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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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19.06.2005
 

Nerius – die Gegenposition

Der Duden war gar kein Rechtschreibwörterbuch.
Das gibt uns jedenfalls der theoretische Kopf der Reformer, Dieter Nerius, zu verstehen:

„Ein weiteres Merkmal des Orthographiewörterbuchs besteht darin, daß es im Unterschied zu vielen anderen Wörterbuchtypen nicht primär auf der Exzerption von Texten, d. h. auf der Deskription eines im Sprachgebrauch gegebenen Zustandes beruht. Jedenfalls gilt das in Hinsicht auf seinen Hauptzweck: die Angabe der normgerechten Schreibung, nicht so sehr natürlich für die Auswahl des Wortmaterials. Vielmehr handelt es sich beim Orthographiewörterbuch in erster Linie um die Anwendung bestehender oder neu entwickelter orthographischer Regeln, also der Fixierungen von Normen, auf mehr oder weniger große Teile des Wortschatzes. Die Hauptaufgabe dieses Wörterbuches ist somit nicht die Deskription, sondern die Präskription, die Vorschrift, wie die in ihm enthaltenen Teile des Wortschatzes regelgerecht und damit richtig zu schreiben sind.“ (Nerius in HSK „Wörterbücher“, S. 1298)

Der Duden hat also seine Hauptaufgabe von Grund auf und vorsätzlich versäumt: Wortschreibungen aus Regeln abzuleiten, statt sie in populistischer Weise aus der Beobachtung des Gebrauchs zu entnehmen. Das hat sich aber nun ganz entscheidend gebessert, dank der aufgeklärten Mannschaft um Dr. Wermke.



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Kommentare zu »Nerius – die Gegenposition«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.12.2019 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#42572

Ich weiß nicht, ob ich es schon einmal erwähnt habe: Dieter Nerius hat seine gesamte wissenschaftliche Tätigkeit mit einem einzigen Thema bestritten: Orthographie, und da wieder besonders Groß- und Kleinschreibung, immer unter dem Aspekt einer anzustrebenden Reform. Wenn man aber nun erwartet, daß er aufgrund dieser einzigartigen Beschränkung besonders Fundiertes beizusteuern vermocht hätte, irrt man sich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.06.2005 um 12.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#574

Herr Beesk beschreibt den Sachverhalt genau und zutreffend. In meinen eigenen Arbeiten habe ich ebenfalls die beiden Quellen der Normativität hervorgehoben: Einerseits stammt sie aus dem Wunsch der Benutzer, auch die Beschreibung so zu lesen, als sei sie eine Vorschrift. Andererseits ist die Beschreibung durch externe Macht (Staat, Schulaufsicht) mit Autorität ausgestattet worden. Letzteres kann man ändern, ersteres nicht, wie auch Herr Beesk sagt.
Das hat also mit der deskriptiven Darstellung der Regelungsmaterie gar nichts zu tun. Entscheidend ist tatsächlich, daß bisher keine neuen und unerhörten oder gar grammatisch falschen Formen in den Duden eingeschleust wurden, auch wenn die Deskription in mancher Hinsicht zu wünschen übrig ließ. Es ist, wie auch Herr Jochems mehrmals bemerkt hat und sogar der verstorbene Dudenchef Drosdowski zugab: Man hat beim Duden, als es noch Zeit war, etwas versäumt. Andernfalls wäre uns diese Reform erspart geblieben. Mit Nerius und seinesgleichen kamen tatsächlich jene Eiferer zum Zuge, die man 1901 noch erfolgreich abgewehrt hatte, die also aus bestimmten Theorien und Ideologien lauter "nova et inaudita" ableiten und einführen wollen (wie man damals kritisch bemerkte).
 
 

Kommentar von Martin Beesk, verfaßt am 25.06.2005 um 11.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#573

Nerius' Auffassung liegt insofern falsch, als er Anspruch und Wirklichkeit verwechselt. Richtig ist, daß die Dudenredaktion von sich behauptet hat, die Rechtschreibung vom allgemeinen Sprachgebrauch her (gleichbedeutend mit "rein deskriptiv"?) zu erfassen. Er sprach und spricht deshalb auch im Regelteil gar nicht von "Regeln" sondern von "Richtlinien zur Rechtschreibung, Zeichensetzung und Formenlehre" (so im Duden, 20. Aufl., S. 17). (Allerdings nimmt er's nicht ganz so genau: In einer Zeichenerklärung, S. 9 unten, spricht er plötzlich von "Grundregeln"!) Aber dieser Anspruch, Rechtschreibentwicklung nur zu beobachten und aufzunehmen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß allein aus der Tatsache, daß der Duden nun mal ein Volkswörterbuch ist und deshalb immer wieder zurategezogen (!) gezogen wird und in Zweifelsfällen die letzte Instanz war, er auch präskriptiv wirkte! Sobald ein Sprachgebrauch beschrieben wird und diese Beschreibung zur allgemein anerkannten Richtlinie wird, wird die Sprachentwicklung maßgeblich durch dieses Werk bestimmt: und das heißt zwangsläufig, in bestimmten Bahnen gehalten und in ihrem freien Lauf gebremst. In Anlehnung an einen von P. Watzlawick formulierten kommunikationswissenschaftlichen Grundsatz: Wer Wörterbücher mit Erfolg veröffentlicht, kann nicht nicht präskriptiv sein!
Man muß sich nur einmal ausmalen, was dort passiert, wo Sprachentwicklung stattfindet (gerade auch unter den Bedingungen vor der "Reform"). Wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, ein Wort auf eine Weise schreibt, die nicht der Duden-Schreibung entspricht, so wird dieser (ja er muß sogar, z.B. in Verlagen, in den Behörden) darauf aufmerksam gemacht (werden), daß diese Schreibung nicht im Duden steht. Die Schreibung gilt damit als falsch. Daß sich trotzdem gelegentlich neue Schreibungen durchgesetzt haben und somit so etwas wie eine Sprachentwicklung auf Rechtschreibebene stattfand, lag also nicht ursächlich an einem präskriptionsfreien Umgang mit der Rechtschreibung vor der Reform oder an einem angeblich rein deskriptiven Duden, sondern geschah eben trotz Duden und einem präskriptiven Umgang mit Rechtschreibung.
(Die "Reform" hat an diesem Zustand natürlich nichts geändert. Der Unterschied zu früher ist nur der, daß jetzt nicht mehr das [präskriptiv] gilt, an das man gewohnt war, sondern, zum Teil willkürlich, vieles Neue vorgeschrieben wird.)
Daß der alte Duden kein rein deskriptives Wörterbuch war, lag darüberhinaus (!) natürlich erstens auch daran, daß er qua Gesetz die Rechtschreibhoheit innehatte (!), und zweitens, daß er letztlich selbst - im Vorwort nachzulesen - die Schreibung der Wörter immer an den "amtlichen Regeln [...], die seit der staatlichen Rechtschreibkonferenz von 1901 gelten, und die danach festgelegten Schreibweisen" vorgenommen hat. Die dort festgelegten Schreibungen konnte und wollte er also nicht ändern, selbst wenn in der natürlichen Sprachentwicklung sich neue Schreibungen durchsetzen würden.
Die Aufgabe, die also nach wie vor vor uns liegt, ist die Schaffung eines neuen Umgangs mit Rechtschreibung, der mehr auf die Eigenverantwortlichkeit des Schreibenden (im Fluß der Sprachentwicklung) zielt, als auf das Abnicken alter oder neuer Rechtschreibzustände (die Entwicklung bremsen oder ihr kontraproduktiv entgegenstehen)!
 
 

Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 23.06.2005 um 20.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#556

Der normgerechten Schreibung entspricht das Duden-Wort "Spannungsabfall" nicht, denn normgerecht ist nach VDE und DIN nur das Wort "Spannungsfall".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2005 um 16.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#499

Nerius hat auch zur Ausspracheerleichterung beigetragen. Er vertritt nämlich (wohl aus der Erfahrung seiner eigenen Aussprache) die Ansicht, in dem Wort "wesentlich" werden das t nicht ausgesprochen. Da es auch etymologisch unbegründet ist, fragt man sich, warum die Leute den Buchstaben eingeschoben haben.

"Wesenlicher" ist folgendes: Nerius' Ansicht, daß Rechtschreibnorm immer von außen gesetzt ist, wurde nicht nur vom damaligen Kultusminister Meyer (heute Präsident des ZK der Katholiken) in seiner unsäglichen Bundestagsrede vertreten, sondern auch "im Wesenlichen" vom Bundesverfassungsgericht übernommen, mit der bekannten Folge. Die Anwälte der KMK (Wieland, Löwer) waren nicht imstande, inhärente Normen (= Usus) von extern gesetzten zu unterscheiden.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 19.06.2005 um 22.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#485

Es gibt noch viel zu tun. Zum Beispiel waren die Angaben zur Aussprache womöglich auch nur aus dem tatsächlichen Sprachgebrauch abgeleitet statt idealerweise aus einem systematischen Regelwerk. Es sollte doch wohl möglich sein, die Beziehung zwischen bestimmten Buchstaben oder Buchstabenfolgen und der zugehörigen Aussprache von Amts wegen zu definieren. In dieser Weise müßten dann alle betroffenen Angaben zur Lautung in allen Wörterbüchern umgearbeitet werden, und die resultierende Aussprache - je nachdem, wie die Regeln formuliert werden - würde zur verpflichtenden Grundlage des Deutschunterrichts werden. Die Schule hat dann ab einem Stichtag eine Vorbildfunktion, und in staatlichen Behörden wird die neue Aussprache dann ebenfalls praktiziert. Nachbessern kann man immer, auch ist niemand außerhalb des staatlichen Regelungsbereichs verpflichtet, ihm ungewohnte Klänge einzuüben. Bei dieser Gelegenheit wäre es auch ein schönes Ziel, die Aussprache in diversen Territorien des deutschen Sprachgebiets noch besser in Einklang zu bringen; nicht zuletzt könnten wir alle langfristig gesehen den Ausländern als saubere Vorbilder dienen. Nachdem die Kultusminister den Kindern schon das Leben mit der Rechtschreibreform entscheidend erleichtert haben, ist überhaupt nicht einzusehen, daß ihnen nicht auch mit vereinfachten Ausspracheregeln geholfen werden soll.
 
 

Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 19.06.2005 um 19.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=148#482

Und ich (und viele Millionen andere) haben im Duden offensichtlich grob fahrlässigerweise meistens nur die Schreibweisen für verschiedene Wörter gesucht, statt sie uns aus dem Regelteil selbst herzuleiten (bzw. die Konsistenz der Schreibung mit den Regeln zu vergleichen). Da hat uns der Duden ja kräftig hinters Licht geführt!
 
 

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