um die Ohren zu schlagen«. Ich vermute einmal, völlig unwissenschaftlich, daß es sich hier um einen bei Wissenschaftlern oft beobachteten Tick der interkollegialen Gehässigkeit handelt, der insbesondere dann gerne auftritt, wenn sich jemand auf die Füße getreten fühlt, etwa weil da jemand vermeintlich in dessen Revieren unterwegs war. Lehrmeinungen, die einander sehr nahe kommen, streiten sich da oft leidenschaftlicher als völlig entgegengesetzte – und behindern so die unvoreingenommene bessere gemeinsame Erkenntnis, was nicht unbedingt zu wissenschaftlich optimalen Ergebnissen führen kann.

Die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit Herrn Stefanowitschs in Frage zu stellen, maße ich mir wirklich nicht an, aber seine ganz einfache Wahrnehmungsfähigkeit schon, wenn er schreibt:

„Wenn mir jemand saubere Argumente gegen die neue und für die alte Rechtschreibung liefern könnte, würde ich mich den Reformgegnern sofort anschließen.“

Der Wissensdurst des Herrn Stefanowitsch in dieser Angelegenheit ist wohl wenig ausgeprägt, denn für die reformkritischen Arbeiten, die schon Jahre vor der Reform und bis heute jedermann und einer »Art Kollegen« wie Herrn St. erst recht leicht zugänglich waren und sind, scheint er sich nicht in Wirklichkeit zu interessieren: da mangelt es an sauberen Argumenten nun wirklich nicht. Und offenbar liest Herr Stefanowitsch in jüngster Zeit auch keine Zeitungen, keine Bücher, keine Alltagspost. In allen diesen Bereichen, das kann ihm von der Gemüsefrau bis zum (in dieser Frage nicht vorbelasteten) Akademiker jeder bestätigen, der aufmerksam liest, was seit der Reform gedruckt und geschrieben wird, sind Fehler bis zu grotesken Absurditäten zu beobachten, die es vorher nie gegeben und über die man sich kugelig gelacht hätte (heute gelten sie als Nachweis von Modernität: so firmiert eine Privatklinik in München auf ihrem eleganten Messingschild »Bild gesteuerte Diagnostik«).

Muß ich denn, wenn es hagelt wie soeben hier auf dem Lande, eine meteorologisch-wissenschaftliche Untersuchung erarbeiten, die allen stefanowitschschen Kriterien standhält, um davon überzeugt zu sein, daß es wirklich hagelt? Und daß die Zerstörungen in den Gärten und auf den Feldern tatsächlich vom Hagel herrühren und nicht etwa auf das Urwaldsterben in Brasilien, das Überhandnehmen von Nacktschnecken in Mitteleuropa oder gar die Ruck-Rede von Altbundespräsident Herzog zurückzuführen sind?


Kommentar von R. M., verfaßt am 31.07.2008 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7132

Auch Mackowiak übersieht eine „Kleinigkeit“. Weder ist bei Grund von einem Sinken der Sprachkompetenz insgesamt die Rede, noch gar davon, daß sie allein auf die Rechtschreibreform zurückzuführen sei.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 31.07.2008 um 08.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7131

Seit Jahren frage ich, wer denn endlich mal eine Evaluierung einfordert von der KMK. Nebst des Nachweises, daß Reformschreibung hinreichende Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden hat. Ohne diesen Nachweis träte der zweite Teil des Verfassungsurteils in Kraft, d.h. die Zwangsverpflichtung der Schulen wäre aufzuheben. Und wer überprüft, ob Verfassungsurteile umgesetzt werden?
Die Grund-Studie beschreibt zumindest Anzeichen auf eingetretene Schäden durch die Reform. Man kann sie nicht als "umstritten" abtun, ohne selber substantielle Belege und Argumente vorzuweisen. Der Amtseid (Nutzen mehren, Schaden abwenden) verpflichtet die Minister, einer solchen Andeutung massiver Schäden nachzugehen und Maßnahmen zu ergreifen. Unbelegte Behauptungen, es laufe alles rund, wären nach 10 Jahren hanebüchen. Den weltfremden Rat kann man sowieso vergessen. Alle Verantwortlichen tun aber nichts, sie werden auch weiter nichts tun, sie vernebeln sogar, und keiner tritt sie in den Hintern, pardon, stellt mal eine höfliche Frage, auch die "Vierte Gewalt" nicht - auch BILD fragt nicht nach der Verantwortung, als ob uns der Herr eine Plage herabgesandt hätte.


Kommentar von G. Mackowiak, verfaßt am 31.07.2008 um 08.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7130

Monokausale Ursachen anzuführen ist in der Regel ein sicherer Hinweis auf unseriöse Arbeitsweise und fehlende wissenschaftliche Kompetenz.
Ohne Zweifel ist die Sprachkompetenz junger Menschen in traditionellem Sinne teilweise gesunken. Rechtschreibung, Satzbau und Wortwahl weisen stärler als vor zwei oder drei Jahrzehnten stark individualistische Züge auf. Dies jedoch auf "die neue Rechtschreibung" als Ursache zu reduzieren, ist unsinnig.
Die Ursachen der aufgefallenen und in der Studie beschriebenen Schreibweisen sind vielfältig und äußerst komplex.
Dinge wie veränderte Schreibgewohnheiten die geprägt sind durch "Online-Schreiben" etwa in Chats sind von wesentlich größerer Relevanz und werden dennoch nicht beachtet.

Hier muss deutlich angemerkt werden, dass die vorliegende Arbeit wissenschaftlich nicht aussagekräftig ist. Statt korrekter phänomenologischer Vorarbeit mit methodisch sauberer Auswertung findet sich leider nur eine tendenziöse, propagandistischen Zwecken dienende Schmähschrift, die methodologisch ähnlich arbeitet wie andere pseudowissenschaftliche Schriften zu Themen wie etwa Evolution, PSI und ähnlichen Dingen. Leider steht die "Studie" somit genau auf dem NIveau wie die "Beweise" der Kreationisten und anderen Anhänger wissenschaftlichen Obskurantismus.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.07.2008 um 07.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7129

Eine Kleinigkeit wird leicht übersehen: Die Rechtschreibreform sollte doch das Schreiben erleichtern. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll die Erwartung der Kultusminister, daß dies tatsächlich eintritt, nicht zu beanstanden sein. Es wäre an den Reformern gewesen, den positiven Effekt nachzuweisen. Wolfgang Kopke hat schon vor 13 Jahren klargestellt, daß die Beweislast bei dem liegt, der etwas ändern will. Herr Grund hätte sich von Rechts wegen so viel Mühe gar nicht machen müssen.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 30.07.2008 um 21.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7128

Das war doch vorauszusehen, Herr Konietzko. Wenn die BILD-Zeitung die Studie von Grund als Aufmacher nimmt, dann muß sich BILDblog nach geeigneter Munition umsehen. Was eignet sich da besser als Stefanowitsch, der ja wohl auch der Zielgruppe von BILDblog besser gefallen wird als Grund? Alles eine Frage der Präsentation!

Damit habe ich zugleich nicht gesagt, daß BILD die Schlagzeile (von einem Artikel möchte ich nicht gern sprechen) nicht tatsächlich nur aufgrund der Kurzfassung von Grunds Vortrag hier auf dieser Seite geklöppelt hat.

Und immer an den von mir schon über Gebühr zitierten Oscar Wilde denken: "[T]here is only one thing in the world worse than being talked about, and that is not being talked about." Presse hatte die Studie von Grund zumindest in den letzten Tagen reichlich (fehlt eigentlich noch die F. A. Z.). Womöglich ist das auch ein Grund für Stefanowitschs Vehemenz, schließlich beginnt er seinen Blog-Eintrag mit dem Hinweis auf die Pressemeldungen. Zufall?


Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 30.07.2008 um 20.07 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7127

BILDblog kritisiert eine BILD-Meldung, die auf Uwe Grunds Studie beruht, unter Verweis auf Anatol Stefanowitschs Sprachblog-Beitrag:
siehe hier.
BILDblog behauptet:
»Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache selbst hat sich alle Mühe gegeben, diese Lücken in ihrer Argumentation zu verschleiern.«


Kommentar von stefan strasser zu 7106, verfaßt am 30.07.2008 um 19.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7125

Aber, aber, Hr. Weyfeld, der von Ihnen genannte Teilnehmer brachte doch sehr wohl mögliche Begründungen ins Spiel, als da wären: die Wiedervereinigung, die Globalisierung der Wirtschaft, Politik und Kultur, der Wandel von einem relativ abgeschotteten Fleckchen am Rande der westlichen Welt zu einem Einwanderungsland im Zentrum Europas, die Ölkrise 1973, den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980, den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1990 oder Roman Herzogs „Ruck“-Rede 1997. Die Stichhaltigkeit dieser Einwirkungen auf die Rechtschreibleistung müßte natürlich mit wissenschaftlich haltbaren Methoden nachgewiesen werden. Hier haben Sie leider recht, der Autor bleibt Hinweise darauf schuldig.

Ich stelle jetzt mal eine naive Frage: Worin liegt das wissenschaftliche Problem, wenn man die Rechtschreibung in Aufsätzen vergleicht, deren Entstehungszeitpunkte mehr als 10 (bis zu 34) Jahre auseinanderliegen? Bewirkt das schon eine grundsätzliche Nichtvergleichbarkeit, und wenn ja, warum? Was müßte erfüllt sein, um Aufsätze vergleichen zu können?


Kommentar von R. M., verfaßt am 30.07.2008 um 18.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7123

Hier ein bezeichnendes Zitat von 1995, also aus der Zeit unmittelbar vor der Reformeinführung:

„Gegenüber Häufigkeit und Heftigkeit der Diskussion sind ihre empirischen Grundlagen relativ schwach: Untersuchungen zur historischen Entwicklung von Rechtschreibleistungen sind selten. Speziell in Deutschland fehlt die in den meisten europäischen Staaten und in den USA selbstverständliche Tradition der bildungspolitischen Evaluation.“

http://www.rrz.uni-hamburg.de/psycholo/frames/projekte/PLUS/May95f.pdf

Also war die Reform empirisch überhaupt nicht ausreichend vorbereitet – und sie wurde dann auch nicht angemessen begleitet. Siehe meinen Kommentar aus der Berliner Zeitung:

http://sprachforschung.info/index.php?show=news&id=93

Aus der auch von Grund herangezogenen, neueren Vergleichsstudie zur Orthographie von Abiturienten:
http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/833/pdf/llh20_Piessnack_Schuebel.pdf

„Unbedingt angemerkt werden muss, dass sich im Bereich der s-Schreibung ein neuer Fehler in einer Größenordnung etabliert hat, die beunruhigt. 46% aller Fehler der s-Schreibung entfallen auf den Fehlertypus ‚ss statt ß‘. Auch die stark zunehmende Kommaabstinenz, die die Lesbarkeit der Texte erschwert, muss weiter beobachtet werden.“

Beides eindeutig Reformfolgen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.07.2008 um 17.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7122

Die Untersuchung von Uwe Grund wird, wie alle derartigen Untersuchungen, kritisiert und kann daher als "umstritten" bezeichnet werden. Mehr brauchen Zehetmair und die Seinen nicht, um auch diese Bedenken abzuschmettern. Ich erinnere mich, wie Frau Hohlmeier als Ministerin mein Rechtschreibwörterbuch, von dem sie wohl durch Ministerialrat Krimm erfahren hatte, als "umstritten" bezeichnete. Meine Bitte, dies näher zu erläutern, blieb leider unbeantwortet. Es genügte, daß irgendwer, vielleicht Herr Kürschner, sich geäußert hatte oder auch einer aus unserem Kreise sich mit durchaus wertvollen Verbesserungsvorschlägen gemeldet hatte - schon ist man "umstritten". Paßt immer.
Herr Stefanowitsch, dessen Arbeiten ich kenne, bedient sich überwiegend der Rechtschreibung des frühen 19. Jahrhunderts (im Allgemeinen usw.), aber nicht konsequent, sondern manchmal verwendet er auch die moderne Schreibweise (des weiteren, zum zweiten), die allerdings jetzt falsch sein soll. Ich bin sicher, daß auch er vor der Reform weniger Fehler gemacht hat als jetzt.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 30.07.2008 um 14.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7121

Danke für die Klarstellung, Herr Wagner. Ich glaube aber, daß noch andere die Verbindung zwischen Grund und der FDS auf diese Weise mißverstehen.
Insofern bleibt's bei dem, was ich gesagt habe.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 30.07.2008 um 13.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7120

(A. Stefanowitsch: "... bin ich keineswegs der einzige, der das könnte ...". Müßte das nicht reformiert "der Einzige" heißen?)


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.07.2008 um 12.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7119

Da liegt wohl ein Mißverständnis vor: Die FDS hat die Studie nicht in Auftrag gegeben, sondern Herrn Grund zu ihrer Tagung eingeladen, weil er diese Studie erstellt hat.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 30.07.2008 um 12.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7117

Das Hauptproblem der Studie ist tatsächlich, daß sie von einer reformkritischen Stelle in Auftrag gegeben wurde - verstärkt noch dadurch, daß sie selbst in herkömmlicher Rechtschreibung abgefaßt ist. Das öffnet den Kritikern Tür und Tor, mit dem Finger darauf zu zeigen und zu rufen: "Das ist doch alles Geschwafel, mal wieder eine scheinbar wissenschaftliche Arbeit, die nur beweisen soll, was der Auftraggeber nicht lassen kann zu behaupten." Herr Stefanowitsch ist bereits reflexartig in's Geschirr gegangen.

In Nordrhein-Westfalen leben mehr Menschen als in der DDR bzw. dem Beitrittsgebiet, mehr als in Österreich und der Schweiz zusammengenommen. Wie kann man da sagen, das sei kein verläßliches Erhebungsgebiet?

Einer Arbeit die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, ist auf jeden Fall eine beliebte Methode, sie sich vom Halse zu halten, um sich nicht inhaltlich damit beschäftigen zu müssen.

Herr Stefanowitsch: Warum verwenden Sie persönlich die sog. Neue Rechtschreibung?


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 30.07.2008 um 10.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7115

Ich bin ja nur ein kleiner Handwerker und trau mich nicht (ehrlich gesagt, wüßte ich auch nicht, an wen ich mich wenden könnte), aber wenn ein hochqualifizierter Wissenschaftler wie Herr Stefanowitsch bei Herrn Zehetmair anfragte?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.07.2008 um 10.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7113

Gute Idee! Nur kenne ich leider die Untersuchungen nicht, die Herr Zehetmair hier meint. Würden Sie sich darum kümmern, bei ihm danach zu fragen?


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 30.07.2008 um 10.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7112

Kann man nicht dem Herrn Stefanowitsch eine von Zehetmairs Untersuchungen zukommen lassen?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.07.2008 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7111

Zehetmair im Interview mit dem Münchner Merkur (online: 29. 7. 2008 abends):

–Zum zehnjährigen Jubiläum präsentiert die reformkritische Forschungsgruppe Deutsche Sprache unangenehme Zahlen. Danach hat sich die Fehlerquote bei Schülern drastisch erhöht. Hat die Reform ihr Ziel verfehlt?

Ich kann nicht beurteilen, inwieweit diese Zahlen zutreffen. Die Untersuchungen, die ich kenne, belegen, dass es an den Schulen keine Probleme gibt. Grundsätzlich gilt aber: Wenn so weitreichende Änderungen wie bei der Rechtschreibreform vorgenommen werden, dauert es natürlich einige Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat.

(http://www.sprachforschung.org/index.php?show=thorheiten&id=146#660)


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.07.2008 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7110

Zur Erinnerung: Aus der Pressemitteilung zur 278. KMK-Plenarsitzung, 28. 2. 1997

3. Die Kultusministerkonferenz ist nach wie vor von der inhaltlichen Richtigkeit und Anwendbarkeit der Neuregelung überzeugt, weil sie Inkonsequenzen beseitigt, das Regelwerk strukturierter und transparenter macht und damit das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtert. Dies bestätigen erste Erfahrungen in vielen Schulen, in denen die Einführung der Neuregelung bereits begonnen hat. Die Erleichterung des Schreibens für ihre Kinder wird von vielen Eltern ausdrücklich begrüßt. Die Kultusministerkonferenz ist nicht bereit, auf Kosten der jungen Generation dem Unwillen gegenüber Veränderung entgegenzukommen, denn dadurch würde blockiert, dass sich auf Dauer wieder mehr Menschen in ihrer Sprache sicher fühlen können. Dies, und nicht das Beharren auf dem Bekannten um jeden Preis, ist für die Haltung der Kultusministerkonferenz entscheidend.

(http://www.kmk.org/aktuell/pm970228.htm#2)


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 30.07.2008 um 09.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7109

Beliebt ist auch die platte Beschimpfung Andersmeinder:

# 23:26, 28. Jul. 2008 (Versionen) (Unterschied) Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996‎ (Enzyklopädie nicht als Plattform von ein paar Ewiggestrigen missbrauchen!)

(aus dem Wikipedia-Log)


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 30.07.2008 um 09.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7108

"offenkundig erwiesene Mißstände" zu kritisieren, auch nur zu benennen, ist bis heute schon oft in der Geschichte unerwünscht, ordnungswidrig, "unwissenschaftlich", verpönt oder lebensgefährlich gewesen. Zumeist ist dann eine offene oder verdeckte Ideologie am Werk, heute beliebt ist der Deckmantel "political correctness". Mit der R-Reform ist es ein eigenes Ding: kaum einer lobt sie mehr, viele trauen sich, drauf zu schimpfen, aber wenige, drauf zu pfeifen - obwohl's Karlsruhe erlaubt hat. Und die Verantwortlichen läßt man in Ruhe. Quousque tandem?


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 30.07.2008 um 08.19 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7107

Stefanowitsch: Herr Höher, dass das ein Vortragsmanuskript ist, ist mir bewusst. Die FDS hat die Schlussfolgerungen dieses Vortrags aber der Presse gegenüber als wissenschaftlich belegte Tatsachen verkauft.

Mit der argumentativen Redlichkeit, die Herr Stefanowitsch einfordert, hält er es bedauerlicherweise selbst nicht so genau. Die FDS hat der Presse nichts "verkauft", weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinne, sondern sie hat der Presse von ihrer Versammlung berichtet und ihr den Redetext von Herrn Grund zur Verfügung gestellt. Und in diesem ist ja von den problematischen statistischen Voraussetzungen der Untersuchung deutlich die Rede, wie hier wiederholt dargestellt wurde.

Bei Herrn Stefanowitsch herrscht sicherlich dasselbe Phänomen vor, das er Herrn Grund und den Reformkritikern vorwirft, nämlich daß die vorgefaßte Meinung die Argumentation steuert und nicht umgekehrt eine sachbezogene Argumentation zur Meinung bzw. Erkenntnis führt. Nur daß bei vernünftigen Reformkritikern die Meinung nicht vorgefaßt ist, sondern sich durch intensive Beschäftigung mit sowohl dem Inhalt der Reform als auch ihren Auswirkungen gebildet hat. Dürfte man offenkundig erwiesene Mißstände nicht kritisieren, weil sie zwar für jedermann sichtbar vor den Augen liegen, man sie aber nicht aufgrund von "sauberen wissenschaftlichen" Forschungsarbeiten "bewiesen" hat, wäre der Willkür allerlei von welchen Macht- und Interessengruppen auch immer gesteuerten „Wissenschaftlern“ Tür und Tor geöffnet. „Wissenschaftler“ haben schon die absurdesten Dinge verkündet.


Kommentar von Frederick Weyfeld, verfaßt am 30.07.2008 um 07.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7106

Nehmen wir einen Moment an, Anatol Stefanowitsch hätte recht und die Rechtschreibreform hätte – trotz der Ergebnisse von Dr. Uwe Grund – den Schülern eine Erleichterung gebracht. Das würde bedeuten, es müßte seit den 1970er Jahren ein Ereignis gegeben haben, durch das die Rechtschreibleistung noch mehr nachgelassen hat als von Dr. Grund gezeigt (ein wenig aufgefangen durch die Reform).

Nicht allein, daß Herr Stefanowitsch ein solches Ereinis benennen, zumindest mutmaßen müßte.

Er müßte zudem erklären, warum nicht genau an diesem Ereignis angesetzt wurde, um die Rechtschreibleistung zu verbessern. Warum also der Weg der Reform mit seinem dann mageren Ergebnis und den diversen Kollateralschäden gewählt wurde.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 30.07.2008 um 02.05 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7104

Ich weiß gar nicht, wie ich in den letzten Tagen zu der Ehre komme, der Adressat für gesammelte Rügen zu werden. Aber sei es drum. Ich bin gerne bereit, mich zu einzelnem zu äußern. Da ich jedoch nur für mich selbst sprechen kann, muß ich mich wiederum darauf beschränken, auf die Punkte einzugehen, die mich betreffen. Was andere Personen oder Organisationen wie etwa die FDS betrifft, muß ich ausblenden.

Nun aber der Reihe nach. Was meine angeblich so „überzeugende Strategie“ angeht, die Schlußfolgerungen von Grunds Vortrag als vorläufig anzusehen, so folge ich damit eigentlich nur dessen Formulierung. „Erste Ergebnisse und Desiderate der Forschung“ hat er seinen Vortrag untertitelt. Auch im Rahmen einer eher populärwissenschaftlich gehaltenen Veranstaltung würde man anderenfalls doch wohl von 'abschließenden' Ergebnissen sprechen. Auch wenn es ein endgültiges Ergebnis im Sinne eines ne varietur in der Wissenschaft natürlich nicht gibt. „Wissenschaftlich überholt zu werden, ist unser aller Schicksal und unser aller Ziel“, formulierte das Max Weber sehr knapp. Das weiß auch Grund, der auf Seite 9 auf die Mängel des vorliegenden Datenmaterials aus der ehemaligen DDR eingeht. Wie Herr Platte sehe ich aber, daß Grund mit Hilfe des vorliegenden Materials – er fälscht ja nichts, um zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen – zu einem vorläufigen Ergebnis gelangt. Auf Seite 11 nennt Grund seine Vorgehensweise ausdrücklich eine „Stichprobe“. Er formuliert (S. 11) nicht einmal vorläufige Schlußfolgerungen, sondern faßt die Auswirkungen in der Schule zusammen.

Die wichtigste Fähigkeit, die man für die erfolgreiche Durchführung einer solchen Studie bräuchte, ist aber die, ergebnisoffen vorzugehen und nicht bereits gefasste Meinungen in die Daten hineinzuinterpretieren. Das dürfte zumindest einigen der hier und im Bremer Sprachblog Mitdiskutierenden schwerfallen.

Aber nein, Herr Stefanowitsch. Nun zäumen Sie das Pferd von hinten auf! Das Ergebnis liegt seit Jahr und Tag offen dar: katastrophale Rechtschreibleistungen der Schüler und Medien. Vor allem in Bereichen, die seit 1996 unmittelbar von der Reform betroffen sind (s-Schreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung). Die wichtigste Fähigkeit zur Durchführung ist somit nicht, daß sie ergebnis-, sondern vielmehr ursprungsoffen sein müßte. Die Frage ist nicht: „Was ist das Ergebnis der Reform?“, sondern „Woher kommt dieses vorliegende Ergebnis?“ Sicher können Sie nun einwenden, daß es im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung und Groß- und Kleinschreibung seit 1996 Änderungen gab (zurückgenommen wurden eigentlich nichts, bisherige Schreibungen wurden vielmehr als „Varianten“ wieder toleriert), aber die nachweislich nicht funktionierende Heysesche s-Schreibung (gewissermaßen der Trüffel der Reform) ist seit 1996 dabei. Um abschließend auf Grund zurückzukommen, so ist seine Untersuchung (auch in der vorliegenden Form ohne wissenschaftlichen Apparat) ein erster Schritt, den Ursprung der verschlechterten Rechtschreibleistungen zu finden.


Kommentar von Lukas Platte, verfaßt am 30.07.2008 um 00.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7102

Da es jetzt offensichtlich etwas hin und her geht zwischen dem Bremer Blog und "S&R", stelle ich meinen Eintrag dort der Einfachheit halber auch hier ein:

"Herr Stefanowitsch übersieht eine Kleinigkeit. Die Untersuchung von Herrn Grund unternimmt in erster Linie nicht den Nachweis einer Erhöhung der Fehlerquote infolge der Reform im allgemeinen, sondern den einer überproportionalen Erhöhung in den von der Reform erfaßten Bereichen der Orthographie (z.B. GKS, s-Schreibung) im besonderen. Diese Wahrnehmung korrespondiert problemlos mit dem Ergebnis einer jüngst veröffentlichten, von der GfdS (nicht der FDS) in Auftrag gegebenen Allensbach-Untersuchung, der zufolge die Rechtschreibleistung bei reformneutralen Schreibungen wie “Rhythmus” und “Lebensstandard” über die vergangenen Jahrzehnte gleich geblieben (wenn nicht sogar ein bißchen besser geworden) ist.

Gewiß, Allensbach hat nicht nur Schüler getestet. Wirklich begründungs- und diskussionsbedürftig wäre jedoch die These gewesen, daß sich die Rechtschreibsicherheit bei Schülern – mutatis mutandis – anders entwickelt als bei Erwachsenen. Deren Verunsicherung ist jedoch manifest; sie wird täglich in der Zeitung dokumentiert. Das kann auch Herrn Stefanowitsch nicht ganz verborgen geblieben sein. Insofern hat Herr Grund nur demonstriert, was ohnehin zu vermuten war. So what?

Das etwas exaltierte Wissenschaftlichkeitspathos von Herrn Stefanowitsch erinnert mich ein wenig an die sehr fruchtlosen Diskussionen mit – in einem spezifischen Sinne – linksorientierten Historikern in den 80er Jahren, die, sobald man sich despektierlich über die Sowjetunion äußerte, ähnliche Verhaltens- und Argumentationsmuster an den Tag legten. Das reichte von der bedauernd-achselzuckend vorgetragenen Bemerkung, zu dem Thema seien leider keine falsifizierbaren Aussagen möglich, weil die Quellen nicht zugänglich seien, bis hin zu dem aggressiven Duktus des Hausarbeiten-um-die-Ohren-schlagen-Wollens, wenn man ihnen mit Fakten kam, die jedem unvoreingenommenen Menschen in die Augen sprangen. (Die Kollegen sind nach 1989 übrigens sehr leise geworden.)

Ein solches Verhalten nenne ich den Mißbrauch des wissenschaftlichen Ethos als Hilfsmittel zum Zweck der Fiktionalisierung der Realität. Dem Muster folgt auch die von Herrn Stefanowitsch vorgenommene Beweislastumkehr, die dem Widersacher nur die Wahl läßt zwischen der Kapitulation und jener paranoiden Systematisierung, die der Umkehrer selbst leisten müßte, wenn er denn überhaupt ernsthaft argumentieren wollte (weshalb er sich lieber auf Andeutungen und Insinuationen beschränkt).

Es läßt sich nun einmal nicht über Daten argumentieren und diskutieren, die nicht verfügbar sind, sondern nur über solche, die vorliegen. Nichts anderes hat Herr Grund getan. Wer ihm widersprechen will, muß zeigen, daß er von falschen Daten ausgeht, daß er seine Daten falsch interpretiert oder daß er Daten übersehen hat, die seinen Befund in Frage stellen. So einfach ist das manchmal mit der Wissenschaftlichkeit. Auch Herr Stefanowitsch wird eines – hoffentlich nicht allzu fernen – Tages etwas bescheidener sein."


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.07.2008 um 00.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7101

A. Stefanowitsch: "Es wäre [...] kein großes Kunststück, eine methodisch saubere Studie zu diesem Thema durchzuführen. Anders als b.eversberg suggeriert bin ich keineswegs der einzige, der das könnte – es wäre ein Leichtes für jeden Studenten, der erfolgreich einen Kurs über empirische Methodik besucht hat."

Saubere Methodik ist das eine, die erforderliche Datenbasis das andere. Wo würden Sie denn einen Studenten nach den benötigten Daten suchen lassen?

"... und nicht bereits gefasste Meinungen in die Daten hineinzuinterpretieren."

Bei Fehlern wie Behältniss oder Eiß gibt es kaum etwas hineinzuinterpretieren, sofern feststeht, daß sie gehäuft erst nach der Reform auftreten.


Kommentar von Anatol Stefanowitsch, verfaßt am 30.07.2008 um 00.07 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7100

Herr Höher, dass das ein Vortragsmanuskript ist, ist mir bewusst. Die FDS hat die Schlussfolgerungen dieses Vortrags aber der Presse gegenüber als wissenschaftlich belegte Tatsachen verkauft. Wenn Sie es für eine überzeugende Strategie halten, sich hinterher auf die Position zurückzuziehen, das alles sei nur vorläufig und eine wissenschaftliche Publikation werde sicher folgen, sei Ihnen das belassen – mich überzeugt es nicht. Dass auf der von Grund vorgestellten Datengrundlage eine wissenschaftliche Publikation entstehen wird, die die schweren methodischen Fehler der Vortragsfassung vermeidet, halte ich für unwahrscheinlich, aber ich lasse mich gerne positiv überraschen. Dass Grund methodische Schwächen seiner Studie selbst andeutet und „Desiderata“ formuliert, spricht ihn im Übrigen nicht vom Vorwurf unsauberer Arbeit frei – wenn er diese Schwächen ernstnehmen würde, dürfte er keine einzige seiner Schlussfolgerungen ziehen.

Ihrer Idee, die Beweislast für den Erfolg der Reform an die politischen Entscheidungsträger weiterzureichen, halte ich dagegen für absolut richtig – es wäre Ihrer Sache in jedem Fall zuträglicher als die Verbreitung von Fehlinformationen auf der Grundlage fehlerhafter Studien. Und wenn diese Entscheidungsträger dann eine ähnlich unsauber gearbeitete Studie vorlegen würden, könnten Sie sicher sein, dass ich auf diese Fehler mit demselben Nachdruck hinweisen würde.

Es wäre im Übrigen kein großes Kunststück, eine methodisch saubere Studie zu diesem Thema durchzuführen. Anders als b.eversberg suggeriert bin ich keineswegs der einzige, der das könnte – es wäre ein Leichtes für jeden Studenten, der erfolgreich einen Kurs über empirische Methodik besucht hat. Die wichtigste Fähigkeit, die man für die erfolgreiche Durchführung einer solchen Studie bräuchte, ist aber die, ergebnisoffen vorzugehen und nicht bereits gefasste Meinungen in die Daten hineinzuinterpretieren. Das dürfte zumindest einigen der hier und im Bremer Sprachblog Mitdiskutierenden schwerfallen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 29.07.2008 um 21.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7099

Zu Herrn Stefanowitsch:
http://www-user.uni-bremen.de/~anatol/


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 29.07.2008 um 21.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7098

Die Quintessenz der Studien besagt eine Verschlechterung der Rechtschreibleistung. Diese Quintessenz bin ich geneigt zu glauben.
Die Frage ist allerdings, warum ist das so?
Die Schüler von heute sind sicherlich nicht blöder als frühere. Ich vermute einfach, daß sich hier klar zeigt, daß Lehrer mit der Unterrichtbarkeit der Reform ihre liebe Not haben (oder aber ihnen ist es sowieso egal, dann wäre die Lehrberufung zu hinterfragen). Ich bin schon gespannt, ob jemand einen Weg findet, dieses Ergebnis als Bestätigung der seinerzeitigen Propaganda zu erklären (logischer, einfacher zu lernen, Verringerung der Fehlerzahl, usw.).


Kommentar von R. M., verfaßt am 29.07.2008 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7097

Stefanowitsch leugnet nun gar die (nicht von Grund in die Diskussion eingeführte) Vergleichbarkeit von Zahlen, die zu unterschiedlichen Zeiten in Nordrhein-Westfalen einerseits, in Westdeutschland andererseits erhoben worden sind. Offenbar ist ihm nicht bewußt, daß Nordrhein-Westfalen allein ein Viertel der Bevölkerung der alten Bundesrepublik beheimatete.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 29.07.2008 um 19.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7095

Die Diskussion im Bremer Sprachblog ist durch Stefanowitschs antwortenden Rundumschlag inzwischen ganz interessant geworden.

Er hat den Schwarzen Peter erfolgreich an Grund, bzw. an die FDS weitergereicht. Nicht er müsse bessere und aussagekräftigere Daten liefern, sondern Grund, bzw. die FDS.

Das ist ein Argumentationsmodell, das man sich durchaus aneignen kann. Denn wer Behauptungen in die Welt setzt, trägt laut Stefanowitsch auch die Beweislast. Demnach hätten die Bildungspolitiker vor Inkrafttreten der Reform von 1996 plausibel (und methodologisch wie terminologisch einwandfrei) nachweisen müssen, daß es in der Rechtschreibung zu vermehrter Fehlerbildung gekommen ist (soziokulturelle und politische Faktoren berücksichtigend) und danach aufgrund dieser Analaysen die von Stefanowitsch so genannten "paar Anpassungen" vornehmen können. Nach der Reform müßten dann Auswertungen vergleichbarer Korpora zeigen, daß sich exakt diese zuvor nachgewiesenen Rechtschreibfehler verbessert hätten (Falsifikationsprobe). Erst dann kann man nämlich nach Stefanowitsch von einem Erfolg (und der vorangehenden Notwendigkeit) der Rechtschreibreform sprechen.

Somit dürfen wir also getrost den Schwarzen Peter weiterreichen. Die Bildungspolitiker und Konstrukteure der Reform sind am Zug.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 29.07.2008 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7087

Mal ganz abgesehen davon, daß es sich um ein Vortragsmanuskript handelt (ich wies schon darauf hin) und keine wissenschaftliche Publikation, hat Stefanowitsch den Text nicht nur nicht zu Ende gelesen, er hat offensichtlich auch die erste Seite nur kurz überflogen. Denn Grund schreibt da ganz unmißverständlich:

„Vorab möchte ich betonen, daß ich quellenkritische und methodologische Überlegungen schon aus Zeitgründen nicht anstellen werde. Dies betrifft u.a. die Erhebung der Daten und die Klassifikation der Fehler, die ja eigentlich nur Teil einer Klassifikation der Leistungen von Schülern sein sollte, nicht vorrangig der von Fehlleistungen.“ (S. 1)

Hätte Stefanowitsch das zur Kenntnis genommen, wäre ihm gewiß neben dem Hinweis auf das Ausblenden der Methodologie auch der Hinweis auf die ungenaue Terminologie in der Klassifikation der Fehler aufgefallen.

Grund kommt darauf in der fünften Fußnote (S. 4) noch einmal zu sprechen. Auch dies ist somit ein „Desiderat der Forschung“ wie auch die (Weiter)Entwicklung der Fehleranalytik und die empirisch-historische Unterrichtsforschung im Bereich der sprachlichen und literarischen Bildung (S. 1).

Soviel zur „Sauberkeit der Methode“, die doch zumindest gründliches Lesen bedingt. Im übrigen kann ich mich nur Herrn Wagner anschließen.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 29.07.2008 um 16.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7086

Entscheidend ist, daß die Reformziele (Erleichterung und mehr Einheitlichkeit) verfehlt wurden und die Betreiber selber bis heute keine Evaluierung angestellt haben. Die könnte sich Herr Stefanowitsch dann vornehmen und auf methodische Sauberkeit prüfen.
Vermutlich ist aber der einzige, der eine in seinem Sinne saubere Studie machen könnte, Herr Stefanowitsch selber.
Die Gründe, die er aufzählt (korrekte Anwendung von Normen ist kein Lernziel mehr!) und sodann der Focus-Lehrertest legen aber die Befürchtung nahe, daß korrekte Rechtschreibung – egal welche! – gegenwärtig gar nicht mehr an den Schulen gelernt werden kann oder auch nur könnte. Das finde ich entschieden schlimmer als Stefanowitschs Urteil über die Grund-Studie.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 29.07.2008 um 16.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7085

Herr Stefanowitsch zitiert nur einen kleinen Ausschnitt der Studie; es finden sich darin außerdem noch Vergleichsdaten aus den Jahren 1990/91 und 2001. Dies wird von Herrn Grund ausdrücklich hervorgehoben, auch weist er auf die Problematik des Erfassungszeitraums explizit hin:

"Die Untersuchungen im Projekt NRW-Kids sind auch insofern von besonderem Interesse, als es sich um Vergleichszahlen von 1990/91 und 2001 handelt. Die Probanden sind Viertkläßler, im Zeitpunkt der Datenerhebung also ausschließlich nach den neuen Regeln unterrichtet. Der zum Vergleich dienende Erhebungszeitpunkt von 1990/91 liegt recht nahe dem Jahr der Einführung der Reform. Wir müssen natürlich damit rechnen, daß sich seit den 1970er und 1980er Jahren auch schon vor der Einführung der neuen Regeln die Rechtschreibleistungen verändert haben. Das müßte im einzelnen an geeigneten Korpora untersucht werden." (Seite 5)

Nicht umsonst enthält der Vortrag im Titel den Zusatz: "... und Desiderate der Forschung".

Außerdem sollte man sich in Erinnerung rufen, zu welchem Zweck die Reform eingeführt worden war: Die Anzahl der Fehler sollte reduziert werden. Für den zu erwartenden Rückgang der Fehlerzahlen wurden damals Werte zwischen 40 und 70 Prozent genannt. Gesetzt den Fall, dies sei wirklich erreicht worden, wäre eine Erklärung der beobachteten Fehlerzunahme nur möglich, wenn sich andere Einflüsse besonders stark ausgewirkt hätten. Das ist aber alles andere als plausibel, daher wäre es gut zu begründen, wollte man die vorliegenden Untersuchungen als "nichtssagend" zurückweisen und sie dem Autor bildlich "rechts und links um die Ohren hauen".

Zwar führt Herr Stefanowitsch das Zitat von Baurmann und Ludwig an, und es stellt in der Tat die Hinwendung des Unterrichts zur Förderung der Eigenaktivität einen erheblichen Wandel dar. Andererseits hat sich in all der Zeit jedoch nichts an der kultusministeriellen Vorgabe geändert, die den Duden zum alleinigen Maßstab bei der schulischen Fehlerkorektur und -benotung gemacht hat. Bis zur Rechtschreibreform gab es nur minimale Veränderungen im Duden, daher kann man von einem stabilen Vergleichsmaßstab ausgehen. Dies ist ein wichtiges Argument, weshalb die Daten von 1970 durchaus zu Vergleichszwecken herangezogen werden können.

Über das Thema "Sauberkeit der Methode" sollte Herr Stefanowitsch also vielleicht selber noch mal nachdenken.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 29.07.2008 um 15.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7084

Redlicherweise nicht.
Aber "stock-world" titelt schon: "Rechtschreibreform bringt wenig Nutzen". Dabei steht in der Studie klipp und klar, daß sie statt Nutzen Schaden brachte.
Es wäre zu schön, wenn die KMK oder was weiß ich wer öffentlich bekennen würde, sich geirrt zu haben, eingestehen, daß die Reform gescheitert ist, und das ganze rückgängig machte. Ich glaube aber nicht dran.


Kommentar von R. M., verfaßt am 29.07.2008 um 15.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7083

Redlicherweise wird man das nicht behaupten können, da Grund auch darlegt, weshalb die Reform von vornherein keine statistisch relevanten Verbesserungen bewirken konnte. Das war den Reformern sicherlich bewußt, den sie beauftragenden Politikern aber nicht.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 29.07.2008 um 15.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7082

R. M. schrieb:
Die Reform kann für diese Entwicklung nicht allein verantwortlich gemacht werden, aber man muß folgendes festhalten:

Erstens hat die Reform keine Verbesserung bewirkt, obwohl dies ja von den Politikern ausdrücklich versprochen wurde. Zweitens hat die Reform ungeheure Umstellungsschwierigkeiten mit sich gebracht, natürlich nicht nur an den Schulen. Drittens machen die Schüler Fehler, die sie ohne die Reform nicht oder seltener machen würden: so schreiben sie zum Beispiel Ereigniss oder Eiß.


Hier ist genau der Ansatzpunkt. Allein die Binsenweisheit, daß die Reform nicht das einzige war, das die Rechtschreibleistungen der Schüler beeinflußt hat, reicht aus, um die Studie in Frage zu stellen.
Reformbefürworter können behaupten, die anderen Faktoren seien so gravierend gewesen, daß die Segnungen der Reform leider nicht in vollem Umfang zur Entfaltung gekommen sind, aber natürlich hat sie maßgeblich mitgeholfen, daß die Situation nicht noch viel schlimmer ist.
Ob diese Ansicht stimmt, ist eigentlich egal. Diejenigen, die das glauben (wollen), haben die Publikationsmöglichkeiten, das in alle Welt hinauszutragen.

Zu Herrn Stefanowitsch: Ist der Mann in der Zunft bekannt? Ist solcherlei Reaktion von ihm zu erwarten gewesen?


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 29.07.2008 um 14.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7080

Schade auch, daß Stefanowitsch nur zu bereitwillig ausblendet, daß es sich hierbei nur um die Vortragsfassung handelt und nicht um eine methodisch differenzierende wissenschaftliche Publikation.

Die vorliegenden 14 Seiten Text entsprechen (wegen der Graphiken) ungefähr 35 Minuten Vortragstext. Hätte Grund bei einer Jahrestagung der FDS tatsächlich alle Zuhörer mit zehnminütigen methodischen Vorüberlegungen langweilen sollen?

Es wird bestimmt noch eine wissenschaftliche Publikation folgen, die Stefanowitsch dann genüßlich zerpflücken kann.


Kommentar von R. M., verfaßt am 29.07.2008 um 14.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7079

Schade, daß Stefanowitsch nicht die Zeit gefunden hat, die Studie zu Ende zu lesen.

Uwe Grund hat etwas gemacht, wovor die Kultusminister zurückgeschreckt sind, nämlich eine Überprüfung der Reform auf ihren Erfolg oder Mißerfolg an den Schulen. Er hat Daten aus Erhebungen anderer Forscher zusammengestellt und ergänzt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß es im Vergleich mit früher eine massive Verschlechterung der Rechtschreibleistungen gibt.

Schüler machen in den gleichen Diktaten heute dreimal so viele Fehler wie ihre Vorgänger in den siebziger Jahren, und sie machen in Aufsätzen heute doppelt so viele Fehler wie Schüler Anfang der neunziger Jahre, also kurz vor der Reform. Die Reform kann für diese Entwicklung nicht allein verantwortlich gemacht werden, aber man muß folgendes festhalten:

Erstens hat die Reform keine Verbesserung bewirkt, obwohl dies ja von den Politikern ausdrücklich versprochen wurde. Zweitens hat die Reform ungeheure Umstellungsschwierigkeiten mit sich gebracht, natürlich nicht nur an den Schulen. Drittens machen die Schüler Fehler, die sie ohne die Reform nicht oder seltener machen würden: so schreiben sie zum Beispiel Ereigniss oder Eiß.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung wäre eigentlich gefordert, solche empirischen Untersuchungen – möglichst auf breiterer Grundlage – selbst in Auftrag zu geben. Er wird feststellen müssen, daß seine zaghaften Reparaturversuche nicht ausreichen, um eine einheitliche und intuitiv beherrschbare Rechtschreibung wiederherzustellen.


Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 29.07.2008 um 13.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7078

Im Bremer Sprachblog bezeichnet Anatol Stefanowitsch Uwe Grunds Studie als wertlos:
Siehe hier.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.07.2008 um 19.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7064

Lieber Herr Strasser (bitte sehen Sie mir die Großschreibung nach),

außergewöhnliche Umstände erforderten schon immer außergewöhnliche Maßnahmen. Ich glaube, der Satz ist von Churchill. Aber egal, deshalb wurden 1996 so vielen Schülern im diktatfähigen Alter Gämsen, Schänken, Tollpatsche und andere belämmerte Wörter eingebläut.

Herr Ickler wies doch schon auf die Langlebigkeit vieler Schreibungen der ersten Reformstufe hin. Damals war dieser Quatsch neu und mußte entsprechend eingeprügelt werden. Analogien wie der Glockenschwängel bilden sich dann im Zuge der allgemeinen Wurschtigkeit (Danke, Herr Eversberg!) von drei weiteren Subreformen ganz von allein. Das sind die Geister, die man rief.


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 28.07.2008 um 19.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=599#7063

Vorausgeschickt:
So eine Untersuchung war schon überfällig.
Aber:
Schwengel ist ein Ausdruck, den ich am ehesten noch mit männlicher Sexualität in Verbindung bringe. Ob ein Glockenschwengel dann wohl ein Klöppel in der Form eines Penis ist?
Wie kommt man um alles in der Welt darauf, die Rechtschreibleistung Jugendlicher mit einem derart seltenen Wort zu testen? Gibt's denn keine ebenbürtigen Beispiele aus dem Umgangswortschatz?



nach oben


Ihr Kommentar: Sie können diesen Beitrag kommentieren. Füllen Sie dazu die mit * versehenen Felder aus und klicken Sie auf „Kommentar eintragen“.

Sie können in Ihrem Kommentar fett und/oder kursiv schreiben: [b]Kommentar[/b] ergibt Kommentar, [i]Kommentar[/i] ergibt Kommentar. Mit der Eingabetaste („Enter“) erzwingen Sie einen Zeilenumbruch. Ein doppelter Bindestrich (- -) wird in einen Gedankenstrich (–), ein doppeltes Komma (,,) bzw. ein doppelter Akut (´´) werden in typographische Anführungszeichen („ bzw. “) umgewandelt, ferner werden >> bzw. << durch die entsprechenden französischen Anführungszeichen » bzw. « ersetzt.

Bitte beziehen Sie sich nach Möglichkeit auf die Ausgangsmeldung.
Für sonstige Diskussionen steht Ihnen unser Diskussionsforum zur Verfügung.
* Ihr Name:
E-Mail: (Wenn Sie eine E-Mail-Adresse angeben, wird diese angezeigt, damit andere mit Ihnen Kontakt aufnehmen können.)
* Kommentar:
* Spamschutz:   Hier bitte die Zahl einhundertvierundfünfzig (in Ziffern) eintragen.
 


Zurück zur vorherigen Seite | zur Startseite


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM