28.07.2008


Uwe Grund

Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform

Erste Ergebnisse vergleichender Studien (ergänzt)

An dieser Stelle veröffentlichen wir die Kurzfassung der Studien, die Dr. Uwe Grund auf der Jahrestagung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) am Wochenende in den Räumen des Ernst Klett Verlags in Stuttgart vorstellte. Die ergänzte Langfassung des Vortragsmanuskripts kann hier in Form einer PDF-Datei abgerufen werden.


Die Rechtschreibreform hat das korrekte Schreiben in den Schulen nicht „erleichtert“ (Duden, 22. Aufl. 2000, Vorwort), sondern erschwert. Nach allen vorliegenden Studien (eigene Primärerhebungen und Auswertung vorhandener Fremddaten) ist je nach untersuchten Quellen und Vergleichszeitraum die Fehlerquote (orthographische Fehler je 100 in Schülerarbeiten niedergeschriebene Wörter) gegenwärtig höher um

• 80 % (freie Aufsätze von Viertkläßlern)
• 110 % (Diktate in der gymnasialen Unterstufe)
• 120 % (Abituraufsätze)

Hinsichtlich der Fehlerarten zeigt sich, daß die Fehler gerade dort überproportional gestiegen sind, wo die Reform regulierend in die Sprache eingegriffen hat. Für die Viert- bis Siebtkläßler (nur für diese waren hinreichend spezifizierte Daten verfügbar) gilt:

Die Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung haben sich je 100 niedergeschriebene Wörter (Token) fast verdreifacht in den untersuchten gymnasialen Unterstufenklassen (Anstieg von 1970/1972 auf 2004/2006 um 176%) und mehr als verdoppelt in vierten Klassen der Grundschule (Anstieg von 1990/91 auf 2001 um 136%).

Verstöße gegen die korrekte Schreibung des s-Lautes haben sich, bezogen auf je 100 Wörter (Stichprobe Vergleichsdiktate in Klasse 5 bis 7 der Höheren Schule), in etwa verdoppelt sowohl bei den jetzt nach Heyse zu schreibenden Wörtern wie bei den sonstigen Schreibungen des s-Lautes.

Die Schüler werden zu falschen Analogiebildungen verleitet (fast ein Drittel einer Testklasse schreibt „Glockenschwängel“).

Am Beispiel der Änderung der Schreibung des s-Lautes (§ 25 der Amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung) kann belegt werden:

Die Reform operierte mit uneingelösten Prognosen: „[…] dürfte die Reduzierung des Anwendungsbereichs des Zeichens ß (inlautend und auslautend nach Langvokal und Diphthong) für den Schreiber gegenüber der bisherigen Regelung eine Vereinfachung darstellen.“ (Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache [Hrsg.]: Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung, 1985, S. 156f).

Eine quantitativ ins Gewicht fallende und damit notenverbessernde Wirkung konnte die Änderung der Regel bei der Schreibung des s-Lautes schon deswegen nicht haben, weil z.B. nach den für die Unterstufenklassen Höherer Schulen vorliegenden Daten nur rund jeder 50. Fehler zu diesem Fehlertypus gehörte (n = 148.750 Token).

Verstöße gegen die korrekte s-ss-ß-Schreibung lagen im Ranking nach Fehlerkategorien in einer 1980 publizierten, für die Klassen 5 bis 10 repräsentativen Erhebung (n = 91.455 Fehler) auf dem Gebiet der DDR auf einem 11. Rangplatz (4,18% aller Fehler). Es bleibt ausstehenden Untersuchungen vorbehalten zu klären, in welchem Ausmaß die gehäuft erst nach der Reform auftretenden Falschschreibungen wie z.B. [Behältniss], [Fäschen], [leiße], [Eiß] usw. mit dazu beitragen, die Chancen der heutigen Schülergeneration auf gute bis befriedigende Leistungen in der Rechtschreibung zu schmälern.


Ergänzung:
Empirische Studien zu den Folgen der Rechtschreibreform

Die Ergebnisse der vergleichenden Studie von Dr. Uwe Grund (Universität des Saarlandes) zu den Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform bestätigen die Befunde und Prognosen anderer Forscher. Aus diesen sei hier kurz zitiert.

Prof. Dr. Harald Marx (Universität Leipzig) kam bereits 1999 in seinem Aufsatz „Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern?“ (in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie 31 (1999), S. 180–89) zu folgenden vorläufigen Ergebnissen:

„Berücksichtigt man die Schwere und Auswirkungen des Fehlerbereichs der s-Laut-Schreibungen und stellt diesen die angedeuteten spezifischen Lerngelegenheiten als didaktische Hilfen beiseite, so müßten sich eigentlich die Rechtschreibleistungen bei konsequenter Anwendung der Reform gerade im Bereich der s-Schreibungen bereits kurzfristig verbessern. Darüber hinaus müßten sich längerfristig im Bereich der Wortschreibungen mit Dopplung und Dehnung ebenfalls Verbesserungen einstellen. Soweit die erwünschten Effekte der Rechtschreibreform.

Zur Überprüfung dieser Annahmen wurden zur Schuljahresmitte des Schuljahres 1997/1998 111 Zweit-, 111 Dritt- und 107 Viertkläßler, die seit Beginn des Schuljahres 1996/97 bereits nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden, mit einem neuen Rechtschreibtest untersucht. Deren Ergebnisse wurden denen von 110 Zweit-, 110 Dritt- und 98 Viertkläßlern gegenübergestellt, die genau zwei Jahre vorher mit dem gleichen Verfahren getestet worden waren. Ausgewertet wurden die Schreibungen getrennt für 34 Wörter ohne und 10 Wörter mit s-Laut, wobei sich bei fünf s-Laut-Wörtern reformbedingt die Schreibweise verändert hat.

Es zeigt sich, daß die älteren Klassenstufen der 98er Stichproben die von der Rechtschreibreform nicht betroffenen Wörter nicht besser schreiben können als diejenigen der 96er Stichproben. Deutlich wird aber auch, daß die Rechtschreibreform wirkt. Allerdings ist das Ergebnis bezüglich der s-Laut-Schreibung genau entgegengesetzt der erwünschten Richtung. Zum einen machen die Kinder aller Klassenstufen bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern signifikant mehr Fehler, zum anderen übergeneralisieren sie, indem sie offensichtlich die neuen Schreibweisen auch bei s-Laut-Wörtern anwenden, die nicht von der Reform betroffen sind.“

(Siehe dazu auch hier [Interview mit Prof. Marx in der Neuen Osnabrücker Zeitung, August 2004] und hier [Reinhard Markner: „Ohne Erfolgskontrolle“, Artikel in der Berliner Zeitung, September 2004]. Zitat: »Nachdem [Marx] 1999 die Resultate der ersten Testreihe veröffentlicht hatte, bat ihn die Rechtschreibkommission denn auch ausdrücklich, seine Untersuchungen fortzuführen. Am 9. November 2001 war er bei den Reformern in Mannheim zu Gast. Eine „muntere Diskussion“ sei das gewesen, erinnert sich Marx. In den dritten Bericht der Kommission – Berichtszeitraum: 1. 1. 2000 bis 31. 12. 2001 – sind ihre Ergebnisse nicht eingeflossen. Er trägt auf dem Titelblatt den Vermerk: „Redaktionsschluss: 8. November 2001“.«)

StR Christian Pießnack und Dr. Adelbert Schübel teilen in ihrer 2005 veröffentlichten Studie „Untersuchungen zur orthographischen Kompetenz von Abiturientinnen und Abiturienten im Land Brandenburg“ (Prüfungsjahrgänge 2000 bis 2002) folgende Beobachtung mit:

„Unbedingt angemerkt werden muss, dass sich im Bereich der s-Schreibung ein neuer Fehler in einer Größenordnung etabliert hat, die beunruhigt. 46% aller Fehler der s-Schreibung entfallen auf den Fehlertypus „ss statt ß“. Auch die stark zunehmende Kommaabstinenz, die die Lesbarkeit der Texte erschwert, muss weiter beobachtet werden.“

Beide Bereiche sind unmittelbar von der Reform betroffen.

Bei einer Expertenbefragung durch das Bundesinstitut für Berufsbildung stellte sich 2005 als signifikant heraus, daß Schulabgänger die reformierte Rechtschreibung heute schlechter beherrschen als vor 15 Jahren die herkömmliche.

Zu den auch von Dr. Grund herangezogenen Studien von Prof. Brügelmann gibt es ergänzende Anmerkungen seitens der Verfasser, die hier dargelegt sind. Dr. Grunds Erwiderung dazu ist in diesem Beitrag zu finden.



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