17.07.2005 Dankwart Guratzsch Einstieg in den Ausstieg?Es ist ein Befreiungsschlag: Zwei Bundesländer brechen aus der Einheitsfront der Länder in Sachen Rechtschreibreform aus.Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen ihren Landeskindern nicht zumuten, zweimal innerhalb eines Jahres umzulernen und womöglich ab nächstem Sommer schon wieder eine neue Orthographie zu lernen. Das Pfuschwerk, das derzeit vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ gründlich umgearbeitet wird, soll zumindest in diesen beiden Ländern nicht schon in zwei Wochen „verbindlich“ werden. Es ist ein erster bescheidener Sieg der Vernunft in einer völlig überflüssigen Streitfrage, die ein Klüngel von zwölf Linguisten einer Sprach- und Schreibgemeinschaft von 100 Millionen Europäern eingebrockt hat. Auf dem Rücken der Schulkinder sollte eine neue Orthographie gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung durchgeboxt werden. Nichts daran ist schlüssig, nichts einfacher oder auch nur funktionaler als die bewährte Rechtschreibung. Das vor hundert Jahren schwer errungene Gut einer einheitlichen deutschen Schriftsprache wurde gegen jeden Sinn und Verstand zerstört. Jetzt bringen die beiden Länder die anderen Bundesländer in Zugzwang – auch Berlin, wo ein Bürgerentscheid zu diesem Thema nur knapp gescheitert war. Hätte nicht gerade unsere Stadt, die bei Pisa auf den hintersten Rängen rangiert, allen Anlaß, ihren Schulkindern das Erlernen falscher, überflüssiger und schädlicher Regeln zu ersparen und sich am Spitzenreiter Bayern zu orientieren? Indirekt hat die jüngste Pisastudie ja gezeigt, daß die neuen Schreibweisen keinerlei Erleichterung bringen. Schreibtests in Leipzig haben im Gegenteil erwiesen: Die Rechtschreibsicherheit bei der Schreibung mit „ß“ nach langem Vokal hat von 53 auf 35 Prozent abgenommen, bei der Schreibung mit einfachem „s“ in kurz gesprochener Silbe von 90 auf 61 Prozent. Niemand kann bei sachlicher Betrachtung verantworten, daß solche Verwirregeln im wörtlichen Sinne „Schule“ machen. Ob sich die 36 Mitglieder des Rechtschreibrats überhaupt auf neue Schreibweisen einigen können, steht daher noch völlig dahin. Der mutige, längst fällige Beschluß von Bayern und Nordrhein-Westfalen könnte deshalb durchaus den Einstieg in den Ausstieg bedeuten. Für die Sprach- und Schriftkultur wäre es ein Segen. Siehe auch den Leitartikel des gleichen Verfassers in der Welt vom 18. Juli. Quelle: Berliner Morgenpost Link: http://morgenpost.berlin1.de/content/2005/07/17/politik/767092.html
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