Theodor Ickler
Reform mit drei ‚F‘
Über die Folgen der neuen deutschen Rechtschreibregeln
Vortrag vom 1. Januar 2005, SWR2
Die deutsche Orthographie ist nicht dem Kopf eines einzelnen Schrift-Erfinders entsprungen, sondern hat sich auf der Grundlage der lateinischen Schrift über Jahrhunderte zu dem entwickelt, was sie bis 1996 war und in seriösen Texten auch heute noch ist. Für keinen einzigen Zug des herkömmlichen Schreibbrauchs läßt sich ein bestimmter Urheber nennen. Die Schreibnorm, wenn man darunter das Normale und zugleich Vorbildliche und Verbindliche versteht, ist also, wie die Sprache selbst, ein Werk der „unsichtbaren Hand“ - Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Planens.
In solche selbstregulierenden Systeme ist gewöhnlich eine tiefere Weisheit eingebaut, die kein einzelner so leicht hätte finden können. Wie der Preis einer Ware und damit die Kenntnis der Knappheitsverhältnisse sich im täglichen Marktgeschehen herausbilden, als ein verteiltes Wissen, das keiner einzelnen Planungsbehörde zur Verfügung steht, so nimmt auch die Sprache im täglichen Gebrauch Züge an, die man zwar erforschen, aber nicht wesentlich verbessern kann. Der Lehrer Friedrich Roemheld, der sehr viel von Rechtschreibung verstand, rief daher schon vor dreißig Jahren aus: „Wann hätte je eine amtliche, halb- oder dreiviertelamtliche orthographische Konferenz etwas Vernünftiges zuwege gebracht!“
Ein prophetisches Wort, das unsere Kultusminister leider überhört haben und auch heute nicht beherzigen wollen, wie die Gründung eines „Rates für deutsche Rechtschreibung“ beweist. Das wird übrigens schon das vierte Gremium sein, das sich mit derselben Sache beschäftigt, und zwar immer in sehr ähnlicher Besetzung, die eher wirtschaftliche Interessen widerspiegelt als sachliche Zuständigkeit.
Indem man seine Worte so oder so wählt, so oder so aufschreibt, schließt man sich notwendigerweise an die Tradition des Sprechens und Schreibens an. Man spricht und schreibt also wie die anderen, hat aber gleichzeitig einen gewissen Spielraum, weil die überlieferte Norm immer etwas unbestimmt bleibt. So stellt sich ein dynamisches Gleichgewicht von Stabilität und Wandel her. Das Neue erscheint den Sprachgenossen zunächst als falsch und wird von der Sprachkritik in wohlfeilen Glossen aufgespießt: „Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen.“ Und dann die „falsche Wortstellung nach weil“! Und: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“! - Eine unbedarfte Besserwisserei, die sich gut verkauft, weil jeder das Gefühl haben kann: Gott sei Dank, ich bin nicht so! Wir werden sehen, daß die Rechtschreibreformer dieselbe Art von Besserwisserei mit staatlicher Hilfe in die Tat umgesetzt haben, und diese unbelehrte Zwangsbewirtschaftung der Sprache ist der tiefste Grund des gegenwärtigen Durcheinanders.
Doch sehen wir uns erst einmal an, welche Qualitäten unsere bewährte Rechtschreibung bis zur Reform hatte und hoffentlich bald wieder haben wird! Schon die Kombination und Abfolge der Zeichen kommt Forderungen der Schreibökonomie entgegen. So werden aus historischen Gründen manche Sprachlaute mit zwei oder sogar drei Buchstaben abgebildet, der ach- und ich-Laut durch ch, der ing-Laut durch ng, der breite Zischlaut durch sch. Ein Notbehelf, gewiß, aber diese Buchstabenverbindungen werden immerhin nicht verdoppelt, wo einfache Konsonantenbuchstaben doppelt auftreten, also in lachen, Wange, Asche gegenüber Latte, Wanne, Assel. Schriebe man die Asche wie die Waschschüssel, stünden sechs Buchstaben für einen einzigen Laut, und das wäre für ein einfaches Wort nun wirklich des Guten zuviel.
Ebenfalls zur Vermeidung von graphischer Überlänge schreiben wir spitz und stark mit sp und st, nicht mit schp und scht. Die Aussprache ist trotz dieser Einsparungen vollkommen eindeutig, weil es im Standarddeutschen (im Gegensatz zum Norddeutschen) eben gar keine anlautende Konsonantenverbindung [sp] oder [st] gibt, also keinen s-pitzen S-tein. Diese Feinheit hat sich niemand ausgedacht, sie hat sich einfach so ergeben.
Im heutigen Deutschen gibt es keine langen Konsonanten mehr. Die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben wie in Mutter, Flamme, Zucker – wo das ck für kk steht – ist umfunktioniert worden und gibt jetzt sehr angemessen die Tatsache wieder, daß der Konsonant nach einem kurzen Vokal zu zwei Silben gleichzeitig gehört; man spricht hier anschaulich von einem „Silbengelenk“. Wir trennen daher Mut-ter, Flam-me und natürlich auch Zuk-ker mit Wiederauflösung der Ligatur ck in kk.
Noch erstaunlicher ist ein Zug, an den man sich im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform hätte erinnern sollen. Während die Neuschreibung Känguru ohne h wegen der Exotik des bezeichneten Tieres die meisten Leute nicht aufregen konnte, war das bei dem Wort rau anders: es sieht ohne h am Ende einfach schlecht aus. Natürlich konnte der Sprachkenner sogleich darauf verweisen, daß dieses Wort mit dem Rauchwerk und den Rauchwaren - im Sinne von „Pelzwerk“ - zusammenhängt, auch wenn diese Wörter wegen des Gleichklangs mit den später aufgekommenen Erzeugnissen der Tabakindustrie oft vermieden werden und allmählich außer Gebrauch geraten. Immerhin, wer glaubt, die Schreibweise von behende oder Gemse wegen ihres Ursprungs und sogar die von Quentchen, einbleuen oder belemmert wegen eines nur vermeinten, in Wirklichkeit falschen etymologischen Zusammenhangs ändern zu müssen, dürfte wohl auch dem Adjektiv rauh sein etymologisch vollkommen berechtigtes h lassen, zumal es in der Kürschnerei und in südlichen Mundarten durchaus noch gesprochen wird: rauch, ruuch. Aber der sprachgeschichtliche Zusammenhang ist nicht der einzige, der uns die amputierte Form verleidet. Vielmehr hat Friedrich Roemheld schon vor langer Zeit gezeigt, daß in vielen deutschen Wörtern, ob etymologisch begründet oder nicht, ein h vorkommt, um den graphischen Wortkörper durch eine zusätzliche Oberlänge gleichsam optisch aufzuwerten. Dieses von ihm so genannte „Blickfang-h“ wird aber nur in sinntragenden Wörtern gesetzt wie roh und zäh und eben auch rauh. Funktionswörter wie zu, so, er, sie und viele andere begnügen sich meistens damit, das Mittelband der dreistufigen Schreibspur zu besetzen. Die von der Reform verfochtene „Analogie“ zwischen rau einerseits, blau, schlau und genau andererseits existiert also in Wirklichkeit gar nicht, auch wenn man von der Wortherkunft einmal absieht; denn alle anderen Wörter haben Ober- oder Unterlängen, nur das reformierte und amputierte rau nicht. Daher der schlechte Eindruck.
Ober- und Unterlängen der Kleinbuchstaben werden außerdem zur bildhaften Kennzeichnung von solchen Lauten verwendet, die den Luftstrom unterbrechen. Vergleichen Sie die Wiedergabe der Dauerlaute m, n, r, s, v, w sowie der Vokale a, e, i, o, u, ä, ö und ü einerseits mit der Wiedergabe der Verschlußlaute b, d, g, p, t, k und q andererseits. Es gibt nur wenige Ausreißer, f, h, j und l, von denen aber zwei eine besondere Geschichte haben, das schon besprochene h und das j als verlängertes i. Die Kombination qu - gesprochen kw wie in quer - macht die Abfolge von Verschluß- und Dauerlaut besonders sinnfällig. Mit weit überzufälliger Häufigkeit lehrt also die Gestalt der Buchstaben: Wo es im dreigeteilten Schriftband „hakelt“, gibt es ein entsprechendes Hindernis für den Luftstrom im Artikulationskanal. Diese Feinheit ist intuitiv wohl schon immer gespürt und genutzt, aber von der Wissenschaft erst spät erkannt worden.
All diese Beispiele zeigen die Wirksamkeit der Intuition: Aber auch deren Grenzen sind lehrreich.
Interessanterweise erstreckt sich die Intuition nicht auf die Anordnung der Buchstaben im Alphabet. Das Alphabet oder ABC enthält bereits in seinem Namen einen Hinweis auf die Zufallsreihenfolge der Buchstaben: eine buntere Mischung von Vokal- und Konsonantenbuchstaben ist kaum vorstellbar. Sie ist uns seit altsemitischen Zeiten praktisch unverändert überliefert. Für das Funktionieren der Sprache ist es offenbar ganz gleichgültig, in welcher Reihenfolge man das ohnehin auswendig zu lernende Alphabet aufsagt - und ob es überhaupt ein Alphabet aufzusagen gibt. Nur die alten Inder haben es geschafft, die Reihenfolge der Buchstaben von Grund auf zu ändern und zu systematisieren: erst die Kurzvokale, dann die Langvokale, dann die Konsonanten geordnet nach Artikulationsstelle und -art. Eine vergleichbare Souveränität im Umgang mit dem Überlieferten hat es bis in die Neuzeit nirgendwo sonst gegeben, weil es eben keine Sprachwissenschaft gab, sondern nur eine ausgedehnte Schreib- und Lesepraxis.
Nun sind wir bereits in Besonderheiten der Gestalt von Buchstaben und ihrer Abfolge vertieft, ohne uns die viel grundlegendere Frage gestellt zu haben, was die Alphabetschrift als solche an Erkenntnissen über die Sprachstruktur verrät. Naive Sprachteilhaber glauben ja, daß unsere Schrift im wesentlichen wiedergibt, was man hört. Daher die Aufforderung: „Schreib, wie du sprichst!“ Im Fremdsprachenunterricht lernen heute fast alle Kinder, daß es eine phonetische Umschrift gibt, die dem Gehörten viel näher kommt und in Wörterbüchern gute Dienste leistet. Erst im Fachstudium erfährt der angehende Sprachwissenschaftler, daß auch die phonetische Umschrift hochgradig abstrahierend verfährt und daß sich mit technischen Hilfsmitteln ein Lautspektrum aufzeichnen läßt, das vielfältige Überlappungen zeigt und uns dazu bringt, an der Abgrenzbarkeit der Einzellaute überhaupt zu zweifeln. Gibt es denn die „Laute“ überhaupt, aus denen die Silben und Wörter zu bestehen scheinen? Schon Rudolf Meringer wies vor über hundert Jahren darauf hin, daß Versprecher niemals in der Weise vorkommen, daß etwa kom und mok vertauscht würden, wie es doch zu erwarten wäre, wenn es die drei Sprachlaute wirklich gäbe. Man hat daher gesagt: Die Sprachlaute, die sogenannten Phoneme, gibt es gar nicht wirklich, man kann aber den Lautstrom in jeder Sprache so gliedern, daß die Wörter in einer Alphabetschrift eindeutig abgebildet werden können. So könnte man im Deutschen das Gehörte zwar wesentlich genauer als mit den 30 Buchstaben wiedergeben, doch brächte diese streng phonetische Schreibweise keinerlei Gewinn an Unterscheidbarkeit mehr. Nur für deutschlernende Ausländer wäre sie nützlich. Die würden zum Beispiel sofort erkennen, daß der ach- und der ich-Laut verschieden gesprochen werden; der Deutsche braucht das nicht zu lernen, es ergibt sich von selbst. Es wäre demnach die Buchstabenschrift gewesen, die uns überhaupt erst zum Begriff des Sprachlautes oder Phonems geführt und beinahe genötigt hat.
Die phonologische Schreibweise ist bekanntlich der Grund, warum die Auslautverhärtung im Neuhochdeutschen nicht mehr geschrieben wird. Im Mittelhochdeutschen wurde sie noch schriftlich festgehalten: man schrieb kindes und kindelîn mit d, aber kint mit t. Der Wandel wirkte sich auf die Hörgewohnheiten aus. Manche deutschen Muttersprachler wollen es einfach nicht glauben, wenn man ihnen erklärt, daß sie die vom Schriftbild suggerierten „Laute“, also die stimmhaften Konsonanten am Silbenende, weder sprechen noch hören.
Werfen wir noch einen Blick auf den Anlaut der Wörter! Oder vielmehr: hören wir einmal genau hin! Im Standarddeutschen beginnen deutsche Wörter nicht mit Vokalen, wie man aufgrund der Schrift vielleicht meinen könnte, sondern es ist stets der Knacklaut, der sogenannte Glottisschlag, vorangestellt, ein Konsonant, der durch plötzliches Aufsprengen der Stimmlippen entsteht. Vergleichen Sie verreisen und vereisen. Kinder hören diesen Laut sehr deutlich. Eine meiner Töchter übte sich, als sie drei Jahre alt war, im Schreiben; sie fragte mich, wie man „e“ schreibe, und machte den Murmelvokal vor, und sie erhielt die Auskunft: „mit E“, weil ich an den unbetonten Vokal wie in Sonne dachte. Das Mädchen legte mir nach einer Weile die Buchstabenkette EUA zum Lesen vor. Sie erwies sich als sehr genaue phonetische Wiedergabe des Wortes, das wir Erwachsenen UHR schreiben. Es ist, in privater Umschrift, alles da: der Knacklaut, der Vokal und das r des Auslautes, das wir ja meist vokalisiert aussprechen - ich jedenfalls. Daß unsere Schrift nicht phonetisch, sondern phonologisch verfährt und damit eine abstrakte Struktur der Sprache aufdeckt, muß jedes deutsche Kind erst mühsam nachvollziehen.
Die Umlautbuchstaben ä, ö und ü sind eine Besonderheit des Deutschen. Hält man Wörter wie kalt und kälter, Haus und Häuser nebeneinander, so erkennt man, daß die Umlautschreibung noch den Durchblick auf die Grundformen und damit auf den Bedeutungszusammenhang erlaubt. Eigentlich wird das kurze offene ä ja mit dem Buchstaben e wiedergegeben, wie es auch im Mittelhochdeutschen der Fall war. Die moderne Schreibweise ist raffinierter, aber sie wird nur dort eingesetzt, wo der Zusammenhang noch einsehbar ist. Wer denkt beim Stengel an Stange, beim Spengler an Spange, beim Kentern an Kante oder gar bei den Eltern an alt? Die Reformer haben hier ganz willkürlich einige wenige Verwandtschaften wieder sichtbar machen wollen, besonders albern beim Stendel (oder Stendelwurz), einer Orchidee, die in der mittelalterlichen Volksmedizin als potenzsteigerndes Mittel galt und daher neuerdings mit ä geschrieben werden soll wie Ständer.
Die Verwendung der Großbuchstaben am Anfang von Wörtern wird gewöhnlich als Auszeichnung einer Wortart verstanden. Man spricht daher von „Substantivgroßschreibung“. Hier setzt auch die Kritik an: Sind Hauptwörter wirklich so wichtig? Aber die Voraussetzung versteht sich keineswegs von selbst und war auch nie ganz richtig. Am Anfang stand die Auszeichnung von Eigennamen und heiligen Wörtern: Gott, der HErr usw. - mit einem oder auch zwei großen Buchstaben am Anfang. Zu Luthers Zeit schälte sich die Einschränkung der großen Anfangsbuchstaben auf die Substantive heraus. Wirklich stabil war diese „Substantivgroßschreibung“ jedoch erst im 18. Jahrhundert geworden und wurde von Grammatikern dann auch als solche formuliert.
Die Rechtschreibreformer unserer Tage starrten jahrzehntelang wie gebannt auf die vermeintliche „Substantivgroßschreibung“ und sahen in deren Abschaffung ihr Hauptziel. Die Großschreibung wurde als „deutscher Sonderweg“ gegeißelt. Der erfolgreichste Vermarkter der Rechtschreibreform nennt sie „atavistisch“. Die Kleinschreibung wurde als Mittel empfohlen, die Benachteiligung von „unterprivilegierten“ Kindern aufzuheben, ja die ganze Gesellschaft demokratischer und gerechter zu machen. In linken, kulturrevolutionär gestimmten Kreisen, etwa bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, schrieb man einige Jahre lang alles klein. Davon ist nichts geblieben - die Leser wollten es nicht.
Es hätte den Kleinschreibungsenthusiasten auffallen müssen, daß die Sprachgemeinschaft längst dazu übergegangen war, die angebliche Substantivgroßschreibung von zwei Seiten her aufzuweichen.
Einerseits werden viele Substantivierungen klein geschrieben, wenn der Ausdruck den Wert einer Umstandsangabe oder eines Pronomens hat: nicht im geringsten, im allgemeinen, des öfteren; der einzelne, letzterer. Der Versuch von Schulmännern des neunzehnten Jahrhunderts, hier die Großschreibung durchzusetzen, damit die Kinder mit der Artikelprobe zum Erfolg gelangen, scheiterte an der besseren Einsicht der Schreibenden. Erst die Reformer unserer Zeit, eigentlich überzeugte Kleinschreiber, überließen sich nach dem Scheitern ihrer Lieblingsidee einem wahren Rausch des Großschreibens: aufs Schönste, des Öfteren, bei Weitem, vor Kurzem - alles mit großem Anfangsbuchstaben.
Auf der anderen Seite neigt die Sprachgemeinschaft dazu, eine immer größere Zahl von sogenannten „festen Begriffen“ groß zu schreiben, auch wenn sie mit einem Eigenschaftswort anfangen: die Erste Hilfe, die Rote Taubnessel, der Schnelle Brüter, und zwar weit über das laut Duden Zulässige hinaus. Gibt es vielleicht einen gemeinsamen Nenner für diese beiden Abweichungen von der „Substantivgroßschreibung“? Ich sehe ihn darin, daß der große Anfangsbuchstabe jeweils diejenigen Gegenstände fürs Auge hervorhebt, von denen in einem Text die Rede ist, während das grammatische Beiwerk durch Kleinschreibung im Hintergrund gehalten wird. Nicht weil Substantive als Wortart auszuzeichnen wären, sondern weil sie tatsächlich die Redegegenstände bezeichnen, schreibt man sie mit großem Anfangsbuchstaben - am eindeutigsten natürlich die Eigennamen, die daher ausnahmslos groß geschrieben werden. Diese textsemantische Erfindung hat ihren Grund im schnellen Lesen, wie es in der Neuzeit üblich geworden ist.
Die Probe aufs Exempel läßt sich mit jedem beliebigen Text machen. Ich lese Ihnen einen kurzen Zeitungstext vor, aber nur die klein geschriebenen Wörter:
der und spielen eine beim von und diesem ist eine des gekommen wie und erhöhten während der das eines um das das eines um das halten es für möglich dass die eine verursachten.
Haben Sie verstanden, worum es in diesem Text geht? Und nun hören Sie denselben Text noch einmal, aber nur die groß geschriebenen Wörter:
[Verbreitete Infektionen Atem- Harnwege Rolle Auslösen Herzanfällen Schlaganfällen [Zu Ergebnis Studie University College London [Infektionen Bronchitis Lungenentzündung Blasenentzündung Krankheitsdauer Risiko Herzanfalls Fünffache Schlaganfalls Dreifache [Die Forscher Infektionen Entzündung.
Man erkennt, daß die Fassung mit den groß geschriebenen Wörtern wesentlich informativer ist als die andere, obwohl sie weniger Wörter umfaßt. Auch die Aufzeichnung der Augenbewegung beim Lesen deutscher Texte zeigt, daß die bekannten Sprünge oder „Sakkaden“ des Auges von einem groß geschriebenen Wort zum nächsten gehen. Diese Wörter sind die Haltepunkte für das Auge, an den klein geschriebenen Funktionswörtern hält es nur selten inne. Experimentell ist nachgewiesen, daß selbst Leser, die von ihrer Muttersprache her nur die Kleinschreibung kennen, nach kurzer Eingewöhnung einen Vorteil von der Großschreibung nach deutschem Muster genießen. Selbst wenn die Beschleunigung nur zwei Prozent ausmacht, würde dies immerhin bedeuten, daß ein Mensch nach fünfzig Jahren Lektüre ein ganzes Lesejahr gewonnen hat ...
Statt sich über die Gründe dieser neu motivierten Groß- und Kleinschreibungen Gedanken zu machen, faßten die Reformer sie als unwillkommene „Ausnahmen“ von der unterstellten Grundregel auf und suchten sie zu beseitigen: die erste Hilfe, das schwarze Brett sollen jetzt klein geschrieben werden. Die jüngste Revision vom Juni 2004 nimmt allerdings einen Teil der Verirrung wieder zurück. Weitere Rückbaumaßnahmen sind vom neuen Rat für deutsche Rechtschreibung zu erwarten, wenn er seine Aufgabe ernst nimmt. Insgesamt ist die neugeregelte Groß- und Kleinschreibung ein beschämender Rückschritt gewesen, den man am Ende des 20. Jahrhunderts nicht für möglich gehalten hätte.
Wörter werden zusammengeschrieben, Wortgruppen getrennt. Das ist die dogmatische Vorgabe, an der auch die Rechtschreibreformer nicht zweifeln, die sie vielmehr in ihrem Regelwerk ausdrücklich bekräftigen und mehreren Einzelvorschriften zugrundelegen. Aber diese Regel ist, wie alle orthographischen Regeln, nicht die Schreibwirklichkeit, sondern die Theorie dazu, und Theorien müssen nicht richtig sein - wir haben es bereits bei der „Substantivgroßschreibung“ gesehen.
Zusammensetzungen sind Wörter und werden zusammengeschrieben, das stimmt. Aber das Umgekehrte gilt offenbar nicht. Zusammengeschrieben werden auch Wortgruppen. Der Hohepriester, das Hohelied, die Langeweile, die Muttergottes sind grammatisch gesehen Wortgruppen, werden aber orthographisch wie Wörter behandelt. Ungleich bedeutender und auch umstrittener sind die Verbzusatzkonstruktionen oder „trennbaren Verben“: aufsteigen, auseinanderlaufen, abwärtsgehen, auch stillhalten, heiligsprechen, verlorengehen, kennenlernen. Von der Zusammenschreibung verführt, haben viele Grammatiker diese Gebilde als einen sonderbaren Typ von Zusammensetzungen angesehen und damit zur Wortbildung gerechnet. Viele Komplexe, die man heute zusammenschreibt, wurden noch weit über das 19. Jahrhundert hinaus oft getrennt geschrieben. Die Reformer wollen auch hier das Rad der Entwicklung zurückdrehen und der Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenwirken“. Damit verwischen sie ganz wesentliche Unterschiede, die man übrigens auch sehr gut hören kann. Geschwister, die aneinander hängen, haben einander sehr lieb: wenn sie aber aneinanderhängen, sind es siamesische Zwillinge und müssen operiert werden. Erich Kästner schrieb einmal: Doch die Wirtin brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln nicht zustande. Das Wortspiel ist in Reformschreibung gar nicht mehr nachvollziehbar. Ein mies gemachtes Buch ist wirklich mies, ein miesgemachtes nicht unbedingt. Alle diese Unterschiede sollten durch die erzwungene Getrenntschreibung der Rechtschreibreformer beseitigt werden; von Betonungsunterschieden wollten sie gar nichts wissen. Auch dies wird sich nicht halten lassen, der Rückbau ist schon im Gange. Aber man fragt sich doch, wie es möglich war, die Intuitionen der Sprachgemeinschaft derart mit Füßen zu treten.
Die Silbentrennung gehört noch deutlicher als die Zeichensetzung zum rein Technischen der Schrift; man kann schließlich schreiben, ohne je zu trennen. Trotzdem ist auch dieser Bereich nicht ohne Feinheiten. Auf die Trennung nach Silbengelenken habe ich schon hingewiesen. Anders als im Englischen zeichnet die schriftliche Worttrennung genau die phonetische Gliederung nach. Einzelne Anfangsbuchstaben trennte man bisher aus guten Gründen nicht ab, weil sie den Leser am Ende einer Zeile immer ziemlich frustriert zurücklassen. Die Reform erlaubt jedoch alla-bendlich, beo-bachten, dreie-ckig und ähnliche Mißgestalten. Ein reformiertes Schulbuch lehrt zunächst die alte Regel:
Aber, Atem, Eber, eben, Osten: Buchstaben so ganz allein, liebes Kind, das darf nicht sein.
Dann wird die famose neue Regel angepriesen:
A-ber, E-ber, e-ben, O-fen, U-fer: Vokale stehen auch allein, das finden sie besonders fein.
Es sieht aber gar nicht besonders fein aus, sondern eher scheußlich. Nicht einmal die Reformer selber trennen so, wie sie es den armen Schülern anheimstellen.
Zusammensetzungen werden natürlich an ihren anatomischen Fugen getrennt, und zwar auch dann, wenn die Bestandteile aus fremden Sprachen stammen. Hier nun hat die Rechtschreibreform aus ganz menschenfreundlichen Motiven eingegriffen und auch die Trennung nach Sprechsilben zugelassen. Man „darf“ also jetzt trennen Res-pekt, Pros-pekt, Inte-resse usw. Dabei wird aber erstens übersehen, daß die lateinischen und griechischen Bestandteile längst zu Bausteinen der deutschen Sprache geworden sind. Wir bilden ständig neue Wörter damit, auch solche, die es im Altertum noch gar nicht gab: Biomüll, interkulturell und tausend andere. Wenn wir Monarchie und Hierarchie nach Metzgerart trennen, wie es die Reform erlaubt (Mo-narchie, Hie-rachie), bleiben die sinnlosen Stücke Narchie und Rarchie zurück, mit denen wir nichts anfangen können. Und damit kommt es nun, zweitens, zur unangenehmsten Folge der neuen Silbentrennung: Diese Trennungen werden immer als Trennungen zweiter Klasse angesehen werden, mit denen man sich als Dummkopf outet - mag es nun „erlaubt“ sein oder nicht. Ein gebildeter Mensch wird niemals O-blate trennen, auch wenn das Wörterbuch es „zuläßt“. Ganz anders als die Reformer wollten, zeigt sich der Bildungsgrad nun erst recht in der Schreibweise. Schulunterricht und Wörterbücher sollten dem nicht Vorschub leisten.
In einer Zentralverwaltungswirtschaft fehlt es erfahrungsgemäß an allen Ecken und Enden, die Versorgung klappt einfach nicht. Stopft man hier ein Loch, reißt dort ein neues auf. So war es auch mit der Rechtschreibreform. Man führt die Dreibuchstabenregel ein, wonach in Zusammensetzungen wie Stofffetzen alle drei f erhalten bleiben. Zusammen mit der neuen s-Schreibung ergeben sich zahlreiche unschöne Wörter wie genusssüchtig - mit drei s. Um sie optisch zu entzerren, wird ein Bindestrich empfohlen: genuss-süchtig. Dann taucht aber sofort ein neues Problem auf: Muß der Genuss dann nicht groß geschrieben werden? Eigentlich schon, sagen die Reformer, und deshalb sollte man lieber auf den Bindestrich verzichten. Lauter Probleme, die man vor dem Eingriff gar nicht kannte.
Bei dem Deutschdidaktiker Bernhard Weisgerber läßt sich der kulturrevolutionäre Geist der Rechtschreibreformer klar erkennen. Für den seltenen Fall, daß ein Schüler das Wort Eltern mit Ä geschrieben hat, schlägt er folgende Ansprache des Lehrers vor:
„'Du hast Eltern mit Ä geschrieben. Sicher hast du gedacht: Das sind die Älteren, Eltern gehört also zu alt. Und damit hast du recht. Aber nach der heute geltenden Rechtschreibregelung wird das Wort Eltern mit E geschrieben. Wenn du in unserer Gesellschaft Ärger vermeiden willst, mußt du dich zunächst an diese Regelung halten. Wenn aber viele Leute darüber nachdenken wie du, wird die Schreibung vielleicht später einmal geändert.'“
Bezeichnend ist, daß - und wie - dem Schüler recht gegeben wird. Er hat sogar das höhere Recht für sich, die Erwachsenen können bloß die dumpfe Gewohnheit und die schiere Macht für sich in Anspruch nehmen. Eines Tages, wenn sie „nachdenken“, werden sie sich bekehren, und die Letzten werden dann die Ersten sein. Einstweilen müssen sich die jungen Leute fügen, dürfen sozusagen die Faust nur in der Hosentasche ballen, um „Ärger zu vermeiden“. Manche Reformbetreiber haben ihre Befriedigung darüber zum Ausdruck gebracht, daß nun die Kinder die Erwachsenen „korrigieren“ werden. Hierher gehört auch die Abschaffung der Höflichkeitsgroßschreibung.
Die bekannten Stolpersteine der deutschen Rechtschreibung sind durch die Reform nicht beseitigt worden. Einige Jahre zuvor hatte ein durchaus reformfreudiger Deutschdidaktiker eine Liste der 50 häufigsten Rechtschreibfehler veröffentlicht. Kein einziger davon wird von der Rechtschreibreform berührt. Ein anderer Forscher stellte fest, daß die Schüler in 3.000 Diktaten das Wort Sonnenblumenkernen (Dativ Plural) auf 236 verschiedene Weisen geschrieben hatten. Keine Rechtschreibreform kann daran etwas ändern. Die jetzige Reform geht an den wirklichen Problemen der Schüler schlicht vorbei. Sie hat aber neue Problemfälle in ungeahnter Zahl geschaffen. Noch heute wissen die reformierten Wörterbücher nicht zu sagen, wie man wohlbekannt oder die Langeweile denn nun schreiben soll. Ein bekannter Schulbuchverfasser rät den Schülern, die schwierigen Wörter ganz zu meiden und lieber etwas anderes zu schreiben, als sie eigentlich schreiben wollten. Alle reformierten Texte, Schulbücher, Kinderbücher, Zeitungen wimmeln von Fehlern, die man bis zur Reform überhaupt nicht kannte. Die Einheitlichkeit der Schreibweise ist auf lange Zeit zerstört. Die Reformer erfinden jedes Jahr neue Varianten, nur um nicht zugeben zu müssen, daß ihr Unternehmen in der Sackgasse steckt. Und diese Varianten werden als neue „Freiheiten“ für die Schreibenden angepriesen, während man sie zuvor als „Zonen der Unsicherheit“ angeprangert und als Argument für eine angeblich dringend nötige Reform ins Feld geführt hatte.
Die wirkliche Entwicklung unserer Orthographie fand im Zeichen des Lesens statt. Das Ergebnis war eine der leserfreundlichsten Rechtschreibungen der Welt. Den Leser interessiert die Bedeutung des Geschriebenen, nichts anderes. Aber ausgerechnet von der Bedeutung wollten die Reformer nichts wissen, es war einer ihrer Grundsätze (ich zitiere:) „die Schreibung vom Transport semantischer Informationen zu entlasten“ Der Schritt in die Sinn-Losigkeit war also kein Betriebsunfall, sondern Absicht.
Wie verkehrt die Reformer ihre Sache angepackt haben, läßt sich über die Jahre hin genau verfolgen. Die Buchstabenschrift findet nach ihren Vorstellungen ihre Erfüllung in der Eins-zu-eins-Abbildung der Laute. Aber dieses Stadium hat die deutsche Schreibweise schon vor Jahrhunderten überwunden. Nach Gehör schreiben zu können, ist das Ideal von Dienstleistern, die fremde Texte nach Diktat schreiben und dabei Wörter zu Papier bringen müssen, die sie nicht verstehen und selbst nicht gebrauchen würden. Für solche bloßen Schreibkräfte ist die Orthographie aber nicht gemacht. Deshalb ist die Rechtschreibreform schon von der Wurzel her naiv und unkultiviert.
Ist diese folgenreiche Zwangsbewirtschaftung der deutschen Sprache überhaupt noch rückgängig zu machen? Die Reformbetreiber behaupten, das sei mit Rücksicht auf die Schüler nicht mehr möglich. In Wirklichkeit haben die Schüler von der Reform fast nichts übernommen. Der gesamte Rechtschreibwortschatz der vierjährigen Grundschule umfaßt nur 24 geänderte Wörter - alle wegen des Doppel-s. Was die Schüler wirklich belastet, ist die Unzahl der reformierten und damit verdorbenen Texte, mit denen sie es täglich zu tun haben und die ihre sprachliche Intuition, vor allem das Gefühl für Wortarten, aber auch all die anderen Feinheiten, die ich genannt habe, von Grund auf zerrütten. Hier muß dringend ein Schlußstrich gezogen werden - aber bitte mit scharfem s, denn „ss am Schluß bringt Verdruß“. So einfach ist das.
* Zum Autor:
Theodor Ickler, geb. 1944, Studium der Germanistik, Klassische Philologie, Philosophie und Indogermanistik in Marburg; 1970 Erstes Staatsexamen für das Lehramt, 1973 Promotion in Klassischer Philologie und Indogermanistik. 1979 Zweites Staatsexamen. 1985 Habilitation für Deutsch als Fremdsprache. Seit 1987 Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen.
Ickler gilt als einer der schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform.
Für sein Engagement erhielt er den deutschen Sprachpreis.
Bücher:
Die Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich.
Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform.
Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit.
Normale deutsche Rechtschreibung. Leibniz Verlag
Diesen Aufsatz drucken.
Beitrag verfaßt von Bernhard Eversberg am 14.03.2005 um 13:38 Uhr. |
Unbewiesene Behauptungen werden nirgends als Begründungen akzeptiert, wenn es um Reformen oder auch nur kleinere Änderungen geht. Der Rat hätte darauf zu dringen, daß eine Festschreibung der Reform nur aufgrund wissenschaftlich belegter, abgesicherter Begründungen erfolgt. Alles andere ist verantwortungslos.
Viel zu wenig berücksichtigt scheint mir auch der Aspekt, daß das Schreibenlernen hauptsächlich über das Lesen geht: die Wahrnehmung des immer gleichen verfestigt sich wie von selbst in der Erinnerung. Auf lange Sicht werden aber jetzt Schüler ständig mit Inkonsistenz konfrontiert, denn es ist unmöglich, Schüler nur reformierte Texte lesen zu lassen. Der Rat hätte zu fragen: Sind die Auswirkungen untersucht? Wenn nicht, muß das vor einer Festschreibung geschehen.
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