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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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17.07.2005
 

Dankwart Guratzsch
Einstieg in den Ausstieg?

Es ist ein Befreiungsschlag: Zwei Bundesländer brechen aus der Einheitsfront der Länder in Sachen Rechtschreibreform aus.

Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen ihren Landeskindern nicht zumuten, zweimal innerhalb eines Jahres umzulernen und womöglich ab nächstem Sommer schon wieder eine neue Orthographie zu lernen. Das Pfuschwerk, das derzeit vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ gründlich umgearbeitet wird, soll zumindest in diesen beiden Ländern nicht schon in zwei Wochen „verbindlich“ werden. Es ist ein erster bescheidener Sieg der Vernunft in einer völlig überflüssigen Streitfrage, die ein Klüngel von zwölf Linguisten einer Sprach- und Schreibgemeinschaft von 100 Millionen Europäern eingebrockt hat. Auf dem Rücken der Schulkinder sollte eine neue Orthographie gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung durchgeboxt werden. Nichts daran ist schlüssig, nichts einfacher oder auch nur funktionaler als die bewährte Rechtschreibung. Das vor hundert Jahren schwer errungene Gut einer einheitlichen deutschen Schriftsprache wurde gegen jeden Sinn und Verstand zerstört.

Jetzt bringen die beiden Länder die anderen Bundesländer in Zugzwang – auch Berlin, wo ein Bürgerentscheid zu diesem Thema nur knapp gescheitert war. Hätte nicht gerade unsere Stadt, die bei Pisa auf den hintersten Rängen rangiert, allen Anlaß, ihren Schulkindern das Erlernen falscher, überflüssiger und schädlicher Regeln zu ersparen und sich am Spitzenreiter Bayern zu orientieren? Indirekt hat die jüngste Pisastudie ja gezeigt, daß die neuen Schreibweisen keinerlei Erleichterung bringen. Schreibtests in Leipzig haben im Gegenteil erwiesen: Die Rechtschreibsicherheit bei der Schreibung mit „ß“ nach langem Vokal hat von 53 auf 35 Prozent abgenommen, bei der Schreibung mit einfachem „s“ in kurz gesprochener Silbe von 90 auf 61 Prozent. Niemand kann bei sachlicher Betrachtung verantworten, daß solche Verwirregeln im wörtlichen Sinne „Schule“ machen. Ob sich die 36 Mitglieder des Rechtschreibrats überhaupt auf neue Schreibweisen einigen können, steht daher noch völlig dahin. Der mutige, längst fällige Beschluß von Bayern und Nordrhein-Westfalen könnte deshalb durchaus den Einstieg in den Ausstieg bedeuten. Für die Sprach- und Schriftkultur wäre es ein Segen.


Siehe auch den Leitartikel des gleichen Verfassers in der Welt vom 18. Juli.


Quelle: Berliner Morgenpost
Link: http://morgenpost.berlin1.de/content/2005/07/17/politik/767092.html


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Kommentare zu »Einstieg in den Ausstieg?«
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Kommentar von Berliner Morgenpost, 17. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 12.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1183

Unionsländer führen neue Rechtschreibung nicht ein (Titelseite)
»Ministerpräsident Wulff sagte der Berliner Morgenpost: "Verbindlichkeit statt Beliebigkeit ist bei der Rechtschreibung von entscheidender Bedeutung." Den Schulen sollte "eine fertige Regelung und kein Stückwerk" vorgelegt werden. Dafür sei der Rat für Rechtschreibung die richtige Institution. Die bildungspolitische Sprecherin der Unions-Bundestagsfraktion, Katherina Reiche (CDU), argumentierte: "Die Reform war ein großer Fehler und hat bisher in den Schulen und bei der Bevölkerung nur zu Verwirrung und Unsicherheit geführt."«

Neue Rechtschreibung tritt nicht bundesweit in Kraft (Politikteil)
»Nach dem Vorstoß von Bayern und Nordrhein-Westfalen, das Inkrafttreten der neuen Schreibweise erst einmal aufzuschieben, zeigte sich die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, die brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka (CDU), ratlos: "Wir haben zuvor keine Signale erhalten." Was die Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU, Bayern) und Jürgen Rüttgers (CDU, Nordrhein-Westfalen) bezweckten, könne sie nicht sagen. Sie sei verwundert und erstaunt, so Frau Wanka. Für die Schüler entstehe eine große Verunsicherung. Die Ministerin wies außerdem darauf hin, daß die Rechtschreibreform auch in Österreich und in der Schweiz am 1. August in Kraft treten solle.«



Kommentar von FAZ.NET, 16. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1184

Nicht nur Beifall für Stoiber und Rüttgers
»Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, er halte "eine rasche Schaltkonferenz der Ministerpräsidenten für erforderlich". Er wolle sich Anfang kommender Woche mit seinen Kollegen Stoiber und Rüttgers sowie anderen Ministerpräsidenten beraten. Hessen, Sachsen und Thüringen wollen hingegen bei dem bleiben, was die Kultusministerkonferenz einstimmig beschlossen hat, und die unstrittigen Teile der Reform zum 1. August einführen. Das sagten Sprecher der drei Landesregierungen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die ehemalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die rheinland-pfälzische Kultusministerin Doris Ahnen (SPD), sagte dem Blatt, sie habe "kein Verständnis für das Vorgehen Bayerns und Nordrhein-Westfalens".
[...]
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Johanna Wanka (CDU), hat die Ankündigung kritisiert. Sie sei darüber "in höchstem Maße verwundert", sagte Wanka, Kulturministerin in Brandenburg. Sollten die Länder dabei bleiben, drohe im deutschen Sprachraum ein "Sprachföderalismus". Wanka unterstrich, die Ministerpräsidenten hätten im vergangenen Jahr einstimmig beschlossen, daß die unstrittigen Teile der Reform zum 1. August in Kraft treten sollen. Dies habe ihr der damalige amtierende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Klaus Wowereit (SPD), auch schriftlich bestätigt. Dabei hätten die Regierungschefs selbst definiert, daß die Bereiche Interpunktion, Silbentrennung am Satzende und Groß- und Kleinschreibung noch einmal überprüft werden sollen.«



Kommentar von NZZ Online, 16. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 13.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1186

Bayern und Nordrhein-Westfalen gegen Rechtschreibreform
»(ap) Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff sprach sich am Samstag ebenfalls für eine Verschiebung aus und kündigte für Dienstag eine Kabinettsentscheidung dazu an.
[...]
Der SPD-Politiker und rheinland-pfälzische Regierungschef Beck sagte dazu der AP: "Die CDU ist gegen alles und jetzt auch noch gegen sich selbst." Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz zur verbindlichen Einführung der Rechtschreibreform sei erst wenige Wochen alt: "Der letzte Rest an politischer Verlässlichkeit ist weg", kritisierte Beck.«



Kommentar von sueddeutsche.de, 16.07.2005, verfaßt am 17.07.2005 um 14.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1187

Drei Unions-Ministerpräsidenten wollen Reform stoppen
»Damit stellen sich die Ministerpräsidenten gegen die Kultusministerkonferenz: Diese hatte Anfang Juni einstimmig beschlossen, die unstrittigen Teile der Reform zum 1. August für Schulen und Behörden verbindlich werden zu lassen.«



Kommentar von Welt am Sonntag, 17. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1188

Unionsländer boykottieren Rechtschreibreform
»Stoiber nicht folgen will dagegen das ebenfalls CDU-regierte Hessen. "Wir bleiben bei dem, was vereinbart worden ist", sagte ein Sprecher des Ministerpräsidenten Roland Koch.«



Kommentar von Gabriele Ahrens, verfaßt am 17.07.2005 um 14.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1189

Lt. NDR1 hat auch das Saarland erklärt, daß es die "Reform" am 1. 8. verbindlich einführt. Niedersachsens Kultusminister Busemann äußert sich unklar. "Mal sehen, wohin die Reise geht."



Kommentar von Bild.de, 16.07.2005, verfaßt am 17.07.2005 um 14.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1190

Erste Länder verschieben Rechtschreib-Reform
»Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) zu BamS: "Bayern wird die Rechtschreibreform zum 1. August nicht in Kraft setzen. Wir wollen warten, bis der Rat für Rechtschreibung in den nächsten Monaten seine Empfehlungen für Korrekturen vorlegt." Die Vorschläge des Rats wolle Bayern übernehmen.

Stoiber forderte die anderen Länder zur Nachahmung auf. "Mit meinen Kollegen – etwa aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und dem Saarland – bin ich schon im Gespräch", sagte er. "Es macht keinen Sinn, die Reform jetzt verbindlich einzuführen und schon im nächsten Jahr wieder Änderungen vorzunehmen. Das sollte eigentlich jeder einsehen."«



Kommentar von Hinweis, verfaßt am 17.07.2005 um 14.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1191

Weitere Meldungen und Kommentare auch hier:
www.sprachforschung.org/ickler/index.php?id=185#kommentare



Kommentar von dpa, 17. 7. 2005, 15:20, verfaßt am 17.07.2005 um 16.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1192

Streit um Rechtschreibreform

Berlin (dpa) – Der Deutsche Philologenverband hat das Ausscheren Bayerns und Nordrhein-Westfalens bei der verbindlichen Einführung der Rechtschreibreform zum 1. August als «Zickzack-Kurs» kritisiert. Grundsätzlich könne es sinnvoll sein, die Übergangsfrist zu verlängern, so der Lehrerverband. Entscheidungen kurzfristig über den Haufen zu werfen, trage aber mehr zur Verunsicherung als zur Klärung bei. Bayern und NRW hatten gestern angekündigt, die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibregeln verschieben zu wollen.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.07.2005 um 16.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1193

Der Deutsche Philologenverband gehört bekanntlich zur "alten Verbändeallianz" der Schulbuchverlage, so daß es wahrscheinlich nicht einmal eines Anrufs durch Geschäftsführer Baer bedarf, um Herrn Meidinger klarzumachen, was er zu tun hat. Allerdings wird er es auch mit der bayerischen Staatsregierung nicht ganz verderben wollen, so daß ich annehme, daß er in den nächsten Tagen einen Weg finden wird, sich mit beiden Seiten zu arrangieren.
Oettinger zögert noch, weil er in derselben Position ist wie Koch. Beide Kultusministerinnen, Schavan und Wolff, haben sich dem gemeinsamen Unternehmen verschrieben und daher auch den "Rat" erfunden, von dem sie sich natürlich etwas anderes erhofft hatten.
Wetten, daß die übrigens Mitglieder der Verbändeallianz, also der Bundeselternrat, die GEW usw., sich bald im gleichen Sinne vernehmen lassen werden? Das Drehbuch schreibt Herr Baer, wie seit neun Jahren schon.



Kommentar von Netzleser, verfaßt am 17.07.2005 um 18.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1194

Die Eltern in Bayern und NRW und vielleicht Niedersachsen brauchen jetzt keine neuen Rechtschreibwörterbücher kaufen, die ganz sicher in einem Jahr nicht mehr gelten werden. Die Eltern in den übrigen Bundesländern müßten neidisch werden. Aber auch der Bundeselternrat fragt sie nicht.



Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 17.07.2005 um 19.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1195

A propos Neid: Wie stünde es jetzt in den übrigen Bundesländern um Klagen von Schülern auf Gleichbehandlung? Schließlich haben doch jene in Bayern und NRW eindeutig einen notenrelevanten Vorteil gegenüber ihren Mitschülern jenseits der Landesgrenzen.



Kommentar von Münchner Merkur (online), 17.07.2005, 17:52, verfaßt am 17.07.2005 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1196

Vorstoß bei Rechtschreibreform
»So nannte die stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer die Entscheidung der Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (Bayern/CSU) und Jürgen Rüttgers (NRW/CDU) "Blödsinn".
[...]
Am Sonntag kündigten die Länder Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und das Saarland an, das Reformwerk wie geplant am 1. August umzusetzen.«



Kommentar von Westfälische Rundschau, 17. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 20.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1197

Ein neues Stück aus dem Tollhaus
»Das Rechtschreibchaos ist perfekt: für Schüler in Nordrhein-Westfalen und Bayern gelten vorerst alte und neue Schreibweisen gleichberechtigt nebeneinander weiter.
[...]
Während Österreich und Schweiz die Reform ohne große Diskussionen umsetzen, herrscht in Deutschland nach dem Vorpreschen von Bayern und NRW wieder großes Durcheinander. Es werde dazu führen, "dass niemand mehr die Rechtschreibung ernst nimmt", fürchtet die GEW-Vize-Chefin Marianne Demmer.«



Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 17.07.2005 um 20.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1198

dpa hat heute um eine Apostrophierung der "unstrittigen Teile" der Reform gerungen. In einer Meldung am Vormittag war von den "als unstrittig deklarierten Teilen der Reform" die Rede. In einem namentlich gezeichneten Korrespondentenbeitrag am Nachmittag hieß es dann: "Die angeblich ,unstrittigen Teile´ der Reform". Dem folgte eine "Berichtigung", die näher als Präzisierung bezeichnet ist: "Die nach Auffassung der Minister ,unstrittigen Teile´der Reform". Diese Sprachregelung findet sich dann auch in der Wochenendzusammenfassung gegen 17 Uhr.


Kommentar von Rüsselsheimer Echo, 17.07.2005, verfaßt am 17.07.2005 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1199

Rechtschreibreform: Ein gutes Beispiel
»Die Kultusminister haben den Rechtschreibrat eingesetzt, als sie sahen, dass ihr Reformwerk ohne Veränderungen keine Chance hat, akzeptiert zu werden. Aber kurz nach der Einsetzung haben sie versucht, einen Teil der Regeln verbindlich zu zementieren.
Das mag aus ihrer Sicht ja verständlich sein: Je länger der Rat tagt, desto weniger wird von der ursprünglichen Reform noch übrig bleiben. Erst die Kompetenz von Experten zu bemühen, um sich dann darüber hinwegzusetzen, zeigt freilich eine gewisse Verbohrtheit.«



Kommentar von Märkische Oderzeitung, 17. Juli 2005, verfaßt am 17.07.2005 um 21.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1200

Reiche für Verschiebung der Rechtschreib-Reform
»Potsdam (dpa) Um die deutsche Rechtschreibung gibt es erneut Verwirrung: Die CDU-Bundestagsabgeordnete Katherina Reiche begrüßte, dass Bayern und Nordrhein-Westfalen die Einführung der neuen Rechtschreibregeln verschieben wollen. Die KMK-Vorsitzende und brandenburgische Kulturministerin Johanna Wanka (CDU) zeigte sich "verwundert und erstaunt".
Reiche sagte am Samstag in Potsdam, auch Brandenburg solle sich den beiden Ländern anschließen. "Die Reform war ein großer Fehler und hat bisher in den Schulen und bei der Bevölkerung nur zu Verwirrung und Unsicherheit geführt." Es sei eine Frage der Vernunft, zunächst die Korrekturempfehlungen des Rates für Rechtschreibung in den nächsten Monaten abzuwarten.«


Kommentar von Horst Haider Munske, verfaßt am 17.07.2005 um 21.26 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1201

Die Entscheidung von Stoiber und Rüttgers für ein Moratorium ist geradlinig und konsequent. Hatte der Rat für deutsche Rechtschreibung doch gerade erst mit ernsthafter Arbeit begonnen. Da sollte er an erfolgreicher Weiterarbeit gehindert werden. "Ende der Debatte" – das war von Anfang an die Devise der Kultusminister und ihrer Arbeitsgruppe Rechtschreibreform. Als ich im Mai 1997 um kurze Stellungnahmen bat für die Schrift "Die Rechtschreibreform – Pro und Kontra" (erschienen im Herbst 1997), wurde mir entgegnet, es gebe nichts mehr zu diskutieren, die Reform sei nun beschlossen und entschieden. Deshalb fehlen dort Beiträge aus dem Kreis der Politik. Später verweigerte die KMK (bzw. die Mitglieder ihrer Arbeitsgruppe, die sich stets im Hintergrund hält) auch nur geringfügige Änderungen – immer unter Verweis auf die Generalüberprüfung am Ende der achtjährigen Übergangszeit. Jetzt, wo diese Überprüfung endlich stattfinden soll, ergreifen sie die Flucht nach vorn, indem sie einfach durchverordnen, was anders nicht mehr durchzusetzen ist. Eine unglaubliche Dreistigkeit. Den beiden Ministerpräsidenten sei Dank, daß sie sich endlich von dem Diktat der KMK befreien. Anders ist der Rechtschreibfriede nicht wiederherzustellen.


Kommentar von F.A.S., verfaßt am 18.07.2005 um 00.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1209

Das Ende des Unsinns
Bayern und NRW stoppen die Rechtschreibreform. Niedersachsen folgt wohl


Es ist nicht vornehm, es ist nur richtig, was Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber und sein nordrhein-westfälischer Kollege Jürgen Rüttgers da tun - wer in Notwehr handelt, muß auch mal seine guten Manieren vergessen: Bayern und Nordrhein-Westfalen, die beiden bevölkerungsstärksten Bundesländer, werden am 1. August die sogenannte Rechtschreibreform nicht verbindlich werden lassen; das Land Niedersachsen wird sich wohl am Dienstag anschließen. Zwar erklärt Ministerpräsident Christian Wulff, daß er sich am Dienstag erst mit seinem Kabinett beraten müsse; aus seiner Umgebung ist aber zu hören, daß das bloß eine Frage des Stils sei - in der Sache sei man sich einig.

Damit setzen sich diese drei Länder über einen Beschluß hinweg, dem auch ihre Kultusminister zugestimmt haben, einen Beschluß, der aber seinerseits ein grobes Foul war. Denn diese Kultusminister waren es, die den unabhängigen Rat für Rechtschreibung eingesetzt hatten. Und als dieser Rat dann, moderiert von dem besonnenen Bayern Hans Zehetmair, immer mehr der neuen Regeln kassierte, beschlossen die Kultusminister, genau diese Regeln für verbindlich zu erklären, bevor der Rat seine Arbeit abgeschlossen hatte. Wenn jetzt also Bayern und Nordrhein-Westfalen und höchstwahrscheinlich auch Niedersachsen erklären, daß sie abwarten wollen, bis der Rat seine Arbeit getan hat, um sich dann an dessen Empfehlungen zu halten, dann heißt das im Klartext: Die sogenannte neue Rechtschreibung wird dort nie in Kraft treten.

Daß das keine parteipolitischen Fragen sind, zeigen die Reaktionen aus Thüringen, Sachsen, Hessen - diese Länder wollen sich an den Beschluß der Kultusminister halten, und die brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka (CDU) hat ihre "Verwunderung" auch schon zu Protokoll gegeben. Und Dirk Metz, der hessische Regierungssprecher, hat neulich, in einem Zeitungsartikel, allen Ernstes behauptet, daß jene Zeitungen und Verlage, welche lieber die bewährte Rechtschreibung benutzen, sich in Dinge einmischten, die nur die Politik etwas angingen; ja daß sie Macht ausübten, ohne daß sich diese Macht einer Kontrolle unterwürfe. Mal abgesehen von der Frage, ob diese Zeitung, der "Spiegel", die "Süddeutsche" oder die Springer-Blätter dem Publikum mit vorgehaltener Pistole aufgezwängt werden: Auch die beiden deutschsprachigen Nobelpreisträger Elfriede Jelinek und Günter Grass, auch die meisten der jüngeren Autoren, auch die meisten literarischen Verlage, sie alle, die sich den neuen Regeln verweigern, mißbrauchen nicht die Macht, die sie ohnehin nicht haben. Sie wollen sich nur nicht von deutschen Funktionären in ihre Kunst (oder ihr Handwerk) hineinreden lassen.

Es drohe "Sprachföderalismus", sagt Frau Wanka; man muß ihr wohl antworten: das Chaos ist längst da, und verantwortlich sind eben nicht jene, die bei den bewährten Schreibweisen geblieben oder zu ihnen zurückgekehrt sind. Verantwortlich ist eine sogenannte Reform, die, kaum war sie da, schon wieder verändert und revidiert werden mußte. Verantwortlich sind jene, die dafür gesorgt haben, daß es zur Zeit keine zwei Wörterbücher mit identischen Einträgen gibt. Verantwortlich sind jene, die, nur weil das Ding "Reform" heißt, jeden als Reaktionär verteufeln, der darauf hinweist, wie sehr die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Sprache unter den neuen Schreibweisen und Regeln gelitten haben.

Fortschrittlich wäre es aber, die ganze "Reform" zu vergessen. Claudius Seidl«


( Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.07.2005, Nr. 28 / Seite 21 )


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 18.07.2005 um 01.29 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1210

Eine Chance für die "freie Bildung"

Föderalistische Bildungspolitik ist auf Wettbewerb und Vergleich ausgerichtet, und es scheint so, daß neuerlich zwei von 16 Bundesländern sich zum Modell der konkurrierenden Bildung bekennen. Sie sagen der Vermassung und Volksverdummung den Kampf an und investieren künftig wieder in einen eigen- sowie bodenständigen Wissens-, Herz- und Charaktererwerb.

Bliebe es bei den Zweien (eventuell schließt sich ja noch Niedersachsen an), und hielten die Ministerpräsidenten Stoiber und Rüttgers ihr Wort, dann müßten die restlichen Bundesländer spätestens in einem Jahr die bis dato verbliebenen haarsträubenden Fehler der Rechtschreibreform höchst beschämt revidieren. Sie wären dann bloßgestellt wegen ihrer eklatanten politischen Fehlentscheidung in einer äußerst leicht durchschaubaren Angelegenheit; sie wären eines unsäglichen Machtmißbrauchs überführt; sie hätten sich im Sinne demokratischer Grundregeln für jegliche Entscheidungsfunktion selbst disqualifiziert.

Es wäre keineswegs zu wünschen, daß sämtliche Bundesländer auf die Linie von Stoiber, Rüttgers und evtl. Wulff einschwenkten, denn dann entstünde ja wieder das politische Kartell, das der Sache „Rechtschreibung“ in den Nachkriegsjahren in unsäglichem Maße geschadet hat.

Gott bewahre, und er schaffe dieses „Nullum“ „Kultusministerkonferenz“ ein für allemal ab, weil sich dieser Filz 60 lange Jahre über Grundgesetz, freien Wettbewerb und Demokratie erhoben hat.


Kommentar von Jürgen Kern, verfaßt am 18.07.2005 um 16.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1218

Ich als Bayer, und vor allem als bayerischer Schüler, freue mich natürlich über diesen Beschluß von Stoiber. Das heißt nämlich für mich, daß ich nächstes Jahr meine Mittlere Reife noch in "alter Schreibung" schreiben darf.

Aber ich glaube nicht, daß dies Signalwirkung haben wird. Wenn wir Glück haben, kommt Niedersachsen morgen per Kabinettsentscheid noch hinzu, das war's dann aber auch schon.

Im übrigen bedeutet dies, da bin ich sicher, auch nicht das Ende der Rechtschreibreform, sie wird nur aufgeschoben. Aber: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben". Das gilt auch hier wieder.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 18.07.2005 um 19.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1221

Jürgen Kern: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben". Das gilt auch hier wieder.
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Stimmt in vielen, aber nicht in allen Fällen. Was nicht geht, geht nicht. Und die Reformschreibung "geht" nicht. Deshalb wird sie - wenn auch nicht offiziell - so doch insgesamt aufgehoben werden: sie wird sich selbst erledigen. Wie Reiner Kunze meint, wird sie von innen her ausgehöhlt. Denn, ich kann nur wiederholen, sie funktioniert nicht. Auch die Heysesche ss-Schreibung bewährt sich nicht, man wird diesen lästigen Geßler-Hut irgendwann loswerden wollen, wenn genügend junge Menschen damit nicht mehr klarkommen! Und dies wird passieren. Sprache und Rechtschreibung gehorchen nun einmal nur sich selbst und nicht einem technokratisch bewegten Sprachveränderungswillen einiger weniger.
Wir müssen also sicher noch etwas Geduld haben, aber eins ist sicher: die sogenannte Rechtschreibreform, die keine war, wird keinen Bestand haben, da können VdS und KMK noch soviel Strategien auffahren. Haben wir doch nur noch etwas Geduld - und vor allem Zuversicht!

Danke an Herrn Ickler für seine geduldige und unverdrossene Arbeit!


Kommentar von Magdeburger Volksstimme, 18. 7. 2005, verfaßt am 18.07.2005 um 23.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1226

Verantwortungslos
Ausscheren bei Rechtschreibreform

Von Philipp Hoffmann

Man kann über die Rechtschreibreform denken, wie man will – im Konsens getroffene Entscheidungen müssen eingehalten werden. Das ist eines der Grundprinzipien der Demokratie. Wenn jetzt Regierungschefs einzelner Bundesländer von gemeinsamen Beschlüssen abweichen und die Reform aussetzen wollen, dann handeln sie verantwortungslos gegenüber den Schülern.

Die haben Anspruch auf Gewissheit, woran sie nun bei den Schreibregeln sind. Sie haben Anspruch auf verlässliche Entscheidungen. Wenn ihnen vorgelebt wird, dass Demokratie heißt „Heute sag’ ich es so und morgen anders“, dann darf sich niemand wundern, wenn junge Leute das Vertrauen in die Politik verlieren. Wer mit der Rechtschreibreform nicht einverstanden ist, muss versuchen, andere mit Argumenten zu überzeugen. Gelingt dies nicht, muss er zurückstecken. Nur wenn er sich selbst so verhält, kann er es auch von Schülern erwarten.


Kommentar von Braunschweiger Zeitung, 18. 7. 2005, verfaßt am 18.07.2005 um 23.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1227

Fertig machen

Von Andreas Berger

Und noch ’ne Reform. Nach Hartz IV und Praxis-Geld ist wohl die Rechtschreibreform die unbeliebteste. Dabei führt die rot-grüne Regierung hier bloß aus, was schon Helmut Kohl abgesegnet hatte und alle Ministerpräsidenten gemeinsam beschlossen.

Doch da man sich im Wahlkampf für keine Art von Populismus zu schade ist und schließlich nichts gut sein darf, was in der Ära Schröder Gesetz wurde, entdecken Stoiber, Rüttgers und Wulff nun plötzlich ihre Liebe zur Sprache, möchten sie die Reformer lieber "fertigmachen" statt "fertig machen", nie mehr "allein stehend", höchstens "alleinstehend" sein. Assistiert von der Boulevardpresse finden sie Unsinnigkeiten, wie es sie freilich auch im alten Regelwerk zuhauf gab.

In großer Koalition aus linken Intellektuellen und konservativen Volkstribunen attackiert man seither eine Reform, die zu verhindern man einst genügend Zeit und Macht gehabt hätte. Haben sich die Herren damals nur noch nicht so sehr dafür interessiert? Oder waren sie schlichtweg nicht weitblickend genug, um zu erkennen: Angesichts der Neigung der Sprachnutzer zur Klein- und Zusammenschreibung würde sich die Regel zur vermehrten Getrennt- und Großschreibung nur schwer durchsetzen lassen.

Schlimm genug ist beides. Am schlimmsten aber die wachsende Verunsicherung derjenigen, für die die ganze Reform ja mal gemacht wurde: die Schüler. Man sollte vielleicht weniger Zeit mit der Diskussion von Ausnahmen und erlaubten Varianten verbringen und mehr mit der Vermittlung der durchaus nachvollziehbaren Regeln. Dann lernen’s auch noch Stoiber, Rüttgers und Wulff.


Kommentar von Junge Welt, 19. 7. 2005, verfaßt am 18.07.2005 um 23.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1228

Ananas und Schokolade
Rechtschreibreform und Reformen

Von Arnold Schölzel

Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins durfte 1998 als einzige im deuschsprachigen Raum über die Rechtschreibreform abstimmen. Sie lehnte ab, der Landtag in Kiel kippte den Volksentscheid. Die Stadt Braunschweig beschloß für ihre Verwaltung im August 2004 die Rückkehr zur alten Rechtschreibung. Im März 2005 empfahl der Städte- und Gemeindebund Nordrhein-Westfalen seinen Mitgliedern, die neue Rechtschreibung nicht anzuwenden. Am Wochenende kündigten Bayern und Nordrhein-Westfalen an, daß in beiden Ländern die neue Rechtschreibung nicht am 1. August in Kraft tritt. Das Datum war vor einem Monat noch einmal von den Bundesländern bestätigt worden.

Wenn es ein Synonym für Reform in der Bundesrepublik gibt, dann ist es die Rechtschreibreform. Vielleicht ist sie die Mutter aller Reformen. Wer »Hartz IV« einführt und von Erhöhung der »Eigenverantwortung« redet, wer von Steuersenkungen für Spitzenverdiener erwartet, daß die »Leistungsträger« mit den eingesparten Milliarden Arbeitsplätze schaffen, glaubt auch, daß die »Vereinfachung« der Rechtschreibung mit mehr Ausnahmeregeln als früher beginnen muß. Wer der Meinung ist, daß die Leute gesund bleiben, wenn sie Ulla Schmidts Gesundheitsreform bezahlen, glaubt auch, daß ein drittes f in »Schiffahrt« und Trennvorschriften wie »Urin-stinkt« modern, flexibel, kreativ, hip und überhaupt sozialdemokratisch sind. Steht ja Reform drauf.

Noch einige solcher Reformen, und das Marie-Antoinette-Stadium ist erreicht: »Wenn die Leute kein Geld mehr haben, um bei Aldi zu kaufen, warum essen sie nicht einfach Sushi?« Mit einem ähnlichen Satz begann bekanntlich die Reformära für Ostdeutsche. Günther Krause, dem Chefverkäufer der DDR, fiel 1990 die Aufgabe zu, in der Volkskammer die von bevorstehender gesamtdeutscher Arbeitslosigkeit besorgten Gemüter mit der Aufforderung zu beruhigen, sich von Ananas und Schokolade zu ernähren. Die seien besonders billig.

Reformpolitiker dieser Art braucht das Land. [. . .] Wer eine Rechtschreibreform macht, der erhöht den Bildungsgrad deutscher Schüler. Es sei denn, die Schulen sind schlecht. 20 bis 25 Prozent der deutschen Schulabgänger sind »nicht ausbildungsreif«, kommentierte gerade ein Experte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages die jüngste PISA-Euphorie.

Reform ist, was im Amtsblatt steht. Was kümmert einen da die Realität?


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 19.07.2005 um 10.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1233

Wie man den "unstrittigen Teil" noch bezeichnen kann.

Aus http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,365763,00.html .

[...]
Für einen kleinen, "wohl definierten" Teil der Reform werde der Rat für deutsche Rechtschreibung Vorschläge machen. Eine Verschiebung der Einführung zwei Wochen vor dem beschlossenen Start wäre nur Wasser auf die Mühlen derer, die prinzipiell gegen den Bildungsföderalismus sind, meinte Wanka.
[...]




Kommentar von F.A.Z./Rhein-Main-Zeitung, 19. 7. 2005, verfaßt am 19.07.2005 um 12.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1234

Viel versprochen
Von Jacqueline Vogt

„Die Rechtschreibreform wird in Hessen wie vorgesehen umgesetzt.” Das ist ein Satz, deutlich und klar. Gesagt hat ihn am 30. Oktober 1997 der SPD-Politiker und hessische Kultusminister Hartmut Holzapfel. Von damals bis heute sind zahllose Debatten um die Reform geführt worden. Sie ist mehrfach modifiziert worden, Grundsätzliches hat sich nicht geändert. Sie macht die Sprache ärmer und erklärt Falsches für richtig.

Sie nutzt niemandem, und man tut dem Rat für Rechtschreibung einen Tort an, wenn man sie zum nahenden 1.August verbindlich werden läßt. Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen offenbar in letzter Minute ausscheren, doch das heute ebenfalls unionsregierte Hessen will dabei nicht folgen. Beschlossen ist beschlossen, läßt Ministerpräsident Roland Koch (CDU) verlauten. Diese Äußerung schließt einen Kreis, der von SPD zu CDU führt und dem alten Verdacht aller Apolitischen Nahrung gibt, daß es gleich sei, wer das Volk regiere, weil die Unterschiede nicht sehr groß seien.

Es hat sich wohl mancher von einer CDU-geführten Landesregierung vorgestellt, daß sie solche negativen Grundvorbehalte wenigstens im Politikfeld Schule und Bildung entkräftet. Das hat sie nicht getan, und daß das Beibehalten einer grundfalschen Position als Konsequenz vermarktet wird mit der Implikation, das alleine sei schon positiv, macht die Sache nicht besser.

In zwei Wochen wird für die Schülerinnen und Schüler verbindlich, was die Kultusministerkonferenz als „unstrittige Teile” der Reform deklariert. Gute Noten wird im neuen Schuljahr bekommen, wer in einem Aufsatz „bei Weitem” schreibt und „Bankrott gehen” und von Frauen erzählt, die „Diät leben”.

Mit dem Beschluß, den nationalen Rat für Rechtschreibung einzusetzen, hätte die Entscheidung verknüpft werden müssen, bis zu dessen endgültigen Empfehlungen nichts festzuzurren, was womöglich in zwei Jahren wieder geändert werden muß. Doch in der Kultusministerkonferenz, die unbeirrt auf einem falschen Weg weitergeht, hat sich Hessen nicht mit dissonanten Tönen hervorgetan. Dabei wären sie in diesem Falle einmal mehr als angebracht gewesen wären. Schade eigentlich, war doch in diesem Bundesland die Schul- und Bildungspolitik einmal so viel versprechend.


Kommentar von Gabriele Ahrens, verfaßt am 19.07.2005 um 20.37 Uhr   Mail an
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Auf die Gefahr hin, daß das hier schon irgendwo steht:

In Niedersachsen hat das Kabinett „ohne Begeisterung“ merkwürdigerweise einstimmig beschlossen, die neuen Rechtschreibregeln zum 1. August verbindlich einzuführen. Man habe sich aus „praktischen Gründen“dazu entschlossen, um „Einheitlichkeit herzustellen“.

Als Trostpflästerchen soll nun der Rat für deutsche Rechtschreibung alleine entscheiden dürfen, was geändert wird und was nicht, so Kultusminister Busemann. Die KMK dürfe nur noch anordnen, was der Rat beschließt. Dieses Lockangebot soll auch die abtrünnigen Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Bayern wieder „mit ins Boot“ holen. Man hofft, diese wieder umstimmen zu können. Wir dürfen gespannt sein.

Im Hörfunk hört man heute merkwürdige Interviews. Das ehemalige Kommissionsmitglied Blüml aus Österreich z. B. erzählte im NDR die alte Mär vom überholten Duden, der sich seit 1901 nicht geändert hätte, und erklärte damit die Notwendigkeit einer Reform. Gleichzeitig begründete er das Ändern von Wörtern im Duden seit der Rechtschreibreform damit, das würde schon seit immer so praktiziert, nur hätte es bisher niemand gemerkt.



Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 19.07.2005 um 22.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1243

Bei dpa ist jetzt wieder durchgängig von den "unstrittigen Teilen der Reform" die Rede. Frau Wanka hatte die Agentur gestern, offensichtlich auf Befragen, darüber belehrt, welche Teile strittig seien; der Rest sei "praktisch unstrittig", erklärte sie. Die am gewagtesten von diese Sprachregelung abweichende Formulierung bei dpa handelte heute von den Teilen der Reform, die "als unstrittig gelten". Das kann natürlich auch mit einem Wechsel des verantwortlichen Redakteurs nach dem Wochenende zusammenhängen – mit Dummheit sowieso.


Kommentar von Leipziger Volkszeitung, 19. 7. 2005, verfaßt am 20.07.2005 um 01.00 Uhr  
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Schüler-Leid

von Ellen Großhans

Das Rechtschreib-Chaos ist längst Wirklichkeit: Zeitungen schreiben anders als Schüler, die wiederum anders als Schriftsteller und Deutsche anders als Schweizer und Österreicher. Nach siebenjähriger Übergangs- und Erprobungszeit sollte die Rechtschreibreform am 1. August endlich in Schulen und Ämtern verbindlich werden. Daraus wird nun nichts.

Die bevölkerungsreichsten Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen als einzige an der bisherigen Übergangsregelung festhalten. Den Schülern dort werden also alte Schreibweisen weiterhin nicht als Fehler angestrichen - in allen anderen Ländern ist das Gegenteil der Fall.

Es ist erstaunlich, dass Stoiber und Rüttgers gerade jetzt so sehr um die deutsche Sprache besorgt sind, obwohl alle Kultusminister die Verbindlichkeit der Regeln noch im Juni einstimmig beschlossen haben. Vielleicht ist ihnen aufgefallen: Das ewige Ärgernis Rechtschreibreform macht sich im Wahlkampf besser als eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Mit ihrem Vorstoß verhindern die beiden Ministerpräsidenten aber die dringend notwendige Verwirklichung der Reform und den Einzug von Sicherheit und Verbindlichkeit in die Klassenzimmer. Die Leidtragenden sind die Schüler, denen der Unterschied zwischen einem vielversprechenden und einem viel versprechenden Politiker spätestens im neuen Schuljahr einleuchten wird.

Diese politische Profilierungssucht bewirkt jedoch nicht nur Verunsicherung an den Bildungseinrichtungen, sondern kommt einem Rückfall in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts gleich. Die verhinderte damals eine verbindliche Rechtschreibung im deutschen Sprachraum. Wenn es in Deutschland neben einem Duden auch noch einen Stoiber oder Rüttgers als Nachschlagewerk gäbe, wäre die Anarchie perfekt.


Kommentar von Der Tagesspiegel, 20. 7. 2005, verfaßt am 20.07.2005 um 01.20 Uhr  
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Bayerische Fehlpässe
Streit um die Rechtschreibreform

Von Albert Funk

Edmund Stoiber ist in diesem Sommer etwas von der Rolle. Man kann sein Verhalten auch in der vom CSU-Chef so gern genutzten Fußballersprache beschreiben: Stoiber hat sich verdribbelt und den Ball verloren. Gerade erst misslang dem bayerischen Ministerpräsidenten seine Offensive in Sachen Arbeitsmarktpolitik. Statt ein elanvolles Signal zu setzen, passierte ihm das denkbar Schlechteste: Er gab für die Arbeitslosenquote mit seinem Österreich-Vergleich eine Zielmarke – vier Prozent – vor, die jedenfalls in der ersten Wahlperiode einer neuen Bundesregierung nie und nimmer erreicht werden kann.

Nun ist er mit seinem Vorstoß zur Verschiebung der Rechtschreibreform ordentlich auf die Nase gefallen. Die anderen Ministerpräsidenten im schwarzen Lager machen nicht mit, außer Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen, der zwar ein großes Land regiert, aber noch nicht lange, sich also seinen Rang unter den Landesfürsten der Union noch erkämpfen muss. Denn Landesgröße allein reicht nicht, um Gewicht zu haben. Zwar kann man Gründe für eine Verschiebung der Reform finden, wie Stoiber und Rüttgers sie wollen. Andererseits ist von allen Kultusministern gerade erst beschlossen worden, die Reform zum 1. August umzusetzen. Darin dürfte auch ein Grund liegen, warum der Vorstoß aus München und Düsseldorf nicht gelang: Nicht jeder Ministerpräsident will und kann sich ohne weiteres über seine Fachminister hinwegsetzen. Das ist auch eine Stilfrage.

Stoiber wollte vor allem einen Wahlkampfgag zünden, Rüttgers dachte offenbar, der Bayer habe noch seinen alten Einfluss. Hat er aber nicht. Und das Verstolpern zeigt, dass seine Idee, als Primus im Bundesrat einer Regierung Merkel Linien zu weisen, kaum nach dem Geschmack aller CDU-Granden in den Ländern ist. Edmund Stoiber wirkt jetzt ein bisschen wie einst Franz Beckenbauer in der Endphase der Karriere – in der der „Kaiser“ bekanntlich öfter ein Eigentor schoss.


Kommentar von Rolf Seelheim, Nordwest-Zeitung, verfaßt am 20.07.2005 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1248

Wenig konsequent

Kein Mensch erwartet ernsthaft, dass ein Ministerpräsident die deutsche Schriftsprache fehlerlos beherrscht – gleichgültig, ob in alter oder neuer Rechtschreibung. Dennoch schnitt Christian Wulff bei einem TV-Test respektabel ab. Weniger überzeugend wirkt dagegen sein Lavieren in der Diskussion um die Rechtschreibreform. Die gestrige Entscheidung, die noch unvollendete Reform durchzuwinken, passt in dieses Bild.

Erinnern wir uns: Der außerordentlich massiven – und berechtigten – Kritik am Alleingang der Kultusminister in Sachen Neuschreibung folgte die ultimative Drohung aus Hannover, Niedersachsen werde der Konferenz der Kultusminister künftig fernbleiben. Nach Protesten, auch aus den eigenen Reihen, blieb lediglich der fromme Wunsch, die Bürokratenversammlung zu beschneiden und sie um einige Stellen zu kürzen.

Statt sich NRW und Bayern nun anzuschließen, um die noch ausstehenden Regelungen abzuwarten und erst dann verbindlich einzuführen, nun der Rechtschreib-Umfall in Hannover. Konsequenz sieht anders aus.


Kommentar von Zeitungsleser, verfaßt am 20.07.2005 um 12.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1254

Laut Südd. Zeitg. v. 20.7.05, Seite 1, befürchtete die niedersächsische Staatskanzlei Proteste von Eltern, die schon Schulbücher gekauft haben. Falls das keine billige Ausrede ist (in Niedersachsen sind vom 14.7. bis 24.8. Ferien), wäre Edmund Stoiber einfach zu spät gekommen (in Bayern sind erst vom 1.8. bis 12.9. Ferien).


Kommentar von Gabriele Ahrens, verfaßt am 20.07.2005 um 13.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1255

Das Argument, die Eltern hätten schon Schulbücher gekauft, ergibt überhaupt keinen Sinn. Erstens ändert sich doch überhaupt nichts an der "Reform" an sich, nur weil man sie nicht verbindlich werden läßt, und zweitens leihen die meisten niedersächsischen Eltern die Schulbücher gegen Gebühr zu Beginn eines neuen Schuljahres bei den Schulen aus, nachdem die Lernmittelfreiheit abgeschafft wurde.

Wahrscheinlicher ist lt. Nordwest-Zeitung, daß Wulff erst die Kommentare auf das Verhalten Bayerns und Nordrhein-Westfalens abgewartet hat. Als diese "verheerend" ausfielen, überlegte er es sich halt anders. Und das ist doch sehr aufschlußreich. Wir wissen jetzt immerhin, wo er Prioritäten setzt.


Kommentar von SZ-Leser, verfaßt am 21.07.2005 um 14.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1272

Der bayerische Ministerpräsident handelt wirtschaftlich und zum Wohl seines Landes:
Laut Südd. Zeitg. vom 21.7.05, Landkreisausgaben, "Lehrplan für achtjähriges Gymnasiumm auf dem Prüfstand, Pädagogen erarbeiten Vorschläge zur Entschlackung des aufgeblähten Unterrichtsstoffs" erhalten ein Jahr nach der überstürzten Einführung G 8 in Bayern "nun die Lehrer und Direktoren die Gelegenheit, Anregungen und Kritik am Lehrplan an höchster Stelle einzubringen. Kultusminister Siegfried Schneider hat Ende Juni eine Erhebung an allen bayerischen Gymnasien in Auftrag gegeben. Bis Ende Juli sollen die Fachschaften der Schulen sich zur Umsetzbarkeit des G 8-Lehrplans äußern." Offensichtlich ist der neue Kultusminister nicht so kritikresistent wie seine Vorgängerin Monika Hohlmeier, die nur Erfolgsmeldungen hören wollte und den Direktoren Maulkörbe verpaßte. "Der Pressesprecher im Kultusministerium, Thomas Gottfried, sprach von einer etwaigen 'Modifikation des Lehrplans' im Anschluß an die Erhebung. Als Ergebnis schließt Gottfried eine Straffung des Lehrplans nicht aus." "Direktoren sehen 'einen Bedarf, die Bücher zu entschlacken oder neu zu schreiben'."
Da die Schulbücher frühestens für das Schuljahr 2006/07 neu gedruckt werden können, lassen sich die Ergebnisse des Rats für deutsche Rechtschreibung dann ohne Mehrkosten mit einarbeiten und wäre jetzt ein Neudruck nur wegen der Rechtschreibung nicht vertretbar.



Kommentar von Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 7. 200, verfaßt am 24.07.2005 um 23.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1325

Leserbrief
Schöner Duden
Zu „Das Ende des Unsinns“ von Claudius Seidl (17. Juli):

Spät, aber nicht zu spät haben nun Edmund Stoiber und Jürgen Rüttgers endlich die Reißleine gezogen und werden für ihre beiden Länder die sogenannte Rechtschreibreform nicht zum 1. August verbindlich einführen. Damit ist zwar noch nicht das Ende des Unsinns erreicht, es besteht aber durchaus noch Hoffnung, daß die Farce der Rechtschreibreform nie in Kraft gesetzt wird. Dazu müßten aber die Politiker ihre unglaubliche Arroganz und Beratungsresistenz aufgeben, den Usus einer großen Sprachgemeinschaft anerkennen und die fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung einsehen. Vielen Politikern geht es bei der Frage der Rückkehr zum bewährten Sprach- und Schriftgebrauch doch nur noch darum, ihr Gesicht zu wahren – vielleicht könnten sie es gerade dadurch wahren, daß sie eine Fehlentwicklung rückgängig machen und damit dann wirklich das Ende des Unsinns erreichen!

Hans-Jürgen Reuling, Kelkheim


Kommentar von General-Anzeiger Bonn, 25. 7. 2005, verfaßt am 25.07.2005 um 11.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1334

Welch eine Arroganz der Macht
Leserbriefe zum Thema „Rechtschreibreform“

Ein neuer Sturm im Wasserglas: Die beiden „Oberlehrer“ (Diktion Helmut Herles) Rüttgers und Stoiber rebellieren in Sachen Orthographie gegen die Kultusministerkonferenz. Sie schieben die Reform auf unbestimmte Zeit auf. Und schon donnert die SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag: Sie „gehen auf Konfrontationskurs“, durch den – so kann es, besser muss es eine Opposition natürlich sehen – „die Verwirrung und das Chaos bei den Betroffenen“ (wer ist das wohl?) „ohne Not gesteigert“ werden. Politschwulst erster Güte, dem die FDP, neuerdings wieder in Regierungs-„Verantwortung“ wuchtig entgegenhält, die Reform sei in der Bevölkerung gescheitert (bei mir allerdings noch nicht: ich schreibe noch), deshalb dürfe man „neue Regeln nicht übers Knie brechen“. Worüber setzt man sich eigentlich auseinander? Zum Beispiel ob man „sich auseinandersetzen“ (im Satz davor zwangsläufig auseinander geschrieben) auch sonst getrennt schreiben muß oder wie einst zusammen. Ob ein Komma vor „und“ immer wegfallen darf oder in bestimmten Fällen doch gesetzt werden muß. Ob das Adjektiv „schwarz“ beim „schwarzen Brett“ nicht doch wie früher sein großes S wie „Schwarzes Brett“ behalten soll oder nicht. Für den Weiterbestand der deutschen Schriftsprache scheint das überlebenswichtig zu sein. Rüttgers und Stoibers Rebellion ist zwar überflüssig, etwas Gutes hat sie allerdings für rechtschreibgeplagte Schüler in NRW und Bayern: Schreiben sie nach Altväterweise „Fluß“ statt reformiert „Fluss“ dürfen Lehrer das rot anstreichen, aber ihnen deshalb eine schlechtere Note geben – das dürfen sie nicht. Senioren wie ich konnten in unsrer Schulzeit von solchen paradiesischen Zuständen nur träumen.

Lukas Dalfrento, Bonn

In der Tat, “kaum nachvollziehbares Vorgehen”! So die Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Allerdings sollte sie diese Kritik nicht an die Ministerpräsidenten Stoiber und Rüttgers, sondern an ihre Kollegen Kultusminister richten! Wie kann ein so wichtiges Gremium so wenig einsichtig die fehlerhafte Rechtschreibreform mit Ausnahmen für verbindlich erklären? Nicht erst jetzt, schon lange ist das Handeln der Kultusministerkonferenz bei der Rechtschreibreform ein „kaum nachvollziehbares Vorgehen“.

Welch eine Arroganz der Macht! Kultusminister sind für die Schülerinnen und Schüler da, nicht umgekehrt. Mit der Reform muteten sie diesen zu, anders zu lernen und zu schreiben, als die Gesellschaft schrieb und die Literatur gedruckt war. Dies gilt auch heute noch. Nun soll eine noch nicht endgültige Form der Reform so maßgeblich für sie werden, daß Abweichungen ihnen als Fehler angestrichen und für die Noten wirksam werden! Wirklich ein „kaum nachvollziehbares Vorgehen“.

Darum Dank an die Ministerpräsidenten Stoiber und Rüttgers für ihre Auflehnung gegen dieses Vorgehen de Kultusministerkonferenz. Das seit 1998 gehandhabte Nebeneinander von herkömmlicher und neuer Rechtschreibung darf in den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen so lange fortgeführt werden, bis der Rat für deutsche Rechtschreibung eine endgültige Regelung vorgegeben haben wird. Bei der beanstandeten Beschlußfassung der Kultusministerkonferenz Anfang Juni 2005 konnte übrigens NRW nicht mehr legitim durch das Schulministerium vertreten werden, denn die Landtagswahlen Ende Mai hatten jener Landesregierung die Mehrheit entzogen.

Dr. Gisela Friesecke, Bonn

Auch der General-Anzeiger spricht schon nicht mehr von einer Rechtschreib- sondern lediglich von einer Schreibreform. Die Uneinigkeit unter den Ländern, die hier praktiziert wird, erinnert an den Exzess des deutschen Verwaltungsapparates, bei dem die Entscheidung im Ermessen des einzelnen Sachbearbeiters in einer Genehmigungsbehörde liegt. Sicherlich haben wir einen föderalistischen Bundesstaat und das Bildungswesen unterliegt der Länderhoheit, aber hier wird eine Angelegenheit behandelt, die nicht die einzelnen Länder betrifft sondern die Schülerinnen und Schüler ganz Deutschlands.

Dies sind Zustände von vor der gesamtdeutschen Einigung von 1848 und die politische und verwaltungstechnische Starrköpfigkeit wird wieder auf dem Rücken eines der schwächsten Glieder der Gesellschaft ausgefochten, nämlich der Kinder.

Georg Dovermann, Bonn

In Bayern und NRW werden im kommenden Schuljahr – wie schon seit einigen Jahren – Schreibungen der Schüler nach den bisherigen, aber geänderten Regeln als Fehler angestrichen, aber nicht gewertet. Es ändert sich also nichts. Wo da die frühere Schulministerin Ute Schäfer (SPD) bei Lehrern, Eltern und Schülern eine Steigerung des Chaos erkennt, ist ein Rätsel. Chaotisch ist eher, daß die Kultusminister unter Mitwirkung von Frau Schäfer im Frühjahr den Rat für deutsche Rechtschreibung mit der Überprüfung der „Reform“ beauftragt und gleichzeitig weite Teile für verbindlich erklärt haben, um dem Rat möglichst enge Grenzen zu ziehen.

Helmut Vreden, Bonn


Kommentar von Dr. Maria Theresia Rolland, verfaßt am 25.07.2005 um 12.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1335

Leserbrief im Bonner General-Anzeiger vom 22.7.2005, S.12.
(Die eingeklammmerten Sätze des Original-Leserbriefs sind in der Zeitung nicht abgedruckt.)

Verwirrung in 14 Bundesländern
Die Kultusminsterkonferenz (KMK) hat den "Rat für deutsche Rechtschreibung" zur Korrektur des heftig umstrittenen Regelwerks eingesetzt. Der Rat hat mit seiner konstruktiven Arbeit begonnen, wird aber dann von der KMK einfach übergangen, indem diese den Rat seine gerade erst begonnene Arbeit nicht bis zu einem sinnvollen Ende weiterführen läßt, sondern einfach bestimmte Teile des Regelwerks für "unstrittig" und ab 1.8.2005 als verpflichtend für die Schulen erklärt.

Wenn also die Kinder jetzt zum Beispiel grammatisch und semantisch korrekt schreiben: "Zierat; gestern abend; wie recht er hat" (statt neu und falsch: Zierrat; gestern Abend, wie Recht er hat), so wird ihnen das als Fehler angerechnet, und zwar in den 14 Bundesländern, deren Ministerpräsidenten nicht den genannten Termin ausgesetzt haben, wie es dankenswerterweise die Ministerpräsidenten Rüttgers (Nordrhein-Westfalen) und Stoiber (Bayern) getan haben.

So gibt es in NRW und Bayern glückliche Schulkinder, die das Richtige, wie auch bisher, schreiben dürfen, ohne daß es als Fehler gewertet wird. Verwirrung tritt also nur ein in den vierzehn Ländern, die der Anordnung der KMK folgen.

(Selbst die Kultusminister haben die Reform als "großen Fehler" bezeichnet. Wieso sie dann trotzdem diese Reform nicht stoppen, sondern die Kinder zwingen, gegen ihr gesundes Sprachgefühl Falsches zu schreiben, ist unerfindlich. Ein Kultuspolitiker hat einmal gesagt: "Wenn man eine Entscheidung getroffen hat, und merkt, daß sie falsch war, muß man trotzdem dabei bleiben." Wie ein Reformkritiker dazu so treffend bemerkt hat: "Wenn also jemand einen Spaziergang macht und merkt, daß er den falschen Weg eingeschlagen hat, der sogar ins Moor führt, muß er weitergehen, bis er versinkt.")

Die besonnene und kluge Entscheidung der Ministerpräsidenten Rüttgers und Stoiber bewahrt in den beiden bevölkerungstärksten Bundesländern mit insgesamt 30,5 Millionen Einwohnern von etwa 82 Millionen in ganz Deutschland die Kinder davor, im Meer der Falschschreibungen zu versinken. (Möchten doch andere Länder sich auch solche Sorgen um die Kinder machen! Sind sie nicht unsere Zukunft?)
Dr. Maria Theresia Rolland, Bonn



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 26.07.2005 um 08.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#1341

Das "Ausscheren" von Stoiber und Rüttgers bedeutet eine entscheidende Stärkung des Föderalismus. Nachdem KMK und MPK, zwei verfassungsmäßig inexistente Gremien, sich jahrzehntelang quasi als zweite Zentralregierungen gesehen hatten, haben die beiden Ministerpräsidenten mit ihrem Befreiungsschlag eindrucksvoll das grundgesetzlich garantierte essential "Bundesstaat" in Erinnerung gerufen. Die oft beklagte zunehmende Machtfülle des Bundes stand zwar hier nicht zur Debatte, Bundestreue konnte nicht eingefordert werden. Bei einer zukünftig anzugehenden Föderalismusreform wird das aktuelle Beispiel der landespolitischen Eigenmächtigkeit aber sicher herangezogen werden, im negativen Sinne natürlich. Vom Bundespräsidenten wüßte man gern, wie er zu der Ansicht gelangt, die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland sei überholt. Sicher kennt auch er den Art. 79 GG, die sog. "Ewigkeitsgarantie". - Unter allen dummen Äußerungen zu Tagesereignissen gibt es immer auch eine dümmste. Diesmal stammt sie von Frau Bulmahn, die Frau Merkel zu einem "Machtwort" aufrief.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.08.2018 um 04.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=301#10966

Wie sich damals die Journalisten ihre Unterwerfung erträglich schrieben:

Wer jetzt also zu den alten Regeln zurückkehrt, handelt genau so unterwürfig wie jener, der die unbedingte Einhaltung der neuen verlangt. (Claudius Seidl SZ 29.7.2000)

Das ist das Fazit eines pseudophilosophischen Beitrags. Noch eine Textprobe:

Insofern hat der neu aufgeflammte Widerstand gegen die Reform wohl auch etwas zu tun mit der Aufregung um die Entschlüsselung des Genoms. Das Leben selbst scheint einer Schrift aus den Buchstaben A, C, G und T zu gleichen – und wenn die Welt ein Text ist, dann sind es nicht die deutschen Kultusminister, die Kommata und Punkte setzen. Und genau so ist es ja auch gekommen: Die Reform war erfolgreich, weil die Reformer gescheitert sind.



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