zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Theodor Icklers Sprachtagebuch

Die neuesten Kommentare


Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag

Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben


13.02.2009
 

Niedriger hängen!
Neue Erkenntnisse?

„Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“

Neulich lobte Thomas Steinfeld ein (zumindest auf deutsch) neues Buch von Guy Deutscher über den grünen Klee: "Guy Deutscher erfindet die Sprachwissenschaft neu" (so der Titel der Rezension in der SZ vom 3.2.2009). Zugleich lobte er den deutschen Romanisten Jürgen Trabant, den allerdings kein anderer als Deutscher im September 2008 in die wohlverdiente Pfanne gehauen hatte – in derselben Süddeutschen Zeitung. Deutscher ist Semitist und hat eine wichtige Untersuchung über das Akkadische veröffentlicht, ein Buch, das wegen seiner Bedeutung für die Grammatikalisierungsforschung (besonders Entstehung der Hypotaxe) oft zitiert wird.
Deutschers neues Buch heißt "The unfolding of language" und ist 2005 in London und zugleich in den USA erschienen. Es ist ein allgemeinverständliches, auch wissenschaftlich gut fundiertes Werk, das man als Einführung in die Sprachwissenschaft jedermann empfehlen kann. Aber es enthält nichts Neues, von einer Neuerfindung der Sprachwissenschaft kann keine Rede sein. Nehmen Sie nur folgendes:
Deutscher meint, erst in den letzten Jahrzehnten sei man den Ursachen des Sprachwandels auf die Spur gekommen (61): economy, expressiveness, analogy. Das ist aber doch der eiserne Bestand der Junggrammatiker! Deutscher kennt und zitiert Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte". Da steht doch alles drin.

Heute lese ich in derselben Zeitung angeblich neue Erkenntnisse über die Bedeutung der Gesten und insbesondere des Zeigens beim Spracherwerb usw. Auch Susan Goldin-Meadow wird erwähnt. Nun, das ist alles seit Jahrzehnten bekannt, auch Goldin-Meadows Veröffentlichungen zum Thema haben sich seit zwanzig Jahren nur in winzigen Details verändert.
Aber manche schaffen es regelmäßig in die Medien. So auch das Leipziger MPI für vergleichende Anthropologie, dessen Veröffentlichungen ich seit langem aufmerksam verfolge, ohne irgend etwas aufregend Neues zu erkennen. Michael Tomasello schreibt gut lesbare Bücher und solide Aufsätze (wenn auch ziemlich wiederholungsreich), leider alles in traditionell mentalistischer Begrifflichkeit, was bei vergleichender Primatenforschung nachteilig wirkt. Die Öffentlichkeitsarbeit funktioniert noch besser als die Forschung.
Ganz schlimm treiben es aber die "Neurolinguisten", die uns ständig ihre bunten Bildchen – Artefakte der "bildgebenden Verfahren" – an die Wand projizieren und mit weitgehend unverstandenen sprachlichen Erscheinungen korrelieren. Skinner sprach nüchtern von "neural prestige". Na, und dann Manfred Spitzer mit seinen guten Ratschlägen, die er angeblich aus der "Hirnforschung" ableitet! Niedriger hängen geht aber auch nicht, dann bleiben die Mittel aus.



Diesen Beitrag drucken.

Kommentare zu »Niedriger hängen!«
Kommentar schreiben | neueste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Karl Hainbuch, verfaßt am 18.02.2009 um 15.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#13921

Immerhin traut sich Herr Spitzer, ein tabuisiertes Thema anzufassen: Die gewaltsame Verblödung unserer Kinder durch das Fernsehen, das jetzt schon die ganz Kleinen gezielt bewirbt. Wem "gewaltsame Verblödung" zu unfein erscheint, der schaue sich mal eine halbe Stunde "Ravensburger TV" an. Zum Beispiel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2009 um 18.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#13923

Ich teile Spitzers Ansichten weitgehend. Nur haben sie nichts mit seiner Hirnforschung zu tun (falls er sie wirklich betreibt; es wird ja angezweifelt).
Das Thema Verblödung durch Fernsehen ist auch nicht tabuisiert, die Bücher von Neil Postman oder Marie Winn haben sich gut verkauft. Wahr ist allerdings, daß ein Heer von Medienpädagogen, die wohl oft Auftragsforschung treiben oder auf andere Weise dem Gegenstand ihres Interesses verpflichtet sind, die Sache verharmlost.
 
 

Kommentar von Karl Hainbuch, verfaßt am 23.02.2009 um 08.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#13948

Nicht tabuisiert? Wie tief wird wohl der Eindruck sein, den ein, zwei populärwissenschaftliche Autoren hinterlassen? Gegen das Heer (genau!) der Medienpädagogen, vereinigt mit dem Heer der medialen Kinderschänder?

Jim Morrison: "Ghosts crowd the young child's fragile eggshell mind."

Wäre das Thema nicht wirksam tabuisiert, gäbe es Maßnahmen gegen diese Form der Mißhandlung kleinkindlicher Seelen – angesichts der auffälligen Symptome (Ritalin). Kürzlich gab es sogar Meldungen über Schlaganfall bei Kindern. Ist denn die Zeit endgültig vorüber, in der man bei gravierenden Problemen Gegenmaßnahmen ergriffen hat – anstatt "Projekte" zu zelebrieren?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2009 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#13949

Um Worte soll man nicht streiten, deshalb: ob tabuisiert oder nicht, das Thema "Macht Fernsehen dumm?" – oder so ähnlich – wird jedenfalls in den Medien oft genug behandelt, allerdings sind die Darlegungen oft oder sogar fast immer nicht objektiv, sondern dienen gewissen Interessen. Darauf können wir uns wohl einigen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.06.2009 um 07.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#14575

"Wie die moderne Hirnforschung zeigt, werden die Handlung prägenden Wertepräferenzen der Menschen bereits in den ersten zwei Lebensjahrzehnten ausgebildet." (SZ 2.6.09)

Orthographisch und inhaltlich derselbe Unsinn.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.09.2009 um 18.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#15010

Über eine weitere, dringend nötige Kritik an den bunten Bildchen der Computertomographie (fMRT) berichtet heute die Süddeutsche Zeitung:
http://www.sueddeutsche.de/wissen/256/488650/text/
Auch Michael Hagner von der ETH Zürich übt ja seit Jahren Kritik an der voreiligen Deutung dieser Bilder. Besonders schädlich sind die Spekulationen der sogenannten Neurolinguistik. Seit langem ist bekannt, daß solche Deutungen der weiland Phrenologie ähneln.
 
 

Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 25.09.2009 um 09.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#15011

Kleine Korrektur: Computertomographie ist nicht das gleiche wie Magnetresonanztomographie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.09.2009 um 10.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#15012

Danke für die Korrektur! Der Unterschied war mir schon klar, zumal ich eigene Erfahrungen damit habe, leider ... Ich dachte, ich könnte die CT als Oberbegriff stehenlassen, weil das Bild ja in jedem Fall errechnet werden muß, aber das ist sicher zu ungenau.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2009 um 17.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#15356

Zum Thema Neurobluff (und Manfred Spitzer) noch dies:

Gudula List: „Was wäre dem Gehirn denn 'fremd'? Gehirnforschung und Fremdsprachenlernen“ (InfoDaF 5/32, Oktober 2005:411-424):

„Spitzer ist in mancher Hinsicht ein Gegentypus zu Singer. (...) Er ist nicht international ausgewiesen in neurobiologischer Forschung, aber er ist ein Bestsellerautor.“
Zitat Spitzer: „Lernt man zum Beispiel Wörter in positivem emotionalem Kontext, werden sie im Hippokampus gespeichert, bei negativem dagegen im Mandelkern. Daraus folgt: Landet gelerntes Material im Mandelkern, ist eines genau nicht möglich: der kreative Umgang mit diesem Material.“ usw.
List kommentiert: „Das mag flapsig oder in übertragenem Sinn gemeint sein, aber auch populäre Literatur, ja gerade sie darf keine falschen Fährten legen. Weder im Hippokampus noch in der Amygdala (das weiß Spitzer natürlich ganz genau) bleiben irgendwelche Lerninhalte 'hängen'.“

Lists gutmütige Parenthese mag ironisch gemeint sein, es gibt keinen Hinweis darauf, daß Spitzer sich bewußt flapsig ausdrückt. Da er seine Texte in immer neuen Aufbereitungen vorträgt und abdrucken läßt, kann man leicht erkennen, daß er es mit der Speicherung in Hippokampus und Mandelkern durchaus ernst meint. Z. B. in einem bekannten Beitrag in der ZEIT, einer Replik auf Jochen Paulus' Kritik an der „Neurodidaktik“, schreibt er genau wie zuvor in seinem Bestseller „Lernen“ (2002):
„In einer eigenen Untersuchung konnten wir zeigen, dass der emotionale Zustand, in dem neutrale Fakten gelernt werden, darüber entscheidet, in welchen Bereichen des Gehirns diese gespeichert werden. Lernt man zum Beispiel Wörter in positivem emotionalem Kontext, werden sie im Hippocampus gespeichert, bei negativen Emotionen dagegen im Mandelkern.“
Das würde ein „Hirnforscher“ (wie er sich selbst nennt) doch nicht schreiben und unzählige Male drucken lassen, wenn er es nicht meinte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.08.2010 um 18.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#16703

Ein guter Text von Guy Deutscher findet sich in folgendem (lesenswerten) Sammelband:

Language Complexity as an Evolving Variable, edited by Geoffrey Sampson, David Gil, and Peter Trudgill. Oxford University Press 2009.

Deutschers Kapitel kann hier heruntergeladen werden (PDF-Datei). (Gibt es wirklich so lange Adressen?)

Das Einleitungskapitel des trefflichen Sampson ist auch leicht zu haben:

www.grsampson.net/ALac.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2010 um 10.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#16790

Guy Deutscher hat den Inhalt seines neuen Buches kürzlich in einem Zeitungsartikel zusammengefaßt:

http://www.nytimes.com/2010/08/29/magazine/29language-t.html?_r=1&pagewanted=all
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2010 um 15.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#17011

Die Hamburger Sparkasse soll heimlich Profile ihrer Kunden angelegt haben, um jeden "Typ" besonders bearbeiten zu können usw. Das Ganze wird in der Presse als "problematische Hirnforschungsmethoden" und "Neuromarketing" bezeichnet. Aber weder das Hirn noch auch nur die Nerven waren Untersuchungsgegenstand, vielmehr ging es um eine ziemlich schematische Psychologie. Hirn und Neuro dienen wieder einmal bloß der pseudowissenschaftlichen Aufmotzung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2011 um 09.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#18482

„Der behaviouristische Ansatz, der mit dem Namen Skinner verbunden ist und in den angelsächsischen Ländern zum Rückgrat der Experimentalpsychologie wurde, hatte in Deutschland keine institutionelle Basis, beeinflußte aber die Denkmodelle. Die Hypothese war, daß das Gehirn eine Reizbeantwortungsmaschine sei, die nur tätig werde, wenn sie von außen angeregt wird.“ (Wolf Singer im Festvortrag zum 50jährigen Jubiläum der MPG)

Daß der Hirnforscher Singer an philosophischen Fragen wie der Willensfreiheit scheitert, ist noch verständlich, aber daß er die Grundgedanken des radikalen Behaviorismus nicht kennt, hält man kaum für möglich. Und doch scheint es die gebildete Festversammlung geschluckt zu haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.07.2011 um 15.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#18968

"Das Wort Ganztagsschule gibt es als Wort nur in der deutschen Sprache." (Manfred Spitzer laut Thüringer Landeszeitung 28.6.11)
Ja, freilich, es ist ja ein deutsches Wort. Aber auch sonst ist kaum zu glauben, was "Deutschlands bekanntester Hirnforscher" alles weiß; fast jeden Tag berichten die Zeitungen darüber.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.07.2011 um 16.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#18969

Dazu gleich noch dies:

www.wienerzeitung.at

Also auch den bekannten pädagogischen Nutzen des Theaterspielens begründet Spitzer mit seinen vermeintlichen Einsichten in des Zusammenspiel der Synapsen, die ja nach seiner Meinung auch "Regeln" lernen und nicht nur "Selbstwertgefühl". Die Begriffsverwirrung ist nicht zu überbieten. Aber die österreichische Zeitung fügt noch die herrliche Überschrift hinzu: Schauspielende! In Österreich gehört nämlich die Vermeidung maskuliner Nomina agentis inzwischen zum Nationalcharakter. Das sollten Hirnforschende einmal näher untersuchen: Hat sie die Amygdala der Österreicher verändert?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2011 um 18.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19503

Ein gewisser Markus Reiter bietet „Neuro-Rhetorik“ an, „gehirngerechtes Reden und Schreiben“.
Er hat Geschichte und Politik studiert, weiß also nichts vom Gehirn.
Er zitiert gern aus populärwissenschaftlichen Schriften über „Bild gebende“ Verfahren. Seine Bücher (über alles Mögliche) verkaufen sich gut.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 14.11.2011 um 08.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19505

Was müßte jemand studiert haben, um sagen zu können, er verstünde etwas vom Gehirn?
Wenn ich gesunde Ernährung bevorzuge, muß ich auch nicht Medizin studiert haben. Im Gegenteil, Mediziner verstehen von gesunder Ernährung wenig, weil das absurderweise nicht oder nur ganz am Rande in ihrem Ausbildungsplan vorkommt. Mediziner neigen eher zur Ansicht, Chemie vermittelt Gesundheit.
Mit gehirngerechtem Reden und Schreiben (#19503) meint der gute Mann wohl Klarheit und Verständlichkeit. Allerdings führt er sich selbst ad absurdum, wenn er stattdessen den Begriff „gehirngerecht“ einführt, der eben keine klare und verständliche Bedeutung hat.
Er erweckt aber bei einigen Neugier – das ist es wohl, worauf er abzielt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2011 um 16.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19531

Manfred Spitzer trägt vor:
„Im Vorschulalter wissen Kinder bereits, dass die Verben, die auf „-ieren“ enden, das Partizip Perfekt ohne „ge“ bilden. Sie erzählen, dass sie gestern gelaufen sind, aber nicht durch den Wald ge-spaziert (sondern nur spaziert), und was sie vorgestern nur verloren (und nicht ge-verloren) haben, das haben sie stolz gestern wieder gefunden.“

Schade nur, daß verlieren gar kein Verb ist, das auf -ieren "endet". So wenig wie stieren, gieren ...
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 19.11.2011 um 17.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19532

Als Nicht-Neurodidaktiker kann ich mir bezüglich solcher Fragestellungen (#19531) natürlich kein Fachurteil erlauben.
Als interessierter Laie würde ich jedoch sagen, Kinder sagen es so, wie sie es in ihrer Umgebung gehört haben, ist es spaziert statt gespaziert, sagen sie spaziert, wäre es umgekehrt, sagten sie sicherlich gespaziert, was denn sonst!?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.11.2011 um 17.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19601

An einer Arbeit aus jenem Institut, das Ministerin Schavan dem selbsternannten Hirnforscher Manfred Spitzer schenkte, kann man gut sehen, was für ein Humbug die Neurodidaktik ist:

Referat_Hirnforschung.pdf

Die praktischen Ratschläge am Ende haben offensichtlich nichts mit den dürftigen Ausführungen über Hirnforschung zu tun, sondern sind psychologische Gemeinplätze.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Land Baden-Württemberg dieses "Transferzentrum" noch lange finanziert.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 27.11.2011 um 23.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19603

Die "Gehirnforschung oder "Neurowissenschaft" ist im Augenblick eine Modewissenschaft wie seinerzeit die Chaostheorie, die Katastrophentheorie (wenige werden sich daran erinnern), die Futurologie, die Friedensforschung, die Kybernetik, die Informationstheorie und viele andere.

Im besten Falle beruhen solche Modewissenschaften entweder auf wirklich neuen Ideen und Lösungsansätzen oder auf neuen instrumentellen oder apparativen Möglichkeiten. Die unübersehbare Schar der Epigonen stürzt sich dann auf diese neuen Ansätze und überdehnt und verwässert sie so, daß daraus nur noch ein Etikett wird, das aber bei der Konkurrenz um Forschungsmittel immer noch hilfreich sein mag.

In anderen Fällen gründet sich die Modewissenschaft nicht auf eine neue Methode, sondern auf ein wünschenswertes Forschungsziel: Der Friede ist natürlich ein hehres Ziel; die Zukunft besser vorauszusehen wäre tatsächlich sehr nützlich. Hier entsteht häufig ein erheblicher Meinungsdruck, dem es nicht leicht ist sich zu entziehen. Wer damals die Friedensforschung kritisierte, begab sich schon ins moralische Abseits. Gerade Politikern fällt es schwer, diesem Druck zu widerstehen. Aber auch den Gremien, die Forschungsmittel verteilen, gelingt es häufig nicht.

Die neuere Neurowissenschaft gründet sich auf den neuen bildgebenden Verfahren, die es erlauben, Vorgänge im Gehirn noch genauer zu lokalisieren als bisher, ja sogar in Echtzeit zu verfolgen. Das ist wahrscheinlich nützlich für Ärzte beim Erkennen und Bewerten von Hirnschäden. Gröbere derartige Lokalisierungen waren aber schon länger möglich. Allerdings konnte man schon damals keine weiteren Schlußfolgerungen von allgemeinem Interesse daraus ziehen. Auch die neuen apparativen Möglichkeiten scheinen bisher, wenn überhaupt, nur wenig daran geändert zu haben.

Die neuere Klimawissenschaft scheint mir auch eine derartige Modewissenschaft zu sein. Die Grundidee zur Erderwärmung ist über hundert Jahre alt (Arrhenius). Sie war mir seit früher Jugend bekannt. Aber erst mit der Entwicklung der Supercomputer schien eine Präzisierung dieser Grundidee in greifbarere Nähe gerückt. Daß das Klima aber auf absehbare Zeit noch wesentlich komplexer als die modernsten Supercomputer ist, geriet dabei leicht außer Sicht (die "Chaostheorie" wäre hier vielleicht wirklich einmal nützlich gewesen). Anders als bei der Neurowissenschaft kommt hier aber noch ein gewaltiger Meinungsdruck, noch viel stärker als seinerzeit bei der Friedensforschung, hinzu.

Das hat mich von Anfang an an die Waldsterbenshysterie seligen Angedenkens erinnert. Kürzlich berichteten die Zeitungen irgendwo versteckt über den neusten Waldzustandsbericht. Dieser kommt, wie seit etwa 25 Jahren, zu dem immer gleiche Ergebnis, daß etwa ein Drittel der Bäume geschädigt sind (wie könnte es anders sein - ein Drittel ist die magische Zahl der Neuzeit). Nur wird dieser besorgniserregend konstante Zustand jetzt auf den Klimawandel und nicht mehr auf den sauren Niederschlag zurückgeführt.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 28.11.2011 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19605

Angesichts derart bahnbrechender Forschungserkenntnisse, wie im referenzierten Artikel (#19601) dargelegt, kann man sich nur wundern, wie es Generationen von Altvordern nur gelingen konnte, vollkommen ohne dieses Wissen auszukommen und ihren Kindern trotzdem Werteorientierung mitzugeben.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.11.2011 um 12.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19606

Gleich auf der zweiten Seite beginnt ein Satz mit "das spannende Ergebnis war, [...]". Und genau dort habe ich mit dem Lesen aufgehört. Mich interessiert nicht, was die Dame "spannend" findet! Wieder einmal zeigt sich, daß Publikationen, in denen dieses Adjektiv auftaucht, nichts mit Wissenschaft zu tun haben.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.11.2011 um 12.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19607

Anfang des Jahres wies Herr Ickler in einem anderen Zusammenhang (vgl. hier) auf Elsbeth Sterns Kritik an Manfred Spitzer hin. Dieses Streitgespräch kann man hier nachlesen: http://pdf.zeit.de/2004/28/C-Spitzer_2fStern2.pdf.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 28.11.2011 um 22.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19612

Nun steht die "Lernforschung" der Neurowissenschaft in nichts nach. Wenigstens habe ich bisher nichts von Schäden gehört, die die Neurowissenschaft verursacht hätte. In dieser Hinsicht steht die Lernforschung ganz vorne. Was da für ein Unfug an den Schulen angestellt worden ist von dieser Lernforschung!

Jetzt kommt noch die Frau Stern mit dem Reiskorn auf der Ameise! Hoffentlich sind unsere Physiklehrer durch Ihre naturwissenschaftliche Ausbildung vor solchem Geschwätz gefeit.

Und dann noch diese Mißgeburt eines Wortes: "Mißkonzept". Wer so wenig sprachliche Sensibilität aufbringt, will sich ins Innenleben von Kindern einfühlen?
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 29.11.2011 um 00.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19613

Ich bin völlig Ihrer Meinung, Herr Achenbach. Aber es ist doch sehr schön, wie die beiden sich in diesem immerhin noch moderierten – und in der vorliegenden schriftlichen Form gewiß auch geglätteten – Streitgespräch an die Gurgel gehen. Und dabei geht es doch nur darum, daß einer dem anderen die Butter vom Brot nehmen könnte. Etwas Ernsthaftes (oder gar nachweisbare Erfolge) haben beide nicht vorzuweisen. Daher darf auch nun der jeweils andere nicht in der Öffentlichkeit (und beim Verteilen von öffentlichen Geldern) besser dastehen.

Wer weiß, womöglich würden beide sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit gegenseitig das Wort "Scharlatan" an den Kopf werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.12.2011 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19667

Identität, Selbigkeit ist für die Sprache von größter Bedeutung. Ich werde an anderer Stelle darauf zurückkommen, hier nur soviel: Der spekulationsfreudige Neurologe Vilayanur Ramachandran hat mal folgendes gesagt:

When you open your eyes in the morning, it's all out there in front of you. It's easy to assume that it's effortless and instantaneous but in fact you have this distorted upside down image in your retina exciting the photoreceptors and the messages then go through the optic nerve to the brain and then they are analysed in thirty different visual areas, in the back of your brain. And then you finally after analysing all the individual features, you identify what you're looking at. Is it your mother, is it a snake, is it a pig, what is it? And that process of identification takes place in a place which we call the fusiform gyrus which as we have seen is damaged in patients with face blindness or prosopognosia.

Ramachandran spekuliert, daß die Person zwar erkannt, aber erst durch eine Bahn zur Amygdala identifiziert wird. Daher gewisse Störungen durch Verletzung:

That's why when he looks at his mother, he says "oh yeah, it looks like my mother", but the wire, to put it crudely, the wire that goes from the amygdala to the limbic system, to the emotional centres, is cut by the accident. So he looks at his mother and he says - "hey, it looks just like my mother, but if it's my mother why is it I don't experience this warm glow of affection (or terror, as the case may be). There's something strange here, this can't possibly be my mother, it's some other strange woman pretending to be my mother". It's the only interpretation that makes sense to his brain given the peculiar disconnection.

Der Patient interpretiert also das Fehlen einer emotionalen Reaktion im Sinne fehlender Identität. Aber werden Personen allgemein an ihren emotionalen Wirkungen auf uns identifiziert? Wie steht es mit Personen, die wir gar nicht näher kennen? Dutzende von Nachbarn, zu denen wir keine emotionalen Beziehungen haben und die wir dennoch identifizieren. Hunderte oder Tausende von Personen, die im Fernsehen erscheinen. Die spekulative Lösung kann also nicht stimmen.

Für uns Deutsche gibt es noch einen hübsche Nebenbemerkung:

Now clearly laughter is hard-wired, it's a "universal" trait. Every society, every civilization, every culture has some form of laughter and humour - except the Germans.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.12.2011 um 18.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19685

In der Bundestagsdrucksache 16/7821, 16. Wahlperiode - 22. 01. 2008 („Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung“; PDF-Datei) geht es um die Hirnforschung. In einem besonderen Kasten (S. 41f) heißt es:

„Dem Gehirn ist das Wurscht.“

Immer früher sollen Kinder Sprachen lernen, am besten schon im Kindergarten. Eltern hoffen auf rasante Karrieren ihrer polyglotten Alleskönner. Englisch oder Französisch ab der dritten oder ersten Klasse sind inzwischen Standard an etlichen deutschen Grundschulen. Auch die ersten internationalen Kindergärten unterrichten Fremdsprachen. Doch bei allem Ehrgeiz machen sich viele Eltern auch Sorgen und befürchten babylonische Sprachverwirrung: Passt so viel Sprachwissen in so kleine Köpfe, wird mein Kind überfordert? Entwickelt sich eine Generation überforderter Halbsprachler? Nach Ansicht des Linguisten Georges Lüdi von der Universität Basel ist die Sorge unbegründet, im Gegenteil: Lernt man sehr früh eine andere Sprache, dann profitiert auch die Muttersprache davon. Zusammen mit Neuropsychologen hat Lüdi erforscht, was im Gehirn passiert, wenn Kinder beginnen, sich im Sprachdschungel zu orientieren. Die verblüffenden Ergebnisse: Geht es mit der Zweitsprache früh los, denkt das Kind darüber nach, warum es im Deutschen so viele Artikel gibt und im Englischen nur einen - und lernt daraus. Vor allem aber fällt es Kindern leichter, sich weitere Fremdsprachen anzueignen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Alter: je jünger, desto besser. Die entscheidende Grenze überschreiten die Kinder mit dem vierten Geburtstag. Zuvor entwickeln sich im Gehirn die neuronalen Netze, in denen die Sprachen verarbeitet werden. Dort werden auch später hinzukommende Fremdsprachen umgesetzt. Hat das Gehirn erst einmal die Infrastruktur ausgebaut, wird sie für jede Sprache genutzt, egal ob Ungarisch oder Französisch. Machen Kinder erst später die ersten fremdsprachlichen Gehversuche, legt das Gehirn für jede neue Sprache auch neue Netzwerke an.

Die Erkenntnisse der Hirnforschung entkräften Elternängste und Kritiker, die vor allem ein Sprachmischmasch befürchten: Flickwerksätze mit englischen Vokabeln und deutscher Grammatik, die für das Lernen eher kontraproduktiv wären. Doch Pädagogen in den Modellschulen und Sprachwissenschaftler an beteiligten Universitäten ziehen bislang ein eindeutiges Fazit: Die Kinder sind hochmotiviert und haben sich sehr schnell an die neuen Sprachen gewöhnt. Das Hauptproblem sei vielmehr die mangelhafte Vorbereitung der Lehrkräfte auf die frühe Fremdsprache, eine bessere Qualifikation und Ausbildung der Lehrer sei vonnöten.

In einem von der Hamburger Universität begleiteten Modellprojekt wird an sieben Hamburger Schulen seit fünf Jahren wahlweise Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch und Türkisch ab der ersten Klasse unterrichtet. Die Klassen sind gemischt: Immigrantenkinder sitzen neben deutschstämmigen Schülern, alle lernen zusammen und profitieren voneinander. Nach allen Beobachtungen verbessern sich Kinder vor allem, wenn auch ihre Muttersprache in der Schule gefördert wird. Kommt dann in der dritten Klasse auch Englisch hinzu, fällt es allen Kindern umso leichter, sich auch in der neuen Sprache zurechtzufinden, denn im Vergleich zum Portugiesischen ist die englische Grammatik eher simpel. Experten diskutieren nun, ob der Sprachhunger der Grundschüler nicht auch bundesweit besser zuerst mit einer komplexeren Sprache gestillt werden sollte. Doch ob oui, si oder yeci - zumindest hirnphysiologisch ist das ohne Belang. Denn neuronale Netze kennen keinen Unterschied zwischen den Sprachen: „Dem Gehirn ist das Wurscht.“




Diese "neuronalen Netze, in denen Sprachen verarbeitet werden", sind reine Spekulation, keiner der Forscher hat sie identifiziert.
George Lüdi weiß vom Gehirn nicht mehr als wir alle. Und wieso ist die englische Grammatik simpler als die portugiesische? Überlegungen, ob man nicht mit einer anderen Sprache als Englisch anfangen sollte, stammen stets von Romanisten, die ihren Anteil an der Stundentafel verbessern wollen; hierher gehört auch das „Nachbarsprachen“-Projekt.
Übrigens ist noch kein Mehrsprachigkeitsforscher je von seinen Forschungsergebnissen überrascht worden: Die Befürworter der frühen Mehrsprachigkeit finden Vorteile, die Gegner Nachteile.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2011 um 05.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19690

Aus der vermeintlichen Erkenntnis, daß das Corpus callosum bei Frauen stärker ausgebildet ist, werden allerlei Folgerungen für weibliche Überlegenheit beim Sprechen, Sprachenlernen usw. gezogen, auch in der Bundestagsdrucksache zur Hirnforschung ist das ausgemachte Sache:

„Der die beiden Hemisphären verbindende Balken ist bei Frauen in einigen Anteilen signifikant größer, was eine bessere Verknüpfung der in beiden Hirnhemisphären etablierten Funktionen nahelegt (Steinmetz et al. 1992).“

Dabei ist die Grundlage ganz unsicher:

„Zusammengefasst lässt sich sagen, dass für geschlechtsspezifische Unterschiede des Corpus callosums kein klares Bild existiert.“ (FunktionelleHirnorganisationUndGeschlecht.PDF)

Man kann sich denken, wie schnell aus solchen Annahmen bildungspolitische Konsequenzen abgeleitet werden, z. B. zur Koedukation.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.12.2011 um 16.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19702

„Heute können wir sehr genau verfolgen was im Hirn vor sich geht, wenn sprachliche Äußerungen gehört oder gelesen werden“, sagt Ina Bornkessel-Schlesewsky. Der Computerbildschirm der jungen Wissenschaftlerin ist im Moment voller EEG-Kurven, die aus Sprachexperimenten mit chinesischen Muttersprachlern stammen. Über Elektroden auf der Kopfhaut wurden bei den Probanden Änderungen der Hirnaktivität während der Sprachverarbeitung gemessen. Indem sie auf diese Weise Sprachen direkt auf ihre Verarbeitung im Hirn hin vergleichen, wollen die Forscher in der von Bornkessel-Schlesewsky geleiteten Gruppe die Basismechanismen des menschlichen Sprachvermögens identifizieren – und begründeten nebenbei eine neue sprachwissenschaftliche Disziplin: die Neurotypologie. Der veränderte Blickwinkel bringt teils überraschende Ergebnisse hervor. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die scheinbar recht ähnlichen Sprachen Deutsch und Englisch nicht, wie man erwarten könnte, auch auf ähnliche Weise in den grauen Zellen verarbeitet werden. Im Gegenteil: Japanisch zum Beispiel ist dem Deutschen in dieser Hinsicht ähnlicher als das Englische. Dieses wiederum ähnelt teilweise dem Finnischen.



Usw. – Solche Geschichten verbreitet die Max-Planck-Gesellschaft.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.12.2011 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19775

Manfred Spitzer, der Hauptvertreter des "Neurobabble" in Deutschland, schreibt in "Vorsicht Bildschirm":

„Aufgrund der Bildschirm-Medien wird es in Deutschland im Jahr 2020 etwa 40.000 Todesfälle durch Herzinfarkt, Gehirninfarkt, Lungenkrebs und Diabetes-Spätfolgen geben; hinzu kommen jährlich einige hundert zusätzliche Morde, einige tausend zusätzliche Vergewaltigungen und einige zehntausend zusätzliche Gewaltdelikte gegen Personen. (...) Wären Bildschirme nie erfunden worden, dann gäbe es allein in den USA jährlich etwa 10.000 Morde und 70.000 Vergewaltigungen weniger."

Das verkündet Spitzer auch in regelmäßigen Fernsehsendungen und auf entsprechenden DVDs, die man ohne Bildschirm nicht recht genießen könnte ... Ist das nun Beihilfe zur fahrlässigen Tötung?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.01.2012 um 18.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19867

Micha Brumlik (Hg.): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Weinheim/Basel 2007.

In diesem Band gibt Manfred Spitzer auch etwas zum besten: „Kritik der Disziplin aus (neuro-)biologischer Sicht“ (169-203)

Kostprobe:

„Menschen kommen nicht als Rohlinge (im doppelten Wortsinn von roh) zur Welt, aus denen durch Disziplin überhaupt erst ordentliche Menschen werden. Vielmehr lehrt die Biologie gerade der letzten fünf Jahre, dass Fairness, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn (wenn nicht gar Nächstenliebe) genau so zum Menschen gehören wie seine hochspezialisierten Hände oder sein aufrechter Gang.“ (170)

Das sind aber keine biologisch definierten Begriffe, sondern gesellschaftlich interpretierte Bewertungen.

Es folgt eine kurze Einführung in die Neurologie, Synapsen, Reizleitung usw.

„Was geschieht dabei [beim Lernen] im Gehirn des Kindes? Die Verbindung von 'Beeren sehen' und 'zugreifen und pflücken' wird geknüpft und mit jeder gepflückten Beere stärker.“ (175)

So wird es wohl sein, aber Spitzer weiß auch nicht, wie es im Gehirn zugeht, es sind Verknüpfungen des Verhaltens. Die Redeweise suggeriert wieder einmal, die Neurophysiologie des Lernens sei durchschaut.

„Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens.“ (178)

Auch das lehren Erfahrung und Psychologie, nicht die Neurologie.

Es folgt die Sache mit dem Hippocampus und der Amygdala und dem lustbetonten Lernen. Die lächerlichen Replikationen von Versuchen mit bildgebenden Verfahren, die Spitzer an seinem Institut durchführen läßt, haben nichts Neues hervorgebracht.

Von der Myelinisierung usw. kommt er irgendwie auf Disziplin und Pädagogik, und der wissenschaftliche Aufputz gefällt offenbar vielen Lesern, weil die ohnehin vorhandenen Überzeugungen nun auch "wissenschaftlich" untermauert zu sein scheinen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.02.2012 um 10.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19998

Was in den letzten drei Jahren an neuen Erkenntnissen über die Broca- und Wernicke-Region bekannt geworden ist, wirft so ziemlich alles über den Haufen, was die Neurolinguisten wieder und wieder behauptet haben. Allein schon die Nachrichten der letzten Tage, wonach das Wernicke-Zentrum um drei Zentimeter verschoben werden muß (eine riesige Entfernung im Gehirn), wäre, wenn es zutrifft, eine Katastrophe! Und dabei glaubten die betrogenen Betrüger mit ihren bildgebenden Verfahren schon genau sagen zu können, welche Untergruppe von Substantiven in welchen Gehirnteilen verarbeitet werden ...

Man sollte immer erwägen, daß die Sprachfähigkeit womöglich keine einheitliche Funktion und daher auch nicht Gegenstand evolutionärer Selektion gewesen ist, daß vielmehr unterschiedliche Fertigkeiten sich zu verschiedenen "Zwecken" entwickelt haben, die dann in den Dienst der durch und durch kulturellen und historischen Sprache gestellt wurden und werden (Exaptation). Wenn das annähernd richtig ist, wird deutlicher, wonach die Neurologen eigentlich zu suchen haben. Wenn also bestimmte sprachliche Teilbereiche gestört erscheinen, sollte man erst einmal fragen: Was ist noch gestört? Und wo ist dies wiederum überwiegend zu lokalisieren? Das war übrigens schon einmal Stand der Forschung, bevor es durch die blendenden Fortschitte des Neuroimaging verdeckt wurde. (Heute behaupten Neurolinguisten wie Angela Friederici, die Verarbeitung der Sprache im Gehirn sei nun aufgeklärt, weshalb man sich jetzt der Musik zuwenden wolle ...)
So ist ja auch der Wirbel um das FOXP2-Gen wieder abgeflaut, nachdem die Wissenschaft sich erstens über die Natur dieses Gens (Transkriptionsgen) und zweitens über die Fülle von damit einhergehenden nichtsprachlichen Beeinträchtigungen klar geworden war. (Mit den Spiegelneuronen wird es genauso enden.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.02.2012 um 15.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20166

Stanislas Dehaene: Lesen. München 2010 (frz. 2007)

Wann immer man sagen würde, daß ein Mensch etwas tut, setzt Dehaene das „Gehirn“ ein, so daß der Eindruck entsteht, die zerebralen Vorgänge seien erforscht:
„In diesem Moment vollbringt Ihr Gehirn, ohne dass es Ihnen bewusst wäre, eine bemerkenswerte Leistung – es liest.“ (9)
Das Gehirn liest nicht, der Mensch liest. Das Gehirn geht ja auch nicht einkaufen, erzieht keine Kinder und singt nicht im Chor.
„Dank der Magnetresonanz-Tomografie (MRT) genügen derzeit wenige Minuten, um die Hirnregionen sichtbar zu machen, die beim Lesen aktiviert werden.“ (10)
Richtig wäre: die stärker durchblutet werden als andere. Das beweist aber nicht, daß andere Regionen nicht ebenfalls aktiviert wären.
Damit wir die verschiedenen Formen eines Buchstabens wiedererkennen, bildet das Gehirn angebliche "abstrakte Repräsentationen" aus. Daß es sich hier um reine Spekulation handelt, wird nicht deutlich. Durch Lernen verändert sich das Gehirn, aber es gibt keinen Grund, von "Repräsentationen" zu sprechen.

„Die meisten chinesischen Wörter bestehen aus einer oder zwei Silben, und da es nur etwa 1300 Silben gibt, kann jede auf Dutzende sehr verschiedene Begriffe verweisen. Eine rein phonetische Schrift wäre deshalb absolut unbrauchbar: Jedes dieser Bilderrätsel könnte auf viele Dutzend verschiedene Weisen verstanden werden!“ (48)
Dann könnten sich die Chinesen nicht einmal mündlich verständigen. Zu ihrem Glück wissen sie das nicht.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 26.02.2012 um 13.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20173

„In diesem Moment vollbringt Ihr Gehirn, ohne dass es Ihnen bewusst wäre, eine bemerkenswerte Leistung – es liest.“

Das erinnert mich an einen alten Witz.

Spieß: "Was gucken Sie so komisch, Mann?"

Rekrut: "Ich hab ein künstliches Auge."

Spieß: "Künstlich?! Woraus denn?"

Rekrut: "Aus Glas."

Spieß: "Aus Glas? Ach so, klar. Muß ja – sonst könnt man ja nicht durchgucken."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2012 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20245

Über die bildgebenden Verfahren liest man Phantastisches. Ich möchte noch folgendes zu bedenken geben: Wenn man zwei Aufgaben stellt, z. B. Vorwärtszählen und Rückwärtszählen, werden sich wahrscheinlich unterschiedliche Erregungsmuster im Gehirn abzeichnen. Aber wie spezifisch ist der Unterschied? Wenn nur zwei Optionen in Betracht kommen, kann der Versuchsleiter vielleicht am Bildschirm ablesen, welche von beiden realisiert wird. Es gibt aber Millionen verschiedene Aufgaben, die man alle durchprobieren müßte, bevor man Gedanken lesen und nicht nur Gedanken unterscheiden kann. Sagt jemand das Vaterunser auf oder die Vornamen der Neffen und Nichten? Usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.03.2012 um 12.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20272

„Entscheidend für den grammatikalischen Fortschritt, so Angela Friederici, ist die zunehmende Vernetzung von Gehirnarealen, die sich ontogenetisch und phylogenetisch nachvollziehen lässt.“

Es ist nicht nötig, hier eine Stellenangabe zu bringen, denn solches Gerede ist allgegenwärtig. Man weiß zwar nichts, plappert aber schon mal drauflos. Falsch ist es ja auch nicht, denn "Vernetzung" kann gar nicht falsch sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.03.2012 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20302

Wir untersuchen, wie Ihr Kind während seiner Entwicklung verschiedene Silben, die es hört, im Gehirn verarbeitet. Dazu finden in regelmäßigen Abständen Messungen der Hirnströme statt und es werden die sogenannten ereigniskorrelierten Hirnpotentiale (EKP) bewertet. Dabei wird dem Kind eine Art Mütze aufgesetzt, auf der feine Sensoren die vom Gehirn ausgehenden Ströme messen. Sie verändern sich, wenn ein Kind Gehörtes wahrnimmt. Die Untersuchung ist für Ihr Kind völlig harmlos und es kann auch während der Untersuchung schlafen.
 
Projektleitung:
Prof. Dr. Angela Friederici, Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung, Leipzig
Prof. Dr. Manfred Gross & PD Dr. Karsten Nubel, Klinik für Audiologie und Phoniatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin, Freie Universität Berlin



Natürlich kann man auf diese Weise nicht herausfinden, wie das Kind Silben im Gehirn verarbeitet. Die Veranstalter dürften das auch genau wissen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.04.2012 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20556

In der Kölnischen Rundschau wird über den mit Recht so genannten "Glaubenskrieg" über die richtige Methode des Erstunterrichts im Lesen und Schreiben berichtet. Eigentlich müßte sich die Sache experimentell entscheiden lassen, aber weil das nicht klappt, eifert man um so schärfer.
Gegen Ende heißt es: "Dass man Kinder zunächst frei schreiben lasse und erst später Rechtschreibung vermittele, widerspreche auch dem, was man heute über Lernprozesse im Hirn wisse, sagt Prof. Onur Güntürkün, Biopsychologe an der Ruhr-Uni-Bochum: „Umkehrlernen dauert länger und erhöht die Fehlerquote.“ LdS hält er deshalb für falsch – und fordert neue Studien. „Das Schreibenlernen in der Grundschule wäre ein gutes Feld für experimentelle Psychologen.“

Der letzte Satz stimmt, er widerspricht aber der Behauptung, die Hirnforschung wisse etwas über Umkehrlernen. Sie weiß gar nichts darüber, alle Erkenntnisse stammen aus der traditionellen Psychologie und sind dort ein sehr alter Hut. Aber über die beste Methode des Erstunterrichts besagen sie auch nichts.

Die Glaubenskrieger machen nun sogar die Reichen-Methode für die schlechten Rechtschreibleistungen der heutigen Schüler verantwortlich, was wohl zuviel der Ehre ist. Bezeichnenderweise wird die Rechtschreibreform und deren Folge, die Frustration der Lehrer, überhaupt nicht erwähnt. Das ist ein Tabu bei sämtlichen Pädagogikprofessoren.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 06.06.2012 um 13.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20839

Wurde hier das Thema NLP (Neurolinguistische Programmierung) schon einmal behandelt?
Mich würden Meinungen dazu interessieren!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.06.2012 um 11.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#20890

Kaum waren die Spiegelneuronen entdeckt, stürzten sich neurologische Laien darauf und bauten luftige Theorien zum Spracherwerb, zur Grundlage der Moral, sogar zur Literaturwissenschaft. Typisch etwa folgender Artikel, in dem es auch um Sprache geht, was uns hier ja besonders interessiert:

http://gerhardlauer.de (PDF-Datei-Abruf)

Man beachte, wie das Neurologische sich ständig mit der Wald-und-Wiesen-Psychologie mischt. Man kommt gar nicht zu den empirischen Fragen, weil zunächst einmal begrifflich und damit philosophisch (wie Bennett/Hacker sagen würden) geklärt werden müßte, was das ganze Gerede überhaupt allenfalls bedeuten könnte.

Schade, daß wieder soviel Zeit und Kraft in derartige Luftschlösser gesteckt werden. Übrigens auch Forschungsgelder, die gerade hier reichlich fließen. Unterdessen zerfällt die Spiegelneuronengeschichte unter der Kritik der Psychologen und Neurologen jeden Tag mehr, aber das nehmen die Enthusiasten kaum noch zur Kenntnis.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2012 um 14.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21250

Schöne Beispiele für Neurobluff sind auch diese hier:

www.vep-landau.de/bzf/2009_48/%2803%29Lawrenz%283-26%29.pdf

www.vep-landau.de/bzf/2006_44/03_Lawrenz_003-009.pdf

Man kann sicher sein: Wo "gehirngerechtes Lernen" draufsteht, ist kapitaler Unsinn drin. Wenn es dann noch von Laien geschrieben ist, erst recht.

„Darüber hinaus ist es wichtig, dass die neuronalen Bahnen zwischen Lexem und Lemma sowie zwischen Konzept und Lemma schon früh beim Wortschatzerwerb angelegt werden, da es sonst zu festen direkten neuronalen Verbindungen zwischen Konzept und fremdsprachlichem Lexem kommt, was dazu führt, dass bei der Satzproduktion entweder auf den muttersprachlichen Lemma-Eintrag zurückgegriffen wird oder auf allgemeine Syntaxregeln wie „Plural wird durch Anhängen von -s gebildet“.“ (Birgit Lawrenz: „Plädoyer für eine gehirngerechtere Vermittlung des syntaktischen Wortes – oder: Das didaktische Dilemma mit dem Lemma“ (Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 44 /2006:3-9)

Hier ist der Unsinn ja mit Händen zu greifen. (Die Verfasserin ist Lehrerin für Deutsch und Englisch.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2012 um 15.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21251

Blakemore, Sarah-Jayne/Frith, Uta (2005): Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. München (DVA)

Die Hirnforschung weiß eben fast gar nichts darüber. Die Lerntips sind daher alle nicht aus der Hirnforschung abgeleitet, sondern entweder altbekannte Faustregeln oder aus der Lernpsychologie. Der Behaviorismus wird totgeschwiegen, die Ausführungen über den Zusammenhang von Belohnungsmustern und Lernerfolgen werden in neurologischem Jargon gegeben, dabei sind die verhaltenstheoretischen Lernkurven sehr viel länger bekannt.

Da Frith als Legasthenieforscherin bekannt ist, nimmt die Lese-Rechtschreib-Schwäche den verhältnismäßig größten Raum ein. Der Titel läßt das nicht erwarten.

Alle praktischen Folgerungen werden mit mit „möglicherweise“ und „könnte“ abgemildert:

„Die Hirnforschung könnte Lehrern und Erziehern zu Erkenntnissen darüber verhelfen, wie sie Kinder beim Erwerb dieser emotionalen Kompetenzen unterstützen können.“ Usw.

Der letzte Satz lautet:

„Wie können wir das Potenzial unseres Gehirns effizienter ausnutzen? Wir sind der festen Überzeugung, dass die Hirnforschung diese wichtige Frage einmal beantworten wird. Und schon jetzt kann diese Überzeugung zumindest eines: unseren Wunsch verstärken, zu lernen und zu lehren.“

Kümmerlicher geht es nicht.

Immerhin: Bei Spitzer fehlen sogar diese Vorbehalte, er ist der dreisteste aller Neurosophen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2012 um 15.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21252

Eine bekannte Fehlerquelle der "bildgebenden Verfahren" besteht darin, daß nur die Regionen der stärksten Durchblutung hervorgehoben werden, woraus man irrigerweise schließt, die anderen seien nicht aktiv. In dem genannten Buch von Blakemore/Frith wird immerhin darauf hingewiesen, daß schon an einer Fingeropponierung die Hälfte des Gehirns beteiligt ist. Was uns hier noch mehr interessieren muß: Beim Lesen sind mindestens 17 identifizierbare Teile des Gehirns aktiv, und es ist nur eine Frage der feineren Einstellung, dann werden es noch mehr (vgl. B. A. Shaywitz et al.: Sex differences in the functional organization of the brain for language. Nature 373, 1995)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2012 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21473

Zu Guy Deutscher gibt es jetzt einen auch sonst interessanten Aufsatz von Geoffrey Sampson:

http://www.grsampson.net/AGal.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2012 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21701

"Man sieht auf diesen Aufnahmen gut das Belohnungszentrum", erläutert Forscher Ponseti. "Im Bereich der Sehrinde, weiter unten, findet eine verstärkte visuelle Analyse statt, sobald ein erwachsener Hetero-Mann eine altersentsprechende Frau sieht. Und in genau denselben Arealen aktivieren nun pädophile Männer ihr Hirn, wenn sie ein nacktes Kind sehen." (www.dw-world.de)

Nun ja, die meisten Männer empfinden Freude an Frauen, Homosexuelle an Männern, Pädophile an Kindern, Feinschmecker an Froschschenkeln. Das ist nicht neu. Diese Freude geht mit Pupillenerweiterung und natürlich auch mit gewissen Hirnvorgängen einher. Die Hirnregionen, die dabei besonders aktiv sind, hat man eben deshalb Belohnungszentren genannt. Es ist tautologisch, hinterher dort wieder einen Beweis für die Erregbarkeit erkennen zu wollen.
(Männer „aktivieren“ nicht ihr Hirn. Wie sollten sie denn so etwas machen?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.11.2012 um 17.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#21931

Im Diskussionsforum ist gerade unser alter Bekannter Markus Reiter zitiert worden, diesmal mit am Erfolg versprechendsten (siehe hier). Wie ich nun sehe, hat er sich Neuro-Rhetorik als Wortmarke patentieren lassen. Erstaunlich, daß so etwas möglich ist, angesichts der zahllosen Neuro-Disziplinen, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind. Man muß es wohl so sehen: Da es die Neurorhetorik gar nicht gibt, muß man Reiter eine wirkliche Erfindung zubilligen, für die er sich dann auch eine entsprechende Bezeichnung schützen lassen darf. Es gibt sogar Verlage, die den Quatsch drucken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2012 um 06.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22030

Die Süddeutsche Zeitung vom 30.11. gibt dem "Neuromarketing"-Auftragsforscher Kai-Markus Müller Gelegenheit, sich über "Neuropricing" (Titel seines Buches) zu verbreiten. Man kann das Wesentliche auch hier nachlesen:
http://www.haufe.de

Die windige Studie der Emory-Universität, auf die Müller sich beruft, gibt es hier zu besichtigen:
http://esciencecommons.blogspot.de

Ich will das nicht näher kommentieren, jeder sieht ja selbst, was für eine Hochstapelei es ist. Warum Firmen Geld zahlen, um sich solche umwerfenden Erkenntnisse zu sichern, erklärt niemand besser als Müller selbst. Offenbar fühlt man sich wohl, wenn man jemanden bezahlt, der mit Drähten an Köpfen herummacht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2012 um 05.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22078

„Psychologen an der Universität Göttingen untersuchen, warum Kinder so schnell die Sprache erlernen.“ (Deutschlandradio 2010)

Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß diese von und seit Chomsky unendlich oft vorgetragene Behauptung gegenstandslos ist – mangels Vergleich. Wir wissen nicht, ob der Spracherwerb nun schnell oder langsam oder einfach keins von beiden ist. Es erübrigt sich also, nach einer Ursache zu suchen.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 06.12.2012 um 08.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22080

Der "New Yorker" hat vor kurzem einen schönen Artikel zum Thema "Neuroscience Fiction" mit interessanten Links veröffentlicht: www.newyorker.com
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2012 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22134

Die mesolimbische Bahn fördert durch Glücksgefühle das Verstärken bestimmter Verhaltensmuster, die mit Belohnung in Verbindung stehen. (Wiki Nucleus accumbens)

Behavioristische Rekonstruktion: Die Belohnung bewirkt sowohl die Verhaltensänderung als auch vielleicht die Glücksgefühle. Aber was wissen wir schon über die Glücksgefühle, insbesondere bei Tieren? Das brauchen wir aber gar nicht, da die beobachtbaren Faktoren das vollständige Erklärungsmuster liefern. Dann kann man noch die neuronalen Vorgänge zu korrelieren versuchen. Die Gefühle fallen als irrelevant heraus.

Sogar Neurowissenschaftler können es oft nicht lassen, immer wieder solche folkpsychologischen Begriffe einzustreuen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2013 um 06.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22640

„Joachim Bauer, der Entdecker der Spiegelneuronen, schreibt, die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns würden in erster Linie durch ‚Beachtung, Interesse, Zuwendung und Sympathie anderer Menschen aktiviert. Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch.‘“ (SZ 16.2.13)

Bauer ist nicht der Entdecker der Spiegelneuronen, sondern in Deutschland ihr erfolgreichster Vermarkter. Existenz und Funktion dieser Neuronen beim Menschen sind sehr umstritten. Bauer verkündet psychologische Allerweltsweisheiten, für die man keine Neurologie braucht.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.02.2013 um 13.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22641

Mich hat in diesem Artikel die Wortschöpfung "Sperrholzdeutsch" beeindruckt. Schön, daß die deutsche Sprache solche Kreativität zuläßt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2013 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22667

Der Eindruck, daß man etwas vor dem inneren Auge ganz genau sieht, ist bekanntlich trügerisch. Der Platz, den man so oft gesehen hat – wie viele Häuser stehen an der Nordseite, wie viele Stockwerke haben sie, wie viele Fenster gibt es im zweiten Stock? Wir können diese Fragen meist nicht beantworten, auch wenn wir ein sehr konkretes Bild zu sehen glauben. Der Eindruck wird gewissermaßen unabhängig von den Einzelheiten erzeugt, wie beim Déja-vu.
Nachprüfbar ist dagegen die Erinnerung an Wörter. Heute fiel mir unvermittelt ein, daß eine ältere Dame, die ich vor 35 Jahren in München flüchtig kannte, mir erzählte, sie sei mit ihrer Mutter im Café Macher in Planegg gewesen, und ich solle doch auch einmal dort einkehren. (Im Internet habe ich mich gerade überzeugt, daß es dieses Café wirklich gab.) Ich bin nie in Planegg gewesen, immer nur durchgefahren, und Cafés interessieren mich sowieso nicht. Ich habe auch in all den Jahren bestimmt nicht mehr daran gedacht, und inzwischen habe ich so viel erlebt, über 10.000 Tage voller kleiner und großer Ereignisse. Warum habe ich es behalten, und wie kann man sich die „Speicherung“ überhaupt vorstellen? Niemand hat die geringste Ahnung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2013 um 06.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22705

Beim Erlernen der Grundrechenarten haben wir auch die bekannte Merkhilfe praktiziert: "Null hin, Eins im Sinn" usw., um den Übertrag hinzukriegen. Das ist kein Speichern, sondern man erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß wenige Sekunden später die Reaktion Eins erfolgt. Man kann auch die Finger zu Hilfe nehmen. Die Kinder sprechen es zuerst laut vor sich hin, dann stumm. Der Gebrauch der Finger und erst recht der Gebrauch von Papier und Stift gewöhnt uns daran, von Speicherung zu sprechen. Das Speichermodell führt die Gedächtnispsychologie in große Schwierigkeiten. Sie sind aus behavioristischer Sicht unnötig.

Es handelt sich hier um eine wichtige Sprachfunktion. Sie dient der Stabilisierung unseres anderweitigen Verhaltens über Zeitspannen hinweg.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 01.03.2013 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22725

Bei den Grünen betreibt man Verkehrspolitik jetzt auf der Grundlage der Chaostheorie:

„Man weiß aus der Chaostheorie, dass man mit 120 Stundenkilometern schneller vorankommt. Tempo 120 würde helfen, mehr Mobilität zu erreichen“, sagte die Spitzenkandidatin der Grünen [Katrin Göring-Eckhardt] für die Bundestagswahl im September dem Wirtschaftsmagazin „Impulse“.

Vgl. hier (www.faz.net).

Könnte man dann nicht die Chaostheorie auch auf den Dummfug von politischen Parteien anwenden? Wenn die in Deutschland einfach mal nichts mehr von sich geben, wird es in Japan nicht zu weiteren Erdbeben kommen. Aber was soll's, aus der Chaostheorie pickt sich jeder eh nur das heraus, was er gebrauchen kann. Beweisen muß man da gar nichts mehr. Hauptsache, es klingt schön wissenschaftlich, und vor allem: anders.

(Ich wollte auch mal so einen aufmerksamkeitheischenden Doppelpunkt setzen, bin nachgerade aber doch sehr enttäuscht!)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2013 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22799

Eine Zeitung zitiert wieder mal bekannte Sätze aus Canettis "Masse und Macht":

„Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.“

Das ist die rhetorische "Psychologie", die immer noch zuviel Anerkennung findet. In diesem Fall drängen sich gleich mehrere Einwände auf. Es sind ja wohl kaum die parallel geordneten Fichtenplantagen, die das Waldgefühl erzeugen. Und andere Völker oder Staaten scheinen auch ohne Waldgefühle sehr viel Freude (sogar mehr als die heutigen Deutschen) an genau ausgerichteten Soldatenformationen zu haben, die auch ungemein fotogen sind wie sonst nur noch Kardinalsreihen.

In dem Wortschwall Canettis ist nicht einmal das Bedürfnis nach einer Begründung erkennbar. So etwas sollte man nicht mehr lesen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.03.2013 um 12.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22801

Bekanntlich stammte Canetti selbst aus dem Buchenlande. Was sagt uns das nun über ihn?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.03.2013 um 22.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22802

Ist das Buchenland nicht weiter nördlich gelegen, im heutigen Grenzgebiet von Rumänien und Moldawien? Dort gab es wohl auch eine deutschsprachige Minderheit. Canetti wurde aber in Rustschuk (Russe, Bulgarien) geboren. Laut seiner Autobiographie "Die gerettete Zunge" verbrachte er dort seine ersten 6 Jahre, bevor die Familie nach England und 2 Jahre später in die Schweiz und nach Österreich (Wien) zog. So sprach er schon als Kind Spanisch (Muttersprache), Bulgarisch und Englisch. Erst nachdem sein Vater gestorben war, als Elias 7 war, brachte die Mutter dem Jungen Deutsch bei.

Die Verbundenheit der Deutschen zu ihren Wäldern hat er meiner Ansicht nach ganz richtig gesehen, auch die damalige Versessenheit auf alles Militärische. Daß beides sich irgendwie gegenseitig bedingt, ist nun seine Interpretation, dafür sehe ich auch keinen Grund. "Masse und Macht" kenne ich nicht, aber seine autobiographischen Bücher und "Die Blendung" habe ich vor vielen Jahren geradezu verschlungen. Ich wollte sie immer noch mal lesen, bin noch nicht wieder dazu gekommen.
 
 

Kommentar von Argonaftis, verfaßt am 15.03.2013 um 22.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22803

Buchenland - Bukowina
Alte deutsche Städtenamen sind Czernowitz und Radautz. Dort gab es nach meinem alten Diercke-Schulatlas kleine deutsche Sprachinseln.
Cernivci (Czernowitz) ist durch die Verschiebung der Westgrenze heute ukrainisch. Radauti (Radautz) ist rumänisch.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.03.2013 um 02.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22804

Aus griechischer Sicht sieht man den Balkan offenbar etwas genauer, vielen Dank für die Berichtigung. Man müßte also im Gegenteil sagen, Canetti stammte aus einer Gegend, die schon die Römer gerodet hatten. (Czernowitz war übrigens durchaus eine deutsche Sprachinsel, zumindest wenn man das Jiddische hinzunimmt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.03.2013 um 05.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22805

"Die Blendung" und die autobiographischen Schriften habe ich auch gern gelesen, aber "Masse und Macht" bald wieder beiseite gelegt. Das ist bei weitem nicht so spannend wie Freud, von dem ich erst nach viel längerer Beschäftigung abgerückt bin.

Ich hatte eigentlich sagen wollen, daß der romantische deutsche Wald (um es kurz zu fassen) nicht in Reih und Glied steht wie eine Kompanie, sondern eher an eine Kathedrale erinnert, mit gewaltigen Säulen und Gewölbe drüber. Wenn ich mich recht erinnere, kommt er bei Canetti nicht vor, vielleicht hatte er kein Verhältnis zu solchen Sachen. Wer denkt schon bei Stifter an Fichtenplantagen? Übrigens ist die Geschichte des Waldes sehr interessant, das ausgezeichnete Sachbuch "Die Lage des Waldes" von Meister/Schütze/Sperber (1984) müßte mal aktualisiert werden. (Wie sähe Europa aus, auch politisch, wenn nicht die Mittelmeerländer abgeholzt wären? Wenn man durch Sizilien fährt, kommen einem ja heute noch die Tränen.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.05.2013 um 14.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23156

Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies – Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München 2003 (Beck)

Das Sprachdenken ist hauptsächlich aus romanistischer Perspektive dargestellt, deutsche Autoren sind ebenfalls berücksichtigt, dazu ein wenig Bacon, Locke. Das Werk ist also ganz eurozentrisch, und auch das nur in sehr enger Auswahl. Die Inder kommen zwar vor, aber nur als Gegenstand von Friedrich Schlegels Interesse. Daß es eine monumentale indische Nationalgrammatik gegeben hat, ohne die auch die europäische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht möglich gewesen wäre, wird nicht erwähnt, ganz zu schweigen von der Fülle sprachphilosophischer Werke, etwa Bhartrhari. Insofern ist Trabants Plädoyer für die Vielfalt der Sprachen wenig überzeugend, denn die europäischen Sprachen seines Gesichtskreises sind miteinander sowohl verwandt als auch durch das fleißige Übersetzen stark vereinheitlicht.
Am Schluß äußert er sich wie auch sonst mit starken Worten gegen die „globalesische“ (= englische) Monokultur:

„Aber daß es nur noch eine Sprache auf der Welt geben soll, ist vielleicht das kommunikative Paradies, es ist aber die kognitive Hölle, ein Triumph der Dummheit.“ (325)

Waren die im wesentlichen einsprachigen Völker – die alten Griechen, die alten Inder, die Chinesen – dumm? Welche unentbehrliche Bereicherung hat Trabant selbst aus seiner Fremdsprachenkenntnis bezogen? Er erwähnt kurz zuvor die „sanglots longs des violons“ Verlaines und ein paar „erdhafte“ Zeilen Heideggers und fügt hinzu, daß man das in keiner anderen Sprache so sagen könne – was sich bei Dichtung in gewissem Maße von selbst versteht. Aber „kognitiv“ gibt das nichts her, und überzeugendere Belege bringt Trabant nicht, auch nicht in seinen sonstigen Arbeiten.

Nach 300 Seiten geruhsamer Darstellung wird er bei diesem Thema richtig giftig:

„Die Globanglisierung setzt den Prozeß der sprachlichen Vereinheitlichung der Welt brutal fort.“ (322)

Brutal? Wem wird denn Gewalt angetan? Die Leute reden und schreiben doch meistens freiwillig englisch.

Wenn er den Durchbruch der Nationalsprachen gegen die „universelle fremde Sprache“ Latein als Befreiung feiert, kann man das bis zu einem gewissen Grade verstehen, aber Latein war da schon tausend Jahre keine lebende Sprache mehr, sondern nur noch unendlich mühsam gepaukte Schulfremdsprache einer winzigen Elite. Mit einer so lebendigen und leicht erlernbaren Universalsprache wie dem (globalen) Englischen ist das nicht zu vergleichen. Ich will die Lage nicht schönreden, aber etwas umsichtiger sollte man Gewinn und Verlust schon abwägen. Und bessere Argumente als das abgestandene, nie bewiesene von der kognitiven Bereicherung sollte man auch bringen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.05.2013 um 05.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23285

Durch die sogenannten Bild gebenden Verfahren können wir heute dem Gehirn beim Sprechen, Lesen und Sprache-Verstehen zuschauen. (Markus Reiter: Die Phrasendrescher. Gütersloh 2007:36)

Das ist nicht nur orthographisch und grammatisch falsch, sondern auch inhaltlich. Es folgen psychologische Gemeinplätze, nichts von neurologischen Einsichten. Wenn Wörter gemeinsam einfallen, bilden sie ein „Wortfeld“, das als gemeinsamer Ort im Gehirn gedeutet wird usw., typische neurosophische Hochstapelei.

Mehrmals ist von Probanten die Rede. Sätze werden oft nicht richtig zu Ende geführt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.06.2013 um 05.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23468

Neulich bin ich wieder mal auf "Babygebärdensprache" ("Zwergensprache") gestoßen und war erstaunt, wie verbreitet Kurse zu diesem Thema sind. Aus den USA kam seinerzeit das "Baby signing" zu uns, und Eltern glauben ja meistens, etwas Zusätzliches für ihr Kind tun zu müssen,
Der Streit um den Nutzen dieser Methode ist unschlichtbar, weil wissenschaftliche Nachprüfungen angesichts der Komplexität so schwierig sind und ihre eventuell negativen Ergebnisse von den Überzeugten nicht angenommen werden. Wie könnte man den unspezifischen Effekt ausschließen, den jede vermehrte Beschäftigung mit dem Kind hat?
Die zum Teil phantastischen Langzeitwirkungen müßten allmählich für jedermann erkennbar sein. Wo sind die Überflieger aus dem Zwergenprogramm?

Ich hatte das Glück, viel Zeit mit meinen Töchtern verbringen zu können. Unsere Verständigung war allezeit so dicht, daß ich gar nicht gewußt hätte, in welche Lücke da noch eine zusätzliche Gebärdensprache (wie bei behinderten Kindern) hineinpassen sollte. Wenn nun gar erst mit 6 Monaten diese Gebärden eingeführt werden sollen – in diesem Alter kann man auch auf weniger künstliche Art aufs beste mit seinen Kindern kommunizieren.

Wie zu lesen war, dauern Kurse etwa 12 Wochen, und man lernt, wie man dem Kind 75 Zeichen beibringen kann. Als Geschäftsidee sicher bemerkenswert, wie auch NLP und so manches andere.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.07.2013 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23571

Wie einfach alles wäre, wenn man einen Life Coach bezahlen könnte!

www.happytimes.ch
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.07.2013 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23780

Im FOCUS erscheint wieder mal ein Artikel zur alten Frage „Machen Ferien dumm?“. Alle mitgeteilten Tatsachen sind psychologischer Art, trotzdem steht das Bild des Gehirns darüber und werden Hirnforscher befragt:

„In der Lernpause nimmt das Gehirn strukturelle Veränderungen vor“, sagt Korte. Das schnelle Abrufen von mathematischen Gleichungen oder chemischen Formeln brauchen Schüler in den Ferien nicht, deshalb schwächen sich die für dieses Wissen zuständigen Synapsen ab, was zur Folge hat, dass es auch nicht sofort abrufbar ist.

So wird es wohl sein, aber man weiß gar nichts Genaueres darüber, die Veränderungen der Synapsen während der Ferien sind nicht beobachtbar. Es ist also leeres Gerede.

In den Sommerferien organisiert sich das Gehirn neu, knüpft neue Verbindungen und baut die Datenbahnen auf, die es in dieser Zeit benötigt. Dinge, die nicht regelmäßig abgerufen werden, rücken deshalb in den Hintergrund. Das heißt jedoch nicht, dass der Schulstoff in die Tiefen irgendwelcher Gehirnwindungen rutscht und ins Nirvana versinkt, aus dem es keine Wiederkehr gibt. Man braucht nur länger, um sie abzurufen. Vergleicht man den erlernten Schulstoff mit einem Gemälde, zeigt es sich während des Schuljahres als ein klares Bild mit bunten Farben und deutlich erkennbaren Umrissen.

Es werden Ratschläge erteilt: ob Schüler sich in den Ferien mit dem Unterrichtsstoff befassen sollen usw. – alles unbegründbar aus dem wenigen, was die Hirnforschung weiß.

Erstaunlich, was die Öffentlichkeit sich von diesen "Hirnforschern" bieten läßt. Geradezu zwanghaft werden psychologische Ansichten in den Neuro-Jargon gekleidet.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 29.07.2013 um 09.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23781

Gute Lehrer zeichnen sich durch Einfühlungsvermögen, fachliche und didaktische Kompetenz sowie Menschlichkeit aus. So etwas kann man nicht auf neurologische Erkenntnisse reduzieren, sondern es ist eine Frage der Persönlichkeit und der Erfahrung. Die Neurowissenschaft mag diese Eigenschaften erklären helfen (was sie bisher nicht tut), aber man kann mit ihrer Hilfe keinen guten Lehrer konstruieren.

Geradezu abstoßend finde ich die Reduzierung von Kindern und Jugendlichen zu Rezipienten von Lernstoffen – als ob die jüngere Generation nicht dieselben Probleme mit der Pubertät, dem Erwachsenwerden hätte wie frühere.

Sind wir wirklich schon wieder so tief gesunken?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.08.2013 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23955

In der FAZ (28.8.13) und anderen Medien wird über die Versuche niederländischer Forscher berichtet, aus Hirnscans zu erkennen, welche Buchstaben ein Proband gerade sieht.
Die Bilder zeigen das Wort BRAINS, dazu die handgeschriebene Vorlage.
Irreführend ist zunächst schon die Darstellung in den typischen Falschfarben, die man von computertomographischen Abbildungen her kennt. In Wirklichkeit handelt es sich diesmal nicht um Abbilder von unterschiedlich durchbluteten Hirnregionen, sondern um vorgefertigte Buchstabenbilder, in die anscheinend eingetragen wurde, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Erregungsmuster den Teilen der Vorlage zugeordnet werden konnten. In „Gehirn & Geist“ heißt es: „Aus den optischen Informationen des Gehirns errechnete der Computer die darunter liegenden Bilder.“ Das scheint aber nicht zu stimmen.
Man weiß ja seit Hubel/Wiesel, daß verschieden orientierte Linien in verschiedenen Regionen verarbeitet werden. Abbildungen des Gesehenen sind „oberhalb“ der Netzhaut nicht zu erwarten. Das wird in dem Kurzbericht auch nicht behauptet, aber die farbigen Bilder suggerieren es.
Besonders möchte ich jedoch auf die deutlich erkennbaren Serifen hinweisen, die bei allen Abbildungen des I vorkommen, nicht aber in der Vorlage. Daher die Vermutung, daß die Buchstabenbilder Schablonen sind, die von den Forschern selbst angefertigt und keineswegs aus den Scans gewonnen wurden. Es wäre auch extrem unwahrscheinlich, daß aus Dutzenden von gemittelten (überlagerten) Scans ein so feines Detail wie Serifen erkannt werden könnte.
Warum wurden Buchstaben gewählt und nicht einfache geometrische Figuren? Offenbar soll die Nähe zur Sprachverarbeitung eine höhere Relevanz der Untersuchung nahelegen.
Ich kenne die Originalveröffentlichung noch nicht, bin aber skeptisch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.10.2013 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24171

„Am Ende repräsentiert eine bestimmte Neuronengruppe eine bestimmte Informationseinheit wie ein Wort, eine Eigenschaft, eine Handlung, einen regelhaften Zusammenhang etc.“ (Hilke Elsen: Wortschatzanalyse. Tübingen 2013:103)

Wie kann eine Neuronengruppe „einen regelhaften Zusammenhang etc.“ repräsentieren? Die Verfasserin hat wahrscheinlich noch nie eine Neuronengruppe gesehen.

Man scheint etwas gesagt zu haben, aber es ist leeres Gerede, Neurobluff.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 04.10.2013 um 07.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24173

Ich habe das Buch nicht gelesen und werde das auch nicht tun, aber das Zitat scheint mir ein weiteres Beispiel für den fatalen Einfluß der Generativen Grammatik auf die Linguistik zu sein. Einer der Gründe für mich, im Germanistikstudium den sprachwissenschaftlichen Anteil auf das Pflichtprogramm zu beschränken, war der Eindruck, daß es sich um eine Humanwissenschaft handelte, in der überprüfbares menschliches Verhalten den Erfordernissen von Theorien untergeordnet wurde. Skinner kannte ich damals noch nicht, und auch Paul wurde von unseren "fortschrittlichen" Dozenten niemals erwähnt, aber die unüberbrückbare Distanz zwischen den Theorien der Sprachwissenschaftler und der Sprachwirklichkeit hat mich damals abgestoßen, zumal es einen Psychologen gab, dessen sprachpsychologische Lehrveranstaltungen wesentlich gehaltvoller waren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2013 um 11.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24373

„Während die analytisch-sequentielle Phonem-Graphem-Zuordnung in der linken Hirnhälfte angesiedelt ist, bedarf der Zugriff auf das „innere Lexikon“ der „ganzheitlich-simultanen“ Arbeitsweise der rechten Hirnhälfte (vgl. Brügelmann 1989, 117ff).“ (Sigrun Richter)

Wenn es aber nun gar kein inneres Lexikon gibt – was dann? Hans Brügelmann weiß nichts darüber, Sigrun Richter natürlich auch nicht. Es ist alles nur Neurobabble.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.11.2013 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24374

Since psychology as an academic discipline was developed largely in North America, some psychologists became concerned that constructs accepted as universal were not as invariant as previously assumed (...)

So Wikipedia unter "Cross-cultural psychology". Die englische Sprache beherrscht zwar international die gesamte psychologische Literatur, und der Publikationsdruck in den USA übeschwemmt die Welt mit unzähligen psychologischen Forschungsergebnissen, aber die Psychologie ist trotzdem keine amerikanische Erfindung. Ziemlich amerikanisch ist der Radikale Behaviorismus, und gerade der erforscht nicht "human behavior and mental processes", da er letztere für ein unnützes und schädliches Konstrukt hält.

Der Vorsatz, keine außeramerikanische Fachliteratur zur Kenntnis zu nehmen, mag bei heutigen amerikanischen Psychologen im Gegensatz zu früher einen solchen Eindruck erzeugen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2013 um 04.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24409

Noch zur Wissenschaftsgeschichte der Psychologie:

From 1860 until 1927, experimental psychology was born in Germany, and developed into a formal program of introspection that flourished in America until the death of its last great practitioner, E.B. Titchener. How could something as unscientific as introspection be considered an experimental science? There was no other definition of scientific psychology at the time, and Wilhelm Wundt, the official founder of the introspectionist school, was committed to experimentation defined by controlled observation and measurement. (William Adams: Introspectionism Reconsidered)

Das war zwar ein Irrweg, aber eben doch im wesentlichen von Deutschland aus. Interessant noch aus demselben Aufsatz:

„So what exactly are the elements of consciousness? According to Titchener, there are three classes of elements: sensations, images, and affections. The sensations were the mental elements as given by the senses. Titchener and Wundt had discovered about 50,000 sensations. Images were the elements of ideas, and affections were the elements of emotions. All the elements had attributes: quality, intensity, duration, and clearness (and for vision, extensity in space). The qualities multiply the number of discrete sensory conditions one might discern to 194,250 for vision and 46,222 for the other senses, for a total of 240,470.
Despite this impressive quantity of findings, Titchener's and Wundt's scientific psychology did not seem compelling to other scientists, who increasingly preferred third-person observation, especially of animal behavior. When Titchener died in 1927, so did the whole introspectionist movement. The quarter of a million findings meticulously gathered over so many decades are forgotten.

Ist es nicht faszinierend, daß die Evidenzen von gestern heute nicht einmal mehr verstanden werden? Evidenz ist eben der Feind der Wahrheit, wie schon Russell bemerkte. (Evidenz ist, anders gesagt, der Kern der Rhetorik.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.11.2013 um 08.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24496

Gegen Ausdrucksweisen wie Bilder im Geist ist nichts einzuwenden, weil Geist und Bild/Vorstellung usw. zur selben folkpsychologischen Verständigungstechnik gehören, die hierzulande ganz gut funktioniert. Dagegen ist Bilder im Gehirn eine begriffliche Monstrosität, worauf besonders Bennett/Hacker immer wieder hingewiesen haben. Die Suche nach Bildern im Gehirn führt die Neurowissenschaftler auf eine falsche Fährte. Im Gehirn (von dem die Alltagspsychologie nichts weiß) kann es keine Bilder geben (übrigens auch keine Sprache, "language of thought"). Im Computer gibt es ja auch kein Rechtschreibtagebuch, sondern nur Ladungen usw., aus denen man zusammen mit einer bestimmten Peripherie einen Output erzeugen und diesen dann manchmal als Rechtschreibtagebuch interpretieren kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.12.2013 um 14.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24522

„Aus fMRT- und EEG-Untersuchungen wissen wir, dass es ein Lexikon im Gehirn gibt. Es liegt bei Rechtshändern im hinteren Teil des oberen Gyrus des Schläfenhirns der linken Hemisphäre, und wir wissen einiges darüber, wie es organisiert ist.“
(Ralf Erkwoh/Gerhard Blanken: Neurowissenschaftliche Grundlagen der Kommunikation. e-Journal Philosophie der Psychologie. 2006 (http://www.jp.philo.at/texte/ErkwohR1.pdf))

Kompletter neurosophischer Unsinn, aber wie viele Leser merken es?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.12.2013 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24540

Es gibt einen naiven Stolz auf die "Komplexität" oder "Kompliziertheit" der eigenen Sprache - wobei dahingestellt bleiben kann, ob man die Komplexität von natürlichen Sprachen überhaupt messen und vergleichen kann.
Wer sonst nicht viel aufzuweisen hat, beherrscht doch immerhin seine Muttersprache, und wenn die nun besonders komplex ist, vollbringt er tagtäglich eine tolle Leistung. Diese naive Einstellung kann sich neuerdings mit dem "Neurobluff" verbinden, und dann kommt so etwas heraus:

Wer bisher behauptet hat, Türkisch sei eine einfache Sprache, wird nun eines Besseren belehrt. Türkisch wird im Gehirn ganz anders verarbeitet als andere Sprachen.
Wörter mit endlosen Endungen, das rollende „R“ und die vielen neuen Buchstaben, machen es Türkisch-Lernern nicht gerade einfach. Dr. Gülay Ediboğlu-Cedden vom Fremdspracheninstitut der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara erklärt, dass das Lernen einer Fremdsprache immer mit unterschiedlichsten Aktivitäten im Gehirn zu tun hat.
In der Türkei untersuche die Wissenschaftlerin nun auch erstmals die Hirnaktivitäten bei Muttersprachlern untersucht. „Wir haben beim Türkischen bestimmte Aktivitäten gemessen. Diese haben wir mit anderen europäischen Sprachen verglichen. Beispielsweise haben wir bei den Versuchspersonen, die Englisch als Muttersprache haben, weniger Aktivität gemessen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Sprache im Türkischen eine weitere Verarbeitung durchlaufen muss.“
Im Englischen und Deutschen komme es nur in der 400. Millisekunde zu einer Aktivität, so Ediboğlu-Cedden. Bei türkischen Muttersprachlern sei das anders. Es zeige sich beim Sprechen eine Hirnaktivität in der 400. und 600. Millisekunde.
Die Wissenschaftler rätseln nun, wie es zu der zweiten Hirnaktivität kommen kann. Was unterscheidet das Türkische von anderen Sprachen? Ediboğlu-Cedden meint, im Türkischen werde die Konjugation als Suffix an den Wortstamm gehängt. Zur Bildung eines Satzes müsse man zudem den gesamten Satz vorher im Kopf bilden, damit die Endungen aufeinander abgestimmt werden können. Das sei in europäischen Sprachen nicht der Fall, so die Vermutung der Sprachwissenschaftlerin.
(Deutsch-Türkische Nachrichten 20.12.11).

Dazu dies.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.12.2013 um 11.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24545

Auch für die slawischen Sprachen gilt, daß man einen Satz erst im Kopf grammatisch konstruieren muß, bevor man ihn aussprechen oder hinschreiben kann. Die Verben haben suffigierte Personalendungen und die Substantive suffigierte Kasusendungen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.12.2013 um 04.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24561

Die Firma The Neuromarketing Labs des bereits genannten Kai-Markus Müller hat es wieder mal in die Zeitung geschafft (FAZ vom 7.12.13). Sie hat mit dem Hirnscanner die Wirkung von Fernsehserien untersucht. Bald wird es die hirngerechte Unterhaltungssendung geben.
Es ist allerdings nicht zu erkennen, wieso die Ergebnisse über eine herkömmliche Konsumentenpsychologie hinausgehen sollen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.12.2013 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24566

98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt.  Nach der Schule sind es nur noch 2%. (Ankündigung des Films „Alphabet“)

Man ahnt gleich, daß hier Gerald Hüther mitgewirkt haben muß, und so ist es dann auch.

Wozu die Einschränkung und die Ausgrenzung von 2 Prozent? Ich nehme tapfer an, daß 100 Prozent der Neugeborenen höchstbegabt sind. Natürlich stets im Vergleich mit den anderen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2013 um 04.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24586

Der Mentalismus (jetzt Kognitivismus) ist so verbreitet, daß die behavioristische Kritik oder auch nur eine philosophische Kritik wie bei Peter Hacker dagegen fast hoffnungslos erscheint. Skinner hat das Problem, wie gewohnt, unübertrefflich erfaßt:

"The reasons for the popularity of cognitive psychology have nothing to do with scientific advances but rather with the release of the floodgates of mentalistic terms fed by the tributaries of philosophy, theology, history, letters, media, and worst of all, the English language." (In A. Charles Catania/Stevan R. Harnad, Hg.: The selection of behavior. The operant behaviorism of B. F. Skinner: Comments and consequences. Cambridge u.a. 1988:447)

(Dieser Band, in dem die Elite der damaligen Psychologie miteinander diskutiert, sei wärmstens empfohlen; es gibt kaum etwas Anregenderes.)



„Everyday English is suffused with terms which have come down to us from ancient ways of talking about human behavior. It is impossible to speak English without calling up spirits and invoking gods.“ (Skinner: A Matter of Consequences 389)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2013 um 06.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24683

Die Wissenschaftsbeilage der FAZ bringt zu Weihnachten eine Seite mit prächtigen Fotos von kristallinen Botenstoffen wie Oxytocin. Der beigefügte Text gibt die Schwärmerei der Hirnforscher wieder. Leider ist er kaum lesbar, da invers gedruckt (dünnes Weiß auf Schwarz) – ein Verstoß gegen Grundwissen der Leserlichkeits-Forschung. Das kann man sogar neurologisch begründen. Und dann dies: „Die Psyche, unsere Seele, ist eine andere Herausforderung.“

Das Gehirn steuert das Verhalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.12.2013 um 05.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24695

Steigerung ist möglich: Am 27. Dezember steht im Reiseblatt der FAZ ein Beitrag über Brasilia, der weiß auf blaßgrünlichem Hintergrund gedruckt ist und damit dem Ideal der Unlesbarkeit schon sehr nahekommt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2014 um 04.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24908

Hirnscannen bleibt beliebt, um Spiegelneuronen ist es stiller geworden, allmählich schiebt sich Oxytocin in den Vordergrund. Einige Zeit wurde diskutiert über Altruismus bei Affen, Biosoziologen führten das Wort. Jetzt haben die Leipziger Evolutionsanthropologen (sie machen die beste Pressearbeit von allen deutschen Wissenschaftlern) herausgefunden, daß alles an der Oxytocin-Ausschüttung liegt. Der Stoff wird gefühlt jede Woche zweimal in den Feuilletons erwähnt. Davon wird auch die Linguistik nicht verschont bleiben, die alles Neue dieser Art sehr gern aufgreift.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2014 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24966

In der FAZ vom 29.1.14 bespricht Stephan Wackwitz ein Buch von André Aleman: "Wenn das Gehirn älter wird" (bei C. H. Beck). Da ihm (und uns) der Name des Verfassers noch nie begegnet ist, guckt er in der Verlagswerbung nach:

"André Aleman ist Professor für Neuropsychologie an der Universität Groningen und ein international renommierter Hirnforscher.“

Also schreibt er:

„André Aleman, international renommierter Neuropsychologe aus Groningen (...)“

Er schreibt auch, ganz im Sinne des Buches:

"Alte Gehirne sind jungen überlegen in der Fähigkeit, recht zu haben, ohne recht zu wissen, warum.“

Also die übliche Vermischung - als wenn Hirne (statt Menschen) recht haben könnten usw.

In dem Buch steht auch, daß der Wortschatz mit zunehmendem Alter immer größer wird. Und man soll viel Wasser trinken, sich viel bewegen und viel denken, bevor Alzheimer uns einholt. Wird gemacht!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.02.2014 um 04.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25028

Wie können wir erklären, dass Menschen ihre Muttersprache so schnell erlernen können? In der Spracherwerbsforschung gibt es zwei klassische Ansichten, die von Noam Chomsky und von Jean Piaget erstmals formuliert wurden.
1.Der von Chomsky vertretene Nativismus geht davon aus, dass Menschen über eine sogenannte Universalgrammatik verfügen. Unter einer Universalgrammatik stellen sich Nativisten wie Chomsky, Jerry Fodor und Steven Pinker ein angeborenes syntaktisches Wissen vor. Nur bei der Annahme von einem solchen Wissen könne man den Spracherwerb von Kindern erklären.
2.Der klassische Kontrahent des Nativismus ist der Kognitivismus, der erstmals in Piagets Theorie der Entwicklung kindlicher Kognition ausgearbeitet wurde. Kognitivistische Theorien gehen davon aus, dass sich der Spracherwerb durch die Denkfähigkeiten des Menschen erklären lasse und man nicht auf eine angeborene Universalgrammatik zurückgreifen müsse. In den letzten Jahren wurde der klassische Kognitivismus zunehmend durch einen Interaktionismus ergänzt, der ein stärkeres Gewicht auf die soziale Interaktion von Menschen legt. In diese Richtung geht auch der Vorschlag des Anthropologen Michael Tomasello. Tomasello schlägt vor, dass Menschen über allgemeine kognitive Fähigkeiten verfügen, die sie zur Kommunikation einsetzen.
(Wikipedia Sprachphilosophie)

Die eigentlichen Lerntheorien fehlen. Der „klassische Kontrahent“ des Nativismus ist der Empirismus, vor allem der Behaviorismus.

Das folgende Stückchen, mit dem angehende Lehrer verdummt werden, ist noch schlimmer:

Demgegenüber argumentieren behavioristisch orientierte Lerntheoretiker (z.B. Skinner, Osgood) empiristisch. Ihnen zufolge besitzt der Mensch eine allgemeine Anlage zur Lernfähigkeit, so dass Sprache wie anderes auch vom Verhalten der Erwachsenen abgeleitet wird. Durch Imitation, Akkomodation und Assimilation bildet sich die Sprache des Kindes aus. (http://www.deutschstunden.de/Material/Seminarfach/Sprachentwicklung-und-Sprachgebrauch.htm)

Die Begriffe Akkomodation und Assimilation stammen von Piaget und haben keinen Platz im Behaviorismus.

Dazu noch ein wenig Neurobabble:

Gelernte Verhaltensweisen hinterlassen im Kortex Spuren, doch sind die entsprechenden neuronalen Muster nicht im Sinne einer statischen Organisation konstant verankert respektive ein für allemal lokalisierbar. Während der Entwicklung des Kindes werden diese Muster umorganisiert und auch in den folgenden Lebensphasen verändern sich die Mikrostrukturen im Sinne der sogenannten neuronalen Plastizität. (Wikipedia Spracherwerb)

So wird es wohl sein, aber da niemand diese "Spuren" gesehen hat oder sonst etwas Genaueres darüber weiß, ist die Aussage fast tautologisch und vollkommen wertlos.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2014 um 18.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25053

"Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist Bestandteil unserer biologischen Ausstattung."

Klingt toll. Ich übersetze:

"Alle Menschen können sprechen lernen."

Klingt nicht so toll, ist aber dasselbe.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.02.2014 um 16.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25064

"können sprechen lernen" muß sich nicht auf Biologisches beziehen, sondern kann auch soziale Befähigung, Berechtigung o.ä. bedeuten.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2014 um 16.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25179

Ein Konzept ist die mentale Repräsentation einer Kategorie. (Hilke Elsen: Wortschatzanalyse. Tübingen 2013:118)

Ein Grutz ist die translunare Entsprechung eines Krokodils.

Scherz beiseite: Konzepte sind die Verdoppelung der Sprache in einem erfundenen Niemandsland. Komisch nur, daß man damit etwas erkläören zu können meint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.03.2014 um 04.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25516

In der Welt am Sonntag wird breit dargestellt, daß Musikhören im Mutterleib den Spracherwerb und überhaupt das ganze Leben erleichtern könne. Der Zusammenhang ist rein spekulativ, das entscheidende Experiment oder auch nur eine statistische Analyse vorliegender biographischer Daten ist nicht gemacht worden. Die beteiligten Psychologen und Neurologen haben auch ein sehr beschränktes Bild von Sprache, aber das braucht man gar nicht näher zu untersuchen, zumal dieselben Thesen von derselben Personen seit Jahrzehnten verbreitet werden (fast wörtlich dasselbe schon im SPIEGEL vor 10 Jahren und noch früher in MPI-Pressemitteilungen).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.04.2014 um 15.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25698

Das Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen beantwortet neuerdings auch Fragen von jedermann. Es empfängt uns u. a. auf deutsch:

Gibt es etwas, dass Sie schon immer über Sprache wissen wollten? Vielleicht haben wir die Antwort! Forscher vom Max Planck Institut für Psycholinguistik beantworten hier Fragen über Sprache von Menschen, die selber keine Sprachforscher sind. (http://www.mpi.nl/q-a/fragen-und-antworten)

Das ist nicht gerade vielversprechend, und tatsächlich sind die Texte in beklagenswertem Zustand, was Sprache und Rechtschreibung betrifft (zwei Antworten gelten bisher auch der Rechtschreibung, die Lektüre kann man sich sparen). Aber auch der Inhalt haut einen nicht gerade um:

Darüber hinaus können Affen nicht sprechen, weil ihnen die kognitive Fähigkeit fehlt, die für komplexe Kommunikationsprozesse notwendig ist.

Wer hätte das gedacht! Affen können nicht sprechen, weil ihnen die Sprachfähigkeit fehlt! Das ist zweifellos von Molière entlehnt.

Wenn ich drüber nachdenke, habe ich eigentlich in all den Jahren noch nie etwas Gehaltvolles von diesem Institut gelesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.04.2014 um 06.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25715

In seinem vielgelobten, aber eigentlich sehr schlechten Buch "Lernen" gibt Manfred Spitzer auch eine Tabelle unnützen Wissens: Mozarts Geburtstag, Lebenszeit Karls d. Gr., Name des Hunnenkönigs Attila usw. - weil all das im Internet stehe.
Damit wird die alte Lehre von der formalen Bildung wiederaufgewärmt. Das Internet verführt ja auch dazu. Man braucht nur noch zu wissen, wie man an die Tatsachen herankommt, nicht mehr die Tatsachen selbst.

Ich halte das für eine Täuschung. Wer die Tatsachen nicht im Kopf hat, kann auch keine Beziehungen zwischen ihnen erkennen. Als Amateurmusiker würde Spitzer wohl kaum sagen, man braucht das Instrument nicht spielen zu können, man muß nur wissen, wie es gespielt wird.

Übrigens steht die These auch im Widerspruch zu anderen, vernünftigeren Ansichten Spitzers. Aber Widersprüche sind ja bei diesem fernsehfreudigen Fernsehgegner nichts Ungewöhnliches.

Unnütz ist das Quiz-Wissen. Aber nur deshalb, weil es zusammenhanglos bleibt. Der Name des Hunnenkönigs wird ja wohl im Geschichtsunterricht vermittelt, zusammen mit einigem Wissen über die Hunnen (oder in Deutsch bei Lektüre des Nibelungenliedes). Den Namen Attila zu kennen, wenn man sonst keine Ahnung von den Hunnen hat, ist natürlich sinnlos.

Das Quiz-Wissen ist so unnütz wie das Zeittotschlagen überhaupt und aus demselben Grunde.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.04.2014 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25716

Gibt es reines Quiz-Wissen überhaupt? Das wäre ja so unsinnig wie das Telefonbuch auswendig zu lernen. Na ja, vielleicht gibt es einzelne so "Verrückte". Ich kann es mir nur einfach nicht vorstellen, zusammenhanglos aneinandergereihte Fakten zu lernen.
Menschen mit sehr gutem Allgemeinwissen werden sicher auch in einem Quiz gut bestehen, umgekehrt glaube ich, wer von nichts Ahnung hat, wird in keinem Quiz weit kommen, höchstens ein paar Zufallstreffer landen. Deswegen würde ich ein Quiz doch für einen ganz passablen Wissenstest halten, und unterhaltsam kann es ja auch sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2014 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25729

Wieder auf der Wissenschaftsseite der FAZ (30.4.14): in Beitrag über das Y-Chromosom - invers gedruckt: weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, und so schwer zu entziffern, daß ich darauf verzichte und mich lieber anderswo kundig mache.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2014 um 05.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25730

Wolfgang Krischke bespricht in der FAZ vom 30.4.14 ein neues Buch von Jürgen Trabant ("Globalesisch"). Obwohl er sich ein positives Gesamturteil abringt (wie fast alle Trabant-Rezensenten, wegen des rhetorischen Geschicks), macht er den wunden Punkt genau kenntlich: Trabants humboldtisierende These von der geistig bereichernden Wirkung des Fremdsprachenlernens aufgrund der spracheigenen Weltansichten. Er fragt spitz, welche Bereicherung Trabant denn durch die beiden spanischen Wörter für dt. "sein" erfahren habe oder ein Deutschlerner durch die drei Genera vom Messer, Gabel und Löffel erfahre. Man könnte auch Humboldt solche Fragen stellen, wenn er noch lebte.
Damit ist der Ideologie der Fremdsprachdidaktik der Boden entzogen. Es kann andere Gründe geben (warum fragt man nicht die Menschen, die zu Millionen Fremdsprachen lernen?), aber dieser ist ganz untauglich. Was bleibt dann noch von Trabants unermüdlich wiederholten Thesen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.05.2014 um 07.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25761

„Das Gehirn braucht in seiner Entwicklungsphase nicht Regeln, sondern gute Beispiele.“ (Manfred Spitzer: Geist im Netz. Heidelberg 1996:334)

Wieso das Gehirn? Er meint einfach Kinder. Regeln und Beispiele sind nichts, was man mit dem Gehirn in Verbindung bringen könnte.

Auch in diesem Buch zieht Spitzer pädagogische Schlußfolgerungen, die nichts mit dem Abriß neurologischen Grundwissens zu tun haben.
(Das Territorialverhalten von Flußkrebsen ist evolutionär sehr weit von menschlichem Verhalten entfernt und sollte nicht ohne weiteres herangezogen werden. Ein Beispiel von vielen. Aber es gibt auch viele Leser, denen das gefällt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.05.2014 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25787

Noch einmal zu:

Jürgen Trabant: Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen. München 2014.

Das Buch ist wie die anderen durchweg recht polemisch formuliert.
Trabant schildert kurz die mehr oder weniger gewaltsame Durchsetzung des Französischen als Staatssprache nach der Revolution und fährt fort: „Genau das soll jetzt in Europa geschehen.“ (19)
Dabei übergeht er, daß bis auf wenige Ausnahmen (Zwang zu englischsprachigen Förderanträgen u. ä.) kein staatlicher Zwang zur Durchsetzung des Englischen ausgeübt wird. Das gibt er eine Seite später selbst zu und findet es „völlig merkwürdig und irgendwie unmodern“, daß die EU „sich nicht traut, eine jakobinische Sprachpolitik zu konzipieren und zu implementieren.“ Das brauche sie auch nicht, „weil die Wirtschaft selbst dieses Geschäft erledigt“.
Unbewiesen bleibt die Hauptvoraussetzung, also Trabants humboldtianische These von den Weltansichten der Sprachen und von der geistigen Bereicherung durch das Lernen anderer Sprachen. Hinter den Kritikern dieser These vermutet er die Interessen der globalen Wirtschaft. (22) Seine eigenen Argumente sind kümmerlich. Zum Beispiel das Wörtlichnehmen von wie geht es dir?, how do you do?, comment allez-vous? soll unterschiedliche Denkweisen offenlegen. „Während der Engländer etwas selber 'tut' (you do), gibt es im Deutschen ein unpersönliches 'Gehen' (es geht), dem der Akteur im Dativ zuordnet ist, es handelt sich um etwas, was dem Du widerfährt.“ Im Französischen soll das „Gehen“ eine „Handlung des Du“ sein.
Ich halte das für Unsinn. Die Engländer rechnen einander ihr Wohlergehen nicht als Tun an, ziehen niemanden deshalb zur Verantwortung. Die Deutschen betrachten sich auch nicht als „Akteure“ ihres Wohlergehens, denen – widersprüchlich genug – etwas „widerfährt“.
„Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand behaupten kann, diese strukturellen Differenzen zwischen Sprachen seien keine Unterschiede des 'Denkens'. Was sollen sie denn sonst sein?“ Er sieht nicht, daß es eines unabhängigen Beweises bedarf. Das bloße Ausdeuten der idiomatischen Wendungen selbst dreht sich im Kreis. Andere Beispiele sind frz. fleuve/rivière gegenüber Fluß usw. Wir hatten das jahrzehntelang, angefangen von den Schnecken (limace/escargot) bis hin zu den Speisen. Verhalten sich Franzosen, abgesehen von den Benennungen, auch sonst gegenüber Fließgewässern ander als die Deutschen? Essen sie Weinbergschnecken wegen der unterschiedlichen Benennungen? Verhalten wir uns gegenüber Nacktschnecken und Hausschnecken gleich? Schon Whorf hat sich vergeblich bemüht, einen solchen Zusammenhang zwischen Sprache und sonstigem Verhalten nachzuweisen, später Helmut Gipper ebenso erfolglos.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.05.2014 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25813

In einem Interview der letzten FAS (11.5.14) hat Jürgen Trabant seine Ansichten noch einmal zusammengefaßt. Zitat: „In England gehen, glaube ich, bis zu 20 Prozent der Wirtschaftsleistung auf den Englischunterricht für Ausländer zurück.“
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.05.2014 um 09.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25814

Versuch einer Übersetzung: Es ist für England von wirtschaftlichem Vorteil, daß dort Englisch gesprochen wird.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.05.2014 um 09.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25815

Die Zahlenangaben mal beiseite - in der zugespitzten Form des Interviews kommt der alte Widerspruch besonders klar heraus: Einerseits sollen die anglophonen Länder einen enormen Vorteil davon haben, daß sie Englisch nicht erst lernen müssen, sondern im Gegenteil mit Englischunterricht noch Geld verdienen. Deshalb schlägt Trabant hier und in seinen Büchern vor, England solle dem Festland Ausgleichszahlungen leisten.
Andererseits soll Fremdsprachenlernen ja einen großen Gewinn bringen, zunächst nur einen Bildungsgewinn (Weltansichten ...), der sich aber dann auch wirtschaftlich auszahlt. Daher die Überschrift "Englisch gefährdet das Denken". Besonders die Amerikaner verblöden, weil sie keine Fremdsprachenlernen, und Deutschlands Export blüht, weil die Deutschen Fremdsprachen lernen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.05.2014 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25873


In der FAZ vom 21.5.14 schreibt die Neurolinguistin Angela Friederici eine ganze Seite über ihre Forschungen. Auszug:

„Der Linguist Noam Chomsky hat ein Theorem formuliert, welches als das Grundprinzip der syntaktischen Kombinatorik gelten darf. Dieses Theorem Z postuliert, dass zwei sprachliche Elemente X und Y gemäß einer einzigen Operation, genannt ‚merge‘, zu einem neuen sprachlichen Element Z zusammengefügt werden. So entsteht durch das Zusammenfügen des Artikels ‚das‘ und des Nomens ‚Schiff‘ die Nominalphrase ‚das Schiff‘. Auf der nächsten Hierarchieebene kann diese Nominalphrase dann ihrerseits mit einem Verb zusammengefügt werden, um einen Satz zu bilden: ‚Das Schiff sinkt.‘ Diese Operation des Zusammenfügens von Elementen kann somit in wiederholter Weise, immer und immer wieder, rekursiv appliziert werden. Dieses syntaktische Grundprinzip kann im Gehirn scharf eingegrenzt innerhalb des Broca-Areals im linken Stirnlappen nachgewiesen werden.“

Es folgt dann noch einiges über Broca- und Wernicke-Areal, durchweg auf dem Kenntnisstand des 19. Jahrhunderts.
-
Es verschlägt einem die Sprache...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.05.2014 um 10.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25876

Artikel sind nur nötig, wenn es keine eindeutigen Substantiv-Kasus-Endungen gibt. Die meisten slawischen Sprachen außer Neubulgarisch und Mazedonisch kommen wie das klassische Latein ohne Artikel aus. Im Alt- und Bibelgriechischen wird beides verwendet. Im Bibelgriechischen haben ähnlich wie im Bairischen auch die Namen einen Artikel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2014 um 14.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25877

Aufs Griechische weisen Sie selbst hin, man könnte als weitere bedeutende Sprache das Chinesische und viele andere erwähnen (keine Kasusendung und keine Artikel), so daß also der allgemeine Satz nicht stimmt. Aber darum ging es mir natürlich nicht, sondern um die unglaubliche Unterstellung, daß Chomsky die Syntax gewissermaßen entdeckt habe, abgesehen von weiteren Mängeln der zitierten Ausführungen. Fällt alles unter "Neurowahn und Neurobluff".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2014 um 16.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25880

Das Gehirn weiß nichts von Sprache. Die Regeln sind so wenig im Gehirn, wie Bilder, Musik und Sprache im Computer sind. Erst in Verbindung mit Peripheriegeräten kommt es zu Erscheinungen, die wir als Bilder, Musik und Sprache interpretieren. Das Gehirn steuert ein Verhalten, das in bestimmten sozialen Zusammenhängen konventionsgemäß als Sprache usw. interpretiert wird.

Die angedeutete Kategorienverwechslung ist der Hauptfehler der Neurolinguistik und der Grund ihrer Ertraglosigkeit.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.05.2014 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25881

Früher wurde im linguistischen Grundstudium so getan, als habe es vor Saussure keine Sprachwissenschaft gegeben. (In Wirklichkeit hat es Saussure, so wie man ihn kennt, nicht gegeben, aber das ist ein anderes Thema.) Heute werden offenbar Linguistinnen gezüchtet, die glauben, es habe vor Chomsky keine Sprachwissenschaft gegeben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.06.2014 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25952

Das MPI für Bildungsforschung, auf das wir gern verzichten würden, muß ab und zu seine Existenzberechtigung nachweisen. Daher das neueste Kapitel Neurobluff:

Die Auswertung der Ergebnisse zeigte einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Stunden, die die Probanden in der Woche mit pornografischem Material verbringen, und der Größe der grauen Substanz im gesamten Gehirn. Im Ergebnis zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Pornographiekonsum und der Größe des Striatums, einer Hirnregion, die zum Belohnungssystem des Gehirns gehört. Das heißt: Je mehr sich die Probanden mit Pornografie beschäftigten, desto kleiner war das Volumen ihres Striatums. „Das könnte bedeuten, dass der regelmäßige Konsum von Pornografie das Belohnungssystem gewissermaßen ausleiert“, sagt Simone Kühn, Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.
Außerdem war die Belohnungsaktivität des Gehirns bei Probanden, die häufiger und regelmäßiger Pornografie konsumieren, beim Anblick sexuell stimulierender Bilder deutlich geringer als bei Probanden mit seltenem und unregelmäßigem Pornografiekonsum. „Deswegen nehmen wir an, dass Probanden mit hohem Konsum immer stärkere Anreize benötigen, um das gleiche Belohnungsniveau zu erreichen“, so Simone Kühn. Dies legen auch die funktionellen Verbindungen des Striatums zu anderen Hirnregionen nahe, denn bei höherem Pornografiekonsum war die Kommunikation zwischen der Belohnungsregion und dem präfrontalen Kortex schwächer. Der präfrontale Kortex trägt gemeinsam mit dem Striatum zur Motivation bei und scheint dabei das Streben nach Belohnung zu steuern.


-

Das haben wir schon immer geahnt. Sonst wäre ja der Frauenarzt den ganzen Tag in höchster Erregung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 13.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26004

Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Heidelberg 2009.

Liest sich leicht, verkaufte sich gut.

Der Titel führt, wie der englische Originaltitel, in die Irre. Das Gehirn liest natürlich nicht. Es geht ja auch nicht ins Theater usw. Die Erwartung des Lesers wird nicht enttäuscht: viel Neurobabble. Das muß man nicht lesen.

Als Beispiel für die Oberflächlichkeit, trotz enormer Mengen an Literaturangaben, können die Behauptungen über das Chinesische und die angeblich von der Schrift geprägten chinesischen Gehirne dienen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2014 um 11.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26040

Wenigstens ein Zitat aus diesem sonderbaren Buch:

„In meinem Graduiertenseminar entdeckte ich einen weiteren Aspekt, der Chinesisch von den anderen alten Schriften unterscheidet. Als ich meine chinesischen Studenten an der Tufts University fragte, wie sie in so jungen Jahren so viele Schriftzeichen hätten lernen können, lachten sie und meinten, sie hätten ein „Geheimsystem“ – Pinyin. Leseanfänger lernen die phonetische Umschrift Pinyin, damit sie leichter begreifen, worum es beim Lesen und Schreiben geht, und um sie darauf vorzubereiten, dass sie sich bis zur fünften Klasse 2000 Schriftzeichen einprägen müssen. Was ist das Geheimnis des Pinyin? Es ist ein kleines Alphabet. Indem es den Leseanfängern das Gefühl vermittelt, dass sie eine kleine Teilmenge von Zeichen beherrschen, bereitet es den Boden für das eigentlicheLesen und die Leser gehen die vor ihnen liegenden Aufgaben mit mehr Zuversicht an.
Dies ist nicht die einzige Überraschung, mit der Chinesisch aufwartet.“
(Usw.) (Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Heidelberg 2010:58f.)

Man kann sich also jahrelang mit Schriftsystemen beschäftigen und seitenweise Behauptungen über chinesische Gehirne aufstellen - und dann einen solchen Unsinn niederschreiben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.06.2014 um 08.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26065

Gerhard Heldmaier/Gerhard Neuweiler: Vergleichende Tierphysiologie I. Heidelberg (Springer): 2003

Neuweiler spricht im Vorwort davon, daß im Gehirn der Tiere „Repräsentationen der Umwelt“ aufgebaut werden, und auch im Buch selbst ist gelegentlich davon die Rede (S. 1). Bezeichnenderweise kommt im Register das Stichwort „Repräsentation“ nicht vor, was sonderbar wäre, wenn es sich um eine so grundlegende Tatsache handelte. Aber physiologisch ist der Begriff eben gar nicht ratifiziert, er ist nur eine philosophische Konstruktion.

Im Inhaltsverzeichnis heißt ein Kapitel: Die Blaulicht empfindliche Fovea der Kriebelmücken-Männchen. Im Text selbst heißt es dann blaulichtempfindlich; vgl. Vorschau bei www.amazon.de.

(Die Neubearbeitung 2013 habe ich noch nicht in der Hand gehabt.)
 
 

Kommentar von P. Küsel, verfaßt am 16.06.2014 um 12.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26068

(Schon lange wollte ich mich für die Buchempfehlung Catania/Harnad, The selection of behavior bedanken. Jetzt tue ich es endlich!)

Ein Zitat aus dem Aufsatz Behaviorism at fifty paßt hier gut:

»It took us a long time to understand that when we dreamed of a wolf, no wolf was actually there. It has taken us much longer to understand that not even a representation of a wolf is there.« (S. 286)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.06.2014 um 14.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26069

Das freut mich aber, daß dieser anregende Band einen weiteren Leser gefunden hat. Zu empfehlen ist auch von denselben Herausgebern: Variations and Selections. An anthology of reviews from JEAB.
In beiden Büchern wird man dank der Vielfalt und Vielzahl der hochqualifizierten Beiträger durch weite Bereiche der Wissenschaft gescheucht und muß sich schwer anstrengen, aber es lohnt sich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2014 um 06.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26096

Nicht zum erstenmal geistern Berichte durch die Medien, wonach amerikanische Forscher dem Ursprung der Sprache nähergekommen seien. Mit einer Sprachauffassung, die - am MIT nicht überraschend - von Chomsky geprägt ist, meinen sie, daß die Intonation von den Vögeln stammt, der lexikalische Gehalt von den anderen Primaten oder so ähnlich.

From birds, the researchers say, we derived the melodic part of our language, and from other primates, the pragmatic, content-carrying parts of speech. Sometime within the last 100,000 years, those capacities fused into roughly the form of human language that we know today. (Science daily 2014)

Based on an analysis of animal communication, and using Miyagawa’s framework, the authors say that birdsong closely resembles the expression layer of human sentences — whereas the communicative waggles of bees, or the short, audible messages of primates, are more like the lexical layer. At some point, between 50,000 and 80,000 years ago, humans may have merged these two types of expression into a uniquely sophisticated form of language. (MIT News office 2013)

Schön und gut, aber was haben unsere Vorfahren in den 100 Mill. Jahren gemacht, die uns vom letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Vögeln trennen? Es geht doch nicht um 50.000 oder 100.000 Jahre. Fehlt nur noch, daß wir den lexikalischen Gehalt von den waggles of bees ererbt haben.

Das sind bestenfalls funktionale Analogien.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.07.2014 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26206

Wenn man verdrängt, was man über den Behaviorismus zu wissen glaubt, kann man immer wieder mal mit sensationellen Forschungsergebnissen in die Presse gelangen. Das hat sich wohl auch der Nachwuchspsychologe Tommy Blanchard gedacht. In der FAZ liest es sich so:

Auch Affen glauben an die Siegessträhne - (...) Doch auch wenn das Futter rein zufällig verteilt war, reagierten sie nach ein paar erfolgreichen Treffern regelrecht euphorisch und drückten weiter denselben Knopf. Wie die Wissenschaftler im „Journal of Experimental Psychology: Animal Learning and Cognition“ schreiben, glaubten die Affen offenbar, ein Muster zu erkennen, das statistisch gar nicht vorhanden war. (FAZ 2.7.14)

Nun, das hat Skinner bereits 1947 dargestellt („Superstition in pigeons“), und es ist seither oft untersucht worden. Aber Skinner kam ohne das mentalistische Beiwerk aus. Es geht um Verhalten und Verstärkungspläne, nicht um „beliefs“. 70 Jahre Rückschritt werden als neueste Forschung verkauft.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 02.07.2014 um 22.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26213

In diesem Artikel ist mir auch einiges aufgefallen:

Dass Glücks- oder Erfolgssträhnen in den meisten Fällen statistisch gar nicht zutreffen, sondern nur das Ergebnis von Zufällen sind, spielt keine Rolle.

Was soll es denn bedeuten, daß eine Glückssträhne "zutrifft" oder "nicht zutrifft"? Trifft heute eigentlich der Mond zu? Entweder hat man eine Glückssträhne oder nicht, und wenn man sie hat, ist es natürlich Glück bzw. Zufall, was sonst?

Überhaupt, was hier unter einer Sieges-, Erfolgs- oder Glückssträhne verstanden wird: "und drückten weiter denselben Knopf".
Angenommen, ich erkenne ein bestimmtes Muster und gewinne tatsächlich durch wiederholte Anwendung dieses Musters. So etwas ist doch keine Glückssträhne, sondern Berechnung. Wenn ich aber selbst nicht weiß, wieso ich gerade diesen Knopf wähle, ich wähle ihn rein zufällig und gewinne jedesmal damit - das ist eine Glückssträhne.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.07.2014 um 04.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26214

Es geht darum, daß der Organismus in bestimmten Fällen so reagiert, als habe er eine falsche Wahrscheinlichkeitsberechnung angestellt, etwa nach dem Prinzip: "Einmal ist keinmal, zweimal ist immer." (Das pflegte einer meiner Professoren zu sagen, wenn es um Belege für eine bestimmte grammatische Form in alten Texten ging.) Das erinnert an Gestaltschließung, wie man sie bei optischen Täuschungen erlebt, aber auch beim Hineinhören einer Melodie in die Meeresbrandung usw. Dahinter scheint ein evolutionärer Nutzen zu stecken. Jederzeit orientiert zu sein (mit dem Risiko des Irrtums) könnte im Sinn der Handlungsfähigkeit und des Überlebens nützlicher sei als langes Abwägen. Das dürfte auch beim Sprechenlernen eine Rolle spielen (Übergeneralisierung). Ich erinnere an den mehrmals zitierten Satz von Wilhelm Havers: "In sprachlichen Dingen ist der Mensch ein schwacher Kopfrechner", der hier eine ganz neue Facette erhält. Oder noch einmal die chinesische Fabel, die hinter dem Sprichwort steht: "Einen Baum bewachen, um einen Hasen zu fangen." (Shou zhu dai tu - Ein Bauer vernachlässigt alles, nur weil zufällig einmal ein Hase gegen einen Baum gerannt ist und sich das Genick gebrochen hat.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.07.2014 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26222

Crystal Meth zerfrisst Körper, Geist und Seele (focus.de)

So erfährt man ganz beiläufig, woraus der Mensch besteht.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 03.07.2014 um 17.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26223

Es hat keinen Zweck, hier im Sprachforschungsforum gegen bestimmten religiösen Sprachgebrauch zu argumentieren. Dahinter steht eben eine ganz andere Lebenserfahrung als die der Naturwissenschaften, wie wir sie heute in der Forschung erleben und deren Sicht wir anerkennen, weil sie uns weiterbringt. (Wohin, das weiß aber auch keiner so genau.) Mich erstaunte allerdings, wie leicht sich vor einigen Jahrzehnten im Sprachgebrauch der US-amerikanischen damals "Schwarzen", später (und wohl auch heute noch) "African Americans" (eine eigentlich ebenfalls nicht richtig beschreibende Bezeichnung) "soul" als Adjektiv für den von ihnen für sich eingenommenen besonderen Kulturbereich durchsetzte: "soul food / soul music / soul man" und wohl noch einiges andere. Aber wenn wir von jemandem sagen, sie ist eine gute Seele, dann ist damit ja auch mehr gemeint als nur ihr Körper und ihr Geist. - Richtig ist übrigens: Crystal Meth zerfrißt auch die Seele. Da kann dann nur noch Gott helfen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 03.07.2014 um 19.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26224

Ich hab zwar keine Ahnung, was Crystal Meth ist, gem. einer Wikipedia-Recherche scheint es aber speziell die Zähne zu zerfressen (Meth-Mund).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.08.2014 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26576

Die Rede von Gedächtnisspuren, neuerdings "Repräsentationen im Gehirn" ist wohlfeil und wertlos.

Erinnerungen können täuschen, wie Testfragen zum vermeintlich klaren Inhalt beweisen. Aber wenn mir Wörter und Namen einfallen, sind sie eindeutig. So fiel mir gerade der Firmenname Kubon & Sagner ein (Buchhandel in München mit dem Spezialgebiet Osteuropa), an den ich bestimmt seit 30 Jahren nicht mehr gedacht hatte und der mir auch nicht viel bedeutet, weil ich nie viel mit slawischer Literatur zu tun hatte. Dazwischen liegen rund 10.000 mehr oder weniger erlebnisreiche Tage. Es dürfte lange dauern, bis man im Gehirn die Spuren von Kubon & Sagner nachweisen kann.
Ich glaube aber zu wissen, warum mir gerade jetzt gerade dieser Name eingefallen ist. Wolfgang Leonhard ist gestorben, der Osteuropa-Experte. Den hatte ich als Schüler kurz vor 1960 bei einer Lesung in einer Buchhandlung erlebt, zwar nicht bei Kobon & Sagner, sondern in der Bahnhofsbuchhandlung in Kassel, aber immerhin, das dürfte die Verbindung hergestellt haben.
Leonhard, der später auch im Fernsehen öfters zu sehen war, hat übrigens unser Bild von der Sowjetunion und ihren Satelliten ziemlich stark beeinflußt, so oder so. Er hat auch auf die zentrifugalen Kräfte hingewiesen. Dazu fällt mir Andrej Amalrik ein, der ziemlich gut das Ende der Sowjetunion vorhersagte; damals glaubten ihm nur wenige.
Aus wie vielen Mosaiksteinchen sich unser Bild von der Welt zusammensetzt! Ohne Fernsehen, bloß vom Zeitunglesen hatte ich im Frühjahr 1989 den bestimmten Eindruck, daß es mit der DDR schnell zu Ende gehen werde. Ich hätte aber nicht sagen können, welche einzelne Information mir diese Voraussage eingab.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.08.2014 um 09.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26579

„Unter Lernen versteht man den Erwerb des Wissens, unter Gedächtnis die Fähigkeit, dieses Wissen wiederfindbar zu bewahren.“ (Spektrum „Gehirn und Bewußtsein“ S. 114)
Es ist aber genau dasselbe: Verhaltensänderung unter dem Einfluß bestimmter Reize. Wenn ich heute Fahrradfahren lerne, kann ich es morgen ("weiß ich morgen, wie es gemacht wird"). Die Frage, ob gestern ein Elefant im Zoo war, kann ich besser beantworten, wenn ich gestern im Zoo war und einen gesehen habe usw. Vgl. Skinner: Verbal behavior. 1957:143.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.09.2014 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26696

Es ist davon auszugehen, dass die Funktion des Gyrus parahippocampalis über das rein visuelle Erkennen hinausgeht. Es gibt Hinweise, dass dieser Bereich des Gehirns an der Erkennung sowohl sozialer Zusammenhänge als auch den Inhalten verbalen Kommunikation beteiligt ist. (Wikipedia)

Der letzte Satz zeigt die Hilflosigkeit; es ist eben alles möglich, wenn man so schlecht definierte Begriffe verwendet wie „soziale Zusammenhänge“, „Inhalte verbaler Kommunikation“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.09.2014 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26776

„Im Gehirn sind alles Wissen und auch die Programme, nach denen dieses Wissen verwertet wird, in der Verschaltung der Nervenzellen gespeichert.“ (Wolf Singer in FAZ 17.9.14)
Das Wissen ist nicht im Kopf oder Gehirn gespeichert, es ist überhaupt nichts gespeichert. „Wissen“ ist ein populärpsychologisches, kulturspezifisches Konstrukt und bezeichnet keine hypothetische Einheit, nach der man suchen kann, wie man nach den Synapsen gesucht hat. Die Hirnforschung als biologische Disziplin sollte gar nicht mit solchen mentalistischen Begriffen wie „Wissen“ arbeiten.
„Woher weiß das Gehirn, welche Erregungsmuster stimmig sind und wie verknüpft es sie mit Empfindungen?“ (Wolf Singer ebd.)
Selbst wenn man das nur für eine saloppe Redeweise hält, zeigt es doch nur, daß der Hirnforscher zum Thema Gehirn und Kunst nichts zu sagen hat. Singer gibt das auch mehrmals zu. Der ganzseitige Artikel brauchte das Wort "Gehirn" gar nicht zu enthalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2014 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26886

Forscher haben festgestellt, daß die Angst der Deutschen (vor der Kirchensteuer usw.) in den Genen eingebaut ist. Die Angst anderer Völker (vor den Deutschen z. B.) hat es anscheinend noch nicht ins Genom geschafft.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.10.2014 um 15.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26973

Michael Tomasello, dessen letztes Buch jetzt auf deutsch erschienen ist und in Zeitungen besprochen wird, hängt immer noch an der Vorstellung, daß das Kind irgendwann lernen müsse, daß auch die anderen Menschen eine Innenwelt haben, mit Absichten, Perspektiven usw. In Wirklichkeit lernt das Kind natürlich von anderen, daß es selbst und zugleich die anderen ein Innenleben haben. Auf dieses kulturspezifische Konstrukt kommt es ja nicht von selbst, das wird vielmehr in das Kind hineingeredetm bis es den folkpsychologischen Sprachgebrauch seiner Umgebung beherrscht. Zur "Grammatik" dieser Sprache (im Wittgensteinschen Sinne) gehört es, daß alle Menschen eine radikal "private" Innenwelt ganz für sich allein haben. Das kommt ihnen dann evident wahr vor. Die Phänomenologen haben daraus einen einträglichen Beruf gemacht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.10.2014 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27085

"Der spanische Neurologe Alvaro Pascual-Leone (...) ließ seine Testpersonen ein einfaches Klavierstück üben. Anschließend untersuchte er jene Regionen in ihrem Gehirn, die die Motorik steuern. Die Gegend, die die Fingerbewegungen steuert, hatte sich vergrößert. Das Gehirn funktioniert also wie ein Muskel, es wächst mit seinen Aufgaben." (Welt 18.10.14)

Bekanntlich vergrößern sich auch Teile des Gehirns, wenn Taxifahrer die Londoner Straßen lernen usw. - Aber der Schädel wächst doch nicht mit? Es muß also Einbußen geben, anders als bei den Muskeln. Darüber habe ich noch nie etwas gelesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2014 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27304

Die Bibliothek in meinem Kopf: Wie sind Wörter im Gehirn gespeichert?

Wortspiel für die Wissenschaft: Mitmachen erwünscht!

Fragt man Erwachsene, was ihnen zu „Hund“ einfällt, sagen die meisten „Katze“. Warum das so ist und wie genau Informationen in unserem Gedächtnis angeordnet sind, wollen Psychologen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen herausfinden. Dafür beteiligen sie sich an dem internationalen Projekt „Small World of Words“ der Katholischen Universität (KU) Leuven.
Ein Erwachsener kennt im Schnitt rund 40.000 Wörter. Diese sind in unserem Gedächtnis, in einem individuellen, mentalen Lexikon hinterlegt und miteinander verknüpft. Bildlich kann man sich das auch wie eine Bibliothek im Gehirn vorstellen, in der die eigenen Bücher nach einem bestimmten Prinzip geordnet sind. Die Wissenschaftler wollen nun herausfinden, wie diese Durchschnitts-Bibliothek aufgebaut ist und, ob es Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen gibt.

(www.mpib-berlin.mpg.de/de/presse/2014/09/die-bibliothek-in-meinem-kopf-wie-sind-woerter-im-gehirn-gespeichert)

Es ist erstaunlich, wie das "Mentale" (ein folkpsychologisches Konstrukt) und das Gehirn hier durcheinandergehen. Natürlich sind die Wörter nicht im Gehirn gespeichert, und die "bildlich" verstandene Bibliothek ist weit entfernt von einer wirklichen. Man wird sie daher im Gehirn nicht finden. Die Experimente wiederholen bis in die Terminologie hinein ("Assoziation"), was im 19. Jahrhundert begonnen und von C. G. Jung fortgeführt wurde. Die Ergebnisse dürften dieselben sein, ich habe sie in meinem Aufsatz "Paradigmen als Syntagmen" interpretiert, natürlich unter Vermeidung der neurosophischen Aufpeppung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2014 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27341

Zu #15356

"Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnte der Hirnforscher Manfred Spitzer unlängst nachweisen, daß man sich an solche Wörter am besten erinnert, die in einem positiven emotionalen Kontext gespeichert wurden, und daß das Speichern emotionsabhängig in unterschiedlichen Gehirnregionen erfolgt: bei positiven Emotionen im Hippocampus, bei negativen im Mandelkern." (Christian Geyer FAZ 5.7.04)

So ging und geht dieser mehrfache Unsinn durch die Welt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2014 um 05.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27343

Den folgenden Abschnitt hatte ich schon mal wegen des Feminismus zitiert www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1040#23050), möchte ihn aber auch noch einmal aus dem Pseudowissenschaftlichen in Normaldeutsch übersetzen.

Original:

Auf das generische Maskulinum wurde bewusst verzichtet, weil alle Experimente zeigen, dass es sich auf die mentale Repräsentation von Frauen negativ auswirkt und zu Assoziationen mit dem männlichen Geschlecht führt. Bei Studenten und Autoren denken wir hauptsächlich an männliche Vertreter. Die Frauen bleiben unsichtbar, auch mental.

Übersetzung:

= Auf das generische Maskulinum wurde verzichtet, weil alle Experimente zeigen, dass man dabei eher an Männer als an Frauen denkt. Bei Studenten und Autoren denken wir hauptsächlich an Männer. An Frauen denken wir nicht.
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 15.11.2014 um 13.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27344

Zu #27304

''Natürlich sind die Wörter nicht im Gehirn gespeichert, ...''

Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, wo sie denn sonst gespeichert sind: in einem anderen Körperteil, in der Seele, im Hyperraum?

Wenn Sie in Ihrem Satz das Wort ''Wörter'' durch das Wort ''Worte'' ersetzten, würde ich Ihnen zustimmen, aber so verstehe ich nicht, wie Sie das meinen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.11.2014 um 17.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27345

Ich wage mal eine Erklärung, auch um zu sehen, ob ich das selbst richtig verstehe.

Das Denken passiert natürlich im Gehirn, aber darin sind weder Wörter noch andere einzelne Wissenseinheiten gespeichert.

Wenn Wissenschaftler einmal in der Lage wären, die Struktur des gesamten Gehirns bis ins kleinste, in jede Zelle, jedes einzelne Neuron, die DNA, alles, meinetwegen bis auf Molekülebene erklären zu können, dann würden sie nirgends, wie auch immer biologisch, genetisch, chemisch oder sonstwie verschlüsselt, auf die Wörter Abend, Gartenschere oder Zimmertemperatur usw. stoßen.

Wie sich ein Mensch an ein bestimmtes Wort, ein Bild, einen Ton, einen Zusammenhang, an einen bestimmten Bewegungsablauf erinnert, ist vielleicht noch nicht ganz genau erforscht, aber mit Sicherheit sind diese Dinge nicht einzeln wie in einer Art Lexikon abgespeichert.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.11.2014 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27346

Wie kann man sich da sicher sein? Immerhin glaubt man im allgemeinen sehr bestimmt zu wissen, ob man ein Wort oder einen Namen schon einmal gehört hat oder nicht (auch wenn man sich manchmal täuschen mag).
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 16.11.2014 um 18.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27357

So was amüsiert mich immer: In der Presse ist von der Sonde "Philä" und "er" die Rede. Erstens ist "die Sonde" weiblich, und zweitens heißt "philä" alt- und neugriechisch "Freundin" (weibliche Form zu "philos" Freund).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2014 um 09.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27370

Zur Problematik des Speichermodells und der "Repräsentation", die ich an verschiedenen Stellen abgelehnt habe, möchte ich mich gern mal im Zusammenhang äußern, aber das dauert noch ein wenig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2014 um 10.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27371

Der Name der Insel Philae (Philai) scheint etymologisch noch nicht ganz aufgeklärt zu sein, aber ich bin kein Ägyptologe und kann dazu leider nichts beisteuern. Die Namen des Unternehmens Rosetta sollen ja einer Episode in der Entzifferung alter Schriften und Sprachen gedenken, worüber wir hier uns naturgemäß freuen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2014 um 10.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27372

"Wir können zum Beispiel erkennen, daß Gehirnzustände Objekte und Sachverhalte repräsentieren, daß sie einen Inhalt haben." (Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Stuttgart.1994:42)

So ähnlich liest man es hundertfach, tausendfach. Muß man da nicht kribbelig werden oder an seinem eigenen Verstand zweifeln? Die vermeintliche phänomenologische Evidenz der "Intentionalität" ist mit angelesenem Neurobabble verquickt. In Wirklichkeit wird die genaueste Beobachtung von Gehirnzuständen, mit welchen Geräten auch immer, nicht zeigen, daß diese Zustände einen Inhalt haben. Man kann es sich nicht einmal vorstellen, geschweige denn beweisen oder widerlegen, weil es eben schon rein begrifflich Unfug ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.11.2014 um 09.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27431

Viel wird geschrieben über "Hirnforschung und Menschenbild". Eigentlich merkwürdig. Warum nicht "Hirnforschung und Hundebild" oder "Darmforschung und Menschenbild"? Was ist überhaupt ein Menschenbild? Das Bild, das ich mir von meinem Nachbarn mache, wäre nicht anders, wenn ich nicht wüßte, daß er ein Hirn hat.
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 25.11.2014 um 13.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27433

"Wir können zum Beispiel erkennen, daß Gehirnzustände Objekte und Sachverhalte repräsentieren, daß sie einen Inhalt haben." (Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Stuttgart.1994:42)

Hier stellt sich sofort die Frage, was denn ''Gehirnzustände'' sein sollen. Es gibt Leute, die glauben allen Ernstes, daß wir bereits wissen, wie das Gehirn funktioniert, weil wir wissen, wie ein Neuron funktioniert und sie den Begriff Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (bzw. die englische Version diesers Begriffs) in eine Diskussion einbringen können. (Der Typ studierte Psychologie in einem höheren Semester.)

''So ähnlich liest man es hundertfach, tausendfach. Muß man da nicht kribbelig werden oder an seinem eigenen Verstand zweifeln? Die vermeintliche phänomenologische Evidenz der "Intentionalität" ist mit angelesenem Neurobabble verquickt. In Wirklichkeit wird die genaueste Beobachtung von Gehirnzuständen, mit welchen Geräten auch immer, nicht zeigen, daß diese Zustände einen Inhalt haben. Man kann es sich nicht einmal vorstellen, geschweige denn beweisen oder widerlegen, weil es eben schon rein begrifflich Unfug ist.''

Was Sie hier mit ''Intentionalität'' meinen ist mir nicht klar. Ein Zustand für sich allein mag keinen oder allenfalls einen minimalen (vernachlässigbaren) Teilaspekt des Ganzen repräsentieren, dem – für sich allein betrachtet – keine Bedeutung zugewiesen werden kann. Die Bedeutung könnte in einer Menge von Zuständen (repräsentiert jeweils durch ein oder mehrere miteinander in Kontakt stehende Nervenzellen) liegen, wobei vorerst nicht klar ist, wie groß diese Menge ist, die für die Repräsentation (eines Dinges oder Sachverhalts) verwendet wird, dies könnte individuell verschieden sein und auch von der Lebenserfahrung (mit den entsprechenden Dingen oder Sachverhalten) abhängen.

Wenn wir naturwissenschaftlich vorgehen und uns nicht mit einer metaphysischen (Seele) oder einer phantastischen Erklärung (Hyperraum) zufriedengeben wollen, dann müssen wir von der phänomenologischen Evidenz ausgehen, es sei denn, ich verstehe darunter etwas anderes als Sie, lieber Herr Ickler.

Wenn ich eine Äußerung parsen will, um ihre Bedeutung zu erkennen, muß ich ihre Teile erkennen. Dafür müssen die (von den jeweiligen Sinnesorganen erhaltenen Erregungsmuster oder zumindest eine Abstraktion davon) irgendwie im Gehirn repräsentiert sein, da ein Parser die Symbole einer Äußerung (je nachdem ob als Sprache (Worte) oder als Text (Wörter)) mit der Eingabe vergleichen muß. Zumindest ist es bei Programmiersprachen so. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie Parsing ohne Symbolerkennung ablaufen sollte. Daß dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht über ein (alphabetisch geordnetes) Lexikon läuft, ist von vornherein klar. Ähnlich kann man für die Erkennung von Buchstaben, Ziffern, Zeichen allgemein und Gesichtern argumentieren. Es ist, besonders bei den Gesichtern, anzunehmen, daß sie nicht vollständig repräsentiert sind und die Erkennung über einen assoziativen Mechanismus erfolgt. Ich vermute, daß dies bei allen zu erkennenden Dingen oder Sachverhalten so ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.11.2014 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27436

Darf ich wegen "Intentionalität" vorläufig an meinen langen Eintrag http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1587 erinnern, auf den zu meiner Überraschung seinerzeit niemand eingegangen ist..
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2014 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27463

Das Entwickeln von Pseudo-Kausalketten hat der amerikanische Psychologe B. F. Skinner in einem Experiment nachgewiesen. Madeleine Leitner schildert das Experiment mit den „abergläubischen Tauben“: Tauben sitzen in einem Käfig. Nach dem Zufallsprinzip werden Körner in den Käfig geschossen. Es gab keinerlei System, wann die Körner kamen. Skinner beobachtete, dass die Tauben im Käfig nach einer Weile anfingen, die verrücktesten Verrenkungen zu machen. Sie hatten offenbar versucht, Hypothesen zu entwickeln, warum sie durch die Körnchen „belohnt“ wurden – nachdem sie vielleicht zufällig den rechten Flügel gehoben hatten oder auf dem linken Bein standen. Und das, obwohl es überhaupt kein Prinzip gab. „Selbst Tiere fangen also an, Hypothesen zu entwickeln, Kausalitäten herzustellen, die nicht vorhanden sind.“ (Ursula Kals in FAZ 29.11.14 „Beruf und Chance“)

Der Text ist sehr bezeichnend. Zuerst wird das bekannte Experiment einigermaßen korrekt wiedergegeben, dann folgt geradezu zwanghaft die mentalistische Verkleidung mit dem "Hypothesenbilden", was Skinner selbst als lächerlich und überflüssig zurückgewiesen hätte. Der Gebirgsbach bildet ja auch keine Hypothese, auf welchem Wege er am schnellsten ins Tal kommt.

Der Zeitungstext führt es auf eine jener Beraterinnen zurück, die heute das ganze Wirtschaftsleben mit ihrem "Coaching" durchsetzen, ohne daß ihr Erfolg je nachgewiesen worden wäre. Man kann ihre banalen Weisheiten allwöchentlich in verschiedenen Medien lesen und hören, das ist ja auch ein Erfolg:

„Seit über 20 Jahren liegt mein beruflicher Schwerpunkt auf Potenzialanalysen. Schon Mitte der 90-er Jahre lernte ich die Ansätze einiger der weltweit führenden Karriereberater kennen: Richard Nelson Bolles (USA), Daniel Porot (Genf bzw. USA) und Walt Hopkins (London). Anschließend wurde ich zum Pionier für Karrierethemen in Deutschland. Dazu trugen zahlreiche Vorträge, Artikel und Interviews in allen relevanten Medien, bundesweite Workshops und Buchbearbeitungen bei. Seitdem habe ich weit über tausend Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet und aus dem Ausland bei der Klärung und Realisierung ihrer beruflichen Ziele erfolgreich unterstützt.“) 
(http://www.madeleine-leitner.de/)
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 30.11.2014 um 09.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27466

Man mache sich nichts vor: Solche Scharlatane sind heute dick im Geschäft. Im Vorstand eines großen Vereins, in dem ich, quasi von Amts wegen, Mitglied bin, hat eine von mir sehr geschätzte Kollegin zur Überraschung aller anderen Vorstandsmitglieder erklärt, sie werde zu Fachgruppentreffen nur noch erscheinen, wenn eine "professionelle Mediation" gewährleistet sei. Dazu muß man wissen, daß der Vereinsvorstand mit einer Professionalität handelt, von der sich viele Unternehmen eine Scheibe abschneiden könnten. Es werden zwar manchmal harte Auseinandersetzungen geführt, aber letztendlich rauft man sich im gemeinsamen Interesse zusammen und korrigiert, wenn nötig, auch Fehlentscheidungen.

Pikant an der Sache ist, daß die Kollegin als Beamtin bei einem Landkreis arbeitet, der praktisch pleite ist, sich aber dennoch solche Esoterik-Ausflüge leisten zu können bzw. müssen glaubt. Auf meine Frage, wie es möglich sei, daß eine angeblich hochqualifizierte Beamtenschaft es nicht schaffe, ohne externe "Mediation" zu sachgerechten Lösungen zu kommen, erhielt ich die schlaffe Antwort, sie fühle sich dabei einfach besser.

Wenn man dann noch bedenkt, daß dieselbe Person dem Verein neuwertiges und unbenutztes Mobiliar aus dem Besitz des Landkreises zum Abholpreis angeboten hat, kommen dann doch Zweifel auf, ob die Not der Kommunen und Landkreise wirklich so groß ist, wie immer behauptet wird.

Wenn Unternehmen für derartige "Dienstleistungen" Geld zum Fenster herauswerfen, ist das deren Sache, aber bei der öffentlichen Hand sollte man schon etwas mehr Rücksicht auf die Kosten voraussetzen dürfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2014 um 10.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27467

Daß man sich "einfach besser fühlt", dürfte der Grund für manchen Hokuspokus sein: Rutengänger, Graphologen, Astrologen usw. In Wirklichkeit gibt man einen Teil der Verantwortung ab, und das hebt natürlich die Stimmung.
Als ich vor Jahren meine Studien zum Okkultismus trieb, hatte ich die Rhetorik der "Berater" noch gar nicht in diesen Zusammenhang gestellt.
Natürlich hängt die massenhafte Vermehrung von "Beratern" auch mit dem Überangebot von Absolventen sonst brotloser Fächer zusammen.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 02.12.2014 um 07.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27474

Natürlich geht es darum, Verantwortung abzuwälzen. Wenn etwas schiefgeht, dann macht man eben den Freiberufler verantwortlich, der im schlimmsten Fall mit Honorarminderung oder -rückforderung rechnen muß. Wer würde sich dabei nicht "besser fühlen"?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.12.2014 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27511

Olfaction is our basic sense phylogenetically and embryologically. Little is known, however, about how the human brain encodes the quality of odors, odor-associated memories, and emotions. Olfactory information is projected from the olfactory bulb to the primary olfactory cortex, which is composed of the anterior olfactory nucleus, the olfactory tubercle, the piriform cortex, the amygdala, the periamygdaloid region, and the entorhinal cortex. From there, the primary olfactory cortex projects to secondary olfactory regions including the hippocampus, ventral striatum and pallidum, hypothalamus, thalamus, orbitofrontal cortex, agranular insular cortex, and cingulate gyrus. Functional MR studies using olfactory stimuli as paradigms show activation of many of these areas and can advance our understanding of odor perception in humans. (Die Quelle tut hier nichts zur Sache.)

Encoding bedeutet hier nur eine unbestimmte Art der Beteiligung. Man spricht daher auch im einzelnen nur von „Aktivität“ in den Regionen. Das leichtfertige Reden vom Enkodieren suggeriert, daß es sich um zeichenhafte Vorgänge handele. Sind die Spuren, die eine Wahrnehmung oder ein gelerntes Verhalten im Gehirn hinterläßt, Zeichen? Sie müßten ihre Existenz und ihre Form („Topographie“ nach Skinner) der Semantisierung durch den Empfänger verdanken. Ein ausgetrocknetes Bachbett enkodiert nicht den Verlauf des Baches. Die Jahresringe enkodieren nicht die Jahre und das Wetter.
Beim ZNS ist die Frage schwerer zu beantworten. Wir haben mit den bildgebenden Verfahren noch nicht die Ebene erreicht, auf der man von Zeichen sprechen könnte – die „Sprache“ ganzer Nervensysteme. Es wird bloß die veränderte Aktivität großer Regionen gemessen. Diese Aktivität läßt sich nicht „lesen“. Anders bei der DNS, deren „Buchstaben“ entziffert sind und in ihrer Bedeutung wenigstens grundsätzlich und ansatzweise auch im einzelnen verstanden werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2014 um 06.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27552

Die Neuropädagogen um Antonio Battro wollten mit bildgebenden Verfahren herausfinden, was in den Gehirnen von Probanden vorgeht, die eine standardisierte Form von Platons Dialog "Menon" nachspielen. Ziemlich abstrus. Es läuft aber sowieso immer darauf hinaus, das Projekt "One laptop per child" zu fördern. Auch dem Papst Benedikt hat Battro einen solchen Laptop überreicht, ein phantastischer Werbegag, zumal sich die Neuropädagogen als Heilsbringer für die armen Länder aufspielen.
(Die technischen Einzelheiten des Projekts sind sehr ausführlich bei Wikipedia dargestellt, die pädagogische und bildungsökonomische Kritik wird immerhin angedeutet: http://de.wikipedia.org/wiki/OLPC_XO-1)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2014 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27572

Massive Genetic Effort Confirms Bird Songs Related to Human Speech

(Scientific American 15.12.14)

Diese und ähnliche Sensations-Überschriften sind durch die Tatsachen nicht gerechtfertigt. Die amerikanischen Forscher haben es wieder einmal geschafft, ihre seit Jahrzehnten bekannten und jedesmal ein wenig erweiterten Untersuchungen als großen Durchbruch in die internatlionale Presse zu schleusen. "Sprache" ist für sie die Fähigkeit, Tonsignale zu verändern. Die Singvögel und einige Säugetiere können das, die anderen nicht. Es wird zugestanden, daß die menschliche Vokalisation (mit ganz anderen Organen als bei den Vögeln) evolutionär nicht mit dem Vogelgesang zusammenhängt. Allerdings sollen "ähnliche Gene" dabei eine Rolle spielen. Bedauerlicherweise gibt es eine Unterbrechung zwischen den ersten Vögeln und dem Auftreten des Menschen. Wie kann dann der Vogelgesang mit der menschlichen Rede zusammenhängen? Warum wurde die sprachspezifische Gen-Expression 100 Mill. Jahre unterdrückt?
Neun Supercomputer halfen bei der Forschung – wir sind tief beeindruckt. Seltsamerweise bestätigen die aufwendigsten Untersuchungen immer das, was dieselben Autoren (Erich Jarvis u. a.) vor 20 Jahren schon gesagt haben. Sprachwissenschaftler scheinen nicht beteiligt zu sein, daher wohl die Fixierung auf veränderbare Lauterzeugung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.01.2015 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27747

„Klassische psychologische Lernmodelle umfassen behavioristische Erklärungsansätze wie das Klassische Konditionieren und das Instrumentelle Konditionieren. Diesen Lerntheorien zufolge kann menschliches Verhalten durch die Beziehung zwischen Reiz (stimulus) und Reaktion (response) erklärt werden. Sie werden häufig auch als Stimulus-Response Theorien oder abgekürzt S-R Theorien bezeichnet. Dieser theoretische Ansatz kann jedoch nicht erklären, wie es zu Imitation kommt, wenn der Beobachter die Aktionen des Modells nicht in der gleichen Umgebung ausführt, keine Verstärkung für sein Verhalten erhält und wenn das beobachtete Verhalten erst dann imitiert wird, wenn das Modell nicht mehr anwesend ist (Bandura, 1971 zitiert nach Horn & Williams, 2009, S. 177).
Demgegenüber stehen kognitive Lernmodelle. Kognitive Lernmodelle kritisieren behavioristische Ansätze dahingehend, dass sie den Menschen als mechanisches Wesen darstellen und menschliches Verhalten nicht derart simplifiziert werden kann (Singer in Gabler, 1986). Anstatt mit der Beziehung von Reiz und Reaktion, die nicht zum Erklären höherer geistiger Prozesse ausreicht, befassen sich Kognitivisten mit Themen wie Wahrnehmung, Problemlösen durch Einsicht sowie Denk- und Entscheidungsprozessen (ebd.).
Lernen durch Einsicht ist ein kognitives Lernmodell, welches beschreibt, dass der Mensch in einer Problemsituation versucht diese zu strukturieren und eine Beziehung zwischen den Elementen der Situation herzustellen. Durch diese Umstrukturierung kann sich dann eine Lösung im Sinne eines „Aha-Erlebnisses“ einstellen (Singer in Gabler, 1986, S. 116).


Jakob Sievers: Zum Einfluss der Perspektive beim Bewegungslernen durch Imitation. Eine empirische Studie. Zentrum für Lehrerbildung der Universität Kassel (Hrsg.): Reihe Studium und Forschung, Heft 16. Kassel 2011. ("Ausgezeichnet mit dem Martin-Wagenschein-Preis 2011 des ZLB")

Man suhlt sich im gesunden Menschenverstand. Der triumphierende Ton ist typisch für die Kognitivisten, die sich ihrer Unwissenheit nicht einmal schämen, denn so steht es ja in ihren Quellen, hier z. B. in einer Einführung in die Sportpsychologie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.01.2015 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27770

Durch die Medien geht der Bericht, daß Verhaltensforscher herausgefunden haben, warum Tiere spielen: sie üben für das wirkliche Leben. Das ist allerdings seit mindestens 100 Jahren herrschende Meinung. Richard Byrne umrankt das Ganze mit mentalistischen Schnörkeln. Er hat außerdem herausgefunden: „African elephants can use human pointing cues to find hidden food“. Die Videos zeigen, daß der Elefant einer Geste folgt, die einen Teil der Umgebung auffällig macht. Das ist kein gegenstandsbezogenes Zeigen. Die zeigende Hand der Versuchsleiterin ist dem „gezeigten“ Eimer sehr nahe, fast in Berührungskontakt. So machen wir es doch mit unseren Hunden und Katzen auch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.01.2015 um 05.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27822

Noch einmal zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27085:

Kann sich das Gehirn meßbar verändern, wenn jemand ein kleines Klavierstück lernt? Man muß bedenken, daß jeder erwachsene Mensch jahrzehntelang mit seinen Fingern tagtäglich die verschiedensten Kunststücke ausführt. Er hat das von Geburt an eingeübt mit einer Ausdauer, die sich nur noch im Einüben des Sprechens wiederfindet. (Viele haben auch Gitarre oder etwas anderes dieser Art gelernt.) Das sprichwörtliche Schnüren der Schuhe gehört dazu, aber noch tausend weitere Fertigkeiten. Und da soll ein zusätzliches Klavierstückchen hirnanatomische Veränderungen bewirken? Ich halte das für einen wunschgeleiteten Beobachtungsfehler.

Noch eine Beobachtung: Hirnforscher sind in der Presse grundsätzlich „führende Gehirnforscher“. So auch der weitgehend unbekannte Alvaro Pascual-Leone bei Wikipedia. Wir haben schon gesehen, daß auch der Psychiater Spitzer ein "führender Hirnforscher" ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.01.2015 um 06.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27840

Die WamS (18.1.15) widmet eine ganze Seite der Babyzeichensprache, enthält sich dabei eines Urteils über den Sinn und Erfolg. Sie schade den Kindern nicht, sagt eine Expertin. Vielleicht stimmt das. Der Schaden liegt bei den Eltern, die dafür Geld ausgeben und sich selbst und dem Kind das Glück der vielfältigen natürlichen Kommunikation nehmen, indem sie viel Zeit mit künstlichen Maßnahmen füllen. Kleine Kinder gehen ganz in der Situation auf; warum können wir Erwachsenen das nicht auch, statt mit pädagogischen Hintergedanken zweifelhafter Herkunft jede Spontaneität zu untergraben? Ich nehme an, daß gerade die kleinsten Kinder es spüren, wenn man nicht ganz bei der Sache ist. Auch glaube ich, daß die Teilnahme an solchen Kursen typisch für Erstgebärende ist. Sie haben oft eine übertriebene Angst, etwas zu versäumen. Entspannt euch! Das ist die beste Voraussetzung auch fürs Sprechenlernen.

(Die vier beigegebenen Fotos zeigen keine Zeichensprache, sondern die natürlichen Gebärden und Intentionsbewegungen, die man ausnahmslos bei jedem nichtbehinderten Kind beobachten kann.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.01.2015 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27885

Tonsprachen brauchen es feucht
Sprachen mit vielfältigen Tonhöhen entwickelten sich vor allem in Regionen mit hoher Luftfeuchtigkeit
20. Januar 2015

(http://www.mpg.de/8863373/tonsprachen-luftfeuchtigkeit)

Das Wetter schlägt nicht nur auf unsere Stimmung, sondern auch auf unsere Stimme. Ein internationales Forscherteam, darunter Wissenschaftler der Max-Planck-Institute für Psycholinguistik, evolutionäre Anthropologie und Mathematik in den Naturwissenschaften, hat den Einfluss der Luftfeuchtigkeit auf die Evolution von Sprachen untersucht. Ihre Analyse hat ergeben, dass Sprachen mit vielfältigen Tonhöhen eher in Gebieten mit hoher Luftfeuchtigkeit vorkommen. Sprachen mit einfacheren Betonungen gibt es dagegen vor allem in trockenen Gebieten. Grund dafür ist, dass die Stimmlippen eine feuchte Umgebung brauchen, um den richtigen Ton zu treffen.
Die Tonhöhe ist in allen Sprachen ein wichtiger Teil der Kommunikation – in manchen mehr, in anderen weniger. Deutsch oder Englisch beispielsweise bleibt immer noch verständlich, selbst wenn ein Roboter alle Wörter gleich betont. Im chinesischen Mandarin dagegen kann die Betonung den Sinn eines Wortes komplett verändern. „Ma“ mit einer gleichmäßigen Betonung bedeutet „Mutter“, „ma“ mit einer zunächst sinkenden und dann steigenden Betonung heißt „Pferd“. „Nur wer die Tonhöhe korrekt trifft, kann sich in einer solchen sogenannten Tonsprache ausdrücken“, erklärt Seán G. Roberts, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen.
Das Klima kann aber für die Sprecher einer Tonsprache zum Problem werden, denn die Stimmlippen im Kehlkopf – umgangssprachlich auch Stimmbänder genannt – leiden darunter. Schon die vorübergehende Erhöhung der Luftfeuchtigkeit wirkt sich auf die Stimmlippen aus: Die Feuchtigkeit hält die Schleimhäute feucht und macht diese elastischer. Zudem verändert sie den Ionenhaushalt innerhalb der Stimmlippenschleimhäute. Bei guter Befeuchtung können die Stimmlippen dadurch ausreichend schwingen und den richtigen Ton treffen.
Die Forscher vermuteten deshalb, dass sich Tonsprachen seltener in trockenen Regionen entwickeln, da variantenreiche Tonhöhen unter diesen Bedingungen schwerer zu produzieren sind und leichter zu Missverständnissen führen. “Moderne Datenbanken ermöglichen es uns, die Eigenschaften von tausenden von Sprachen zu analysieren. Sie bringen aber auch Probleme mit sich, denn eine Sprache kann ihre komplexen Betonungen auch einfach von einer anderen Sprache geerbt haben“, sagt Damián E. Blasi, der an den Max-Planck-Instituten für Mathematik in den Naturwissenschaften und für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht. In ihrer Studie belegen die Wissenschaftler nun, dass sie diesen Effekt von der Rolle des Klimas trennen können.
Die Forscher haben den Zusammenhang zwischen Feuchtigkeit und der Bedeutung der Tonhöhe an über 3750 Sprachen aus unterschiedlichen Sprachfamilien untersucht. Demnach kommen Tonsprachen in trockenen Gebieten tatsächlich deutlich seltener vor. So sind im vergleichsweise trockenen Mitteleuropa keine Tonsprachen wie in den Tropen und Subtropen Asiens und Zentralafrikas entstanden.
Das Klima formt also offenbar die Rolle der Betonung in einer Sprache und damit die Art und Weise, wie Informationen ausgetauscht werden. Selbst kleine Effekte können sich im Laufe der Generationen so verstärken, dass ein globales Muster entsteht. So bestimmt das Klima die Entwicklung von Sprachen. „Wenn in Deutschland ein feuchter Regenwald wachsen würde, hätte sich Deutsch vielleicht auch zur Tonsprache entwickelt“, sagt Roberts.


Es ist erstaunlich, wie schnell hier aus einer statistischen Verteilung auf Ursachen geschlossen wird. Ende des 19. Jahrhunderts führte man die hochdeutsche Lautverschiebung darauf zurück, daß die alten Deutschen im Hochgebirge ins Schnaufen gekommen sind – was jeder Bergwanderer nachvollziehen kann.
Unter "Tonsprache" kann sich verschiedenes verbergen. Wir wissen von einigen Tonsprachen, daß die Töne lautgesetzlich aus geschwundenen Phonemen entstanden sind – was soll das mit der Luftfeuchtigkeit zu tun haben? Nur Nichtlinguisten können behaupten, sie hätten "3750 Sprachen analysiert". Stärker fällt ins Gewicht: Fast alle Sprachen sind in feuchtwarmen Gebieten entwickelt worden. Dort findet man folglich auch die meisten Tonsprachen. Die Karte des MPI zeigt andererseits riesige feuchtwarme Gebiete, wo es fast gar keine Tonsprachen gibt.

Immerhin: Man kommt in die Presse.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2015 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27931

"Weshalb spricht der Mensch? In der Regel spricht er, um Bewußtseinsinhalte seines Partners – und damit auch dessen Handeln und Verhalten – zu modifizieren. Er spricht, um dem Bewußtsein des Partners, so wie er es einschätzt, neue Inhalte hinzuzufügen, andere zu tilgen, an wieder anderen Inhalten Änderungen anzubringen, das Zueinander der Inhalte zu ändern usf. "(Theo Herrmann/Karin Schweizer: Sprechen über Raum. Bern 1998:35)

Der Vorgang wird geradezu zwanghaft in den Jargon einer gewissen mentalistischen Psychologie gekleidet. Der Sprecher würde vielleicht sagen: Daran habe ich nicht gedacht, ich wollte ihn bloß zum Lachen bringen. Warum habe ich den Schnellkochtopf angestellt? Ich wollte die Bewegung der Wassermoleküle beschleunigen. Kann man das wollen, auch wenn man von Wassermolekülen gar nichts weiß?

"Das Sprechen ist, so betrachtet, eine Stelloperation im Dienste der Regulation des Sprechersystems. Diese Grundvorstellung ist in der Regulationstheorie des Sprechens ausgearbeitet worden."(36)

Das ist das Mannheimer Modell, das ich in „Sprache und Kognition“ kritisiert habe. Es beruht auf genau derselben Begriffskontamination, die kein anderer als Theo Herrmann einst in einem freilich folgenlosen Aufsatz kritisiert hat. Man kann in einem kybernetischen System keine Absichten (Intentionen) unterbringen, ohne das Ganze ins Metaphorische zu verschieben. Vgl. auch:

"Dieses Reden aus einer Perspektive, die man faktisch nicht selbst einnimmt, ist nur möglich, weil der Mensch zur mentalen Rotation fähig ist." (25)

Schon die Aufgabe (das Einnehmen einer „Perspektive“) ist in metaphorischer Weise ausgedrückt, wozu dann die ebenso metaphorische Lösung der „mentalen Rotation“ paßt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2015 um 05.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28049

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#25761:

Wir brauchen Tierversuche, auch in der Psychologie, aber was sich Spitzer leistet, muß man geradezu als verantwortungslos bezeichnen:

All dies scheint nahe zu legen, dass Depression "eben doch nur Chemie", d.h. kausal durch bestimmte neurochemische Prozesse bedingt sei. Dem ist jedoch nicht so, wie nicht nur die Flusskrebse eindrucksvoll belegen. So ist bekannt, dass das Selbstvertrauen von Kindern von deren Erfahrungen im Elternhaus abhängt: Wärme, Geborgenheit, Anrkennung und klar gesetzte Grenzen durch die Eltern fördern das Selbstvertrauen der Kinder.

Und dann geht es wald- und wiesenpsychologisch weiter. Zuvor werden anthropomorphisierend die "Probleme" erörtert, die Flußkrebse miteinander aushandeln.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2015 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28052

Zu einem albernen Buch des "führenden Neurowissenschaftlers" Ramachandran schrieb die FAZ einmal:

„Der enervierende Plauderduktus ist stiltypisch für das Genre neurowissenschaftlicher Populärliteratur, das seit den achtziger Jahren die junge Wissenschaft begleitet.“

Nicht nur die neurowissenschaftliche. Von den USA ausgehend, hat der Zwang, um jeden Preis unterhaltsam zu sein, die Sachliteratur aufgeschwemmt und für Leser, die etwas Neues lernen wollen, unerträglich gemacht. Für das Fernsehen gilt das, wenn ich meinen Erinnerungen und gelegentlichen Einblicken glauben darf, uneingeschränkt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.02.2015 um 07.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28060

Die Geschichte von den feuchten Tonsprachen hat es heute in den Wissenschaftsteil der FAZ geschafft, wo Wolfgang Krischke sie überraschenderweise ohne jede Kritik wiedergibt. Auch er erwähnt die imponierenden "Datenbanken", mit deren Hilfe die Verteilung der Tonsprachen ermittelt worden ist. Unter Geisteswissenschaftlern wird "Datenbanken" immer noch zu viel Respekt entgegengebracht. Es kommt schließlich darauf an, welche Daten in die Banken eingetragen worden sind. Vielleicht hat man Hilfskräfte in grammatischen Skizzen jener 3750 Sprachen nachsehen lassen, ob darin etwas von Tönen gesagt ist? Aber der wichtigste Einwand ist jener sprachengeographische: Nicht nur Tonsprachen, sondern verschiedene Sprachen überhaupt werden hauptsächlich in feuchtwarmen Gebieten der Erde gesprochen. Und Töne lassen sich ohne Bezug auf die Luftfeuchtigkeit erklären.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 11.02.2015 um 15.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28061

Die vermeintliche Entdeckung gehört in einen größeren Zusammenhang klimatologischer Modeforschung. Alle möglichen Dinge, für die es keine sichere Erklärung gibt, vom Aussterben der Dinosaurier über den Untergang der Maya bis hin zu der Frage, warum die Deutschen so gerne Nutella essen, werden heutzutage auf Veränderungen oder generelle Bedingungen des Klimas zurückgeführt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2015 um 06.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28064

Dem Plauderduktus der Sachbücher entspricht der "Cliffhanger" als Technik der Spannungserzeugung. Statt einen neuen Gedanken an den Anfang eines neuen Kapitels oder Absatzes zu stellen wie die Fachliteratur, stellt man ihn in den Schlußsatz des vorigen: Aber er sollte die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. Journalisten lernen das offenbar auch.

Die Hamburger Verständlichkeitstheoretiker Schulz von Thun/Langer/Tausch haben seinerzeit "zusätzliche Stimulanz" gefordert. Kaum eine populärwissenschaftliche Konstruktion hat solchen Erfolg in Lehrerkreisen gehabt. Man sieht Texten schon von weitem an, ob sie dem Hamburger Verständlichkeitskonzept nachempfunden sind.

Wikipedia stellt den Cliffhanger (ohne freilich an Sachtexte zu denken) in einen Zusammenhang mit dem Zeigarnik-Effekt, schwerlich mit Recht. Dieser ist seinerseits umstritten und kaum replizierbar, wie ich unter dem Stichwort lese, hat mich aber ohnehin noch nie überzeugt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.02.2015 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28089

„No one has yet produced an explanation of how the highly interconnected networks of vast numbers of neurons produce our mental life.“ (William R. Uttal: Neural theories of mind. Mahwah, London 2005:99f.)

Eine von tausend Formulierungen des Leib-Seele-Problems. In dieser Fassung ist das Problem natürlich unlösbar. Das "geistige Leben", der "Geist" usw. ist ja nur ein Konstrukt, also eine bestenfalls nützliche Fiktion, mit deren Hilfe man bestimmte Verhaltensweisen beschreibt, erklärt oder rechtfertigt. Das Gehirn ist dagegen ein wirklicher Gegenstand. Er kann natürlich das Konstrukt nicht "hervorbringen".

Konstrukte sind von hypothetischen Gegenständen zu unterscheiden. Letztere kann man entdecken. So hat beispielsweise Sherrington schon 1906 die Synapsen postuliert, aber erst 50 Jahre später wurden sie unter dem Elektronenmiskroskop entdeckt. Den "Geist" kann man nicht entdecken, man kann höchstens das Konstrukt kultivieren – oder aufgeben, wie die Behavioristen empfehlen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2015 um 15.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28190

Man kann zeigen, daß beim metaphorischen Verstehen eines Ausdrucks andere Regionen des Gehirns etwas stärker aktiviert werden als beim wörtlichen Verständnis. Aber was lernt man daraus, was man nicht schon vorher wußte? Es gibt Millionen Verhaltensweisen A und Millionen Verhaltensweisen B, und wenn man je eine aus jeder Menge miteinander vergleicht, wird man unterschiedliche Hirnscans erhalten, das kann gar nicht anders sein. Deshalb bringt es uns aber auch keinen Schritt weiter.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2015 um 06.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28463

Wie gesagt, ein Roman kann nicht "zeigen, wie Gewalt entsteht", sondern er kann bestenfalls zeigen, wie der Verfasser glaubt, daß Gewalt entsteht. So kann auch der schönste "Tatort", dem die Zeitungen ja ein unfaßbar tiefes Interesse entgegenbringen, kein "Lehrstück über die sozialen Folgen von Vernachlässigung" sein. Sind unsere Presseleute wirklich nicht mehr imstande, Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden? Die Ansichten von Roman- und Drehbuchschreibern sind doch bloß die alltagspsychologischen Klischeevorstellungen der Gegenwart, und gerade darum überzeugen sie wahrscheinlich die meisten Zuschauer mit vermeintlicher Wirklichkeitsnähe.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2015 um 04.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28514

Sprachen, die von Anfang an zusammen gelernt werden, lokalisiert das Gehirn an derselben Stelle; Sprachen, die wir nacheinander lernen, an getrennten Orten. (Judith Macheiner: Englische Grüße. München 2004:13)

Niemand weiß auch nur annähernd, was beim Sprachenlernen im Gehirn vorgeht. Da das Sprechen in der Muttersprache und das Sprechen in der Fremdsprache offensichtlich verschiedene Verhaltensweisen sind, wäre es ein Wunder, wenn die Gehirnscans nicht auch gewisse Unterschiede zeigten. Auch bei Aphasie werden ja Mutter- und Fremdsprache unterschiedlich gestört. Mehr weiß man nicht. Solche Sätze sind also nichtssagende neurosophische Schnörkel.

(Ursprünglich hatte ich den Satz nur notiert, weil er die synoymenscheue Flucht aus der Parallelkonstruktion illustriert – bei einer Übersetzungswissenschaftlerin eher unerwartet.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2015 um 07.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28598

Eine Website über das Gehirn (https://www.dasgehirn.info/) hat den Untertitel "Der Kosmos im Kopf". Das ist die alte Denkweise: Man fragt, wie die Welt in den Kopf kommt, weil dies nötig erscheint, damit der Mensch sich in dieser Welt zurechtfindet. In Wirklichkeit wäre mit einer solchen Verdoppelung nichts gewonnen, und es ist überhaupt absurd, daß alle Erfahrungen eines Lebens, alle Bücher, die ich gelesen, alle Musikstücke, die ich gehört, alle Personen und Landschaften, die ich kennengelernt habe, irgendwie "im Kopf" gespeichert oder "repräsentiert" wären, wie man heute scheinbar fortschrifttlich sagt. Damit lenkt sich die Forschung nur von ihren wirklichen Aufgaben ab. Aber die naive Psychologie ist nur schwer zu überwinden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.04.2015 um 03.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28615

Die Mainzer "Sprachandragogik" bietet ihre Kurse an wie saueres Bier:

Wie funktioniert Lernen eigentlich?
Wie erklärt die Neurodidaktik den Vorgang des Lernens?
Und wie können Lehrende das Lernen erfolgreich unterstützen?
In den letzten Jahren haben vor allem die bildgebenden Verfahren sehr viel über die Vorgänge beim Lernen im Gehirn offenbart. Je nach Lernstil der Lernenden benötigen sie unterschiedliche Herangehensweise ans Lernen.
In diesem Seminar werden in einem ersten Schritt diese aktuellen neurodidaktischen Erkenntnisse präsentiert, daraus werden in einem zweiten Schritt grundlegende Anforderungen an einen „gehirngerechten“ Fremdsprachenunterricht abgeleitet und zahlreiche Übungen für den Fremdsprachenunterricht erprobt.


Das ist unseriös. Wir wissen so gut wie nichts Verwertbares über die Gehirnvorgänge beim Lernen, und niemand kann "Neurodidaktik" lehren. "Gehirngerechtes Lernen" ist eine Phantasiebezeichnung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.04.2015 um 18.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28649

Dass man Kinder zunächst frei schreiben lasse und erst später Rechtschreibung vermittele, widerspreche auch dem, was man heute über Lernprozesse im Hirn wisse, sagt Prof. Onur Güntürkün, Biopsychologe an der Ruhr-Uni-Bochum: „Umkehrlernen dauert länger und erhöht die Fehlerquote.“ (Kölner Stadtanzeiger 24.4.12)

Das weiß man aus der Psychologie, nicht aus der Hirnforschung. Neurobluff, wie üblich.
 
 

Kommentar von Gunther Chmela, verfaßt am 18.04.2015 um 21.24 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28650

"Das weiß man aus der Psychologie, nicht aus der Hirnforschung. Neurobluff, wie üblich."
Ist es nicht so, daß vielerorts inzwischen Psychologie mit Hirnforschung gleichgesetzt oder zumindest verwechselt wird?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2015 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28651

Ein Metaphernwechsel kann harmlos sein. Wir meinen es weder anatomisch noch physiologisch, wenn wir von "Kopfrechnen" sprechen usw. Laxe Ausdrucksweise klingt so:

„Our individual brains are each inhabited by a large number of ideas that determine our behaviour.“ (Dan Sperber: Explaining Culture – A Naturalistic Approach. Oxford 1996:1)

Natürlich sind Ideen nicht im Gehirn. Auf eine solche Kategorienverwechslung ist besonders Peter Hacker eingegangen. Es gibt auch sonst eine breite Kritik am Neurobluff (Neurobabble oder Brain Porn, wie man in Amerika auch sagt), z. B. hier:

http://neurocritic.blogspot.de/2014/10/the-use-and-abuse-of-prefix-neuro-in.html

Das Problem ist, daß uns diese Leute mit ihren Scannerbildern imponieren und Forschungsgelder für eine sinnlose Sache vergeuden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.04.2015 um 07.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28729

Jetzt ist Gregory Hickoks Kritik an den Spiegelneuronen-Enthusiasten auf deutsch erschienen, Michael Hagner bespricht sie in der FAZ. Ich habe die Internetdiskussion von Hickok und David Poeppel (das ist Pöppel junior) jahrelang mit großem Interesse verfolgt. Man muß kein Neurologe sein, um allein schon die Begriffsverwirrung der Spiegelneurosophen schrecklich zu finden. Hagner weist mit Recht darauf hin, daß Neurologen selbst und nicht erst die Journalisten es waren, die hier leichtfertig an die Öffentlichkeit getreten sind. Das gilt auch für die gesamte Neuropädagogik.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.05.2015 um 05.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28878

Die Entstehung von Zeichen wird phylogenetisch und ontogenetisch nach demselben Muster erklärt: empfängerseitige Semantisierung. Dieser Ausdruck (auch: empfangsseitig) stammt aus der Ethologie (Wolfgang Wickler). Skinner sagt dasselbe: „There must be a listener before there can be a speaker. The same seems to be true of the signaling behavior of other species. Something one animal does (making a noise, moving in a given way, leaving a trace) becomes a signal only when another animal responds to it.” (B. F. Skinner: Recent Issues in the Analysis of Behavior. Columbus 1989:36)
Statt einen mysteriösen mentalen Akt des "Meinens" an den Anfang zu stellen, beginnt man nun mit dem leicht operationalisierbaren Verstehen, das ein wirkliches, beobachtbares Verhalten ist ("response").

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.05.2015 um 09.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28920

Aus Planetenkonstellationen oder Handlinien konnte man bekanntlich schon immer den Charakter und die Berufstauglichkeit eines Menschen ablesen. Nun also auch aus der Sprechstimme. In der FAS berichtete eine Journalistin über tolle Software, mit der man die Stimme analysieren kann; es werden aber auch andere sprachstatistische Methoden angewendet. Hauptsächlich wird ein Dirk Gratzel vorgestellt, studierter Jurist, dann Unternehmensberater, der übrigens schon lange mit solchen Geschäftsideen in den Medien ist. "Vor allem aber beriet er Trainer im Profisport. Im Fußball, Handball, Basketball und Eishockey setzen Bundesligisten auf seine Expertise." (VDI-Nachrichten) Angeblich wenden Weltunternehmen schon diese Methoden bei der Personalauswahl an. "Die Unternehmensberatung McKinsey sagt heute schon voraus, dass Firmen wie Psyware in zehn Jahren so viel Umsatz machen werden wie die Volkswagen AG."

Man stützt sich auf den amerikanischen Psychologen James Pennebaker, über dessen Fähigkeiten man sich hier informieren kann:
https://hbr.org/2011/12/your-use-of-pronouns-reveals-your-personality

Hier wie auch bei Gratzel finden wir den bekannten Gegensatz von raffinierter Software und dann einer ganz und gar naiven Wald-und-Wiesen-Psychologie. "Offenheit für Erfahrung", "Neugier", "Kontaktfreude" usw. – kein Wunder, daß sich die Journalistin darin wiedererkannte, ist es doch die horoskoptypische Rhetorik, die jeden etwas Passendes finden läßt. (Pennebaker: "If someone uses the pronoun “I,” it’s a sign of self-focus." – Das ist so ungefähr das Niveau.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.06.2015 um 06.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29053

In vielen Medien und sogar auf der Wissenschaftsseite der FAZ erschien folgender Bericht:

Vorurteile lassen sich im Schlaf abbauen

Wer rassistische und sexistische Vorurteile hegt, kann im Schlaf davon „geheilt“ werden. Das zeigen amerikanische Forscher, die ihren Probanden vor dem Nickerchen zum Beispiel beibrachten, Frauengesichter mit dem Begriff „Mathematik“ zu verbinden.
Rassistische und sexistische Vorurteile können im Schlaf abgebaut werden, berichten Forscher um Xiaoqing Hu von der Northwestern University in Evanston, Illinois, in „Science“ (doi:10.1126/science.aaa3841).
Vierzig Probanden mussten zunächst ein Porträt eines Menschen einem Begriff zuordnen, der ihrem Vorurteil entgegengesetzt war. Ein Frauengesicht musste etwa mit dem Begriff „Mathematik“ verknüpft werden, ein Gesicht eines Dunkelhäutigen mit positiv belegten Wörtern wie „Sonnenschein“. Bei jeder erfolgreichen Paarung von Bild und Begriff erklang ein bestimmter Ton, abhängig davon, ob es um Sexismus oder Rassismus ging.
Anschließend machten die Probanden einen neunzigminütigen Mittagschlaf. In der Tiefschlafphase spielte man ihnen mehrfach entweder den Rassismus- oder den Sexismus-Ton vor. Als die Wissenschaftler nach dem Schläfchen erneut die Stereotypen der Testpersonen abfragten, stellten sie eine deutliche Minderung bei der Kategorie von Vorurteilen fest, deren dazugehöriger Ton während des Schlafens erklungen war.
(FAZ 3.6.15)

Der Begriff des Vorurteils (Einstellung, attitude...) ist so formelhaft heruntergekommen, daß auch solche "Experimente" nicht so absurd scheinen, wie sie sind. Vielleicht kann man im Schlaf auch Homosexualität bzw. Homophobie, Religion und vieles andere heilen oder "heilen"? Winston Smith brauchte etwas länger, bis er den großen Bruder liebte. Manche waren schon jahrzehntelang mit einer Jüdin verheiratet, ohne von ihrem grundsätzlichen Antisemitismus zu lassen. Aber nun reicht ein Mittagsschläfchen. (Wer schafft es, einen neunzigminütigen Mittagsschlaf hinzulegen?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.06.2015 um 12.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29056

Ich weiß jetzt, wie ein Computer funktioniert. Ich habe nämlich festgestellt, daß sich mein Notebook an verschiedenen Stellen verschieden stark erwärmt. Absurd? Aber es entspricht doch genau dem Niveau unserer Neurosophen. Mit ihren Gehirn-Scans stellen sie fest, daß das Gehirn bei verschiedenen Aufgaben verschieden stark durchblutet wird. Darum behaupten sie zum Beispiel, sie hätten die „Verarbeitung“ von Sprache im Gehirn aufgeklärt: „Nachdem im MPI für neuropsychologische Forschung die neuronale Sprachverarbeitung in extenso aufgeklärt wurde, erkundet die von Angela Friederici gegründete Arbeitsgruppe "Neurokognition von Musik" seit 1998 das Pendant. Denn Musik und Sprache sind beides Mittel der Kommunikation.“ (Das hatte ich schon mal zitiert.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2015 um 06.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29209

„Schuld und Reue aktivierte eine Hirnregion im sogenannten medialen Präfrontalkortex (mPFC).“

Das schreibt der bekannte, aber auch, nun ja, umstrittene Neuropsychologe Niels Birbaumer in einem ganzseitigen Artikel der FAZ (FAZ 17.6.15). Er spekuliert über Psychopathen und aggressive junge Männer. Er geht von Milgram-Experiment aus, das er für zuverlässig und oft repliziert erklärt, ohne auf die Kritik einzugehen. Birbaumer glaubt auch, Schwerverbrecher umerziehen zu können. Er hat Verdienste um die Erforschung von Biofeedback, ist aber zu sehr auf dieses Gebiet fixiert. In dem zitierten Satz, der für den ganzen Beitrag charakteristisch ist, werden kulturell definierte Begriffe mit Neurologie kurzgeschlossen. (Vgl. die Kritik an der "neuen Phrenologie".) Das entspricht der Einbildung vieler Neurosophen, aus Durchblutungsunterschieden ließe sich erkennen, was im Gehirn vorgeht. So macht sich eine ganze Branche allmählich lächerlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.06.2015 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29305

Forscher haben festgestellt, daß zwischen dem Blickverhalten Neugeborener und ihrer späteren Charakterentwicklung ein statistischer Zusammenhang besteht. Er ist so "moderat", die Beschreibungsbegriffe sind so vage und die Forschungsmethoden so schwach, daß man ebensogut von Ergebnislosigkeit des ganzen Unternehmens sprechen könnte. Daraus wird gefolgert, daß weitere Forschung nötig ist.
Aber der SPIEGEL berichtet ausführlich (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/visuelles-verhalten-neugeborener-was-babys-blick-bedeutet-a-1041198.html)

Psychologen müssen eben dauernd etwas veröffentlichen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.07.2015 um 05.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29414

Der "Tagesspiegel" ließ kürzlich seinen Hauspsychiater, Mazda Adli, eine Rede des griechischen Ministerpräsidenten Tsipras "analysieren". An dem Text war nichts Psychologisches, es handelte sich um eine sehr schlichte politische Polemik, wie sie jeder Journalist täglich produzieren könnte, nur primitiver:

Das beginnt bei Tsipras’ Sprache. Sie ist von geradezu antiker Beladenheit, bildstark und martialisch. Tsipras spricht wiederholt von den „Völkern Europas“. Aus der antiken Mythologie, aus der Zeit einer vordemokratischen Ordnung stammt das Thema der Rache, dass (!) sich durch die ganze Rede zieht. Alexis Tsipras stilisiert sich zum Helden und Rächer und stellt sich dabei gleichzeitig als Verteidiger der Demokratie dar. Aber unter dieser Oberfläche werden archaische Gefühle mobilisiert.

Usw. – Psychologie und auch Psychiatrie sind wenig gefestigte Wissenschaften und werden durch solche Wald-und-Wiesen-Psychologen noch zusätzlich in einen schlechten Ruf gebracht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.07.2015 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29417

Zum Amoklauf hier in Mittelfranken erklärt ein Psychologe, solche Ereignisse beeinträchtigten unser Sicherheitsgefühl. Darauf muß man erst mal kommen!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2015 um 08.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29533

„Die Nazis und die SED-Spießer hatten Altgriechisch auf dem Index. Sie wussten, warum: Denn Altgriechisch zu erlernen intensiviert und beschleunigt nachweislich die Synapsenbildung im Hirn. Kaum eine andere Sprache ist so logisch und selbstreflektierend wie das Altgriechische. Eine Jugend aber, die selbst zu reflektieren und selbst zu entscheiden weiß, ist für jedes totalitäre Regime ein Albtraum.“ (Leserbrief von Dr. Franz von Lübcke, FAZ 23.7.15)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2015 um 09.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29534

Obwohl es nicht mehr zum Neurostuß gehört, möchte ich den Schluß des Leserbriefs noch zitieren:

„Als Schüler habe ich meine Griechisch-Pauker gehasst, fürs weitere Leben aber wurde Platon mein wichtigster Wegbereiter. Die amtierenden Kultusbürokraten der christsozialdemokratischen Partei Deutschlands (CSPD) streiten ab, dass sie in ihrem Kampf gegen das Altgriechische und das humanistische Gymnasium den Nazis nacheifern. Doch sie tun es.“

Man sieht die Altphilologen vor sich, wie sie sich mit Platons "Politeia" in der Hand gegen Hitlers Führerstaat erheben...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.08.2015 um 14.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29658

Amerikanische Forscher haben festgestellt, daß Kinder auf Spielplätzen um so risikoreicher spielen, je mehr die Eltern durch ihr Smartphone oder durch Gespräche mit anderen Eltern abgelenkt sind. Der Effekt ist nicht überwältigend, weitere Forschungen sind notwendig.

Eine andere Überraschung bietet heute die Berliner Morgenpost:

Eigentlich wünschen sich die meisten Deutschen zwei Kinder. Dennoch liegt die Geburtenrate unter 1,5 Kinder pro Frau. Das liegt nicht daran, dass mehr Paare kinderlos bleiben, wie man vielleicht annehmen würde. Es liegt vielmehr daran, dass mehr Eltern sich nach dem ersten Kind entscheiden, doch kein zweites zu bekommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.08.2015 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29660

„Nach Skinner liegt Verhalten generell eine Menge von durch Imitation und Übung erlernten kausalen Reiz-Reaktions-Ketten zugrunde. Auch sehr komplexe Situationen und Verhaltensweisen, z. B. sprachliche Kommunikation, können, nach Skinner, prinzipiell in Temini einer Reiz-Reaktions-Theorie gefaßt werden.“ (Helen Leuninger u. a., Hg: Linguistik und Psychologie. Ein Reader. Bd. II, Frankfurt 1974:XI)
(Es folgt Millers „Widerlegung“ des Behaviorismus: 10 hoch 20 Sätze à 20 Wörter müßten gelernt werden usw.)

So dummes Zeug wurde in den siebziger Jahren viel gelesen, und manche haben sich bis heute nicht davon erholt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.08.2015 um 05.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29741

1) Unser Körper – und damit unser Kopf – ist von unserer Umwelt umgeben.
2) Die Prozesse, die für die kognitive Repräsentation unserer Umwelt verantwortlich sind, spielen sich in unserem Kopf ab.
3) Trotzdem nehmen wir das Verhältnis zwischen uns und unserer Umgebung nicht so wahr, daß sich unsere Umgebung in unserem Kopf befindet, sondern so, daß unser Körper (Kopf) von unserer Umwelt umgeben ist.

(Wolfgang Prinz/Gerhard Roth, Sabine Maasen: „Kognitive Leistungen und Gehirnfunktionen“. In: Gerhard Roth/Wolfgang Prinz [Hg.]: Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg, Berlin Oxford 1996:3-34; S. 13)

Die Verfasser nennen dies eine Paradoxie, und zu deren Lösung wollen sie den Begriff der „Repräsentation“ einführen, offenbar ohne zu bemerken, daß sie diesen Begriff bereits bei der Konstruktion der Paradoxie verwendet haben, und zwar in einer entscheidenden Weise: Ohne die althergebrachte philosophische Vorstellung, daß Erkennen eine Art Abbildung, Verdoppelung oder Einverleibung der Welt ist, würde man gar nicht auf die Metapher von der „Welt im Kopf“ kommen.

Die Verfasser entscheiden sich dann, ihre Neuropsychologie in der Sprache der Informationstechnik (Computermetapher) auszudrücken, weil dies sich als besonders erfolgreich erwiesen habe. Ziemlich schlechte Neurosophie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.08.2015 um 06.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29752

„To say that 'language is not innate' is to say that there is no difference between my granddaughter, a rock, and a rabbit. In other words, if you take a rock, a rabbit, and my granddaughter and put them in a community where people are talking English, they’ll all learn English. If people believe that, then they’ll believe language is not innate. If they believe that there is a difference between my granddaughter, a rabbit, and a rock, then they believe that language is innate.“ (Chomsky: The Architecture of Language. New Delhi: Oxford University Press. 2000, S. 50)

Dann sind Klavierspielen und Autofahren auch angeboren. Sollte die vielbewunderte Theorie Chomskys nur ein Kalauer gewesen sein?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.08.2015 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29753

Chomskys Redeweise ist unscharf. Er spricht offenkundig nicht von der Sprache selbst, sondern von der Fähigkeit zum Spracherwerb.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.08.2015 um 15.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29754

Vermutlich. Aber ist das nun eine wohlwollende oder eine böswillige Interpretation? Menschen lernen sprechen, Steine nicht - also ist die Sprachfähigkeit angeboren. Und das vom "bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit" oder so ähnlich?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.08.2015 um 21.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29761

Es ist eine kritische Feststellung. Daß Chomsky sich an Locke oder einem Locke-Strohmann abarbeitete, war seinerzeit wohl einigermaßen überflüssig, aber inzwischen verbreiten Feministen, Homosexualisten und plastische Chirurgen ja die primitivsten Tabula-rasa-Vorstellungen; daher auch Pinkers Buch zum Thema.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.08.2015 um 07.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29807

Unser Nervensystem enthält Merkmalsdetektoren innerhalb der Sinnesmodalitäten, und die Neuropsychologen (wie früher unter anderem Vorzeichen die Philosophen) haben daraus das "Bindungsproblem" konstruiert: Irgendwo müssen doch die Merkmale zusammengeführt werden, damit es zu einer einheitlichen Vorstellung oder Repräsentation des Gegenstandes kommt. Das ist aber nicht notwendig. Die Einheit liegt ausschließlich in der Exekutive. Die Merkmale meiner Kaffeetasse werden nirgendwo zusammengeführt; es genügt, daß ich eine gut gezielte Bewegung ausführen kann, mit der ich sie ergreife und zum Mund führe. Dazu müssen viele Impulse synchronisiert werden, und das lernt man. Nirgendwo im Kopf ist die Tasse "repräsentiert"; keine Repräsentation ist irgendwo "gespeichert".

Für uns hier ist interessant, daß die motorische Exekutive auch im Aussprechen des Wortes Tasse bestehen kann.
Bei Schädigungen des Gehirns kann es zu einer Desynchronisation kommen, wie sich an Aphatikern beobachten läßt. Dann mißlingt die Exekutive. Logopäden versuchen sie wiederherzustellen. (s. a. „Synchronisierte Antworten aus der Großhirnrinde“ von Wolf Singer (Forschung Frankfurt 4/2005:45-47) Auch: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1401#22784
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.09.2015 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29958

„Alle Organismen verfügen über gewisse Reflexreaktionen, die linear als Reiz-Reaktionsverknüpfungen organisiert sind. Die Behavioristen meinen, daß alles Verhalten auf diese Weise organisiert ist, obwohl die Verknüpfungen bei komplexen Organismen in der Regel gelernt und auf unterschiedliche Weise mit anderen assoziiert werden.“ (Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin 2014:22)

Wie ich leider schon früher einsehen mußte, wird Tomasello sein falschen Bild vom Behaviorismus niemals aufgeben. Er wird niemals Skinner lesen und sich von diesem erklären lassen, warum er kein Reiz-Reaktions-Psychologe ist.

Tomasello erkennt nicht, daß "Denken" und "Kognition" Konstrukte, also Fiktionen, und keine natürlichen Gegenstände sind und daß eine "Naturgeschichte" davon gar nicht möglich ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.09.2015 um 05.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29976

Sogar Skinner spricht manchmal von einem Rahmen oder einer syntaktischen Rahmenkonstruktion, in die dann die sprachlichen Elemente eingefügt werden, aber was ist ein Rahmen? Man kann sich einen leeren Rahmen so wenig vorstellen wie ein allgemeines Dreieck (Berkeleys Problem). Das muß konkretisiert und naturalisiert werden.
Nun, nehmen wir als Beispiel die Formulierung einer Frage. Hier kann die Intonation bereits programmiert werden, wenn noch kein lexematisches Material vorliegt. Ebenso kann für Fragen eines bestimmten Typs die Modalpartikel denn aktiviert werden. Beides Fälle autoklitischer Bearbeitung, die also nicht voraussetzen, daß zu bearbeitendes Material vorliegt. Auf diesem Wege könnte man eines der größten Probleme des Skinnerschen Modells lösen. Skinner selbst hat immer wieder mal Bedenken gegen die Zweistufigkeit der Redeerzeugung geäußert, konnte aber die Sache nicht zu Ende führen.
Die Zweiteilung in Primärreaktion und sekundäre Bearbeitung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Freud. Das ist auch kein Zufall. Wie Geir Overskeid gezeigt hat, ist Freud bei Skinner der meistzitierte Psychologe – für viele wohl ein überraschender Befund. ("Looking for Skinner and finding Freud". American Psychologist, 62, 590-595)

Chomsky hat die Frage unlösbar gemacht, weil er einen Homunkulus ansetzt, der "Regeln" befolgt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.09.2015 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30046

Im Wissenschaftsteil der FAZ (23.9.15) spricht eine Neuropsychologin im Rahmen der Folge "Hirnforschung" von der Plastizität des Gehirns und von sensiblen Phasen. Trotz vieler Erwähnungen des Gehirns und der neuen Forschungsmethoden (EEG usw.) sind sämtliche berichteten Befunde über operierte Blinde, frühes Fremdsprachenlernen usw. psychologischer Art, nicht neurologischer. Es geht entgegen dem Augenschein nicht um die Plastizität des Gehirns, sondern um die Flexibilität des Lernens.
Der Leser wird also auf einer ganzen Seite systematisch irregeführt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.09.2015 um 06.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30047

Lernpsychologen und Neurodidaktiker sind sich einig: Es gibt ein Rezept für einen Sprachunterricht, der mehr bewegt. Man muss nur die richtigen Zutaten haben. (Hueber Verlag zu „Menschen“. Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache)

Es gibt keine Neurodidaktik. Das ist nur ein Werbegag.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.10.2015 um 16.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30181

Etymology is the archaeology of thought.

Das steht in Skinners spätem Buch "Recent Issues...", und das Kapitel kann auch heruntergeladen werden, es ist für Sprachinteressierte lesenswert:

https://www.marxists.org/reference/subject/philosophy/works/us/skinner.htm
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.10.2015 um 11.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30207

Der schwedische Neuropsychologe Germund Hesslow sagt über Skinners "Verbal Behavior":

„Sprachverhalten“ ist ein klassisches Werk und zugleich einer der am meisten unterschätzten wissenschaftlichen Texte des Jahrhunderts. Viele glauben irrigerweise, Noam Chomsky – dessen Werk überschätzt wird wie sonst nur noch das Werk Sigmund Freuds - habe es endgültig erledigt. Von anderen psychologischen und linguistischen Arbeiten unterscheidet sich Skinners Verhaltensanalyse dadurch, daß sie vollkommen naturalistisch ist und keinerlei weitreichende metaphysische Annahmen über „Bedeutungen“ und „Regeln“ macht, wie sie in herkömmlichen Ansätzen üblich sind. Letztere konzentrieren sich auf ein idealisiertes und abstraktes Gebilde, die „grammatisch korrekte Sprache“, die es in Wirklichkeit nicht gibt, während Skinner das tatsächliche Sprachverhalten der Menschen untersucht. Er zeigt, daß sprachliche Erscheinungen zu einem großen Teil nach dem Muster des operanten Konditionierens erklärt werden können, das experimentell gesichert ist, und er dehnt diese Untersuchungsmethode auf Probleme aus, die bisher nur von Philosophen angegangen wurden, etwa das Wesen der Bedeutung, gesellschaftliche Aspekte der Sprache, die Möglichkeit einer Privatsprache und das Wesen des Denkens. Viele Philosophen dürften überrascht sein, wenn sie sehen, daß einige der besten Gedanken des späten Wittgenstein bei Skinner klarer und eleganter ausgedrückt sind.

[Gut gesagt! Die Wittgenstein-Exegese füllt ganze Bibliotheken, während man bei Skinner immer weiß, was er meint, und sich mit der Frage beschäftigen kann, ob es wahr ist.]
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2015 um 05.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30376

Warum sollte Manfred Spitzer seinen 15 Bestsellern nicht noch einen inhaltsgleichen sechzehnten nachschicken? Was er nun getan hat. Die Leute, den ganzen Tag mit PC, Internet, Smartphone beschäftigt, verschlingen nur zu gern Bücher, die all dies verdammen. Das Gerede von der digitalen Demenz ist ein Teil der Krankheit, vor der es zu warnen vorgibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.11.2015 um 18.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30397

Zur Zeit geht durch die internationale Presse, daß nach neuesten Untersuchungen die verbreiteten Ansichten über anatomische Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Hippocampus nicht (oder kaum) richtig sind. "Other alleged differences that have turned out to be myths include that the corpus callosum – the brain area that allows the brain’s hemispheres to communicate – is larger in women than in men. It’s not. Nor is there strong evidence suggesting that asymmetry between men’s and women’s brains make the brains of women more effective language processors."

Es war also richtig, diese Geschichten nicht weiter zu beachten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.11.2015 um 08.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30401

Die naive Psychologie ist so verbreitet, daß man gar nicht mehr den Eindruck hat, überhaupt Psychologie zu betreiben, wenn man ihre Annahmen artikuliert: in der Dudengrammatik 2005 (S. 1191, 1196, 1238) wird eine naive mentalistische Sprachpsychologie ausgebreitet. „Innere Gegebenheiten“ (Gedanken, Gefühle usw.) sollen „nach außen gesetzt“ werden; „Versprachlichung kognitiver Inhalte“ usw. – Man fragt sich, was das alles in einer deutschen Grammatik zu suchen hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2015 um 05.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30419

"Animals clearly predict the behavior of their conspecifics, predators, and prey." (Kristin Andrews)

Wie könnten Tiere etwas vorhersagen, wenn sie doch gar keine Sprache haben? Man meint eigentlich, daß Tiere das zukünftige Verhalten anderer Lebewesen (metaphorisch gesprochen) vorwegnehmen oder (unmetaphorisch gesprochen) darauf reagieren, bevor es eingetreten ist. Die naturalistische Auflösung ist nicht schwer: Tiere lernen auf eine vorgeschaltete Phase des Verhaltens zu reagieren. Das kann man mit Pawlow oder mit Skinner beschreiben. Der Hund reagiert, wenn sein Herr zu Stock und Hut greift (mit Thomas Manns unsterblicher Geschichte gesprochen), und nicht erst, wenn er schon die Tür geöffnet hat und heraustritt.
Die Ankündigung eines Verhaltens durch den Menschen muß ebenfalls als eine vorgeschaltete Phase dieses Verhaltens verstanden werden; der Vorteil für die Gemeinschaft liegt auf der Hand.
Dazu bedarf es also keines Gedankenlesens (mindreading).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2015 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30477

Der Sinn von Sinnestäuschungen wird am bekannten Kanizsa-Dreieck erläutert: „Eine solche Sinnestäuschung bewährt sich aber spätestens dann, wenn wir eine aus dem trüben Wasser ausgestreckte Hand ergreifen, weil unser Gehirn sie zu einem Menschen ergänzt, der zu ertrinken droht.“ (Friedrich – Forschungsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität 115:12)

Das ist nicht schlüssig. Daß zur Hand auch ein Mensch gehört, wird auf andere Weise gelernt als durch Gestaltschließung. Daher "sehe" ich auch keinen ganzen Menschen, wenn eine Hand aus dem Wasser ragt.

Die wirklichen optischen Täuschungen nutzen die Redundanzen in der Wahrnehmung aus und reduzieren sie zwecks schneller Orientierung; dabei kann es zu Fehlern kommen, sobald die Umgebung nicht "normal" ist.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 06.11.2015 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30484

Das Kanizsa-Dreieck halte ich eigentlich für ein unglückliches Beispiel einer Sinnestäuschung.
Das randlose weiße Dreieck könnte nämlich tatsächlich existieren, es gibt keinen Unterschied zwischen einem existierenden weißen Dreieck und keinem.
Man kann also nicht sagen, man sieht etwas Nichtexistentes.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2015 um 07.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30522

Aus einer linguistischen Arbeit über wie- und daß-Sätze bei der Wahrnehmung: „wie gibt hier die Anweisung, ein mentales Komparandum zu erstellen, den ganzen Sachverhalt also im mentalen System nachzuvollziehen.“

Wie macht man das? Und was heißt überhaupt nachvollziehen? Die Metaphorik verdirbt alles.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2015 um 17.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30567

Obwohl Texte aus einzelnen Buchstaben bestehen, werden vom geübten Leser ganze Wörter oder Wortgruppen erfasst. Dabei nimmt er Wortbilder wahr, die mit den Wortbildern in seinem Gedächtnis verglichen werden. (http://lehrerfortbildung-bw.de/kompetenzen/gestaltung/typografie/schrlesb/formdiff/formd-lesen-s-art.pdf)

Schon das „Gedächtnis“ ist nur ein volkstümliches Konstrukt, die „Bilder“ darin hat erst recht niemand beobachtet. Man könnte allenfalls sagen, das Wiedererkennen von Wörtern sei so, als ob sie mit gespeicherten Bildern verglichen würden. Aber damit erklärt man nichts, sondern erzeugt nur begriffliche und empirische Probleme. Mit welchem Organ werden die Wortbilder im Gedächtnis wahrgenommen, und wer vergleicht da?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2015 um 16.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30611

Christiane Schlüter: Die wichtigsten Psychologen im Porträt. Wiesbaden 2007.

Darin ein Kapitel über Chomsky, der gar kein Psychologe ist. (Außer im Sinn der uralten rationalen Psychologie natürlich, wegen seiner Spekulationen über eine angeborene Universalgrammatik.)


Paradoxerweise könnte man sagen, daß auch sein Gegenspieler Skinner in einem gewissen Sinn kein Psychologe war, sondern eben Verhaltensforscher. Das bemerkt auch sein Biograph Daniel W. Bjork (S. 226). Behaviorismus ist ja eine Psychologie ohne "Seele" (Geist, mind, mentale Zustände usw.). Die Linguistik tät gut daran, das Psychologisieren wieder aufzugeben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2015 um 04.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30642

Ein Münchner "Pädagoge" verspricht, Legasthenie in wenigen Stunden zu kurieren. Seie Firma coacht auch die Beziehungsqualität in Familien usw., der "Auszug meiner Studien und Ausbildungen" auf der Homepage sieht so aus wie bei all diesen Leuten, die nicht einmal wissen, wie man eine seriös aussehende Bewerbung fabriziert.

Ebenfalls im "Focus": Gerald Hüther mit seinen bekannten Patenrezepten für die Schule der Zukunft, alles mit "Hirnforschung" begründet. „Schüler sollten in der Schule vor allem zwei Dinge lernen“, sagt Hüther: „Wie viel Freude es macht, wenn man sich Wissen erschließt, und dass es nichts Schöneres gibt, als sich Wissen von anderen Menschen zu erschließen, mit denen ich in eine Begegnung komme.“ Usw.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.11.2015 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30695

Wenn man ein spekulatives Modell des Gedächtnisses, der Sprachverarbeitung oder überhaupt des Geistes entwickelt, sei es auch so abstrus wie das von Willem Levelt, und dann den Menschen in den Tomographen legt und mit irgendwelchen Aufgaben füttert, wird man im Hirnscan die Regionen entdecken, die laut Modell für bestimmte Leistungen (besonders) zuständig sind. Also wird man auch die "Zentrale Exekutive" und die "mentalen Rotationen" bestätigt finden, dazu alles andere und sein Gegenteil. Das sind Artefakte der Methode. Vgl. etwa: rubin.rub.de/sites/default/files/rubin/2002-2/2002_2.pdf
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2015 um 05.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30706

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29976

Auf die Verwandtschaft von Freud und Skinner im Hinblick auf die autoklitische Sprachfunktion hat auch ein gewisser Satish Chandra recht früh hingewiesen (Behaviorism 4/1976), der allerdings bald darauf völlig wegdriftete und die Internetwelt bis heute mit wirren Pamphleten überzieht.

Wie gezeigt, hat Skinner ("In some sense we are all Freudians") seine Beziehung zu Freud immer wieder selbst offengelegt, so daß es da auch kein Plagiat aufzudecken gibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2015 um 17.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30735

"Für den Hörer ist es so wichtig, irgendeinen Hinweis auf die Quelle des Sprecherverhaltens zu bekommen, daß es in manchen Gemeinschaften einfach zum guten Ton gehört, jede Rede mit einem Autoklitikum der genannten Art beginnen zu lassen." (Skinner, Verbal Behavior 316)
Gemeint sind Floskeln wie ich sehe, ich denken usw. - Damit deutet Skinner einen interkulturellen Aspekt an. Hierher gehören im Deutschen manche Modalpartikeln wie denn/eigentlich in Fragen. Sie sind hörerbezogen im beschriebenen Sinne und machen die Rede geschmeidiger, höflicher.

"Manchmal liegt die Art und Weise des Sprecherverhaltens auf der Hand und bedarf keines Autoklitikums; aber wenn es darum geht, unter sozusagen neutralen Bedingungen ein Gespräch allererst in Gang zu bringen, ist ein beschreibendes Autoklitikum fast unabdingbar: Man sagt, Das erinnert mich oder Neulich habe ich (von einem neuen Plan) gehört." (ebd.)

Eine von zahllosen feinen Beobachtungen dieses Werks, das wirklich versucht, Sprache als Verhalten zu erklären und nicht von irgendeinem rätselhaften "Geist" herzuleiten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.12.2015 um 05.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30738

Wie bereits berichtet, beherrschen deutsche Kinder sehr früh die häufigsten Abtönungspartikeln, z. B. denn in Fragen, auch wenn der Linguist Mühe hat, den Gebrauch zu beschreiben. Ganz anders der deutschlernende Ausländer. Er beschränkt sich lange Zeit auf das "pragmatische Minimum" und zeigt in der Regel zeitlebens eine geringere Nutzung der Abtönung.

Man könnte sagen, daß der Fremdsprachenlerner ebenso wie jeder Mensch unter behindernden Umständen (Verletzung, Müdigkeit, Demenz, Suff) primär auf die Verständigung Wert legt, während für das Kind der "Beziehungsaspekt" ebenso wichtig ist. Beim Kind entwickeln sich Vorstufen, beim Erwachsenen Reduktionsstufen der vollen Kommunikation. Aufbau und Abbau sind nicht so symmetrisch, wie Roman Jakobsohn annahm ("Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze").

Ähnliche Beobachtungen bei Skinner, z. B.:

„Bei Schlagzeilen verdrängt der Platzmangel die Autoklitika. Eine Kieferentzündung hat dieselbe Wirkung. Gebrochenes Deutsch steht ebenfalls meist dieser latenten Form nahe, weil in den Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens die meisten Autoklitika noch nicht erworben werden.“ (VB 347)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.12.2015 um 07.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30801

Noch einmal zu Canetti in seinen marschierenden Wäldern. Gerade mal wieder Filme aus Nordkorea gesehen. Die Freude an Heeren, an Aufmärschen von genau ausgerichteten Soldatenmassen, ist heute überall größer als in Deutschland. China, wo ich überhaupt keinen richtigen Wald gesehen habe, ist auch groß darin, und in Rußland marschiert dann wohl die Taiga. "Rigide", "aufrechtstehend" – ach geh!
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 08.12.2015 um 11.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30803

«La multitude et l'étendue des forêts [de l'Allemagne] indiquent une civilisation encore nouvelle», schreibt die Staël gleich am Anfang ihres Buches – eine treffendere Beobachtung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2015 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30812

Die Aufmerksamkeit wird durch ablenkende Reize gestört. Wer konzentriert liest, überhört Gespräche usw. – Diese uralte psychologische Erkenntnis wird jetzt durch ein bißchen Hirnscan aufgepeppt und kommt so in die Zeitung. Britische Förscherchen haben ihr Publikationssoll erfüllt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2015 um 07.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30823

„... chimpanzees, like humans, understand that others see, hear and know things“ (Joseph Call/Michael Tomasello: „Does the chimpanzee have a theory of mind? 30 years later“. Trends in Cognitive Science 12/2008:187-191, S. 190)

Und woran erkennt man, daß Schimpansen es "verstehen"? An ihrem Verhalten. Behavioristen sind überzeugt, daß das Verhalten samt Vor- und Nachgeschichte ausreicht und man nicht noch mysteriöse mentale Sachverhalte wie Verstehen, Wissen usw. beschwören muß, um das Verhalten zu erklären.

Der Hund "weiß", wann das Frauchen spazierengehen will. Aber Wissen und Wollen sind überflüssig, denn Frauchens Verhalten (Schuhe anziehen usw.) ist eine längst gewohnte vorgeschaltete Phase des Spazierengehens, und darauf reagiert der Hund.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.12.2015 um 06.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30871

Wieder räumt die FAS (13.12.15) Gerald Hüther, „einem der bekanntesten Neurobiologen Deutschlands“, eine ganze Seite ein, diesmal im Wirtschaftsteil. Im Interview mit Inge Kloepfer äußert er sich über "Fleiß und Faulheit, das Glück bei der Arbeit und den größten Flop der Wissenschaft“ (das Humangenom-Projekt). Er gibt nur Allerweltspsychologie von sich, aber durch häufige Erwähnung des Gehirns suggeriert er einen Zusammenhang mit der Neurologie.

„FAS: Und wann sind wir endlich glücklich?

Hüther: Wenn alles gut passt. Wir Neurobiologen nennen das Kohärenz, wenn das, was wir uns wünschen, und das, was wir in der Realität erleben, übereinstimmt.“

Man könnte es auch Weihnachten nennen, mit Neurobiologie hat es jedenfalls nichts zu tun.

Zur Entblätterung Hüthers vgl. „Die Stunde der Propheten“, ZEIT vom 30.8.2013 (http://www.zeit.de/2013/36/bildung-schulrevolution-bestsellerautoren/komplettansicht)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2015 um 07.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30879

"Zukunft" hat nur der Mensch, und zwar weil er Sprache hat und zusammen mit anderen Zukunft und Vergangenheit sprachlich konstruiert. Planen und Erzählen gibt es nur beim Menschen.

Schimpansen stellen in begrenztem Umfang Werkzeuge her. Sie tragen gefundene oder hergestellte Werkzeug einige Meter weit, aber niemals schaffen sie sich einen Vorrat an, sie arbeiten immer nur ad hoc daran.

Bienen "erzählen" gewissermaßen (falls die Sache mit dem Schwänzeltanz stimmt), aber das ist angeboren und zu weit von uns entfernt, als daß es hier einschlägig sein könnte.

Selbst der Mensch hat es mit seiner Sprache schwer, die konstruierte Zukunft so realistisch zu "vergegenwärtigen", daß er der Versuchung widerstehen kann, das Saatgetreide aufzufressen. Anderes brauche ich nicht zu erwähnen (mit dem Rauchen aufhören usw.).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2015 um 17.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30887

„Hirnforscher haben herausgefunden, dass es für Hass im Kopf eigene Synapsen gibt.“ (http://gfds.de/aktionismus-ist-zu-befuerchten/)

Schönes Beispiel für Neuro-Babble. Ebd. gefunden:

„Wer in einer offenen Gesellschaft leben will, muss in Kauf nehmen, dass er beschimpft und beleidigt wird, dass sich ein Hass auf ihn verbal entlädt. Er muss nicht in Kauf nehmen, dass er verdroschen oder dass sein Haus angezündet wird. Dafür gibt es Rechtsstaat und Polizei.“

Wieso denn? Auch Beleidigung ist strafbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2015 um 18.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30889

Begriffskritisches zum Neurowahn:

Wo Hass entsteht
SPIEGEL 29. Oktober 2008
Liebe und Hass liegen nahe beieinander - nicht nur im Beziehungsalltag, sondern auch im Gehirn, wie Wissenschaftler anhand von Scans nun belegen konnten. Beide Gefühle aktivieren teilweise die gleichen Hirnregionen.
Welche Hirnbereiche aktiv sind, wenn Menschen leidenschaftlich hassen, haben britische Forscher herausgefunden. Hass aktiviere andere Hirnregionen als verwandte Gefühle wie Angst und Wut, teile sich jedoch zwei Bereiche des Gehirns mit der Liebe, schreiben die Neurowissenschaftler Semir Zeki und John Romaya vom University College London im Journal "Plos One". Sowohl bei Hass als auch bei romantischen Gefühlen seien das sogenannte Putamen und die Inselrinde aktiv - zwei Teile des Großhirns. "Das Putamen bereitet Bewegungen vor", erklärt Zeki. Eine Aktivierung dieser Hirnrinde haben die Forscher übrigens nicht nur beobachtet, wenn man einem verhassten Feind begegnet, sondern auch, wenn ein Rivale um die geliebte Person auftaucht. Zeki und seine Kollegen vermuten, dass diese Aktivierung eine Vorbereitung auf einen möglichen Angriff oder eine Flucht einleitet.
Die Inselrinde wiederum reagiere auf beunruhigende Reize. "Sowohl geliebte als auch verhasste Gesichter können beunruhigen", schreibt Zeki. Neben Putamen und Inselrinde aktivierten Hassgefühle zudem Hirnregionen, die mit Aggressionen in Verbindung stehen.
Die Wissenschaftler analysierten mit Hilfe eines Magnetresonanztomografen die Hirnaktivität von 17 Probanden, die Fotos eines ihnen verhassten Menschen anschauten. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um Ex-Liebhaber oder Konkurrenten im Beruf. Als Vergleich dienten Fotos von Personen, denen die Probanden neutral gegenüberstanden.
Zuvor hatten die Forscher den Hass jedes Teilnehmers auf einer Punkteskala von null bis 72 eingeordnet. Wurden die Probanden dabei als sehr hasserfüllt eingestuft, zeigte sich auch beim anschließenden Hirn-Scan eine besonders hohe Aktivität der entsprechenden Bereiche. Dies könne für die Beurteilung von Tatmotiven bei Kriminalfällen von Interesse sein, sagte Zeki.

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hirnforschung-wo-hass-entsteht-a-587217.html
-

Aber Haß und Liebe sind selbst keine Aktivitäten, sondern man muß fragen, in welchem Verhalten, das als Hassen beschrieben wird, die meßbaren Erregungen statttfinden.
Man kann nicht einfach dasitzen und jemanden hassen oder lieben. Womit also werden die gemessenen Hirnvorgänge korreliert? Bilder von gehaßten Personen anschauen ist wirklich ein Verhalten, aber es ist eben nicht das Hassen. Wie steht es mit anderen Verhaltensweisen, z. B. dem Reden über den Verhaßten, dem gehässigen Rezensieren seiner Bücher, dem Töten seiner Kinder...? Beim Lieben gibt es eine noch viel größere Bandbreite der möglichen Verhaltensweisen, in denen sich Liebe ausdrückt (wie man sagt): Briefe schreiben, an Strumpfbändern riechen (Faust), Dinge kaufen, Tagträumen nachhängen...
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 14.12.2015 um 23.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30894

Zum Wort Liebe fällt mir Musils schöne Passage aus Band II des Manns ohne Eigenschaften ein (also aus dem Nachlass; die Passage hatte ich mir notiert, weil Musil damit 1937/38 ziemlich genau Wittgensteins Familienähnlichkeit vorwegnimmt):
"Die Unterscheidung zwischen Haß und Zorn festzulegen, ist so leicht und so schwer, wie die zwischen Mord und Totschlag oder einem Becken und einer Schüssel zu bestimmen. Es waltet nicht Namenswillkür, aber jede Seite und Biegung kann dem Vergleich und der Begriffsbildung dienen. Und so hängen auf diese Weise wohl auch die hundert und ein Arten der Liebe zusammen, über die Agathe und ich nicht ganz ohne Kummer gescherzt haben. Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames 'Gabeligsein' zugrunde; aber es steckt nicht als ein gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu jedem von ihnen möglicher Vergleich. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zum anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat."


Zum Thema "niedriger hängen" passt diese Pressemitteilung der NYU: http://www.nyu.edu/about/news-publications/news/2015/12/07/chomsky-was-right-nyu-researchers-find-we-do-have-a-grammar-in-our-head.html (Auch nicht viel besser: http://www.mpg.de/9785401/internal-grammar)
Ging vor wenigen Tagen durch die sozialen Medien, und es würde mich nicht wundern, wenn die Meldung demnächst noch von den traditionellen Medien aufgegriffen würde. Auch Steven Pinker hat es sich nicht nehmen lassen, die Meldung zu "retweeten" (https://twitter.com/sapinker/status/675759591821549568). Sieht man sich die eigentliche Studie an (http://psych.nyu.edu/clash/dp_papers/Ding_nn2015.pdf), merkt man schnell, dass sie mit Chomsky wenig zu tun hat (und mit den üblichen Problemen zu kämpfen hat, wie sehr geringer Probandenzahl pro Experiment). Das ist dann wohl auch Pinker aufgefallen (https://twitter.com/sapinker/status/675761112101609472).
Schön ist aber der Trend, zusätzlich zum eigentlichen Artikel online noch ausführlich auf die Methoden einzugehen (http://www.nature.com/neuro/journal/vaop/ncurrent/full/nn.4186.html, leider teilweise nur mit Uni-Zugang einsehbar) und Datensätze zu veröffentlichen, sodass die statistischen Analysen reproduzierbar sind. Auch die Checkliste von Nature Neuroscience halte ich für eine gute Sache (http://www.nature.com/neuro/journal/vaop/ncurrent/extref/nn.4186-S2.pdf).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.12.2015 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30897

Danke für das tolle Zitat!

Was die Grammatik im Kopf betrifft (ich habe die Links noch nicht weiterverfolgt), so ist sie ja keine empirische Frage, sondern begriffskritisch zu behandeln und damit wahrhaft philosophisch, wie Peter Hacker immer wieder gezeigt hat.

Empirisch und zwar sprachwissenschaftlich ist dann wiederum die Frage, wie es überhaupt zu diesen mentalistischen Begriffsverwirrungen gekommen ist.

The English language is heavy-laden with mentalism. Feelings and states of mind have enjoyed a commanding lead in the explanation of human behavior; and literature, preoccupied as it is with how and what people feel, offers continuing support. As a result, it is impossible to engage in casual discourse without raising the ghosts of mentalistic theories. The role of this environment was discovered very late, and no popular vocabulary has yet emerged. (B. F. Skinner: About behaviorism. New York 1974:19f.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.12.2015 um 06.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30915

Einige Forscher (evolutionäre Psychologie, Paläontologie usw.) nehmen an, daß Frühmenschen unverbundene geistige "Module" im Kopf hatten, also getrennt für Sprache, Technik usw., und daß sie darum wenig kognitive und daher auch technische Fortschritte machten. Erst die neuere "cognitive fluidity", die Verbindung zwischen diesen Modulen, habe die technische Entwicklung beschleunigt.

Hier ein Beispiel solcher Gedankenspiele:

Cognitive fluidity is a term first popularly applied by Mithen in his book The Prehistory of the Mind, a search for the origins of Art, Religion and Science.
The term cognitive fluidity describes how a modular primate mind has evolved into the modern human mind by combining different ways of processing knowledge and using tools to create a modern civilization. By arriving at original thoughts, which are often highly creative and rely on metaphor and analogy modern humans differ from archaic humans. As such, cognitive fluidity is a key element of the human attentive consciousness. The term has been principally used to contrast the mind of modern humans, especially those after 50,000 B.P. (before present), with those of archaic humans such as Neanderthals and Homo erectus. The latter appear to have had a mentality that was originally domain-specific in structure; a series of largely isolated cognitive domains for operating in the social, material, and natural worlds. These are termed “Swiss penknife minds” with a set of special modules of intelligence for specific domains such as the Social, Natural history, Technical and Linguistic. With the advent of modern humans the barriers between these domains appear to have been largely removed in the attentive mode and hence cognition has become less compartmentalised and more fluid. Consciousness is of course attentive and self-reflective, and the role of the modular intelligences in neurological “Default mode” is a topic for current research in self-reflective human consciousness.
Mithen uses an appropriately interdisciplinary approach, combining observations from cognitive science, archaeology, and other fields, in an attempt to offer a plausible description of prehistoric intellectual evolution.
-
Das sind ziemlich weit hergeholte Phantasien. Andere wie Panksepp haben davor gewarnt, zu schnell in Neurologie und Genetik überzuwechseln und damit das individuelle Lernen zu unterschätzen.

Ich nehme dagegen an, daß das menschliche Verhalten, und zwar das sprachliche wie das technische und soziale, früher stark ritualisiert war. Die Herstellung von Werkzeug z. B. dürfte dadurch in ihrer Weitergabe gesichert gewesen sein, daß jede Abweichung geahndet wurde. Vgl. die Demonstrationen der Levallois-Technik. Ebenso die Verteilung des Rederechts und die Tabus über dem Reden überhaupt. Es ist nicht einzusehen, warum die "stasis" nur die Technik betroffen haben sollte. Ich nehme auch an, daß eine gesellschaftliche Veränderung die Kommunikationsbedingungen änderte, so daß die kombinatorischen Möglichkeiten, die in der Sprache stecken, sich allmählich entwickeln konnten. Dazu gehört auch das Konkurrenzverhalten, der Wetteifer der Innovation anstelle der heiligen Bräuche.

Ich halte daher die ganze Idee einer Getrenntheit von sprachlichen, sozialen und technischen "Modulen" für falsch. Kommunikation der Gruppenmitglieder, Jagdverhalten, Vorratsbildung und Feinmotorik zum Beispiel waren nie getrennt, weder als Praxis noch im "Geist".

Ich bin auf diese Gedanken im Zusammenhang mit meinen Fachsprachenstudien gekommen. Wenn man die Rationalität, die sich in den Fachsprachen verkörpert, sozusagen zurückrechnet, kommt man bei archaischen Kommunikationsformen an, die zu entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen und Techniken passen. Ethnographische Beschreibungen von vormodernen Gesellschaftn bestätigen das. Rudimente sind natürlich auch in unserer Gesellschaft noch anzutreffen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.12.2015 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30972

„Chimpanzees may possess a richer understanding of the problem and may predict which features are important for a functional tool without trial-and-error learning.“ (Hauser/Santos in Margolis, Hg. 276)

Was könnte „predict“ bei einem Organismus heißen, der nicht über Sprache verfügt? Er könnte gelernt haben, auf ein vorgeschaltetes Ereignis so zu reagieren wie auf das Hauptereignis, oder auf andere Weise zweckmäßig angepaßt. Der Hund entnimmt dem Gesamtduktus der Situation, daß der Herr mit ihm Gassi gehen wird, und begibt sich schwanzwedelnd zur Tür. Er „sagt“ nichts „voraus“. Man muß sich bemühen, auch das wirkliche Voraussagen bei Menschen in derselben Weise zu naturalisieren: Reaktion auf eine Vorphase des Vorausgesagten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.12.2015 um 08.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31079

Nach einem Bericht in der FAZ (29.13.15) haben Neurophysiologen um David Poeppel im Hirnscan eine Bestätigung für Chomskys These in "Syntactic Structures" (1957) gefunden. Der Bericht ist ziemlich wirr, ich will nur weniges anmerken. Es ging damals um die mit großem Nachdruck vorgetragene These, daß Sätze nicht Schritt für Schritt, immer ein Element mit dem vorigen assoziierend, "erzeugt" werden können, sondern auf Struktur Rücksicht nehmen müssen, also eine Hierarchie, die über das Lineare hinausgeht. Allerdings ging es nicht um die wirkliche Entstehung der Rede im Gehirn, sondern Chomsky hat im Laufe seines Lebens nur bei Bedarf (je nach Geldgeber, wie Adam Makkai bemerkte) die realistische Deutung seiner automatentheoretischen Darstellung nahegelegt.
Wichtiger ist aber, daß der Gegner, der einen "Markov-Prozeß" annahm, gar nicht bekannt war oder vielleicht nur in mathematischen Kreisen. Skinners Behaviorismus, den sich Chomsky wenig später als großen Feind auserkor, macht gar keine Aussagen dazu, bietet allerdings durch die breite Darstellung der "mehrfachen Verursachung" (die auch jetzt wieder im Zeitungsbericht hervorgehoben wird) durchaus die Möglichkeit, das Entstehen hierarchischer Struktur auf natürliche Weise zu erklären. (Syntaktische "Frames" als autoklitische Mittel usw.)
Außerdem wird sich Chomsky an seine frühen Veröffentlichungen, die jetzt "bewiesen" worden sind, kaum noch erinnern...
Daß wieder mal Hirnscans überinterpretiert werden, brauche ich nicht zu erwähnen. Man kann sie nur interpretieren, wenn man schon weiß, wonach man sucht: Sprache, Grammatik, Gott (kein Scherz!)... (Im Pressebericht der Forscher heißt es: We Do Have a “Grammar” in Our Head - also keine Grammatik, sondern eine "Grammatik". Wir reagieren eben auf ungrammatische Wortfolgen anders als auf grammatische, das ist immer der Kern der Sache.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.01.2016 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31167


Die Assoziationsregion im Parietalkortex verarbeitet vor allem die Lokalisation von Gegenständen im Raum sowie die Berechnung von Eigenbewegungen in einer dreidimensionalen Welt. Auch arithmetische Denkprozesse wie das Addieren von Münzwerten beim Bezahlen führen wir primär mithilfe des parietalen Assoziationsareals durch. Der Grund hierfür ist ganz einfach: Wir repräsentieren Zahlen als eine mentale Reihe, also als Zahlenstrahl. Dafür transformieren wir numerische Werte in räumliche Positionen. Durch die Spezialisierung des Parietalcortexes auf räumliche Verarbeitungen entsteht somit auch eine Dominanz für Arithmetik. (Onur Güntürkün: Biologische Psychologie. Göttingen: Hogrefe 2012:119f.)

Die Darstellung ist rein spekulativ, nicht biologisch-physiologisch, und kann daher philosophisch kritisiert werden.
Was ist eine „mentale Reihe“? Selbst wenn introspektiv – was immer das sein mag – das Bild eines Zahlenstrahls nahegelegt wäre, würde das nichts für die Physiologie beweisen. Die vermeintlichen Gegenstände der Introspektion sind kulturspezifische Konstrukte, ebenso wie die „Denkprozesse“, die man hinter dem Verhalten vermutet. Ich selbst kann nicht finden, daß ich mithilfe eines Zahlenstrahls rechne. Bei mir spielt die auswendig gelernte Zahlenreihe (die ich mir aber nicht räumlich vorstelle) und das auswendig gelernte Einmaleins eine Rolle, dazu ein paar auswendig beherrschte Zahlenverhältnisse usw.

Wir wissen nicht im entferntesten, was sich neurophysiologisch abspielt, wenn jemand sich im Raum orientiert oder wenn er rechnet. Es ist möglich, daß die betreffenden Hirnareale für eine sehr allgemeine topologische Ordnung des Verhaltens zuständig sind, die abstrakter ist als das Verhalten im Raum und das Rechnen mit Zahlen. Diese beiden Verhaltensweisen ergeben sich erst im Zusammenspiel mit der motorischen Peripherie. (Ähnlich wie bei einem Computer, wo erst die Peripherie darüber entscheidet, ob Impulse als Sprache, als Bilder oder als Musik in Erscheinung treten.) So könnten Bewegung im Raum und Rechnen etwas gemeinsam haben, aber sicher nicht über den bildlichen „Zahlenstrahl“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2016 um 16.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31250

Während Sie wegschauen, stibitze ich mir ein Pommes frites.(Alva Noë: Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins. München 2010:161f. = I snatch one of your french fries)

Das Buch ist weitschweifig und wird seinem Anspruch (Untertitel) nicht gerecht. Schlecht ist es nicht, aber eigentlich genügt vom selben Verfasser „Is the Visual World a Grand Illusion?“ (www.imprint.co.uk/pdf/NOE.PDF) (Das ist auch ein zentrales Kapitel des Buches.)

Mit einem soliden Lehrbuch der Neuropsychologie ist man besser bedient.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2016 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31364

Unsere Leipziger Anthropologen müssen alle vier Wochen in die Presse. Irgendwelche Versuche mit Schimpansen laufen ja immer, warum also nicht mal berichten? Vor allem Versuche mit "Kooperation" (ein Affe wird belohnt, aber nur, wenn ein anderer auch belohnt wird usw.); sehr beliebt ist seit langem das Ziehen an Seilen. Wenn man Seile, an denen die Affen ziehen, als „Vertrauen-Seil“ und „Kein-Vertrauen-Seil“ etikettiert, bekommt man natürlich solche Ergebnisse.
Es gibt viele Verhaltensweisen von Tieren, die man als Kooperation usw. deuten kann, wenn man will. Man muß es nur reißerisch genug ausdrücken: Dies deute darauf hin, dass die menschliche Freundschaft nicht so einzigartig sei wie bisher angenommen, erklärte MPI-Experte Jan Engelmann. "Freundschaften beim Menschen sind keine Anomalie im Tierreich."
Wer hat denn das bisher angenommen? Freundschaften zwischen Hunden kann man jeden Tag beobachten. Ich habe früher schon mal Platons Beobachtung zur philosophischen Begabung der Hunde zitiert: Hunde sind freundlich zu Menschen, bloß weil sie sie kennen, nicht weil sie irgendeinen Vorteil von ihnen erlebt haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2016 um 07.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31366

Noch zu den Hunden: Eine Wolf-Expertin sagt, daß der Wolf sich vom Haushund (Canis familiaris) dadurch unterscheide, daß Hunde zeitlebens kindliche Verhaltensweisen beibehalten, Wölfe nicht. Hunde werden gern gekrault und spielen, Wölfe weniger.

Der Mensch ist bekanntlich im selben Sinne domestiziert samt Neotenie, wie von Lorenz besprochen. Wir sind eigentlich nie "zu alt, um nur zu spielen", Grenzen zu überschreiten, Neues auszuprobieren. Es wäre zu überlegen, wie das unser Sozialverhalten und auch das Sprachverhalten bestimmt ("Sprachspiel").
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.01.2016 um 10.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31443

Im mentalen Lexikon gibt es jeweils ein eigenes Speichersystem für die Wortformen und die Wortbedeutungen. (Volker Harm: Einführung in die Lexikologie. Darmstadt 2015:111)

Einen solchen Speicher voller Bedeutungen würde ich gern einmal sehen. Ich kenne Bedeutungswörterbücher, aber dort stehen nur Wörter drin, manchmal auch Bilder, aber keine Wortbedeutungen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2016 um 06.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31454

Zum einem Bericht der FAZ (27.1.16): Viele Neurologen wissen nicht, daß die Hirnforschung nichts zur Willensfreiheit sagen kann. „Willensfreiheit“ ist kein biologischer Begriff. Die Versuche Libets und vor ihm Kornhubers sind interessant, ihre Ergebnisse aber nicht überraschend. Natürlich baut sich der Impuls für eine Muskelbewegung allmählich auf. Keine dieser Untersuchungen kann den „gesunden Menschenverstand“ bestätigen, der schon immer vom freien Willen gewußt habe.
Unser Verständnis vom Willen (der per definitionem „frei“ ist) bildet sich in Dialogen, durch die jeder fortwährend erfährt, daß man durch Argumente bewegt werden kann, etwas anderes zu tun. Ohne das sprachliche Spiel von Ankündigung, Zuspruch und Einspruch und deren Wirkung hätte sich der Begriff des Willens gar nicht bilden lassen. Was sollte die Neurologie dazu beitragen können?

Vor einigen Jahren wurde Gerhard Roth mit der These bekannt, man können einem Amokläufer keine Schuld zuschreiben, weil der freie Wille eine Illusion sei. Hier wird der Kategorienfehler der Neurosophen gemeingefährlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2016 um 08.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31455

„Die Phonetik befaßt sich traditionell nur mit den physikalisch meßbaren Lautereignissen, die Phonologie aber mit den Repräsentationen der Laute im Gehirn, die es einem Sprecher und Hörer erlauben, bestimmte Laute und Lautkombinationen hervorzubringen bzw. zu interpretieren.“ (Jörg Keller/Helen Leuninger: Grammatische Strukturen – Kognitive Prozesse. Tübingen 1993:15)

Die Phonologie hat sich noch nie mit dem Gehirn befaßt und läßt sich nach wie vor aufbauen, ohne daß man sich je auf das Gehirn bezieht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2016 um 05.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31457

Mit bildgebenden Verfahren hat man nachgewiesen, daß Substantive im Gehirn anderswo gespeichert werden als Verben usw. (Das ganze Gerede vom Speichern ist Unsinn, aber sei's drum.)

Vorschlag eines Experimentum crucis: Hat man je untersucht, ob zwei verschiedene Aufgabenstellungen zu genau identischen Hirnscans führen? Wenn ich jemanden auffordere, den Psalm 27 vorzutragen und anschließend den Psalm 31, werden sich wahrscheinlich im Hirnscanner leicht verschiedene Bilder ergeben. Was folgt daraus für die Repräsentation der Psalmen im Gehirn?



Warum sucht man immer nur nach solchen leicht handhabbaren Sachen? Warum untersucht man nicht, wo im Gehirn korinthische Säulen oder Hypothekendarlehen gespeichert sind? Und was das Verhalten betrifft: Hat man verglichen, welche Zentren aktiviert werden, wenn man Karten mischt, Wollfäden sortiert, Geld zählt?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2016 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31461

Was wir schon immer geahnt haben:

Superfluous neuroscience information makes explanations of psychological phenomena more appealing.

Fernandez-Duque D, Evans J, Christian C, Hodges SD.

Abstract
Does the presence of irrelevant neuroscience information make explanations of psychological phenomena more appealing? Do fMRI pictures further increase that allure? To help answer these questions, 385 college students in four experiments read brief descriptions of psychological phenomena, each one accompanied by an explanation of varying quality (good vs. circular) and followed by superfluous information of various types. Ancillary measures assessed participants' analytical thinking, beliefs on dualism and free will, and admiration for different sciences. In Experiment 1, superfluous neuroscience information increased the judged quality of the argument for both good and bad explanations, whereas accompanying fMRI pictures had no impact above and beyond the neuroscience text, suggesting a bias that is conceptual rather than pictorial. Superfluous neuroscience information was more alluring than social science information (Experiment 2) and more alluring than information from prestigious "hard sciences" (Experiments 3 and 4). Analytical thinking did not protect against the neuroscience bias, nor did a belief in dualism or free will. We conclude that the "allure of neuroscience" bias is conceptual, specific to neuroscience, and not easily accounted for by the prestige of the discipline. It may stem from the lay belief that the brain is the best explanans for mental phenomena.

(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25390208)

Der Neurobluff kommt von zwei Seiten: Geisteswissenschaftler im weiteren Sinne peppen ihre Texte mit neurosophischen Spekulationen auf, Neurowissenschaftler spekulieren weit über ihr Fachgebiet hinaus. Meist wird eine Wald-und-Wiesen-Psychologie in "Hirnforschung" umgedeutet. In der Lingusitik läuft es so:
If the mind is taken to rest on a neurophysiological foundation, and if language is declared to be a module of the mind, and if syntax is declared to be the central module of language, then it might almost seem that one has indeed acquired the right to study English syntax and call it neurophysiology. (Esa Itkonen)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2016 um 04.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31466

Die Süddeutsche Zeitung interviewte vor einiger Zeit (28.4.09) Gerald Hüther über Veränderungen des Gehirns durch die Nutzung von Internet und SMS. Das einzige Neurologische, was er sagt, ist, daß die den Daumen steuernden Gehirnteile bei Jugendlichen in den letzten Jahren „viel größer“ geworden sind.

Kann das stimmen? Da unser Gehirn sich nicht ausdehnen kann, müssen andere Teile geschrumpft sein – welche? Wie haben sich andere modische Aktivitäten ausgewirkt, Nordic walking oder Skateboardfahren? Bei einem Pianisten müßte praktisch der ganze Schädel von fingersteuernden Neuronen ausgefüllt sein, so daß für anderes einfach kein Platz mehr bleibt.

Alle anderen Äußerungen sind mehr oder weniger pauschale Beurteilungen psychologischer, pädagogischer und weltanschaulicher Art, genau wie bei Spitzer. „Das Fernsehen ist nur die Ersatzbefriedigung dafür, dass man in Wirklichkeit nicht dazugehört. Und das Internet ist nur die Ersatzbefriedigung dafür, dass man tatsächlich keine Aufgaben und keine verlässlichen Beziehungen hat.“ Usw. Darüber ein großes Foto mit eingefärbten Zellen aus Mäusehirnen.

Wir haben schon gesehen, daß solche Schwätzer bis in den Bundestag hinein ernst genommen werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2016 um 05.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31467

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1145#14341

Vom selben Verfasser:

„Die Freude von Kindern an sprachlichen Spielen zeigt, dass im kreativen Umgang mit Sprache schon ein menschliches Belohnsystem aktiviert wird.“ (Ludger Hoffmann: Deutsche Grammatik. Berlin 2013:16)

Wenn es den Kindern Spaß macht, wird wohl ein Belohnsystem aktiviert worden sein. Daß es sich um ein Belohnsystem handelt, erkennt man am Spaß. Eine weitere neurosophisch aufgepeppte Tautologie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.01.2016 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31484

Ich bleibe dabei, daß es keine Neurolinguistik gibt, nur den Namen und Lehrstühle.

In den meisten "neurolinguistischen" Arbeiten werden Neuronen gar nicht erwähnt, es sind reine Funktionsmodelle/Leistungsmodelle. Also bestenfalls spekulative Neurologie. Auch John T. Bruer wundert sich darüber, daß bei einschlägigen Kongressen die Neurologen kaum zu Wort kamen. (The Myth of the First Three Years. New York 1999)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2016 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31491

Im orbito-frontalen Kortex sind nicht nur Gut und Schlecht, sondern auch Gut und Böse repräsentiert. (Manfred Spitzer)

Ein sinnloser Satz, der aber durchscheinen läßt, worauf die naive Rede von "Repräsentation" beruht: auf der Metapher der Stellvertretung oder Einverleibung. Die Welt muß irgendwie in den Kopf. Das Zauberwort Repräsentation macht es möglich. Eigentlich ist es die gute alte "Vorstellung".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.02.2016 um 12.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31552

Außer dem dogmatischen Gehalt der Religion (z. B. Lehre von Sünde und Erlösung, Gebote und Gebete) gibt es etwa schwer Definierbares, vielleicht das „ozeanische Gefühl“, mit dem sich Freud beschäftigt hat. Jedenfalls außergewöhnliche Zustände, wie man sie auch unter Hypnnose, Sauerstoffmangel, Drogeneinfluß usw. erlebt. Einige dieser Zustände werden manchmal als religiös gedeutet, aber das ist nicht zwingend, sondern seinerseits kulturbedingt.
Nun lesen wir:
Wo das spirituelle Empfinden sitzt: Die Fähigkeit, sich als Teil von etwas Größerem zu begreifen, ist offenbar in bestimmten Gehirnarealen verortet.
Wissenschaftler haben erstmals Hirnareale identifiziert, die an religiösen Erfahrungen beteiligt sind. Italienische Mediziner entdeckten an Patienten mit Hirntumoren, dass die hinteren Scheitellappen des Großhirns maßgeblich die Spiritualität eines Menschen beeinflussen.
Die Forscher der Universität Udine untersuchten bei Krebspatienten das Gefühl der Selbsttranszendenz, also die Fähigkeit, sich nicht nur als Ich, sondern als Teil eines großen Ganzen zu fühlen. Die Wissenschaftler prüften, wie sich diese Eigenschaft veränderte, wenn die Tumore entfernt wurden, und glichen dies zudem mit den durch die Operation verursachten Schäden ab.
"Dieses Vorgehen erlaubt uns, die durch bestimmte Hirnverletzungen verursachten Veränderungen der Selbsttranszendenz und den Anteil der Stirn-, Schläfen- und Scheitelareale zu erforschen", sagt Studienleiter Cosimo Urgesi.
Das Resultat: Bestimmte Verletzungen der hinteren Scheitellappen beider Hirnhälften verstärkten bei den Patienten das Gefühl der Selbst-Transzendenz. Somit beeinflusse die Aktivität dieser Hirnareale die spirituelle und religiöse Haltung eines Menschen, folgern die Forscher im Fachblatt Neuron (Vol. 65, S. 309-319).
In weiteren Studien soll nun überprüft werden, ob sich durch das vorübergehende Ausschalten der Aktivitäten dieser Hirnregionen bei gesunden Menschen das spirituelle Empfinden beeinflussen lässt.

-
Das stand so ähnlich vor fünf Jahren in vielen Zeitungen. „Selbsttranszendenz“ ist schlecht definiert, ebenso „spirituell“. Was heißt es genau, sich als Ich oder als Teil eines großen Ganzen fühlen? Eine empirische Überprüfung ist unmöglich. Zwischen dem anatomisch-physiologischen Befund und der zeitgemäßen Interpretation klafft eine riesige Lücke.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2016 um 07.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31564

In einem Leserbrief (FAZ 5.2.16) kritisiert der Mitentdecker des Bereitschaftspotentials Lüder Deecke (neben Kornhuber) die Interpretationen, die Libet und vor allem seine Epigonen dieser Entdeckung gegeben haben: Widerlegung des freien Willens usw. Das ist vollkommen berechtigt. Searle hat sogar auf Quanteneffekte im Nervensystem gesetzt, was Michael Hampe mit Recht lächerlich findet, denn das Nervensystem ist ein makroskopischer Gegenstand, in dieser Hinsicht nicht verschieden von einem Elektromotor. Die Begrifflichkeit des "Willens" usw. hat eben gar nichts mit der Sprache der Neurologie zu tun.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2016 um 18.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31567

Gibt man bei Google "die Hirnforschung zeigt" oder "zeigt die Hirnforschung" ein, erhält man mehrere tausend Stellen – alles Unsinn, so gut wie ohne Ausnahme.
Ob die Öffentlichkeit sich von dieser Verirrung noch einmal erholt? (Zu meinen Lebzeiten?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2016 um 18.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31568

Die Hirnforschung der letzten Jahre hat deutlich gemacht, dass man diesen Sprachbesitz der Lernenden im Deutschunterricht nicht einfach ausklammern darf: Wir speichern unsere lautlichen Erinnerungen im sensorischen Sprachenspeicher der linken Großhirnrinde. Hier sind sie durch Nervenverbindungen, die Synapsen, in einem ganzen Netzwerk von Bildern und Vorstellungen mit unseren Erfahrungen und Gefühlen vielfältig verknüpft, keinesfalls sauber nach Sprachen getrennt. Wir speichern Sprache auch keinesfalls nur lautlich, sondern multimodal – unser Gehirn speichert auch die Wortbilder, ebenso wie situative und affektive Merkmale. Multimodale Repräsentation nennen wir diese Mehrfachvernetzung und Mehrfachspeicherung. usw. (Deutschdidaktiker Hans-Jürgen Krumm in Fremdsprache Deutsch, Sondernummer II/1997, S. 13)

Purer Neurobluff, der Verfasser hat keinen Schimmer von Neurologie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2016 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31581

"Sprachzentren" im Gehirn usw.- in Wirklichkeit sind Funktionen nur sehr grob lokalisierbar, als etwas stärker beteiligte (durchblutete) Regionen. Kritische Neurologen heben die hochgradige Vernetztheit hervor. Dem "Memorandum Reflexive Neurowissenschaft" (gegen das bekannte "Manifest" zehn Jahre zuvor gerichtet) entnehme ich, daß allein am Sehen, soweit bisher bekannt, 30 Hirnareale und 900 Verbindungswege beteiligt sind.

Und da stellen sich (ursprünglich sogar fachfremde) Neurolinguisten hin und behaupten, die "Verarbeitung der Sprache im Gehirn" sei weitgehend aufgeklärt.
 
 

Kommentar von TheodorIckler, verfaßt am 10.02.2016 um 07.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31615

Christian Geyer berichtet über neue Versuche von Thomas Bugnyar u. a., die These zu untermauern, Raben hätten eine "Theory of mind". Darüber schreibt Bugnyar ja schon seit mehr als 15 Jahren. Geyer ist mit Recht sehr kritisch und plädiert für eine Erklärung des Verhaltens "unterhalb" solcher Annahmen.
Das Problem besteht darin, daß man Spekulationen über den "Geist" nicht empirisch beweisen kann, weil es gar keine empirische Frage ist. Vielmehr hat man sich vorweg für eine bestimmte Redeweise entschieden, die der mentalistischen Alltagspsychologie entstammt. Davon kommt man nicht mehr los. Die behavioristisch orientierte Verhaltensforschung hat immer wieder gezeigt, daß die mentalistische, allzu menschlichen Deutung überflüssig ist und Ockhams Rasiermesser zum Opfer fallen sollte. Man könnte noch weiter gehen und auch das Verhalten von Menschen ohne "Theory of mind" analysieren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.02.2016 um 12.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31617

Man kann grundsätzlich (aus begrifflichen, nicht aus empirischen Gründen) nicht wissen, ob Raben sich "vorstellen", was der andere sieht usw., denn Vorstellung gehört zur Folkpsychologie, mit der wir Menschen uns verständigen.

James L. und Carol Grant Gould (Bewußtsein bei Tieren. Heidelberg 1997) folgern aus dem flexiblen Verhalten von Tieren, daß sie eine Vorstellung vom Ziel haben müssen, sogar Insekten. Über Termiten: „Möglicherweise können sich die daran beteiligten Arbeiter vorstellen, wie das letztendliche Bauwerk aussehen soll und in welchem Entwicklungsstadium es sich gerade befindet.“ (138) Der soziomorphe Charakter des Konstrukts „Vorstellung“ wird nicht erkannt. „Wahrscheinlich haben Biber eine Vorstellung von den Zielen, die erreicht werden müssen und können bis zu einem gewissen Grad auch darüber nachdenken, wie diese am besten zu verwirklichen sind.“ (151) „...die bei Raben offensichtlich vorhandene Fähigkeit, Gedankenexperimente durchführen und sich eine Lösung vorstellen zu können“ (165)
„Die Frage lautet somit, welche Form der kognitiven Verarbeitung liegt dem Verhalten des Honiganzeigers zugrunde? Offensichtlich verwenden die Vögel eine Art inneres, kartenartiges Bild, das ihnen ermöglicht, ihre Helfer in die richtige Richtung zu führen.“ (173)
Solche Spekulationen werfen mehr Probleme auf, als sie lösen.

(Das Buch ist ziemlich wertlos.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.02.2016 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31637

Ein Forscherteam unter der Leitung von Richard Kunert vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen hat entdeckt, dass das Broca-Areal mehr kann, als nur Sprache zu verarbeiten. Dazu führten die Wissenschaftler eine Reihe von Tests durch, bei denen die Hirnaktivität der Teilnehmer mithilfe funktionaler Kernspintomografie gemessen wurde. Die Ergebnisse, die in der Fachzeitschrift PLOS ONE publiziert wurden, weisen darauf hin, dass in dem Areal sowohl Musik als auch Sprache verarbeitet wird. Zudem fanden die Forscher heraus, dass die zwei Aufgaben einander beeinflussen: „Wenn wir den Teilnehmern eine besonders schwierige Tonfolge vorgespielt haben, ist es ihnen schwerer gefallen, die Struktur eines Satzes zu verarbeiten“, berichtet Kunert. (https://www.mpg.de/9735071/hirnareal-sprache-und-musik)

Das kann man nicht im Tomografen feststellen, sondern nur durch psychologische Tests, und es ist auch schon lange bekannt. Der Rest ist naive Linguistik und Sprachpsychologie:

Die neuen Erkenntnisse stärken damit auch die These, dass das Broca-Areal nicht für die Sprachverarbeitung allgemein zuständig ist, sondern speziell dafür, verschiedene Elemente zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Diese Spezialisierung ist für Sprache und Musik gleichermaßen von Bedeutung: In der Verarbeitung von Sprache müssen Einzelwörter zu Sätzen kombiniert werden, im Fall von Musik einzelne Töne zu Melodien.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2016 um 07.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31698

Warum denken wir so langsam?

Mit dieser Frage hat sich vor langer Zeit Erich von Holst beschäftigt, und seine Vermutung war, daß unser bewußtes Denken (was immer es sein mag) mit der Sprache verbunden und daher an die physiologisch begründete Langsamkeit der artikulierten Rede gekoppelt ist. Er wies darauf hin, daß sprachloses Denken erfahrungsgemäß eine ungleich höhere Geschwindikeit hat, sei es als Mustererkennung, sei es als Traum. Wenn wir aus dem Bett fallen, bauen wir das in einen detailreichen Traum von einer Bergtour ein usw., alles in zwei Sekunden zusammengedrängt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2016 um 07.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31699

Kommt die Amygdala zu dem Schluss, dass eine ernste Bedrohung vorliegt, entscheidet sie, ob wir Angst oder Wut bekommen. (ZEIT 18.2.16)

Wer seine Hausaufgaben in Psychologie nicht gemacht hat, gerät bei der Neurologie in eine Sackgasse.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.02.2016 um 07.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31730

Noch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31698

Ein berühmter Satz von einem Klassiker der neueren Psychologie:

„Geordnetes Denken, kann man sagen, ist ein Mittleres zwischen Ideenflucht und Zwangsvorstellungen.“ (Hermann Ebbinghaus: Abriß der Psychologie. 6. Aufl. Leipzig 1919:130)

Die Ideenflucht findet man bei Schizophrenen, das Perseverieren und Nichtloskommen bei Demenz, auch Aphatikern, beides aber unterschwellig bei jedermann. Die Ordnung und das mäßige Tempo des "gesunden Denkens" bedürfen der Stabilisierung im Dialog (mit anderen oder mit uns selbst).

Aber vielleicht brauchen wir für besondere Leistungen doch ein kleines Abweichen von diesem Grat. Das gerühmte "divergente Denken" des Neuen und dann die Hartnäckigkeit des Festhaltens sind vielleicht Voraussetzungen des Genies (Inspiration und Transpiration).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.03.2016 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31827

Das Werk "Körperbau und Charakter" von Ernst Kretschmer war ja ungeheuer erfolgreich, vor mir liegt die 25. Auflage. Der wissenschaftliche Wert ist gleichwohl umstritten. Was mich interessiert:
Während der Körperbau sehr genau und objektiv meßbar beschrieben ist, hält sich die Beschreibung der Charaktere oder Temperamente an die Allgemeinsprache und im Rahmen der seit Jahrtausenden üblichen, auch durchaus wertenden Charakterkunde. Sie ist sehr plausibel, ständig glaubt man die bekannten Typen wiederzuerkennen, wie schon bei Theophrast und dann allen anderen, auch in der Literatur, auf dem Theater und im Film. Gerade das ist der Fehler. Das erkennt man schon an der offensichtlich haltlosen, genau gleichartigen Beschreibungssprache der Horoskope usw. Die Charaktermerkmale sind nicht einmal ansatzweise operationalisiert. Die riesige Literatur zur "Menschenkunde" kann man wegwerfen. (In meinen Aufsatz über die Sprache des Okkultismus habe ich es weiter ausgeführt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2016 um 05.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31851

Affen steuern Rollstuhl allein mit Gedankenkraft (welt.de 3.3.16)

Diese und ähnliche Berichte begehen einen Kategorienfehler. „Gedanken“ sind ein alltagspsychologisches Konstrukt, es gibt sie nicht im biologischen Sinn. In Wirklichkeit geht es darum, den Weg vom Nervenimpuls zur Steuerung des Verhaltens prothetisch zu überbrücken, ähnlich wie bei einem Cochlea-Implantat. Nicht Gedanken, sondern neuronale Erregungsmuster steuern den Rollstuhl.

Der Unterschied ist bedeutsam, damit niemand auf die Idee kommt, eine Wirkung von Immateriellem auf Materie anzunehmen.
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 04.03.2016 um 10.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31853

''Der Unterschied ist bedeutsam, damit niemand auf die Idee kommt, eine Wirkung von Immateriellem auf Materie anzunehmen.''

Nun ja, ein Magnetfeld oder ein elektrisches Feld ist immateriell, trotzden erfährt eine (materielle) Probeladung eine meßbare Wirkung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2016 um 11.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31854

Aber Sie wissen doch, wie es gemeint ist, nicht wahr?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.03.2016 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31855

Magnetische oder elektrische Felder sind doch nicht immateriell!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2016 um 12.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31856

Darum ist ja auch die Physik zuständig.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.03.2016 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31858

Und die Medizin, z.B. bei der Kurzwellenbestrahlung und der radioaktiven Strahlung und für Träger von Herzschrittmachern.
Zugvögel und Brieftauben haben ein Organ für Magnetfelder.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2016 um 06.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31874

Britische Forscher (Imperial College) haben festgestellt, daß wir große Zahlen links-, kleine rechtshemisphärisch verarbeiten.
Deutsche Forscher (Uni Jena) haben festgestellt, daß wir Zahlen beidhemispärisch verarbeiten usw. Gemeint sind anscheinend Ziffern. Dafür soll es eine "visual number form area (NFA)" geben. Da Ziffern erst jüngst erfunden und nicht überall bekannt sind, kann es aus evolutionärer Sicht so etwas nicht geben.
Und was heißt überhaupt "Zahlen verarbeiten", "Sprache verarbeiten" usw.? Es geht um die Steuerung eines Verhaltens, das wir dann unter unseren kulturellen Bedingungen als Rechnen oder als Sprechen deuten. Das Gehirn "weiß" nichts von Sprache oder von Zahlen. Nur auf den ersten Blick widerspricht dem die Tatsache, daß es angeborene Begabungen für Mathematik und auch für Sprache gibt. Es gibt ja auch Begabung fürs Klavierspiel, ohne daß man eine Klavierregion im Gehirn annähme.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.03.2016 um 06.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31884

Auf Fotos erkennt man manchmal andere leichter als sich selbst. Wie sehe ich eigentlich aus? Abgesehen davon, daß man sich fast nur im Spiegel sieht, kann es noch andere Gründe geben.

Soziobiologen haben zu erklären versucht, warum junge Mütter öfter sagen, ihr Neugeborenes ähnele dem Vater, als ihnen selbst. Man kann sich den vermeintlichen Grund denken. Aber in Wirklichkeit ist es wohl so, daß ich überhaupt leichter die Ähnlichkeit mit jemand anderem erkennen kann als die Ähnlichkeit mit mir selbst. Als unsere Jüngste schlüpfte, habe ich zwar sofort eine Ähnlichkeit mit mir selbst erkannt und auch ausgesprochen, aber nur deshalb, weil ich meinem Vater ähnele und die Tochter besonders um den Mund herum wieder diesem. Dieser Zug ist denn auch geblieben und sogar noch deutlicher geworden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.03.2016 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31918

Man könnte abergläubisch werden. Tag für Tag findet man in den Medien Berichte, wonach Forscher festgestellt haben, daß es zwischen A und B eine statistisch signifikante Korrelation gibt. Der Witz ist, daß man für die Variablen einsetzen kann, was man will, es stimmt immer. Sechs Tassen Kaffee täglich, Zwillingsgeburten, Tierkreiszeichen, Rotwein, Mittagsschlaf - alles hängt mit der Lebenserwartung, dem Krebsrisiko, dem Eheglück, der Glatzenbildung usw. zusammen. Das ist so verführerisch, daß auch bedeutende Gelehrte sich schon zur Astrologie bekehrt haben, von der Homöopathie ganz zu schweigen.
Es gibt die bekannten Gesetze von Parkinson, Murphy usw., aber anscheinend noch keines der Form: "Wo eine Beziehung untersucht werden kann, gibt es auch eine."

Der Grund ist vielleicht, daß die Widerlegung ungleich schwieriger ist als der Nachweis. Vor allem aber: Die Nachwuchswissenschaftler müssen eine Qualifikationsarbeit einreichen. Da sie Statistik gelernt haben, liegt nichts näher als eine solche Korrelationsstudie; nur dort findet man auch genügend As und Bs (s.o.), die noch keiner untersucht hat.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.03.2016 um 14.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31924

Korrelation ist kein Kausalzusammenhang.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.03.2016 um 17.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31926

Eine Korrelation ist sicher nicht das gleiche wie ein Kausalzusammenhang, aber darüber wird sehr oft Unsinniges geschrieben, beispielsweise bei Wikipedia. Dort soll an einem Beispiel gezeigt werden, daß eine Korrelation nicht notwendigerweise eine Ursache-Wirkungs-Beziehung bedeutet:

Aus der Tatsache, dass in Sommern mit hohem Speiseeisumsatz viele Sonnenbrände auftreten, kann man nicht schlussfolgern, dass Eisessen Sonnenbrand erzeugt.

Was für ein Unsinn! Offenbar kann man genausowenig aus einem hohen Eisverbrauch in einem heißen Sommer schlußfolgern, daß Eisessen einen heißen Sommer macht. Aber man kann aus einem hohen Eisverbrauch schlußfolgern, daß der Sommer heiß ist! Wäre er nämlich nicht heiß, würde wenig Eis gegessen. Und natürlich wird es in einem heißen Sommer auch viele Sonnenbrände geben.

Obwohl Eisessen keinen Sonnenbrand erzeugt, kann man aus der Tatsache, daß in einem Sommer viel Speiseeis gegessen wird, sehr wohl schlußfolgern, daß in diesem Sommer auch viele Sonnenbrände auftreten.

Die Korrelation von Eisverbrauch und Anzahl der Sonnenbrände beruht also tatsächlich auf einem Kausalzusammenhang, nur natürlich auf einem anderen als dem albernen angegebenen! Das Wikipedia-Beispiel ist also falsch.

Formal lassen sich die Zusammenhänge so verdeutlichen:

Aus (A -> B) und (A -> C) läßt sich nicht z. B. (B -> C) folgern. Wenn B und C korrelieren, dann besteht kein Kausalzusammenhang.

(Dies trifft wohl auf das zweite Wiki-Beispiel mit den Störchen zu. Allerdings könnte das auch daran liegen, daß die wirklichen kausalen Zusammenhänge nur noch nicht entdeckt sind. Ein solcher überraschender Zusammenhang müßte natürlich trotzdem nicht darin bestehen, daß Störche Kinder bringen oder umgekehrt, also insofern steht auch Unsinn im zweiten Beispiel.)

Andererseits (zum ersten Beispiel mit dem Eisverbrauch):

Aus (A <-> B) und (A -> C) läßt sich (B -> C) ableiten, eine Korrelation von B und C beruht also hier [zumindest teilweise, und falls auch (A <-> C) gilt, dann ganz] auf einem Kausalzusammenhang zwischen B und C.

 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.03.2016 um 22.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31927

Kausalzusammenhang verstehe ich hier nicht als Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern in dem Sinne, daß man vom Eintreten eines Ereignisses auf das Eintreten eines anderen schließen kann.

Bei Korrelationen geht es m. E. auch nicht darum, ob zwei Dinge direkt Ursache und Wirkung voneinander sind, sondern ob sie durch einen solchen Zusammenhang miteinander verbunden sind.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.03.2016 um 22.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31928

Genau genommen muß man mit Wahrscheinlichkeiten rechnen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.03.2016 um 00.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31929

Ja, das habe ich vereinfacht. Das steckt auch in Wörtern wie "viele".
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 12.03.2016 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31938

Lieber Herr Riemer,

Ihr Verständnis von „Kausalzusammenhang“ ist durchaus vertretbar, stimmt aber nicht mit dem üblichen Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang überein.

Wenn gesagt wird, daß aus einer Korrelation nicht auf einen „Kausalzusammenhang“ geschlossen werden kann, so ist hier eben eine Ursache-Wirkung-Beziehung gemeint. So kommt es bei Wikipedia auch klar zum Ausdruck.

Daher ist es nicht gerechtfertigt, die Wikipedia-Beispiele als „Unsinn“ zu bezeichnen.

Im übrigen stimmt die Aussage, daß aus einer Korrelation kein „Kausalzusammenhang“ gefolgert werden kann, auch dann, wenn man „Kausalzusammenhang“ in Ihrem Sinn versteht. Daß Eisverzehr und Sonnenbrände eine gemeinsame Ursache haben, kann man nicht aus der Korrelation erschließen, sondern man weiß es aus anderen Gründen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.03.2016 um 17.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31942

"Kausalität" oder "Ursache - Wirkung" bedeutet 100% Wahrscheinlichkeit, aber die gilt nur in der "klassischen" Physik und hier auch nur, wenn alle Stör-Einflüsse erfaßt werden können, jedoch nicht im richtigen Leben; dort gelten teilweise viel geringere Wahrscheinlichkeiten, weil man da nicht alle Stör-Einflüsse erfassen kann.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.03.2016 um 23.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31943

Lieber Herr Achenbach,
Ihren Einwand finde ich richtig, und ich möchte auch zugeben, daß ich mich selbst schon geärgert habe, im Eifer des Gefechts vorschnell gleich das Wort "Unsinn" gebraucht zu haben. Manche anderen Meinungen sind eben kein Unsinn und nicht falsch, sondern sie gehen nur von anderen Begriffen aus.

Daß ich mich hier etwas ereifert habe, liegt daran, daß ich keinen Sinn darin sehe, zwei korrelierten Ereignissen A und B einen Kausalzusammenhang abzusprechen, nur weil sie nicht Ursache und Wirkung sind, obwohl nachweisbar "A genau dann, wenn B" (im Sinne einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit) gilt.

Man möchte doch wissen, ob die Korrellation A, B zufällig ist oder vielleicht von einer dritten Größe ohne Rückkopplung gesteuert ist, d.h. es könnten auch einmal größere Abweichungen auftreten, oder ob man tatsächlich aus dem gehäuften Auftreten z.B. von A mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch auf ein gehäuftes Auftreten von B und evtl. auch umgekehrt schließen kann. Um das zu beantworten, bringt es gar nichts, wenn man lediglich weiß, daß A und B nicht Ursache und Wirkung voneinander sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.03.2016 um 04.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31997

Selbstlosigkeit ist im Gehirn verankert und wird durch Impulskontrolle unterdrückt, schlussfolgern amerikanische Neurologen in „Social Neuroscience“ nach einer Versuchsreihe. In ihrem Experiment erhielten Versuchspersonen 10 Dollar, die sie mit anderen Probanden teilen oder für sich behalten konnten. Im Vergleich zeigten sich Teilnehmer um 50 Prozent großzügiger, wenn man die für Impulsunterdrückung verantwortlichen Gehirnregionen mittels Magentstimulation dämpfte. (FAS 20.3.16)

Die Studie ist natürlich wertlos, weil sie mit alltagssprachlichen Begriffen arbeitet, die nicht sauber operationalisiert und dann mit neurologischen Befunden korreliert sind.

Real ist aber die Schlußfolgerung im Originaltext:

"The study is important proof of principle that with a noninvasive procedure you can make people behave in a more prosocial way," Iacoboni said.

(http://www.science20.com/news_articles/your_brain_might_be_hardwired_for_altruism-168440)

Man kann also die Menschen nicht-invasiv bessern durch "theta-burst Transcranial Magnetic Stimulation". Wahrscheinlich wird man die neue Technik zuerst in den amerikanischen Gefängnissen anwenden, wo ohnehin ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung einsitzt.

Das ist wirklich "ground-breaking", wie der Mann ohne falsche Bescheidenheit sagt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.03.2016 um 07.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32093

Darüber hinaus können Affen nicht sprechen, weil ihnen die kognitive Fähigkeit fehlt, die für komplexe Kommunikationsprozesse notwendig ist. Menschen können z.B. eine eingeschränkte Anzahl an Worten kombinieren, um unendlich viele Äußerungen zu bilden. Wir können kleine Informationseinheiten aneinanderreihen, in eine bedeutungsvolle Struktur bringen und damit eine Geschichte erzählen. Das Gehirn von Affen stellt nicht die kognitiven Ressourcen bereit, um diese Vielfalt an Information zu verarbeiten. Affen können hunderte von Wörtern lernen, sind aber nicht in der Lage, diese auf kreative Weise zu benutzen, um komplexe Bedeutungen und Vorhaben darzustellen. Nach jüngsten Erkenntnissen lagen Gehirnstrukturen, die zur Sprachproduktion notwendig sind, allerdings nicht nur in den Vorfahren des heutigen Menschen, sondern auch in den Vorfahren der Schimpansen vor. So scheint es, dass für die Kommunikation von Schimpansen der Bereich im Gehirn, der für Planung und Produktion von gesprochener Sprache und Zeichensprache notwendig ist (Broca-Areal), eine ähnliche Funktion hat.
(http://www.mpi.nl/q-a/fragen-und-antworten/warum-konnen-affen-nicht-sprechen)

Man beachte, daß die Erwähnung des Gehirns und der „kognitiven Fähigkeit“ bzw. der „kognitiven Ressourcen“ (was immer das sein mag) buchstäblich nichts zur Sache beiträgt. Es ist Psycho- und Neurobabble.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.04.2016 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32419

Amerikanische Forscher haben festgestellt, daß tiefe Männerstimmen attraktiv auf Frauen und einschüchternd auf andere Männer wirken. Übungsaufgaben amerikanischer Psychologiestudenten, auch wenn sie zum hundertsten Mal repliziert werden, kommen heute über die Nachrichtenagenturen in die internationale Presse.

Was noch in der Zeitung steht: Heute werden einige Verkehrsmittel bestreikt. "Experten empfehlen, auf andere Verkehrsmittel auszuweichen."
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 28.04.2016 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32433

Elisabeth Wehling (Wehende?): "Wir können heute in Gehirne blicken und sehr genau sehen, wie Wörter verarbeitet werden."

http://www.zeit.de/2016/10/sprache-manipulation-elisabeth-wehling/komplettansicht
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2016 um 16.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32482

Noch einmal zu Ernst Kretschmer (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31827)

Wie gesagt, die statistischen Untersuchungen kann ich nicht beurteilen, die Typologie interessiert mich eher unter sprachlichem Gesichtspunkt. Zwischen Anthropologie (im deutschen Sinne), Typologie und Rassismus gibt es bekanntlich enge Beziehungen. In einer Ausgabe von "Körperbau und Charakter" aus den 70er Jahren liest man:

Noch jetzt ist die Auffassung verbreitet, Rassenkreuzung führe zu einer Verschlechterung des Charakters. Dies dürfte neben dem Rassenreinheitskomplex hauptsächlich daher rühren, daß sich in Gebieten prinzipieller Rassentrennung zuerst die sozial wenig stabilen Elemente gemeinsam fortpflanzen, welche dann begreiflicherweise auch sozial labile Nachkommen aufziehen. Es gibt jedoch Beispiele von Mischung zwischen weißen Europäern und Negern unter gleichberechtigten sozialen Bedingungen, wo sich der sittliche und beruflicher Stil der Europäer gradlinig fortsetzt.

Auch an vielen anderen Stellen hat sich Kretschmer schon lange zuvor vom Rassismus distanziert, wenn auch ambivalent. Am letzten Satz (jedoch) sieht man besonders deutlich, wie die stille Überzeugung von der Minderwertigkeit der Schwarzen als unausgesprochene Voraussetzung wirkt.
1945 hielt Kretschmer in Marburg einen Vortrag "Das Ende des Rassenwahns", den man in den Psychiatrischen Schriften nachlesen kann.

An anderen Stellen trägt der Verfasser weitausgreifende kulturhistorische und rassenbiologische Überlegungen vor, für die er gar keine empirischen Belege hat. Das Mißbräuchliche wird ihm gar nicht bewußt. Das kennen wir ja von unseren Zeitgenossen, philosophierenden und politisierenden Neurologen usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.05.2016 um 12.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32489

Zur Zeit geistert der neueste Neurobluff durch die Medien, mit großem Neuererpathos angekündigt, obwohl der Sache nach seit Jahrzehnten bekannt. Diesmal aus Berkeley:

Ein neuer Hirnatlas zeigt erstmals, wo unser Gehirn welche Wörter verarbeitet. Für mehr als 10.000 Wortbedeutungen kann man direkt erkennen, welche Areale aktiv werden.

Der Hirnatlas, ein mit Wörtern übersätes Schaubild des Gehirns, zeigt keineswegs, daß diese Wörter (oder vielmehr ihre „Bedeutungen“) an diesen Stellen gespeichert oder „repräsentiert“ sind. Jede Wahrnehmung, jedes Verhalten ist mit etwas höherer Durchblutung bestimmter Regionen verbunden; andere Regionen sind aber ebenfalls beteiligt, was die Studie auch nicht verschweigt. Je nach Genauigkeit der Messungen findet man, daß auch an der kleinsten Verhaltenseinheit Dutzende von Zentren oder Kernen beteiligt sind.
Man kann einem Menschen beliebige Aufgaben stellen – immer wird man einen solchen kartenähnlichen Befund unterschiedlich verteilter stärkerer Durchblutung erhalten. Es ist nicht einmal gesagt, daß das Gehirn in irgendeiner Weise mit „Wörtern“ zu tun hat. Diese existieren als abgegrenzte Einheiten zunächst nur im Input der Forscher selbst.
Außerdem stellen sich die Forscher die Sprache nach dem einfachen Muster einer zweisprachigen Vokabelliste vor. Hier sind die Lautgebilde, dort die „Bedeutungen“ oder „Konzepte“. Aber was soll das sein? Die Verstehens- und Verwendungbedingungen der Wörter sind Konventionen, kulturell geprägt und individuell erworben. Zum Beispiel die im Text erwähnten „Konzepte“ Opfer oder Revolution – was gehört alles dazu, daß man versteht, was mit Revolution gemeint ist? Kenntnisse der Politik und Geschichte – wo sind sie „repräsentiert“ und in welcher Form?
Hirnscans sollten sich zunächst auf Eingaben konzentrieren, die weniger historisch-kulturell geprägt und unverstanden sind.
 
 

Kommentar von TheodorIckler, verfaßt am 05.05.2016 um 03.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32496

Besagte Frau Wehling hat die naive Sprachkritik samt Lakoffs "Frames" für sich entdeckt:

Wehling: Allein schon das Wort Flüchtling. Das ist ein Frame, der sich politisch gegen Flüchtlinge richtet.
ZEIT: Wie kommen Sie darauf?
Wehling: Die Endung "-ling" macht diese Menschen klein und wertet sie ab. Denn das Kleine steht im übertragenen Sinn oft für etwas Schlechtes, Minderwertiges. Denken Sie an "Schreiberling" oder "Schönling". Ein eigentlich positiv besetzter Begriff wie "schön" wird durch die Endung ins Negative verkehrt. Außerdem ist "der" Flüchtling männlich – und damit transportiert dieses Wort sehr viele männliche Merkmale: "Der" Flüchtling ist eher stark als hilfsbedürftig, eher aggressiv als umgänglich.
ZEIT: Neutraler wäre es also, von "Geflüchteten" zu sprechen?
Wehling: Ja, oder von den Flüchtenden. Dem flüchtenden Mann, der flüchtenden Frau, dem flüchtenden Kind. Das wäre eindeutiger. Und nicht abwertend.


Die starken, aggressiven Männer kommen wohl mehr aus Fernsehbildern als aus Suffixen.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.05.2016 um 17.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32516

Die Endung "-ling" macht diese Menschen klein und wertet sie ab. (...) "Der" Flüchtling ist eher stark als hilfsbedürftig, eher aggressiv als umgänglich.
"klein" und "stark" – Klingt etwas widersprüchlich.
Ansonsten: Häuptling, Neuling, Erstling, Sträfling, Häftling, Sonderling, Fremdling; Winterling, Hänfling, Sperling, Gründling; Bratling, Silberling, Findling (meist ganz besonders klein!) ...
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 06.05.2016 um 21.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32518

Weh-ling!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.05.2016 um 14.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32527

Weil wir gerade bei Flüchtling sind:

FAZ: Sie finden schon das Wort „Flüchtling“ irreführend?
Strubel: Es reduziert das Individuum auf einen Fall, es bringt Unterschiede zum Verschwinden. Solange man verallgemeinert, geht einen nichts wirklich an.
(FAZ 7.5.16)

Wenn diese Schriftstellerin recht hätte, dürfte man nur noch Eigennamen verwenden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.05.2016 um 06.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32578

Amerikanische Forscher haben herausgefunden, daß Paracetamol das Mitgefühl schwächt. Die Experimente waren von der Art jener lächerlichen Simulationsspiele, wie sie unter Psychologen üblich geworden sind. Der Aufwand ist gering, der publizistische Ertrag groß.
Ob die Flut solcher Veröffentlichungen auch einmal wieder nachläßt? Ein schwacher Trost: Es hebt sich alles selbst auf, durch schiere Überfütterung der Öffentlichkeit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2016 um 08.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32585

Die „Kognitionswissenschaftler“ haben bisher mehr oder weniger unter dem Einfluß der Computer-Metapher den „Geist“ und das „Bewußtsein“ nicht aufgegeben, sondern als „mentale Repräsentation“ beibehalten. Neuerdings wird ihnen klarer, daß der „Geist“ als Software nicht alles sein kann, sondern der Peripherie bedarf, also des ganzen Körpers, dessen Verhalten schließlich gesteuert werden soll – genau das ist ist einzige Funktion des „Geistes“. Statt „Repräsentation“ nun „Embodiment“. („Verkörperung“ ist gerade erst dabei, sich im Deutschen durchzusetzen.)
Das Ganze ist ein halbherziger Schritt, den Organismus als Subjekt des Verhaltens wiederzugewinnen. Die behavioristische Position wird erreicht sein, wenn man das „Mentale“ als überflüssig erkennt und ganz herausstreicht, samt „Geist“ und „Bewußtsein“.
Die deutsche Literatur zu „Verkörperung“ ist allerdings noch stark in der mentalistischen Folk psychology und ihrer philosophischen Gestalt als Phänomenologie (mit vielen Bezügen zur französischen Philosophie) verwurzelt. Die behavioristische Wende ist eher im angelsächsischen Raum zu erwarten.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 16.05.2016 um 14.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32587

Es ist nicht nur der zu steuernde Körper, sondern es gehören dazu auch die von außen kommenden Signale, die die Software-Verarbeitung jederzeit unterbrechbar machen müssen. Folglich ist das Ganze ein Echtzeit-Prozeßrechner, wie er z.B. in einem verkehrsabhängigen Verkehrssignalgerät vorhanden ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2016 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32595

Es wäre verwunderlich, wenn aus dem "Embodiment"-Gerede nicht auch gleich eine Geschäftsidee abgeleitet würde, wie zuvor aus der Hemisphären-Aufteilung ("Nutzen Sie Ihre rechte Hirnhälfte!"), den "Spiegelneuronen" usw.

Maja Storch u. a.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen.

Gerald Hüther ist natürlich auch mit von der Partie.

Der altmodische Dualismus von Leib und Seele macht das Ganze schmackhaft – besonders für die Theologen, die sich des Themas vornehmlich angenommen haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2016 um 05.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32596

Washoe kommunizierte nicht nur mit ihren Trainern, sondern auch mit ihrem Adoptivsohn via Gebärdensprache. Und sie kombinierte selbst Zeichen zu neuen sinnvollen Worten: Erblickte sie etwa das erste Mal eine Ente, machte sie daraus „Wasser“ und „Vogel“. (Max Planck Forschung 1/16)

Aus der gelegentlichen Juxtaposition zweier Reaktionen darf man nicht auf Wortbildung schließen, wie es sie zufällig in der Sprache der Versuchsleiter gibt. (Wie sollte der Affe beim erstmaligen (!) Erblicken einer Ente darauf kommen?) Auf dieselbe tapsige Weise könnte man einem Affen den Gebrauch des Aorists unterschieben.

Affen können folglich nicht nur aus anatomischen Gründen nicht sprechen. Sie scheinen keine Gedankenwelt zu besitzen, die sie mit Sprache weitergeben können oder möchten. (Max Planck Forschung 1/16:23)

Das entspricht der naiven Psychologie, die am MPI für Psycholinguistik gepflegt wird.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.05.2016 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32617

Aus Wikipedia erfahre ich zu meiner Überraschung, daß es eine "Erlanger Schule der Informationspsychologie" gibt. Davon habe ich in 30 Jahren Erlangen nichts mitbekommen, obwohl es mich hätte interessieren müssen, als Linguisten und als eifrigen Leser psychologischer Literatur. Einige Namen sind mir bekannt, aber als "Schule" ist sie möglicherweise ein selbstgeschaffenes Medienphänomen. Davon gibt es ja nicht wenige, auch "Institute", an denen außer ihrem Gründer niemand tätig ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2016 um 12.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32639

Das Rätsel der illegalen Autorennen in Großstädten ist geklärt:

Verantwortlich für diese Taten sind nach Erkenntnissen des Wissenschaftlers André Bresges in erster Linie junge Männer zwischen 18 und 27 Jahren, „die mangelnden Erfolg kompensieren müssen“.

Der Professor für Physikdidaktik (!) an der Universität Köln beschäftigt sich seit langem mit der Raserszene und hat ein Profil herausgearbeitet, welches das Phänomen erklärt. „Solche Menschen sind auf der Suche nach Anerkennung, Respekt und vor allem Aufmerksamkeit“, sagt Bresges, „und diese Suche treibt sie immer öfter in die Innenstädte“.
(Berliner Kurier 21.5.16)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 22.05.2016 um 15.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32655

In letzter Zeit scheint sich der Begriff "illegales Autorennen" fest eingebürgert zu haben.

Der Zusatz "illegal" war m.E. früher in solchen Fällen nicht üblich und erscheint mir völlig überflüssig. Wie viele "legale" Autorennen gibt es denn in deutschem Städten? Anscheinend gibt es in Berlin ein Rennen für Elektroautos. Aber sonst?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.05.2016 um 17.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32656

Autorennen klingt zunächst einmal genauso legal wie Fußballspiel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.05.2016 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32666

Helmholtz bemerkt in seinen einst sehr bekannten Vorträgen über das Sehen beiläufig, daß „weiche, mit Wasser durchzogene thierische Gewebe immerhin ein ungünstiges und schwieriges Material für ein physikalisches Instrument sind.“ (Vorträge I:293) (Dasselbe könnte man vom Ohr sagen.)
Das Auge enthält eine mehr oder weniger vollkommene Sammellinse, aber die übrigen Teile haben kaum Entsprechungen in unseren „physikalischen Instrumenten“ zu optischen Abbildungen und zur Analyse des Lichts.
Grundsätzlich kann man aus beliebigem Material, wenn nur genug davon vorhanden ist, eine Rechenmaschine bauen. Im Internet kann man sich den „langsamsten Computer der Welt“ ansehen. Zehntausende von Dominosteinen „berechnen“ 6 + 4; dann muß man sie alle wieder neu aufstellen.
Das Gehirn arbeitet ähnlich wie ein Computer, sogar teilweise elektrisch, aber das Material ist ziemlich ungeeignet für eine Rechenmaschine. Es sind auch analoge chemische Schritte zwischengeschaltet, bevor dann wieder Entladungen nach dem Muster On/Off erfolgen.
Computersimulationen der Sprache gehen so vor, als sei Sprechen ein Spiel wie Schach oder Go, während es in Wirklichkeit (auch) Züge von Billard hat, also eine Geschicklichkeit neben und als Grundlage der Berechenbarkeit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2016 um 07.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32823

In der FAZ (13.7.16) überlegt Jürgen Trabant, welche sprachenpolitischen Folgen der Brexit haben könnte. Er sieht „drei unschöne Konsequenzen – für die englische Sprachgemeinschaft!“
Erstens „wahrscheinlich fatale Folgen für das in Brüssel verwendete Englisch“. Dieses werde ohne die Korrektur durch englische Muttersprachler schlechter werden, die Texte „schmerzhaft unenglisch“. Allerdings läßt er offen, ob bisher ein segensreicher Einfluß der Briten auf EU-Texte wirksam gewesen ist. Als "fatal" empfinden die meisten Engländer es bekanntlich nicht, daß ihre Sprache weltweit in so vielen Varianten gesprochen wird. (Diese Vielfalt könnte doch gerade der von Trabant sonst beschworenen Homogenisierung der Weltansichten durch Englisch entgegenwirken...)
Zweitens entfalle der ungerechte Vorteil der geborenen Englischsprecher. Trabant behauptet ohne Nachweis, daß z. B. Forschungsanträge aus England bisher wegen des Sprachvorteils „ungemein erfolgreich“ waren. Aber können die EU-Gutachter das feine Englisch der Anträge überhaupt würdigen? Man könnte auch vermuten, daß die englischen Universitäten teilweise eben sehr gut sind.
Drittens würden die Briten noch weniger Fremdsprachen lernen, eine Bildungskatastrophe.
Trabant bezeichnet es als eine „sprachenpolitische Kuriosität, dass Europa ein Land ist, dessen dominante Verkehrssprache die Muttersprache einer – nunmehr auf ein Prozent geschrumpften – Minorität ist.“ Aber das ist bei Großreichen immer der Normalfall gewesen.
Zum Schluß erwägt Trabant, „ob nicht doch Latein, das überhaupt niemandes Muttersprache ist, eine gute Alternative als Sprache der EU wäre.“
Vielleicht ein Scherz, aber ich habe meine Zweifel.
Trabant setzt unter den neuen Bedingungen seinen ideologischen Kampf gegen Englisch fort, aber es wird immer fadenscheiniger.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 13.07.2016 um 08.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32824

Allerdings läßt er offen, ob bisher ein segensreicher Einfluß der Briten auf EU-Texte wirksam gewesen ist.

Er weist es vielleicht nicht nach, aber offen läßt er es für meine Begriffe nicht. Trabant schreibt:

»Die starke Position Britanniens in der EU beförderte natürlich eine große Zahl muttersprachlicher Bürokraten nach Brüssel. Da das Englische die Hauptarbeitssprache Brüssels ist, konnte man bei der Redaktion von Texten und Reden auf die Kompetenz exzellent ausgebildeter englischer Muttersprachler zurückgreifen.«
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2016 um 10.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32826

Sie haben recht, es ist so gut wie behauptet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.07.2016 um 04.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32909

Zugleich zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1315#31492

Lesenswerte Kritik zum Neurowahn:

http://www.csicop.org/si/show/losing_our_minds_in_the_age_of_brain_science
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.08.2016 um 07.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32995

„Man sollte folglich nicht verkennen (...), dass alles psychische Geschehen sich durch Anatomie und Physiologie erklären lässt.“ (Leserbrief von Hans J. Markowitsch, FAZ 3.8.16)

Aber wieso dann „psychisch“? Diese Redeweise fällt weg, das Gehirn steuert das Verhalten. Und durch noch so genaue Untersuchung der Anatomie und Physiologie kann man das Verhalten nicht erklären, es gehört auch die Konditionierungsgeschichte dazu, die Software zur Hardware gewissermaßen.

Markowitsch schreibt manchmal etwas sorglos; ich hatte in diesem Zusammenhang schon ein anderes Problem erwähnt:

So vergrößert sich bei Leuten, die frisch mit Jonglieren beginnen, die zugehörige Region in der Hirnrinde. Bei Londoner Taxifahrern zeigte sich, dass diese Volumenvergrößerungen in einer bestimmten Hirnregion zeigten, die für räumliches Vorstellen und räumliches Erinnern wichtig ist, wenn sie mehrere Jahre als Taxifahrer tätig waren. Im Grund vergrößerte sich das entsprechende Hirnvolumen linear mit der Anzahl der Berufsjahre.(Markowitsch 2008)

Preisfrage: Welche Teile des Gehirns schrumpfen dann? Es ist ja nicht beliebig viel Platz. Je besser ein Taxifahrer sich zurechtfindet, desto dümmer muß er auf einem anderen Gebiet werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.08.2016 um 06.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33008

Amerikanische Forscher haben festgestellt:

Glaube ist im Gehirn verankert
Was Atheisten mit Psychopathen gemeinsam haben


(FOCUS nach http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0149989)



Are you an atheist? Then you're probably a PSYCHOPATH: Non-believers 'lack empathy' while religious people are less intelligent, claims study

Read more: http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-3506294/Are-atheist-probably-PSYCHOPATH-Non-believers-lack-empathy-religious-people-intelligent-claims-study.html#ixzz4GQCEsbDE



(Leserbriefe durchweg höhnisch: Obviously the more religious you are the gentler and more loving you become - ask any pious member of Islamic State and they will confirm it usw.)



Wer an Gott glaubt, verwendet mehr Hirnzellen für Mitgefühl als für analytisches Denken. Das Gehirn von Atheisten arbeitet genau andersherum. Dadurch sind sie intelligenter, aber auch kaltherziger. Diese Eigenschaften definieren auch Psychopathen. (focus.de 25.3.16)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.08.2016 um 18.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33126

Mit Hilfe von Computermodellen und Magnetresonanztomographen haben die Wissenschaftler ermittelt, dass Menschen lernen können, anderen zu nützen. (FAZ 17.8.16)

Auch ein „Großzügigkeitszentrum“ soll es im Gehirn geben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.09.2016 um 07.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33229

Markowitsch glaubt, daß die Naturwissenschaft die Annahme eines freien Willens widerlege. Das kann sie aber gar nicht, weil sie nicht einmal weiß, was der Ausdruck "freier Wille" überhaupt bedeutet. Es ist eine andere Begriffswelt.
Im übrigen sind die Aufsätze und Leserbriefe von Hans J. Markowitsch gemäß seiner eigenen These gänzlich durch Anlage und Umwelt determiniert – warum sollte man sie ernst nehmen? Er kann ja nicht anders.
Wie Peter Hacker immer wieder gezeigt hat, sind manche Fragen philosophisch, also begriffskritisch zu lösen, die irrtümlich für Sachfragen gehalten werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2016 um 05.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33268

Das Family Dog Project der Eötvös Loránd Universität läuft schon seit 20 Jahren, und die Nachwuchsforscher müssen immer wieder mal kleine Ergebnisse veröffentlichen. Zur Zeit geht durch die Medien eine in „Science“ erschienene MRT-Studie von Attila Andics. Hunde sollen linkshemisphärisch den Wortlaut, rechtshemisphärisch den Tonfall menschlicher Rede verstehen. (Über dieselben 11 Hunde und 22 Vergleichspersonen wurde vor Jahren schon ähnliches berichtet, vgl. https://familydogproject.elte.hu/publications/)

Die Konditionierungsgeschichte der Hunde ist nicht untersucht worden. Es wird berichtet: „Die Tiere sind allesamt ganz normale Familienhunde gewesen, die ständig von Menschen und deren Unterhaltungen umgeben sind.“ (FAZ 7.9.16) In dieser harmlosen Feststellung steckt die ganze Problematik: Alle Hunde haben Jahre mit ihren Besitzern gelebt und in dieser Zeit eine unübersehbare Menge von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit stimmlichen und anderen Reaktionen der Menschen gelernt.

Die Tiere „verstehen“ die Wörter nicht wirklich. Sie reagieren auf gelernte Geräusche anders als auf nichtgelernte. Die „lobenden Wörter“ können in der Menschensprache lobend sein oder nicht, es kommt nur darauf an, ob sie in der Vergangenheit zur Verstärkung (Reinforcement) benutzt worden sind oder nicht.

Den Tonfall mögen die Tiere spontan richtig deuten, es kann aber auch erworben sein; das läßt sich auf diese Weise nicht auseinanderhalten. Darum lassen sich keine evolutionären Schlüsse ziehen. Es könnte sein, daß die linke Hirnhälfte beim Menschen und bei höheren Tieren auf die Erkennung sequentieller Muster spezialisiert ist, die rechte auf ganzheitliche Konturen, ganz unabhängig von Sprache.

(Vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/Broca%27s_area, wo man wenigstens eine Ahnung von der wirklichen neurologischen Komplexität bekommt, auch wenn die Verfasser noch etwas naiv mit „Repräsentationen“ umgehen.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2016 um 05.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33269

Sehe gerade, daß Her Riemer im Diskussionsforum einen Satz aus dem Artikel der FAZ eingetragen hat: Ein mit nichts sagendem Klang gesprochenes "guter Hund" erzeugt keine Reaktion im Belohnungszentrum der Tiere.

Unter dem Gesichtspunkt meines Eintrags kann man hier auch das Problem erkennen: Der Hund kann natürlich nicht wissen, was die beiden (im Ungarischen zweisilbigen) Wörter bedeuten, wenn sie nicht zuvor als Lob (Reinforcement) verwendet worden sind, und selbst dann würden sie eben Verstärkung "bedeuten" und nicht das, was wir unter guter Hund verstehen. Sie könnten also nicht zur Beschreibung eines Hundes oder zur Erzählung verwendet werden, weil der Hund weder diese noch andere sprachliche Verhaltensweisen beherrscht. Der Hund reagiert auf die Wahrnehmung eines komplexen Geräuschs, das er möglicherweise sequentiell "analysiert", aber das wissen wir immer noch nicht.
Wir wissen nicht, ob Tiere "Syntax" haben, und wir wissen nicht, ob sie "Phonologie" haben (also die "double articulation" im Sinne Martinets), und können es mit so naiven Experimenten auch nicht herausfinden. Um so wilder die Spekulationen über Domestikation und Evolution.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2016 um 21.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33310

Noch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26214

Der Spruch "Einmal ist keinmal..." soll auf Wilamowitz zurückgehen. Er ist natürlich nicht streng zu nehmen, aber man staunt doch immer wieder, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, daß sich etwas in der Welt der Texte rein zufällig genau wiederholt. Ich hatte schon erwähnt, daß drei oder vier gewöhnliche Wörter aus einem beliebigen Text sich in genau dieser Kombination oft kein zweites Mal finden lassen. Ich greife aus der heutigen Zeitung heraus: Es brodelt im Konzern. Bei Google gibt es einen einzigen weiteren Beleg, aus der taz vor neun Jahren, sonst nichts. Natürlich enthält das Google-Korpus nicht alles je Gedruckte, aber doch einen enormen Ausschnitt. Gerade wenn man vom mächtigen Anteil der Routine am Sprechen beeindruckt ist, wundert einen dann wieder die "Kreativität" auf so elementarer Ebene.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2016 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33312

Forscher um Itzhak Fried und Michael Hill haben "Schadenfreude-Neuronen" entdeckt. Journalisten auf der ganzen Welt berichten es, ohne mit der Wimper zu zucken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.09.2016 um 06.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33328

Wolfgang Schmidbauer hat als Psychoanalytiker vielen Menschen geholfen.

Das steht über einem Interview der FAS mit demselben, einer Werbung für sein neues Buch, in dem er über seine verstorbene erste Frau auspackt. Woher weiß die Zeitung das? Nach Ansicht vieler Kritiker ist Psychoanalyse nutzlos (außer für den Analytiker natürlich).
Zu diesem Wichtigtuer s. a. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1524#31809
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2016 um 03.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33412

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#30879

Vom schweren Entschluß, das Saatgetreide nicht zu essen, der sicher durch harte Sanktionen durchgesetzt werden mußte, führt der nächste Schritt dazu, gerade die besten Körner zurückzubehalten, vgl. hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1337#30796

Das Ganze natürlich nur als Beispiel für die Züchtung von Nutzpflanzen und -tieren. Man muß sich vorstellen, daß so etwas in primitiven Gesellschaften sehr lange dauern kann und wahrscheinlich über Speise-Tabus usw. ziemlich irrational verlaufen ist, also ohne Einsicht und Diskussion der wirklichen Zusammenhänge.

Schwer muß es auch gewesen sein, das Feuer zu "zähmen", wie man sagt, vor allem: nicht auszulöschen (Freud: durch Draufpinkeln). Schon vor 800.000 Jahren soll Homo erectus eine abgesonderte „Küche“ betrieben haben (Meldung vom 18.12.09).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2016 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33500

Anläßlich einer Broschüre des Freistaates Sachsen:

Das Getränkepulver „Neuronade“ (Neuronade Think Drink) wird mit viel Ideologie beworben und schrammt an der Grenze verbotener gesundheitsbezogener Aussagen vorbei. Der Markenname wäre ohne den quasi-medizinischen Bezug sehr ungeschickt gewählt, weil er nach Krankenhaus schmeckt. Die Erfinder wissen das natürlich.
http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/nijoz-neuronade-gehirndoping-aus-der-brausetuete-a-964584.html

Ein ebenfalls staatlich gefördertes Freiberger Start-up-Unternehmen „Laviu“ (warum nicht „Lavmi“?) stellt motorisierte Dildos her, für die der Freistaat Sachsen Reklame macht. „Extrem ästhetisch“ sollen die Geräte sein und sich von der Billigkonkurrenz Ostasiens abheben. „Die LAVIU GmbH verbaut neueste Technologien aus der Luft- und Raumfahrttechnik in stilvollen Love-Toys. Eine spannende Kombination, die in diesem Jahr beim futureSax Ideenwettbewerb prämiert wurde.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.10.2016 um 17.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33518

Nicht nur Menschen beherrschen Rechtschreibung, sondern auch Tauben.

Usw., siehe hier:

https://kurier.at/wissen/warum-tauben-rechtschreibung-beherrschen/222.156.333

oder hier:

www.sciencedaily.com/releases/2016/09/160919111535.htm

Güntürkün und seine Kollegen dürften wissen, daß es sich hier nicht um Rechtschreibung im eigentlichen Sinne handelt. Die graphischen Erscheinungen werden von den Tauben ohne Bezug auf eine Sprache wahrgenommen und nach einer zuvor gelernten graphotaktischen Statistik unterschieden. Das kann man auch mit anderen Gegenständen machen, hier sind eben Buchstaben verwendet worden, damit es erstaunlicher aussieht:

Professor Onur Güntürkün, one of the co-investigators from of Ruhr University's Department of Biopsychology, says "that pigeons -- separated by 300 million years of evolution from humans and having vastly different brain architectures -- show such a skill as orthographic processing is astonishing."

Bewußte Irreführung?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2016 um 16.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33770

Es ist eine Erfahrungstatsache, die auch durch zahllose Tests bestätigt wird, daß man eine Fremdsprache, die nicht in früher Kindheit erlernt wird, niemals so gut beherrscht wie die Muttersprache. Hirnscans können das nicht beweisen und tragen zum Verständnis nichts weiter bei, entgegen dem Aufsatz eines Neuropsychologen in der FAZ vom 3.11.16). Die unterschiedlich starke Aktivierung bestimmter Regionen ist sehr weit von einem Verständnis der "Sprachverarbeitung" entfernt. Auch ist Joseph Conrad keine "geniale Ausnahme", denn gerade in seinem Fall gibt es viele stilistische Untersuchungen, die seinen idiosynkratischen Stil gerade auf die spät erworbene Zweisprachigkeit zurückführen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.11.2016 um 17.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33771

Beherrschung der Schriftsprache ist offenkundig nicht alles. Conrad (Korzeniowski) hatte, wenn er sprach, einen starken polnischen Akzent.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2016 um 06.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33776

Der Kieler „Tatort“-Krimi „Borowski und das verlorene Mädchen“ ist vor allem eine intensive Psycho- und Sozialstudie von beklemmender Aktualität. (focus.de 6.11.16)

Unterhaltungssendungen, Romane usw. sind keine "Studien", aber dieses Geschwätz wird man dem Feuilleton nie ausreden können, zumal es sich damit selbst aufwertet. Bedenklicher ist es, wenn man die Wirklichkeit nur noch als Unterhaltung konsumiert.

In Afrika gibt es 2000 unterschiedliche Sprachen. (FAZ 5.11.16)

Wären sie nicht unterschiedlich, wären es nicht 2000, sondern nur eine einzige. ("Das Adjektiv ist der Tod des Substantivs.")
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.11.2016 um 09.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33786

Zum letzten Eintrag:

Nach Speer (Spandauer Tagebücher) nahm Hitler Karl May als Beleg dafür, daß man fremde Länder nicht gesehen haben muß, um sie und ihre Bewohner treffend zu beschreiben. Er habe über die Seele der Beduinen oder Indianer mehr gewußt als ein Völkerpsychologe.

Offenbar weil die Darstellung mit Hitlers eben durch Karl May geprägtem Indianerbild übereinstimmte. Ein Fall von "Rezeption" nach Gadamers Vorstellung. Hitler sei als Feldherr stark von der Figur Winnetou beeinflußt. Schüler sollten May lesen statt Goethe und Schiller usw.

So finden auch unsere Literaturkritiker die Schilderungen in einem Roman "treffend", wenn sie mit ihrer durch Romane geprägten Klischeevorstellung übereinstimmen. Der Roman scheint ihnen dann einen hohen Erkenntniswert zu haben. Dasselbe Schema liegt der Plausibilität psychologischer Theorien zugrunde (was manche Psychologen ja auch offen zugeben).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2016 um 04.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33812

Die Max-Planck-Gesellschaft verbreitet in ihrem Magazin und auf der Website (https://www.mpg.de/10727086) Forschungsergebnisse zur statistischen Verteilung ikonischer Elemente in den Sprachen der Welt. In "Max Planck Forschung" beginnt der Bericht so:

Die Lehrbücher der Sprachwissenschaft müssen offenbar umgeschrieben werden. Bislang gingen Linguisten davon aus, Laute seien in Wörtern größtenteils zufällig mit Bedeutungen verknüpft. Fälle wie etwa das M, das in vielen Sprachen im Wort für Mutter vorkommt, seien die seltene Ausnahme. Ein internationales Team, an dem Forscher der Max-Planck-Institute für Mathematik in den Naturwissenschaften und für Menschheitsgeschichte sowie der Universität Leipzig beteiligt waren, widerlegt diese Annahme nun mit einer umfassenden Analyse.

Der Bericht geht von der Annahme aus, daß die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft die Verwandtschaft zwischen Sprachen auf Lautähnlichkeiten stützt. Solche Lehrbücher freilich hätten schon längst umgeschrieben werden müssen, denn in Wirklichkeit beruht die Indogermanistik ebenso wie andere Anwendungen auf lautgesetzlichen Entsprechungen.

Über die Untersuchung selbst berichtet z.B.
http://sapir.psych.wisc.edu/papers/dingemanse_blasi_christiansen_lupyan_monaghan_2015.pdf

Auf einzelne Schwierigkeiten will ich hier nicht eingehen, z. B. das Problem der Wortarten (was ist ein "Verb" im Japanischen?).

Aus der umfangreichen Literatur zur Lautsymbolik (Psychophonetik, Ikonismus) scheinen die Verfasser einiges zu kennen (maluma/takete, Zipf, Reduplikation), anderes nicht, vor allem die ältere Literatur; das Ganze war ja schon im 19. Jhdt. ein Thema.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.11.2016 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33894

"Zum Schleife binden [! mehrmals] ist ein komplexes räumliches Vorstellungsvermögen nötig", erklärt die Ergotherapeutin Cathrin Trauernicht im Gespräch mit t-online.de. (t-online 20.11.16)

Typische mentalistische Scheinerklärung durch ein „Vermögen“. Dasselbe könnte man für das Ballfangen und Radfahren geltend machen, es erklärt gar nichts. Geschicklichkeitsleistungen werden Schritt für Schritt gelernt und dann geübt.

Berthold Kohler schreibt in der FAZ über Merkel und ihre Kanzlerei:

Das Amt erfordert eine eiserne physische und psychische Konstitution. Zeit zum Aufladen der Batterien gibt es kaum; der Amtsinhaber muss seine Energie direkt aus dem Erlebnis der Macht, seinem Pflichtbewusstsein und aus der Überzeugung ziehen, „alternativlos“ zu sein.

Woher weiß er das, und wie sinnvoll ist die „Energie“-Metapher? Es entspricht Freuds hydraulischem "Trieb"-Modell. Plausibel und wertos.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2016 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33975

Gedankenlesen ist möglich. Jeder kennt den unfaßbar koordinierten Formationsflug der Vogelschwärme. Es ist anzunehmen, daß die Stare alle dasselbe denken, weil sie dasselbe tun. Auch die beiden Pferde im Gespann denken weitgehend dasselbe. Die Chorsänger denken nicht alle dasselbe, aber sie denken wahrscheinlich im Augenblick viel ähnlicher als außerhalb des Chores.
Wenn ich mit meiner Frau durch die Gegend radele, stellen wir oft fest, daß wir an einer bestimmten Stelle dasselbe gedacht haben. Nicht immer fallen uns die Schlüsselreize der Umgebung ein, die das mitbewirkt haben.
Wenn wir durch Konditionierung und Elektroden zwei Menschen dazu bringen können, dasselbe zu tun, werden sie auch ungefähr dasselbe „denken“, denn Denken ist ja nur die Vorbereitung und Steuerung des eigentlichen (sichtbaren) Verhaltens.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 30.11.2016 um 18.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33976

Ist das dann aber wirklich Gedankenlesen? So schließt man nur aufgrund ähnlicher äußerer Umstände auf ähnliche Gedanken des anderen.

Das ist, als wenn ich behaupte, ich könnte ein geschlossenes Buch lesen. Ich lese einfach aus einem zweiten, identischen Buch, und dann behaupte ich, ich lese aus dem ersten, geschlossenen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2016 um 04.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34023

Hier kann man einen vollkommen sinnlosen Beitrag der Erziehungswissenschaftlers Peter Struck über Schrift, Hirn und Rechtschreibung lesen:

http://www.fr-online.de/wissenschaft/rechtschreibreform-das-hirn-braucht-herausforderungen,1472788,34980984.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2016 um 08.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34065

Zu den Einwänden gegen die Psychoanalyse gehört auch die Erfahrung, daß man peinliche, beschämende Episoden keineswegs verdrängt und vergißt, wie die Theorie es verlangt, sondern sich im Gegenteil ein Leben lang daran erinnert. Darüber jetzt auch Douwe Draaisma ("Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird"). Manche Leute erröten noch mit 80 wegen eines Faux pas, der ihnen mit 8 unterlaufen ist.

Eine Erklärung könnte sein, daß wir uns immer wieder damit beschäftigen, den Vorfall so zu bearbeiten, daß er mit unserem Selbstbild vereinbar wird. Wir legen uns ja innerlich vieles in diesem Sinne zurecht, vorwiegend sprachlich (weshalb ich es hier erwähne), ein ständiges "rehearsal". Vielleicht hängt damit zusammen, daß man den "Backenstreich" (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=134#27290 und http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=134#32891) eben doch nicht vergißt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.12.2016 um 04.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34079

„Dass Affen nicht wie Menschen sprechen, liegt nach Ansicht der meisten Primatenforscher daran, dass ihr Sprechapparat das nicht erlaubt.“ (FAS 11.12.16)

Dann wird über Forschungen berichtet, wonach manche Affen anatomisch sehr wohl in der Lage wären, hinreichend viele Vokale usw. hervorzubringen usw.; den Affen fehlten nicht die anatomischen, sondern die geistigen Voraussetzungen. Ähnlich berichten viele Medien über Arbeiten von Tecumseh Fitch und Angela Friedericis MPI-Forschungsgruppe.

Die „anatomische“ Theorie war eine Zeitlang verbreitet, aber Konsens dürfte sie schon lange nicht mehr sein. Die Lautgebung der Affen kann nicht so konditioniert werden wie die menschliche, weil die entsprechenden Organe nicht mit den notwendigen Nerven vom Gehirn her versorgt sind. Das ist auch eine anatomische Tatsache, man braucht nicht vom „Geist“ zu reden. Die Erbkoordinationen, z. B. auch beim Hundegebell, lassen sich nicht zu einem sprachanalogen „zweiklassigen“ (syntaktischen) Kommunikationsverhalten modifizieren. (Vgl. schon William Orr Dingwall in Haiganoosh Whitaker/Harry A. Whitaker (Hg.): Studies in Neurolinguistics. New York 1979:46f., kritisch zu Philip Liebermans Kehlkopfhypothese; auch Carsten Niemitz in Zs. f. Sem. 12, 1990, S. 332)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.12.2016 um 16.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34123

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32595
Noch eine Kostprobe aus diesem Stall:

Eine frühere Bankkauffrau und Fremdsprachenkorrespondentin, jetzt Unternehmensberaterin für Leadership, Gesichterlesen, Coaching am Pferd usw., preist sich so an:

„Meine Arbeitsweise ist einfühlsam und wertschätzend, auf den neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basierend und ist in erster Linie praxisorientiert."

Sie weiß z. B.:

Dopamin erzeugt in uns ein Gefühl des Wohlbefindens und versetzt uns in einen Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft. „Ich will etwas tun!“
Endogene (körpereigene) Opioide wirken positiv auf das Ich-Gefühl, die emotionale Stimmung und die Lebensfreude, vermindern Schmerzempfinden und stärken das Immunsystem. „Es macht Spaß, etwas zu tun!“
Oxytocin ist eine Art Bindungsstoff, auch „Sozialkleber“ genannt, und ist sowohl Ursache als auch Wirkung von Bindungserfahrungen. „Ich setze mich für die ein, die mich mögen!“


(https://www.taw.de/cms_taw/file.phtml?Slfdnr=3141&disp=dl )
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2017 um 10.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34286

„Unser Hirn kann nicht mit Geld umgehen“ (Überschrift FAZ 11.117)

Die FAZ läßt einen ehemaligen Investmentbanker über „Neurofinanz“ schwadronieren: „Neurophysiologisch ist ein Börsencrash ein Cortisol-Schock.“ usw.

Andere behandeln das Thema bescheidener unter "Verhaltensökonomie". Die Erwähnung von Hirnregionen und Hormonen ist eine modische Zutat zwecks Verkaufsförderung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2017 um 19.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34374

Amerikanische Forscher haben festgestellt, daß die "Geduld" des Sparens, Investierens, nachhaltigen Wirtschaftens aus dem Ackerbau stammt. Nun, das ist eine der ältesten Einsichten und auch Gegenstand literarischer Werke. Daß man das Saatgetreide nicht aufessen darf, daß der Ertrag des Waldes erst den Enkeln zuwächst usw., Bürgers "Schatzgräber"...
Aber die FAS füllt mit dem "hochinteressanten Erklärungsansatz" der Amerikaner eine halbe Seite.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2017 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34482

Ein Englischdidaktiker beglückt uns mit einem "Brainbook":

Heiner Böttger: Neurodidaktik des frühen Sprachenlernens: Wo die Sprache zuhause ist.

Wo die Sprache zu Hause ist Wie funktioniert das Erlernen von Sprachen von Anfang an? Welche Rolle spielt das Gehirn dabei? Können mehrere Sprachen gleichzeitig erworben werden? Auf diese und viele weitere Fragen des Spracherwerbs gibt das Brainbook von Heiner Böttger Auskunft. Das Werk basiert auf aktuellen Hirn- und Spracherwerbsforschungen und soll Sprachlernprozesse im Elternhaus, in der Kita, im Kindergarten, in der Vorschule sowie in der Grundschule unterstützen helfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2017 um 15.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34522

"Wissenschaftler des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften und der Newcastle University haben nun herausgefunden, dass auch Affen komplizierte Regeln innerhalb von Silbenfolgen entdecken können. Das Gehirn von Makaken ist beim Hören komplexer Silbenkombinationen in ähnlicher Weise elektrisch aktiv wie das von drei Monate alten Babys. Affen besitzen somit wahrscheinlich „Vorläuferfähigkeiten“ für den Spracherwerb."

Usw.: https://www.mpg.de/10821435

Natürlich sind Säuglinge und Affen so konditionierbar, daß sie das Zusammenvorkommen von Elementen (also Muster, "Patterns", hörbar oder sichtbar, auch über eine gewisse Distanz hinweg) "entdecken", d. h. darauf reagieren. Auch mit Hirnstrommessungen nachzuweisen. Der erste Fehler der Kognitivisten (hier wieder mal Frau Friederici) besteht darin, dem Vorgang "Regeln" zu unterschieben (der Planimeter-Trugschluß also). Es geht um Regelmäßigkeiten.
Der zweite Fehler: Das hat mit Silben und Sprache gar nichts zu tun, jeder andere Reiz tut es auch.

Die kognivistische Einkleidung verhindert, daß die unendlich vielen Laborexperimente der Behavioristen einbezogen werden. An die Öffentlichkeit tritt man gern mit der Verheißung, die Entschlüsselung des Sprachvermögens voranzutreiben. Das soll die Sache interessant und relevant erscheinen lassen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.03.2017 um 15.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34612

Kürzlich ging durch die Presse, daß Hummeln durch Beobachtung und Nachahmung lernen, z. B. eine kleine Kugel an einen Platz zu bringen, woraufhin sie etwas Süßes bekommen. Sie spielen Soccer bzw. Golf, wie es in reißerischen Überschriften hieß.

Das ist nicht glaubhaft. Nachahmung und Beobachtungslernen sind selbst bei höheren Tieren selten oder gar nicht nachzuweisen. Was so aussieht, ist in Wirklichkeit oft anders zu erklären. Was sehen Hummeln überhaupt? Sehen sie uns? Wie die Welt durch Facettenaugen aussieht und welche Ausschnitte Insekten auf welche Weise wahrnehmen, wird seit langem erforscht. Davon war in den Berichten gar nicht mehr die Rede.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.03.2017 um 04.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34653

In den Spracherwerbs- und Sprachursprungstheorien Tomasellos, MacWhinneys usw. ist ständig von "Perspektivenübernahme" die Rede, Hineinversetzen, Empathie usw. – und es gibt kein Anzeichen, daß der metaphorische Charakter dieser Redeweise durchschaut wäre. Was geschieht wirklich, und wie wird es gelernt und weitergegeben? Die Kognitivisten haben sich hoffnungslos verrannt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.03.2017 um 08.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34678

Die menschliche Sprache hat Syntax, also Sätze. Darum beharrten Hermann Paul und andere darauf, daß menschliche Rede grundsätzlich zweigliedrig ist. Bei scheinbar eingliedrigen Ausrufen usw. (Feuer) sei gewissermaßen die Situation das ("psychologische") Subjekt, der Ausruf das Prädikat (Rhema).
Man könnte auch sagen: Selbst wenn Feuer allein vorkommt, so steht doch im Hintergrund, daß es auch noch anderswo vorkommen könnte. Diese Vielverzwecklichkeit ist im Grunde dasselbe wie die Zweigliedrigkeit.
Eingliedriges ist nur noch ganz marginal vorhanden. Mit Tieren kommunizieren wir oft eingliedrig: Sitz! Hüst, hott. Das sind keine Menschenwörter, auch wo sie scheinbar noch mit solchen übereinstimmen. Deshalb verquatschen die Reiter Trab, Schritt zu Terab, Scheritt usw., angemessen an die Perzeptionsfähigkeit des Tieres.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2017 um 10.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34703

„Das Verb ist mit bestimmten Stellen im Satz ausgestattet, die mit ihm im (mentalen) Lexikon gespeichert sind und deren Füllung im Satz gegebenenfalls zu erwarten ist.“ (Katrin Lindner: Einführung in die Germanistische Linguistik. München 2014:155)

In Wörterbüchern stehen die Verben und außerdem Angaben zu ihrer Konstruktion. Dasselbe nun im Kopf oder, na ja, im "Geist". Dann ist alles sehr einfach, denn mit Wörterbüchern kennen wir uns schon aus.

Bleibt nur die bange Frage: Wer schlägt nach?

Die Bienen haben eine Landkarte ihrer Umgebung gespeichert, mit Sternen für Nektarfundstellen wie die Aussichtspunkte im ADAC-Atlas. Nur: Wer liest diese Karten? Kartenlesen muß auch gelernt sein.

Man stellt diese Fragen nicht, weil man die Metaphern nicht als solche erkennt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.03.2017 um 04.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34784

„Beim Sex werden Hormone freigesetzt, die unsere Religiosität steigern.

Kann unsere Sexualität sich auf unsere Spiritualität oder unseren Glauben auswirken? Forscher fanden jetzt heraus, dass beim Sex Hormone freigesetzt werden, die tatsächlich das Gefühl von Religiosität stimulieren können.“ (Meldung 27.9.16)

Das „Gefühl von Religiosität“ ist nicht definiert, vielleicht ist eine gewisse Desorientiertheit gemeint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2017 um 04.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34865

Die FAZ (Christian Geyer) würdigt den Marburger Philosophen Reinhard Brandt zum 80. Geburtstag. (Kleiner Schock in Erinnerung an meine Studienzeit: der junge Assistent von damals auch schon 80?!) Sein kleines Buch "Können Tiere denken?" wird lobend erwähnt.

Nun, gerade davon war ich nicht begeistert. Brandt legt ausführlich dar, was "Urteile" im Sinne Kants sind. Tiere lassen nicht erkennen, daß sie solche Urteile vollziehen. Sie können halt nicht sprechen, das haben wir schon vorher gewußt.

"Urteil" ist wie "Denken" ein Konstrukt, das wir sprachfähigen Lebewesen zuschreiben. (S. meine Ausführungen über "Naturalisierung der Intentionalität".) Zwar hat "denken" viele Verwendungsweisen, aber im Kern konzipieren wir das Denken nach dem Muster eines stillen Sprechens, daher die Möglichkeit der direkten und indirekten Rede bei der Wiedergabe des vermeintlichen Denkens.

Es ist also keine Tatsachenfrage, ob Tiere denken können. Man braucht nur sprachanalytisch seine "Grammatik" in Ordnung zu bringen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.04.2017 um 17.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34908

Soziobiologen haben zu erklären versucht, warum junge Mütter öfter sagen, ihr Neugeborenes ähnele dem Vater, als ihnen selbst. Man kann sich den vermeintlichen Grund denken. Aber in Wirklichkeit ist es wohl so, daß ich überhaupt leichter die Ähnlichkeit mit jemand anderem erkennen kann als mit mir selbst, weil ich gar nicht richtig weiß, wie ich aussehe. Als unsere Jüngste schlüpfte, habe ich sofort eine Ähnlichkeit mit mir selbst erkannt und auch ausgesprochen, aber nur deshalb, weil ich meinem Vater ähnele und die Tochter besonders um den Mund herum wieder diesem. Dieser Zug ist denn auch geblieben und immer deutlicher geworden.

(Daran muß ich gerade denken, weil verschiedene Kommentare zu meiner eben geborenen Enkelin gegeben werden. Keiner der Verwandten entdeckt eine Ähnlichkeit mit sich selbst...)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.04.2017 um 16.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34973

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34678:

„Wenn der Koch vom Feuer her Essen fassen! ruft, ist sein Verhalten eine ebensolche Einheit wie die Reaktion Essen! oder das Erklingen eines großen metallenen Triangels. Zur Erklärung eines solchen Verhaltens brauchen wir keine grammatischen oder syntaktischen Prozesse zu analysieren. Tally-ho! bedeutet unter englischen Jägern soviel wie Da ist ein Fuchs!, und es wäre müßig, über die Funktion des Bruchstücks ho oder Da ist in diesen Reaktionen eines konkreten Sprechers zu spekulieren. Man kann sich andere Situationen vorstellen, in denen die Reaktion Da ist ein Fuchs! grammatisch analysiert werden müßte; bei Tally-ho! wäre das schon unwahrscheinlicher. Je weiter sich das Sprachverhalten eines einzelnen Sprechers entwickelt, um so umfangreichere Reaktionen wachsen im allgemeinen zu funktionalen Einheiten zusammen, und wir brauchen nicht jedesmal über autoklitische Tätigkeiten zu spekulieren, wenn eine Reaktion eine autoklitische Form zu enthalten scheint. Auch im Laufe der historischen Entwicklung einer Sprachgemeinschaft werden, wie man annehmen darf, immer umfangreichere Einheiten bekräftigt.“ (Skinner VB)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.04.2017 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#34974

Zum vorigen:

Äußerlich gesehen sind solche Signalrufe den einklassigen Signalen der Tiere ähnlich, unter denen es ja einige gibt, die verschiedene Warnsignale für Luft- und für Bodenfeinde hervorbringen. (Sie sind nicht zusammengesetzt aus Zeichen für "Luft" und "Feind" usw., haben also keine Syntax.)

Aber wenn man genauer hinsieht, ist das natürlich nicht richtig. Wie Skinner andeutet, ist der Ruf der Fuchsjäger zwar fast ausschließlich in einem einzigartigen Handlungszusammenhang zu finden; aber eben nur fast: Die Jäger könnten sich zum Beispiel darüber unterhalten, warum der eine tally-ho gerufen hat, obwohl gar kein Fuchs zu sehen war usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.05.2017 um 09.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35099

„Auch wenn ein Affe von abstrakten Konzepten Gebrauch machen kann und Motive, Überzeugungen und Wünsche hat, so sind ihm seine Bewußtseinszustände doch nicht zugänglich. Er weiß nicht, was er weiß. Zudem scheinen Affen auch unfähig, anderen Bewußtseinszustände zuzusprechen oder zu erkennen, daß auch das Verhalten der anderen von Motiven, Überzeugungen und Wünschen bestimmt ist.“ (Dorothy L. Cheney/Rober M. Seyfarth: Wie Affen die Welt sehen. München 1994:413)

„Wie wir gesehen haben, scheinen Affen Experten darin zu sein, im Verhalten der anderen zu lesen; bis jetzt haben wir aber kaum Hinweise dafür, daß sie ebensolche Experten darin sind, in der Gedankenwelt der anderen zu lesen.“ (306)

Über Theory of mind bei Affen, Spiegelversuche usw. Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß Menschen in der Gedankenwelt der anderen lesen. Durchgehend werden die folkpsychologischen Konstrukte für Tatsachen gehalten. Intentionale Systeme im Sinne Dennetts usw. – in diesem Stil ist das ganze Werk gehalten. Die Beobachtungen der Feldforscher sind interessant, aber man sieht sie durch den mentalistischen Schleier.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.05.2017 um 05.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35214

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#22640

Joachim Bauer scheint auch als Gutachter im Zschäpe-Prozeß seine Fachgrenzen zu überschreiten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.06.2017 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35259

„Schließlich gelangen wir zu einer Feststellung, die die Psychologen früher als paradox belächelt hätten: Da wir das Verhalten der anderen besser erkennen als das unsere, kennen wir die anderen auch besser als uns selbst.“ (Paul Foulquié zit. nach Paul Fraisse: Praktikum der experimentellen Psychologie. 166:34)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2017 um 19.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35324

Auf der Seite „Campus“ gibt die FAZ Lerntips (10.6.17):

„Die Studentin setzt auf sogenanntes Mindmapping, um die richtigen der 86 Milliarden Nervenzellen ihres Gehirns zu aktivieren. (...) Längst gibt es solche Karteikartenmethoden auch online. Allerdings mahnt die Hirnforschung: Wer auf Papier liest, der behält deutlich mehr Informationen.“

Usw., lauter Neurobabble, eigentlich leicht durchschaubarer Unsinn. Die Leser scheinen es zu schlucken, seit vielen Jahren schon.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2017 um 04.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35391

Kant meinte, unser Erkenntnisvermögen sei äusserst beschränkt; dennoch wirft unser Gehirn dauernd Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Seele, nach Gott auf. (http://www.0095.info/de/index_thesende3_informationstheorie_alteundneuegottesbeweise.html)

Kant als Hirnforscher.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2017 um 10.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35420

In einem Festvortrag über Humboldt (FAZ 21.6.17) wiederholt Jürgen Trabant dessen These, jede Sprache enthalte eine Weltansicht. Wiederholung ist kein Beweis, und die Einwände bleiben bestehen. Martin Schulz spricht sechs Sprachen, er müßte ein überaus beweglicher Geist sein, der die Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Kann ja sein, aber man hat es bisher nicht bemerkt.
Ja, das ist ein sehr banaler Einwand, aber vielleicht sollte man darauf antworten, bevor man die weniger banalen in Angriff nimmt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.06.2017 um 12.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35424

Auffällig, aber vielleicht keine Weltanschauung ist, daß in allen slawischen Sprachen (nur) bei männlichen Substantiven, Adjektiven und Pronomen zwischen belebt und unbelebt unterschieden wird.
Amüsant ist franz. Madam Le Ministre.
 
 

Kommentar von Tante Google, verfaßt am 21.06.2017 um 17.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35427

Inzwischen hat sich Madame la ministre im Alltag und in den Medien weitgehend durchgesetzt. Nur noch böse alte weiße französische Männer verharren in den alten Gewohnheiten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2017 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35493

Brainporn:

"Unser Gehirn ist darauf programmiert, neue Dinge zu lieben"
Virtual-Reality-Shops und kassenlose Supermärkte sollen die übersatte Gesellschaft bei Kauflaune halten. Dem Gehirn gefällt das, sagt der Konsumexperte Sebastian Haupt.
(Zeit 26.6.17)

= Der Mensch liebt Abwechslung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.07.2017 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35596

Auch sittliches Empfinden kann dem Grad der Funktionsfähigkeit bestimmter Hirnareale zugeordnet werden. In die Politik scheinen diese Erkenntnisse bis heute nicht vorgedrungen zu sein. (Thilo Sarrazin: Wunschdenken)

Neuropolitik? Nein danke!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2017 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35685

Forscher können jetzt mit Hirnscans erklären, warum wir glücklich sind, wenn wir mit anderen teilen.
Der methodische Fehler ist immer derselbe: Man stellt Korrelationen fest, untersucht aber nicht, ob das Verhalten trennscharf von tausend anderen Verhaltensweisen unterschieden ist. Vielleicht stellt sich (wenn man die Fehlerquelle des Mittelns ausgeschaltet hat) heraus, daß das Spielen einer Klaviersonate oder das Befreien eines verflogenen Vogels oder das Anzünden eines Kleinwagens dieselben Erregungsmuster hervorruft?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2017 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35686

Mittlerweile können Neurowissenschaftler erklären, warum zum Beispiel manche Menschen das Gefühl haben, von Geistern umgeben zu sein. Ja, sie können dieses Gefühl bei Versuchspersonen im Labor sogar erzeugen. (Martin Urban: Ach Gott, die Kirche! München 2016:161)

- Vgl. auch http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1145#15268



Das ist kein Beweis. Die Deutung von Ausnahmeständen ist kulturell geprägt. Manche bilden sich ein, von Raumschiffen entführt zu werden usw. Die Einzelheiten stammen immer aus der Zeitung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2017 um 08.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35783

Focus wirbt mit einem pseudo-redaktionellen Artikel für diesen Mann:
„Benedikt Ahlfeld coacht und trainiert seit 10 Jahren Top-Entscheider aus Wirtschaft, Sport und Medizin für besseres Management und mehr Umsetzungskompetenz. Er zeigt, wie sich Kaufentscheidungen beeinflussen lassen und Teams effizienter zu Ergebnissen kommen. In seinem Buch verrät er bewährte Strategien der Top-Entscheider.“
Der weiß zum Beispiel:
„20.000 Entscheidungen treffen wir jeden Tag. Die meisten davon blitzschnell. Das beweist die Hirnforschung. Die wenigsten allerdings sind rational und überlegt. Das belegt die Verhaltensökonomie.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.07.2017 um 03.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35800

Kleinere Menschen haben ein erhöhtes Risiko, an den Herzkranzgefäßen zu erkranken. Das ergab eine Studie der Universität Leicester, die die Forscher im "New England Journal of Medicine" veröffentlichten.
-
Die Wissenschaftler von der Leicester University in Großbritannien stellten bei ihrer Untersuchung fest, dass das regelmäßige Autofahren bei Betroffenen eine Reduzierung der Intelligenz bewirken kann. Eine beunruhigende Nachricht – insbesondere für alle Personen, die täglich aus Berufsgründen weite Strecke mit dem Auto zurücklegen müssen.
-
Rassistische und sexistische Vorurteile sind in unserer Gesellschaft leider immer noch weit verbreitet. Amerikanische Forscher behaupten jetzt, dass man Intoleranz im Schlaf behandeln kann – mit einem speziellen Training.


-

Theodor Ickler von der Universität Erlangen hat festgestellt, daß die tägliche Lektüre von Berichten aus der Wissenschaft zur Volksverdummung beiträgt. Zur Vorsorge empfiehlt er "Bad Science" von Ben Goldacre.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2017 um 05.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35815

Der Psychiater Manfred Spitzer wird auch im Ausland als führender Neurologe bezeichnet und anerkennend zitiert:
Triệu chứng này từng được Mandred (sic) Spitzer, nhà thần kinh học hàng đầu của Đức (!) mô tả như sau: là hành vi sử dụng quá mức các thiết bị công nghệ - kỹ thuật số, dẫn đến suy giảm khả năng nhận thức, hiện tượng thường thấy ở những người bị thương ở đầu hoặc bị bệnh tâm thần.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.08.2017 um 05.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35871

Große Unternehmen schicken ihr Führungspersonal auf meist zweitätige "Workshops" zum Motivationstraining usw. Die Anleitungen dazu sind sehr reich an Einzelheiten, bis zur Anordnung der Möbel, minutengenauen Dauer einzelner Arbeitsabschnitte usw. - die Lektüre erinnert an halbneurotische Praktiken von Voodoopriestern.
Ob solche Veranstaltungen einen Erfolg haben, dürfte sich schwer nachweisen lassen. Stattdessen findet man regelmäßig die Erwähnung eines amerikanischen Gurus, an dessen Lehrbuch man sich hält. Die Psychologie ist hanebüchen. Immer wieder geht es darum, "Authentizität" vorzuspielen und sich scheinbar für Sachen zu "begeistern", die einen gar nicht interessieren.
Es handelt sich um die moderne Spielart der Rhetorik, wie sie von den griechischen Sophisten zur Ertüchtigung ehrgeiziger junger Männer angeboten wurde.
Die zwangsverpflichteten Teilnehmer reagieren verschieden. Manche genießen die Abwechslung, andere leiden unter der Peinlichkeit. Es wird eine Art Seelenstriptease erwartet und abgeprüft, der aber selbstverständlich auch wieder nur Schauspielerei ist, und der leitende Coach läßt intelligentere Teilnehmer fragen, was so ein hergelaufener Unterhaltungskünstler, der von der Sache selbst nichts versteht, den gestandenen Managern eigentlich beibringen kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2017 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35967

These results show that video games can be beneficial or detrimental to the hippocampal system depending on the navigation strategy that a person employs and the genre of the game. (http://www.nature.com/mp/journal/vaop/ncurrent/abs/mp2017155a.html?foxtrotcallback=true)

Das wird auch in deutschen Medien referiert.

Es ist von vornherein unwahrscheinlich, daß verschiedene Videospiele verschiedene anatomische Veränderungen im Hippocampus verursachen. Man muß auch bedenken: Die Probanden verlassen das Labor und tun dies und das, und dabei müßten ja ganz ähnliche Veränderungen stattfinden, ein ständiger Ab- und Aufbau von grauer Substanz, je nach Art der Tätigkeit: Schach, Karate, Vorlesungen...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.08.2017 um 05.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35989

Schlauer als bisher angenommen
Neue Fähigkeit bei Hunden entdeckt

Einige Hunde sind schlauer als bisher angenommen. Sie können einer Studie zufolge die Perspektive von Menschen einnehmen und zu ihrem Vorteil nutzen, wie Forscher der Veterinärmedizinischen Universität Wien nachgewiesen haben. Die Vierbeiner erkannten in einem Experiment in vielen Fällen, welche Menschen den Ort des Futters erspäht hatten. Sie folgten dann gezielt nur deren Hinweisen. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal "Animal Cognition" veröffentlicht.
Begabung nur bei wenigen Tierarten

"Diese Fähigkeit der Perspektivenübernahme ist ein wichtiger Baustein sozialer Intelligenz und hilft den Vierbeinern, sich in unserer menschlichen Umwelt zu behaupten", schreibt die Hochschule. Tieren sei die Begabung bis auf wenige Ausnahmen bisher abgesprochen worden. Hinweise, dass Tiere Wissenszustände anderer erkennen können, habe es bisher nur bei Menschenaffen und Rabenvögeln gegeben. Forscher in Hannover hatten diese nach eigenen Angaben jedoch auch schon bei Hunden gefunden.


Es wird nicht erkannt, daß die Rede von "Perspektivübernahme" usw. auch beim Menschen nur eine Metapher ist. Es käme darauf an, das Verhalten und seine Veränderung objektiv zu beschreiben. Dann bliebe von der sensationellen These nicht viel übrig. Grundlegende Schwäche der mentalistischen Aufmachung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.08.2017 um 04.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36053

Die jeweils herrschende ("selbstverständliche") naive Psychologie läßt sich bei psychologisierenden Nichtpsychologen oft am besten erkennen, weil sie den Kern der Lehre nicht mit begrifflichem Brimborium unkenntlich machen.

Der Vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. Alles, was wir von dem eines andern Individuums zu wissen glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen. Wir setzen dabei voraus, dass die fremde Seele in dem selben Verhältnis zur Aussenwelt steht wie die unsrige, dass die nämlichen physischen Eindrücke in ihr die gleichen Vorstellungen erzeugen wie in der unsrigen, und dass diese Vorstellungen sich in der gleichen Weise verbinden. (Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte. Tübingen 1960 = 1920:15)

Das klingt evident richtig und ist doch grundverkehrt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.09.2017 um 05.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36109

„In the minimal case, a word is an arbitrary association of a chunk of phonology and a chunk of conceptual structure, stored in speakers’ long-term memory (the lexicon).“ (Steven Pinker/Ray Jackendoff: „The Faculty of Language: What’s Special about it?“ Cognition 95, 2005:201-36, S. 212)

So kann man reden, aber man kann sich nichts darunter vorstellen, was ein „chunk of conceptual structure“ sein soll. Struktur sollte doch die Struktur von etwas sein, aber man erfährt nichts Näheres darüber. Am ehesten darf man annehmen, daß es sich um „Begriffe“ handelt, die einer Sprache nachgebildet sind. Dafür spricht die beiläufige Angabe, daß es sich um ein „Lexikon“ im Langzeitgedächtnis handelt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.09.2017 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36110

Tragen Sie den Begriff ein, den Sie regelmäßig falsch schreiben – in diesem Beispiel „druch“. In das Feld daneben tragen Sie die korrekte Schreibweise („durch“) ein.

Zuerst stört die Verwechslung von Begriffen mit Wörtern, aber dann kommt sie einem wieder richtig vor, denn Begriffe sind nichts anderes als Wörter, und das Denken ist ein Sprechen, Propositionen sind Sätze. Darum kann man Gedanken in direkter und indirekter Rede zitieren. Alles darüber hinaus ist metaphysischer Hokuspokus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2017 um 04.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36148

Wenn man zum Beispiel einen Hund beobachtet, der seine Umgebung beobachtet, kommt man unweigerlich ins Grübeln, was er wohl eigentlich sieht. Dasselbe aber auch bei sehr kleinen Kindern. Unsere fünfmonatige Enkelin schaut aufmerksam umher, aber was sie dabei eigentlich sieht und erlebt, können wir nicht wissen.

Freundliche Gesichter und Ansprache bringen sie zu einem dünnen Lächeln, aber so richtig heiter wird sie unfehlbar beim Anblick des Familienhundes, einer Französischen Bulldogge. Das ist bekanntlich ein exorbitant häßliches Tier. Ich nehme an, daß das Kind noch nicht zwischen Mensch und Tier unterscheidet, den Hund folglich als einen besonders komisch aussehenden anderen wahrnimmt. So ähnlich nehmen naive Menschen Affen wahr: komisch durch ihre Menschenähnlichkeit.

Der Hund wiederum, seiner Rasse entsprechend, ist überaus verspielt und "verbeißt" sich spielerisch in jeden Zeh oder sonstigen Körperteil von uns, wobei er aber niemals ernsthaft zubeißt. Woher weiß er, daß der Zeh, mit dem ich da unten wackele, ein Teil von mir ist? Uns fällt auf, daß er selbst dieses sanfte Zupacken bei dem kleinen Mädchen unterläßt; das Maul bleibt immer geschlossen. Auch sonst weiß man ja, daß Hunde die Kindlichkeit und Schutzbedürftigkeit von Kindern intuitiv erkennen und berücksichtigen. Das ist bei der großen genetischen Entfernung bemerkenswert.

Anderswo habe ich schon erwähnt, daß Platon den Hund für ein philosophisches Tier erklärt, weil er das Wissen um seiner selbst liebt (ein Merkmal des Menschen, nach dem Anfang der Metaphysik des Aristoteles). Der Hund begegnet nämlich jedem freundlich, den er kennt, auch ohne je eine Wohltat von ihm erfahren zu haben.

So ist auch für das Marketing die Bekanntheit alles. Das gilt auch in der Politik. Bei der Beliebtheit von Politikern spielt immer die bloße Bekanntheit mit. Außenminister werden wegen ihres Jobs sehr oft im Fernsehen gezeigt und sind daher immer besonders beliebt, ganz unabhängig von ihren Leistungen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.09.2017 um 07.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36153

Aus einer Dissertation:

Ist Spracherwerb ein passiver, umweltgesteuerter Nachahmungsprozeß (Empirismus) oder ein aktiver, durch angeborene Fähigkeiten gesteuerter Schaffensprozeß
(Nativismus)?


Wort für Wort sinnlos. Der Verfasser müßte doch bemerken, daß Prozesse schon rein logisch nicht aktiv oder passiv sein können. Außerdem sollen beide Arten "gesteuert" sein, was die Unterscheidung vollends aufhebt. Aber solchen Galimathias findet man auf Schritt und Tritt. Er nennt sich "Kognitive Psychologie".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.09.2017 um 05.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36175

Der US-amerikanische Soziologe und Sozialpsychologe Luther Lee Bernard stellte 1926 einen Katalog der in der Literatur gefundenen Instinkte zusammen und fand 5684 verschiedene Instinkte. (Wikipedia „Instinkt“)

Heute sprechen Biologen nur noch selten oder gar nicht von Instinkt – der richtige Moment für Pinker, den „Sprachinstinkt“ einzuführen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.09.2017 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36179

Der berühmte Physiker Roger Penrose versuchte, Bewußtseinsphänomene durch Quanteneffekte zu erklären, stieß aber von allen Seiten auf Widerspruch. Sein Vorschlag und der Einspruch bedeutender Kritiker sind bequem nachzulesen in John Brockmans „The Third Culture“. Der wichtigste Einwand ist wohl, daß die neuronalen Vorgänge, die unser Verhalten steuern, makrophysikalisch sind und daß die freilich im Hintergrund allgegenwärtigen Quanteneffekte sich auf dieser Ebene neutralisieren. Das ist wie mit dem schon erwähnten Schmetterling in China, dessen Flügelschlag theoretisch einen Wirbelsturm in der Karibik auslösen könnte. Wichtiger ist die Einsicht, daß und warum er es nicht tut.

Auch mit der Freiheit des freien Willens wäre es nicht weit her, wenn irgendwo ein Zufallsgenerator eingebaut wäre, der unser Verhalten nicht „frei“, sondern eben zufällig und unberechenbar machen würde. Der vernünftig begrenzte Begriff des freien Willens gehört in einen Gesprächszusammenhang, wie ich in meinem Essay über die Naturalisierung der Intentionalität gezeigt habe: Wir machen die Erfahrung, daß unser Verhalten durch Zuspruch oder Einspruch anderer, denen wir es angekündigt haben, beeinflußt werden kann. Natürliche Vorgänge wie Regen oder Wespenstiche können das nicht. Auf einer anderen Ebene mag unser Verhalten und das unserer Gesprächspartner physikalisch so strikt determiniert sein wie nur möglich, das spielt hier gar keine Rolle.

„As Heisenberg himself has told me, the principle of uncertainty is entirely irrelevant to the question of causal determination. It is a principle of unobservability, and as a basis for doctrines of will it is in a class with the belief that the invisible face of the moon is made of green cheese." (Karl Lashley: „Cerebral Organization and Behavior“. In: The neuropsychology of Lashley. New York u. a. 1960:530).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.09.2017 um 18.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36216

„Mentale Zustände sind Gehirnzustände, und also berichtet eine Person, spricht sie über ihre mentalen Zustände, in Wirklichkeit über Zustände ihres Gehirns.“ (Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Stuttgart 1994:131)

Ein Trugschluß. Mentale Zustände sind keine Gehirnzustände. Mentale Zustände sind ein philosophisches Konstrukt, also eine bestenfalls nützliche Fiktion, während Gehirnzustände natürliche Gegebenheiten sind, die empirisch aufgefunden werden können.

Sprachkritisch wäre noch anzumerken, daß man nicht "über" etwas anderes sprechen kann, als man zu sprechen meint; aber das will ich hier beiseite lassen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.09.2017 um 04.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36249

Menschenaffen erkennen eigenes Unwissen

Schimpansen und Orang-Utans suchen nach Informationen, um Wissenslücken zu schließen
Sie wissen, wenn sie etwas nicht wissen: Schimpansen und Orang-Utans scheinen ihr eigenes Wissen hinterfragen und beurteilen zu können. Ein Experiment zeigt: Die Menschenaffen erkennen, wenn ihnen wichtige Informationen zum Lösen einer Aufgabe fehlen – und versuchen diese Wissenslücke dann gezielt zu schließen. Für die Forscher ist das ein mögliches Zeichen dafür, dass die Tiere, ähnlich wie wir Menschen, die Fähigkeit zur Metakognition besitzen.(...)
Manuel Bohn vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen haben nun untersucht, ob die Primaten womöglich auch eine weitere kognitive Fähigkeit mit uns Menschen gemein haben: die der Metakognition. Sie wollten wissen: Können Menschenaffen ihre eigenen geistigen Zustände erkennen und überwachen?
(...)

"Unsere Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Komplexität und Flexibilität von Gedächtnisprozessen und der Überwachung eigener geistiger Zustände bei Menschenaffen", schließt Mitautor Josep Call. (Scientific Reports, 2017; doi: 10.1038/s41598-017-11400-z)
(Max-Planck-Gesellschaft, 11.09.2017 - DAL)


-

Die Leipziger Forscher machen weiter mit ihrer mentalistischen Philosophie in Begriffen wie „Wissen“, „Wissen über Wissen“ usw. Sie erwägen nicht, ob eine begrifflich sparsamere Erklärung des Verhaltens möglich ist. Daß Menschen über Kognition und Metakognition verfügen, wird ganz naiv als selbstverständlich angenommen. Das ist sehr bedauerlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.09.2017 um 05.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36269

Kurz vor der Bundestagswahl läßt man auch noch mal Frau Wehling mit ihrem "Framing" zu Wort kommen (Stern, FNP). Auch das angeblich herabsetzende -ling bleibt uns nicht erspart. Linguistin – Kognitionsforscherin – Politikberaterin (selbsternannt natürlich), aber niemand hört auf sie. So kann man die Wahl nicht gewinnen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.10.2017 um 06.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36464

Der Glaube an "mentale Modelle" ist so allgemein verbreitet daß er gar nicht mehr als besondere Annahme wahrgenommen, geschweige denn gerechtfertigt wird.

In a general semiotic sense, iconicity refers to an analogy or similarity between a sign and the concept in our cognitive model of the world which this sign represents.

Usw. – Ich habe aufgehört, Beispiele zu sammeln, es gibt fast gar nichts anderes mehr. Kein Linguist fragt sich, was ihn eigentlich zum Reden über "Mentales" qualifiziert. Wie schon gesagt, es ist die alte Scholastik mit ihrer Hypostasierung des Logischen zum Geistigen; daher die unangefochtene rationale Psychologie. Daß sie aus der Sprache herausgesponnen ist und daher nichts erklärt, wird nicht erkannt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2017 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36574

Nehmen wir an, die folgenden archäologischen Befunde sind richtig (auf Einzelheiten kommt es nicht an):

Menschen haben sich schon vor 70.000 Jahren geschmückt, etwa mit Muscheln, dann wieder vor 40.000 Jahren. Die Lücke zeigt zusätzlich, daß es sich nicht um einen angeborenen "Trieb" handelte, sondern um eine kulturelle Tradition, die auch mal abbrechen und wieder neu beginnen konnte.

Mentalisten deuten das nun so, wie ich es in einer bequemen Zusammenfassung zitieren möchte:

At a minimum, write Henshilwood and Dubreuil, we can infer that the inhabitants of Blombos Cave must have been attentive to how others saw and understood them. Taking this argument a stage further, the use of cosmetics and ornaments surely ‘‘suggests that one person can understand how she looks from the point of view of another person.’’ The ability to see oneself from the standpoint of others—‘‘to represent how an object appears to another person’’—is not a development continuous with primate self-centered cognition. Citing Michael Tomasello among others (Tomasello et al. 2003;Warneken and Tomasello 2006), the authors view it as a qualitatively new development, unique to humans and lying at the root of all linguistic comprehension and production. For one person to wear beads with a view to others’ appreciation of them is not necessarily to take the further step of actually talking about them. But in cognitive terms, the principle is already there. The wearer is forming not just a representation of her beads but a meta-representation. To construct representations of representations in this way—switching between alternative perspectives instead of remaining imprisoned in one’s own—is to discover the creative potential of recursion as a cognitive principle. Syntactical recursion, write Henshilwood and Dubreuil, is essential to the linguistic articulation of meta-representations of this kind. If this argument is accepted, the authors conclude, we are justified in inferring complex linguistic capacity from the evidence for personal ornamentation found at Blombos Cave. (Rudolf Botha/Chris Knight: The cradle of language. Oxford 2009:4f.)

Ich halte das natürlich für Unfug. Eine begrifflich sparsamere naturalistische Deutung könnte so aussehen: Eine Frau heftet sich eine besonders schöne Muschel an (aus welchen Gründen auch immer, man spielt halt so rum). Dadurch erregt sie die Aufmerksamkeit anderer. Das wirkt als Verstärkung, sie tut es öfter usw.

Der Empfänger des nun zum Zeichen gewordenen Schmucks verändert sich ebenfalls. Er deutet den Schmuck der Frau als Zeichen ihrer Kopulationsbereitschaft und reagiert regelmäßiger darauf usw.

Den modischen Schnickschnack mit "Repräsentationen" braucht niemand, beweisen kann man ihn sowieso nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2017 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36584

Im vorigen Eintrag berufen sich die Autoren mit Recht auf Tomasello, der heute wohl der bekannteste Vertreter der naiven mentalistischen Aufassung ist. Man fragt also, ab wann die Menschen Repräsentationen und Metarepräsentationen ("usw.", nicht wahr, "rekursiv"!) ausgebildet haben, setzt aber damit als selbstverständlich voraus, daß wir Heutigen all diese guten Dinge haben. Die Haltlosigkeit dieser Annahme kommt gar nicht in Sicht. (Nicht daß sie sachlich falsch wäre, sie ist einfach ein überflüssiger konventioneller Überbau.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2017 um 06.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36611

Die neuronalen Vorgänge, die schließlich zum Sprachverhalten führen, sind unendlich weit entfernt von allem Sprachlichen und Kalkülhaften. Die naive Psychologie und Neurosophie nimmt an, daß das Gehirn (oder der „Geist“) ganz ähnlich wie eine Person mit Zeichen und Regeln arbeitet, die irgendwie „gespeichert“ oder „repräsentiert“ sind. In Wirklichkeit steuern Millionen Zellen und Milliarden Verbindungen zwischen ihnen auf eine feuchte und schmutzige Weise makroskopische Bewegungen, darunter solche, die wir als Sprachverhalten deuten und in denen wir manchmal die soziale Disziplinierung „Logik“ entdecken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.10.2017 um 18.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36748

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28089

Wie Sherrington aus theoretischen Überlegungen die Synapsen postulierte, so Erich von Holst das "Reafferenzprinzip" und die "Efferenzkopien". Richtig beobachtet hat man sie bisher nicht. Die Darstellung bei Wikipedia ist sehr interessant, aber es gibt auch Schwächen:

„Bekannt ist seit langer Zeit, dass ein beabsichtigter Bewegungsablauf vom Assoziationskortex an den Motorkortex gemeldet wird, der die Muskeln zum Beispiel direkt (kortiko-spinaler Trakt) aktivieren kann, damit diese die benötigten Bewegungen ausführen (motor command).“ (Wikipedia „Reafferenzprinzip“)

Es ist ein begrifflicher Fehler, von einem „beabsichtigten Bewegungsablauf“ zu sprechen, Absichten wird man im Nervensystem nie finden. Die erste Phase der Entstehung eines Verhaltensimpulses wird nur verschleiert (wie die Postulierung einer "Absicht" als Anfang eines Sprachverhaltens).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.10.2017 um 11.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36773

In der „Logischen Propädeutik“ von Tugendhat/Wolf und in zahllosen anderen Büchern ist davon die Rede, daß ein Ausdruck „für“ etwas anderes „steht“. Es handelt sich also um einen Zeichenbegriff, der Zeichen durch Stellvertreterschaft (vornehmer „Repräsentation“) definiert. Aber wie könnte das sein, und was soll man sich überhaupt darunter vorstellen? Zugrunde liegt uneingestanden wohl die alte magische Auffassung der Namen, auf der auch Sprachmagie und Sprachtabu beruhen. Man darf „You-know-who“ nicht beim Namen nennen, sonst beschwört man seine Gegenwart herauf („Wenn man ihn nennt, kommt er gerennt“).

It is simply not true that an organism reacts to a sign „as it would to the object the sign supplants“. (Skinner) Bei vielen Wörtern kommt das von vornherein nicht in Betracht, und auch bei den „Namen“ ergeben sich viele Fragen, die bisher niemand beantworten konnte. Wäre denn anstelle des Namens auch der Namensträger in die Rede einfügbar? Natürlich nicht (man denke an Swifts Satire). Als was heißt Stellvertreterschaft hier? Ein Bild? Bilder sind entgegen einer verbreiteten Auffassung keine Zeichen. Wer sich statt der unerreichbaren Geliebten deren Bild auf den Schreibtisch stellt, genießt immerhin einen Teil der Freude, die ihm die Anwesenheit der Geliebten selbst verschaffen würde. Das ist also ein Ersatz, ein Surrogat, und das Verhalten ihm gegenüber ist ebenfalls eine Art Simulation (Verstellung, Versetzung). It is simply not true that an organism reacts to a sign „as it would to the object the sign supplants“. (Skinner)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.10.2017 um 11.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36774

Nehmen wir jahreszeitgemäß folgenden Satz:

Das muß ein Fliegenpilz sein.

Der Verhaltensabschnitt Fliegenpilz wird durch einen Fliegenpilz in Zeigrichtung gesteuert. Das Modalverb gibt zu verstehen, daß die Aussage aus Indizien gefolgert ist, wahrscheinlich durch einen roten Hut, weiße Flocken, Manschette...

Du sollst keine Fliegenpilze essen.

Fliegenpilz wie zuvor, doch kommt auch eine umwegige Steuerung in Betracht, wie anderswo besprochen. (Der Fliegenpilz muß nicht anwesend sein, aber eine Verbindung zu etwas Anwesendem dürfte bestehen.) Das Modalverb gibt zu verstehen, daß die Aufforderung, keine Fliegenpilze zu essen, nicht zum erstenmal ergeht, sondern nur in Erinnerung gerufen wird.

Usw. – Wo sollte da "etwas für etwas anderes stehen"? Die anderen Wörter im Satz sind Funktionswörter, von denen man das ohnehin noch nie behauptet hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2017 um 06.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36781

Gudrun Spitta, Grundschuldidaktikerin:
Mit der für das kindliche Gehirn charakteristischen Entdeckerlust finden Kinder bei ihren persönlichen Schreibversuchen als erstes das fundamentale Prinzip unserer Rechtschreibung heraus, die weitgehende Lauttreue unseres Schriftsystems. Sprachstatistisch belegt ist, dass als Basis unserer Orthografie immerhin 70 bis 80 Prozent unserer Wörter lauttreu verschriftet werden (Naumann 1989, 2015; Thomé 2011). In ihren frühen Wortkonstruktionen schreiben die Kinder nicht einfach „nach Gehör“. Sie setzen vielmehr ihren detektivischen Spürsinn ein, um die Lautfolge eines Wortes zu analysieren. Das geschieht, indem sie bei jedem Schreibversuch die für sie wahrnehmbaren Laute bewusst vor sich hinsprechen und dann nach einem möglicherweise ihnen bekannten passenden Buchstaben dafür suchen. Damit schulen die Kinder ihre phonologische Bewusstheit, die Fähigkeit zur Lautdiskrimination. (http://www.news4teachers.de/2017/10/von-der-kinderschreibweise-und-der-erwachsenenschreibweise-auf-den-spuren-der-rechtschreibung/)

Spitta dilettiert noch weiter in mentalistischer Psychologie, hält auch den „Aufbau innerer Regelsysteme“ für eine Wirklichkeit. Einige Leser protestieren, wissen aber auch nicht viel.
Niemand kann „nach Gehör“ schreiben, wenn man es rein akustisch meint. Schon die Segmentierung geht darüber hinaus, erst recht die phonologische Kategorisierung, die am Ende des zitierten Abschnitts vorkommt, aber bis zur Unkenntlichkeit versteckt. – Nur darum kann man darüber streiten, ob 7 oder 70 % der Wörter "nach Gehör" geschrieben werden können.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2017 um 07.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36825

Lücken in der Wahrnehmung, z. B. unvollständige Gestalten wie bei optischen Täuschungen oder beim blinden Fleck im Gesichtsfeld werden, wie man sagt, „aktiv ergänzt“ (Wahrnehmungsergänzung). Aber ist das eine zutreffende Darstellung? Wir nehmen keine Lücke im Gesichtsfeld wahr, aber bedeutet das, daß der blinde Fleck ausgefüllt wird? Ein Objekt, dessen Abbild auf den blinden Fleck fällt, kann unser Verhalten nicht steuern. Aber die Ergänzung, die unser Wahrnehmungsapparat normalerweise vornehmen soll, steuert das Verhalten ebenfalls nicht – außer daß wir eben auf Befragen sagen, daß wir kein schwarzes Loch sehen. Aber das Nichtreagieren ist nicht dasselbe wie das Reagieren auf ein Nichts (eine Lücke, ein Loch).
Das Ausfüllen von Lücken, die „Gestaltschließung“, ist von großer allgemeiner Bedeutung, weil man die Bildung und Bestätigung von Aberglauben (Marienerscheinungen, Astrologie usw.) und Vorurteilen ebenfalls auf solche Mechanismen zurückführt. Zum alten Thema „Faces in the clouds“ vgl.:
https://www.youtube.com/watch?v=VqyPi-SFRio
https://www.youtube.com/watch?v=kNYird8TqLY
und viele andere. Es ist lächerlich, aber trotzdem ernst zu nehmen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2017 um 04.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36902

Die sogenannte empirische Ästhetik zieht gern Informationstheorie und Neurologie als Hilfswissenschaften heran. Die "Entropie" eines Textes soll mit seiner Wertschätzung zu tun haben usw.
Ich habe fast immer den Eindruck, daß dies eine Art Hochstapelei ist.
Die "Abweichungsstilistik" gehört auch hierher. Wenn in einem Text steht Der Patient kotzt, dann kann man zwar salopp sagen, das habe man "nicht erwartet". Aber das heißt nicht, daß man etwas anderes erwartet hat – man wußte ja noch gar nicht, was der Patient tat und wie folglich der Bericht weitergehen würde (also vielleicht Der Patient übergibt sich). Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Formen läßt sich also gar nicht berechnen, jedenfalls nicht bei größeren Formaten als den Buchstaben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2017 um 06.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36984

Zur Metapher der "Speicherung" im Gehirn:
Die Verhaltenseinheiten, die wir ständig aktivieren, also auch Wörter, werden durch das Gehirn gesteuert, aber nicht durch lokalisierbare Zellen, die irgendeine Ähnlichkeit mit Lexikoneinträgen hätten. Ihre "Entsprechungen" im Gehirn haben keinen unterscheidbaren Ort, wohl aber eine "Adresse" im Sinne der Informationsverarbeitung.
Ich verweise auf das interessante Stichwort "Großmutterneuron" bei Wikipedia. (Dagegen ist das verwandte "Engramm" verbesserungsbedürftig.)
Die Sache ist wichtig, weil sie auf das "Lernen mit allen Sinnen" verweist. Sprachsimulation durch Computer hinkt hinterher, solange es dafür kein Äquivalent gibt (wenn der Computer nun schon nicht selbst durch die Welt wandern und Erfahrungen sammeln kann; aber das kommt vielleicht noch).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2017 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36985

Dazu eine Spekulation: Wir verhalten uns immer irgendwie, solange wir leben. Der nächste Schritt ist also immer eine Fortsetzung. Wenn wir morgens aufwachen, fahren wir das System nicht neu hoch, sondern entsperren bloß (Snooze-Taste), denn im Schlaf haben wir uns auch verhalten, sehr intensiv sogar, nur eben kaum "efferent".

Wie ist es mit Hirntoten, die wieder zu sich kommen? Robert F. Schmidt vermutet, daß die vermeintlichen Nahtoderfahrungen typische Erscheinungen des Aufwachens sind.

Das Muster von Millionen erregenden und hemmenden Synapsen bleibt eine kurze Weile erhalten, auch wenn die Energiezufuhr (Blutversorgung) unterbrochen ist. Das scheint auszureichen, damit man sich wieder zurechtfindet, essen und trinken kann usw.

Die redundante "Speicherung" (s. Eintrag zu Großmutterneuron) macht es möglich, daß begrenzte Ausfälle (Schlaganfall mit Aphasie) mit der Zeit ausgeglichen werden. Ein Hauptproblem ist es, die Restbestände wieder zeitlich zu koordinieren, so daß dem Aphatiker die passenden Formen an den passenden Stellen "einfallen". Sie sind nachweislich alle noch vorhanden, aber durch den Ausfall von Hirnsubstanz nicht mehr richtig koordiniert. Gerade hier sind aber erstaunliche Erfolge möglich. Das wirft, wie immer, auch ein Licht auf nichtpathologisches Sprechen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2017 um 08.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37035

Vor fast 50 Jahren kannte ich einen netten Studenten, der sich nur leider in den Kopf gesetzt hatte, "bewußt zu atmen". Die Unterhaltung war etwas schleppend, weil er vor jeder Antwort bewußt atmete.
Heute gibt es viele Menschen, die vor lauter "Achtsamkeit" gar nicht mehr spontan sein können. Man fühlt sich ständig wie in einer Therapiesitzung. Auch praktizieren sie das nicht nur, sondern reden auch so gern darüber wie über nichts anderes.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2017 um 06.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37039

Imre Somogyi: Die Sprache der Zehen (drei Bände)

Davon habe ich bisher nichts gewußt, hätte es mir aber denken können.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.11.2017 um 09.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37040

Im Ungarischen »Fußfinger«.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2017 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37044

Dieses Wahnsystem geht wohl auf das ebensolche namens Reflexzonen(massage) zurück. Überall derselbe Beziehungswahn, in Verbindung mit der Idee einer "Abbildung" des ganzen Körpers in seinen Teilen, des Großen im Kleinen. Ernährt Tausende.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.11.2017 um 22.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37060

Die Ungarn mögen Finger an den Füßen haben, dafür ziehen wir Schuhe über die Hände.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.11.2017 um 14.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37068

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28064

Das Hamburger Verständlichkeitskonzept hat seine Verdienste, obwohl es begrifflich unbefriedigend und überhaupt mehr alltagspsychologisch orientiert ist; sprachwissenschaftlich kann man damit nicht arbeiten.

Das Verdienst besteht hauptsächlich darin, die Verständlichkeit überhaupt so stark ins Bewußtsein gerückt zu haben. Dazu besonders deutlich bei Langer der Hinweis, daß es weniger um die Einzelheiten als um die gesamte Haltung oder Einstellung zur Sprache und damit zu den Mitmenschen geht.

Unverständlichkeit von Texten beruht entweder auf Ungeschick oder auf Imponierverhalten oder auf "Lust am Unsinn" (Nietzsche) und am Weihrauch der Erbaulichkeit. Daraus geht schon hervor, was man jeweils dagegen tun könnte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.11.2017 um 04.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37099

„(...) die Annahme bestimmter vorsprachlicher Ausstattungen des Kindes (...), die ihm bei der Erlernung des sprachlichen Regelsystems zugute kommen. Ohne diese Annahme wäre es nicht zu erklären, daß Kinder ein so komplexes System vergleichsweise rasch erlernen können." (Andreas Hamburger: Entwicklung der Sprache. Stuttgart 1995:125)

Aber es gibt keinen "Vergleich". Und natürlich kann ein leerer Kasten nichts lernen. Und überall die undurchdachte Voraussetzung, daß "Regeln" gelernt werden.

(Das Buch enthält einige gute Beobachtungen, aber auch viel psychoanalytische Phantasterei.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.11.2017 um 05.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37100

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32995

In der aktuellen Publikation konnte die Hirnforscherin 79 Bewerber um eine Londoner Taxilizenz zweimal kernspintomographisch untersuchen: einmal vor dem Training und einmal nach der Prüfung, die nur 39 Bewerber bestanden. Nur bei ihnen, nicht aber bei den 40 durchgefallenen Kandidaten und auch nicht bei 31 Kontrollpersonen kam es zur Vergrößerung des hinteren Hippocampus. (Ärzteblatt 9.12.11)

Ich glaube sowieso nicht an diese Studien, aber dies ist nun wirklich ganz unwahrscheinlich: Sollten die durchgefallenen Kandidaten wirklich soviel weniger gelernt haben, daß es sich anatomisch im sehr kleinen Hippocampus nachweisen ließe? (Man könnte sich die zeitraubenden akademischen Prüfungen in Zukunft sparen: Ab in den Kernspintomographen!)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2017 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37143

Wie ich gerade lese, ist der Kriminologe (Jurist) Christian Pfeiffer weiterhin in Talkshows zugange. Dazu eine Erinnerung:

Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, geht davon aus, dass es sich bei den Tätern um Menschen handelt, "die unter ihrer eigenen Ohnmacht leiden und die einmal die Puppen tanzen lassen wollen." Politische Ziele verfolgten die meistens jugendlichen Täter beim Anzünden von Autos nicht. "Das ist blinder Aktionismus. Die Täter sind Menschen, die wenig Selbstwirksamkeit erfahren konnten, die im Alltag wenig Erfolg haben oder gescheitert sind." Pfeiffer bezeichnet diesen Tätertyp als "ich-schwach". Die jungen Männer verfügten über wenig Selbstbewusstsein. Das Anzünden von Autos ist aus Sicht des Experten beliebt unter Nachahmern, weil das Risiko erwischt zu werden, gering sei. "Aus sicherer Entfernung" verfolgten die Täter die Folgen ihrer Tat. "Die Polizei kommt, die Feuerwehr rückt an, das löst ein Gefühl von Macht aus, wo es vorher nur Ohnmacht gab", sagte Pfeiffer. (RP online 24.8.11)

Ich-Schwäche ist eine aus der psychoanalytischen Instanzenlehre von Sigmund Freud abgeleitete Pathologie. Aus dem Zusammenspiel der ICH-Instanz mit den Instanzen ES und ÜBER-ICH sowie den Forderungen der Realität können psychische Störungen auftreten. Kann das Ich mit vernünftigen und realitätsgerechten Entscheidungen zwischen den divergierenden Anforderungen vermitteln, liegt eine Ich-Stärke vor. Unterliegt es hingegen einer der beiden anderen Instanzen oder passt es sich umstandslos den Anforderungen der Realität an, handelt es sich um Ich-Schwäche. (Wikipedia)

Die Instanzenlehre wird außerhalb der Sekte nicht ernst genommen.

In diesem Zusammenhang wird Anna Freud erwähnt. Im völlig unkritischen Eintrag bei Wikipedia heißt es:

Anna Freud wurde zunächst Lehrerin und unterrichtete von 1917 bis 1920 am Wiener Billrothgymnasium, doch galt ihr Interesse schon früh der Psychoanalyse. Sie absolvierte eine Lehranalyse bei ihrem Vater und wurde schließlich selbst als Psychoanalytikerin tätig; 1923 eröffnete sie in der Berggasse 19 neben den Räumlichkeiten ihres Vaters ihre eigene Praxis.

(Freud selbst war immerhin noch Arzt gewesen, wenn auch kein guter – wie er selbst gestand.)

Freud als Psychoanalytiker seiner eigenen Tochter, das ist, was man eine „inzestuöse“ Analyse nennt. Ein im Grunde unzulässiger Vorgang. Doch Freud steht über den Regeln, die er selbst erlassen hat. (Jacques Van Rillaer in: Anton Leitner/Hilarion Petzold, hg.: Sigmund Freud heute: Der Vater der Psychoanalyse im Blick der Wissenschaft und der psychotherapeutischen Schulen. Wien 2009:186)

Dort auch über die lächerliche Selbstanalyse, die schon Jung ihm höhnisch vorgehalten hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2017 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37239

Die FAS widmet eine ganze Seite dem Fremdsprachenlernen in hohem Alter. Allerlei "kognitive" Fähigkeiten usw., Wachstum des Hippocampus - auch die legendären Londoner Taxifahrer dürfen nicht fehlen. Zitiert werden Veteranen der Spracherwerbsforschung, die schon in meinen jüngeren Jahren ihre felsenfeste Auffassung vertraten. Das kann man sich alles schenken.
Interessant ist allenfalls die Frage: Wie groß ist der Anteil unserer Fertigkeit, eine Fremdsprache zu beherrschen, an allen Fertigkeiten überhaupt? Ein Drittel? Ein Tausendstel? Ich könnte 14 Sprachen gelernt haben. Beansprucht das mehr Hirn als mein gesamtes Wissen über die Länder der Erde? Oder meine Menschenkenntnis, was immer das sein mag? Oder meine Fähigkeit, ein Lied summend und mit einem vollen Kaffeebecher die Treppe hinaufzusteigen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2017 um 05.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37240

Ein Sieb weiß, wie groß die Körner sind, die darin hängenbleiben. Soviel zu „propositionalem Wissen/Gedächtnis“.
Das Kind lernt greifen, mit jedem Tag und Hunderten von Versuchen zielgerechter. Es „weiß“, wie weit die Gegenstände entfernt und wie groß, schwer und fest sie sind. D. h. es kann später aus seinem eigenen motorischen Verhalten eine solche Aussage ableiten (als sprachliches Begleitverhalten zum eingeübten primären).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.12.2017 um 04.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37274

Kanadische Forscher haben festgestellt, daß 3D-Computerspiele Demenz vorbeugen helfen könnten. Weitere Forschungen sind erforderlich.
Wieder mal sollen Teile des Hippocampus gewachsen sein, wie bei den Londoner Taxifahrern.
„Eine zweite Gruppe sollte am Computer über das halbe Jahr hinweg regelmäßig Klavier üben.“
Wie geht denn das? Ich möchte auch gern richtig Klavier spielen können.
Anderswo stand erst am Wochenende, daß Fremdsprachenlernen im Alter ebenfalls diese Wirkung haben könnte (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37239). Der Hippocampus ist eine richtige Wundertüte, nur vergleichbar mit den Medien, die darüber berichten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2017 um 11.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37299

Für die Psychologin Herta Flor (FAZ 13.12.17) ist es ausgemacht, daß traumatische Erlebnisse das Erbgut verändern, so daß noch weitere Generationen unter einer Anfälligkeit für Depressionen usw. leiden. Das ist, soweit ich weiß, ganz unsicher. Die bisherigen Stichproben (Holocaust-Opfer u.ä.) sind zu klein, die alternativen Erklärungsmöglichkeiten zu schwer auszuschalten, und daß Genschäden so gezielt eintreten, daß ausgerechnet ähnliche Symptome wie bei den primären Opfern sich manifestieren, ist auch nicht eben wahrscheinlich. Diese Art von Epigenetik muß sehr kritisch gesehen werden. Zufällig steht im selben Wissenschaftsteil ein Beitrag über das Wiederaufleben Lyssenkos in Rußland, mit Hinweis auf die Instabilität epigenetischer Mutationen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2017 um 17.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37341

"Israelische Forscher haben jene Regionen des Gehirns ausfindig gemacht, die für das Verstehen von Ironie und Sarkasmus verantwortlich sind. Demnach liegt die Fähigkeit ironische oder sarkastische Bemerkungen richtig zu interpretieren im vorderen Hirnbereich. Die Psychologen der Haifa University http://www.haifa.ac.il stellten fest, dass eine Beschädigung dieses Bereichs zu Ironie-Unverständnis führt. Die Ergebnisse der Studie, die in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Neuropsychology http://www.apa.org/journals/neu.html erschienen sind, liefern möglicherweise neue Aufschlüsse über die Charakteristika von Autismus."

Abgesehen vom typischen Trugschluß ist das wieder mal zu hoch gegriffen. Ironie, Sarkasmus usw. sind sprachbezogene, kulturell geprägte Begriffe, die sich nicht direkt mit Untersuchungen des Gehirns in Beziehung setzen lassen. Man muß biologischer herangehen. Etwa über das Verstellungsverhalten, auch schon vorsprachlich.
Näheres hier:
http://www.hanen.org/Helpful-Info/Articles/Encouraging-Pretend-Play-in-Children-with-Autism.aspx
https://www.verywell.com/autistic-child-play-challenges-3971495
und viele andere Arbeiten über Verstellung und Autismus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.12.2017 um 05.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37355

Ein Neurochirurg hat eine Nahtoderfahrung und weiß seither, daß es ein Leben nach dem Tode gibt:
Was mir passierte, während ich im Koma lag, ist zweifellos die wichtigste Geschichte, die ich jemals erzählen werde.
Als praktizierender Neurochirurg, der jahrzehntelang geforscht und praktisch im Operationssaal gearbeitet hat, bin ich in einer überdurchschnittlich guten Position, um nicht nur die Realität zu beurteilen, sondern auch die Tragweite dessen, was mir passiert ist.
Diese Tragweite ist so gewaltig, dass es sich nicht beschreiben lässt. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass der Tod des Körpers und des Gehirns nicht das Ende des Bewusstseins ist - dass die menschliche Erfahrung über das Grab hinausgeht. Und was noch wichtiger ist: Es dauert unter dem Blick eines Gottes fort, der jeden von uns liebt, der sich um uns alle kümmert und darum, wohin das Universum selbst und alle Wesen in ihm letztendlich gehen.

Wenn das ein Neurochirurg sagt, wird es wohl stimmen.
Gut zu wissen ist auch, daß die Greuel dieser Erde letztlich doch einen Sinn haben, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Aber was hat er im pinkfarbenen Himmel eigentlich gesehen: A beautiful young woman accompanied him during his stay, she was young, and I remember what she looked like in complete detail. She had high cheekbones and deep-blue eyes. Golden brown tresses framed her lovely face. Solche Schilderungen haben natürlich skeptische Kommentare hervorgerufen.
Der Himmelsbesucher Eben Alexander ist auch als Neurochirurg umstritten. Die Nahtod-Gesellschaft verteidigt ihn; seine Frau Holley ist auch dabei.
Stilistisch sind alle diese Bücher einander sehr ähnlich, was aber nicht als Beweis ihrer Wahrheit gelten kann.

In einer weitreichenden Untersuchung von Alexanders Geschichte und seinem medizinischen Hintergrund berichtet das Magazin Esquire (Ausgabe August 2013), dass vor der Herausgabe von Blick in die Ewigkeit Alexander von einigen seiner Stellen entlassen worden war oder diese selbst gekündigt hatte, und dass er dabei mehrfach wegen Fehlbehandlungen (5 innerhalb von 10 Jahren) angeklagt war. Darüber hinaus umfassten die Klagen auch mindestens zwei Aktenfälschungen der medizinischen Unterlagen wegen Behandlungsfehlern. Die Verfahren wurden durch Vergleiche und Bußgelder beigelegt. Seit 2007 ist ihm die Erlaubnis zu operieren entzogen. Auch widerspricht Alexanders Darstellung in seinem Buch, dass sein Koma durch eine schwere bakterielle Meningitis hervorgerufen war und er keine höheren Hirnfunktionen mehr hatte, der Aussage seiner behandelnden Ärztin, dass er durch Medikamente in ein künstliches Koma versetzt worden sei. Die Behauptung seiner absoluten Bewusstlosigkeit zum Zeitpunkt seiner Nahtoderfahrung wird von der Ärztin nicht bestätigt. Stattdessen soll er ansprechbar, aber im Delirium gewesen sein (Conscious but delirious. S. 16/20). (Wikipedia, korrigiert)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.01.2018 um 05.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37431

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#28920

Im jüngsten Heft des "Skeptikers" kritisiert Uwe Peter Kanning (nicht zum erstenmal) die Verfahren der Personalauswahl, die sich neuerdings höchst eindrucksvoll des Computers bedienen, um Persönlichkeitsmerkmale von Bewerbern festzustellen. Er regt an, stattdessen die bisherigen Leistungen heranzuziehen. Als völlig Fachfremder habe ich mir in vielen Jahren dieselbe Meinung gebildet, angeregt von okkultistischen Verfahren. Eine verrückt gewordene Psychologie (um mal diese Tautologie zu verwenden) gibt sich vergeblich Mühe, aus Persönlichkeitszügen (die immer rücksichtsloser ermittelt werden) das künftige Verhalten vorauszusagen; davon lebt die überdimensionale Assessment-Wirtschaft. Einfacher, billiger und zuverlässiger wäre es, jedem eine Chance zu geben, sich unter wachsender Verantwortung zu bewähren. Aber wie bei Kaffeesatzleserei usw. wird die Testgüte nie objektiv ermittelt, oder das Ergebnis wird nicht zur Kenntnis genommen. Das ist wie bei den Prognosen, die jetzt zum Jahreswechsel wieder auf uns niedergehen. (Das neueste sehr geschickt vermarktete Produkt ist die automatische Sprachanalyse, die die nicht manipulierbaren physikalischen Merkmale der Sprechstimme wie einen „Fingerabdruck“ mit Dutzenden von schlecht definierten laienpsychologischen Persönlichkeitsmerkmalen korreliert. Das Verfahren ist, wie Kanning zeigt, wissenschaftlich indiskutabel und praktisch wertlos. Die höchste Prognosesicherheit habe, abgesehen von der bisherigen Leistung, immer noch ein traditioneller Intelligenztest.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.01.2018 um 08.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37433

Das neueste sehr geschickt vermarktete Produkt ist die automatische Sprachanalyse, die die nicht manipulierbaren physikalischen Merkmale der Sprechstimme wie einen „Fingerabdruck“ mit Dutzenden von schlecht definierten laienpsychologischen Persönlichkeitsmerkmalen korreliert. Das Verfahren ist, wie Kanning zeigt, wissenschaftlich indiskutabel und praktisch wertlos. Die höchste Prognosesicherheit habe, abgesehen von der bisherigen Leistung, immer noch ein traditioneller Intelligenztest.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2018 um 07.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37446

Haben Tiere Gefühle? (FAS-Sonderteil 31.12.17) Haben denn Menschen Gefühle – wie offenbar stillschweigend vorausgesetzt wird? Man kann es nicht bestreiten, folglich kann man es auch nicht behaupten. Die Redeweise ist einfach ein Teil der deutschen Sprache. Wenn Menschen keine Gefühle haben, dann wissen wir nicht, was Gefühl bedeutet, dann können wir eben kein Deutsch. So kann die Frage eigentlich nur lauten, wie zweckmäßig es ist, auch Tieren Gefühle zuzuschreiben – keine Tatsachenfrage, die sich empirisch beantworten ließe. Die Ersetzung durch das Fremdwort Emotion macht die Diskussion scheinbar wissenschaftlicher. Darauf sollte man sich nicht einlassen. Gefühl ist ein Teil der deutschen Folk psychology und nicht wissenschaftsfähig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.01.2018 um 16.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37523

Nach Aristoteles nehmen wir zugleich auch wahr, dass wir wahrnehmen (aisthanometha hoti horômen kai akouomen De anima III 2, 425b 12; De memor. 1; De somn. 2). (Wikipedia "Gemeinsinn", angepaßt)

Das kann nicht sein.

Erstens gibt es kein Organ, mit dem wir wahrnehmen könnten, daß wir wahrnehmen.

Zweitens: Wir nehmen wahr; wir nehmen wahr, daß wir wahrnehmen; wir nehmen wahr, daß wir wahrnehmen, daß wir wahrnehmen usw. – An keiner Stelle läßt sich das bestreiten, der Strudel der Rekursivität ist nicht aufzuhalten. Also kann da etwas nicht stimmen.
Gerade weil es – aus sprachlichen, logischen Gründen – nicht bestritten werden kann, kann es nicht wahr, sondern muß sinnlos sein.

(Dasselbe funktioniert mit glauben, wissen usw.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.01.2018 um 09.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37534

That we already know what a person is and what thinking, remembering, imagining and perceiving are is manifest, not in our grasp of any theory which could compete with theories propounded in science or philosophy, but in our competence in using a shared language of mentality in the ordinary circumstances of life. That we are competent users of this language is a presupposition of the cognitive sciences; if we were not we would have no idea at all of what there is for a neuroscience or a cognitive science to achieve, for we would not be able to say what the point of these forms of inquiry is. (JonathanTrigg/Michael Kalish: Explaining how the mind works: on the relation between cognitive science and philosophy)

Gut gesagt (an Peter S. Hacker angelehnt). Ich arbeite mich ja auch an solchen Sätzen ab, die nur scheinbar Tatsachenfragen aufwerfen, in Wirklichkeit aber Fragen der Sprachbeherrschung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.01.2018 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37549

Das heißt, jeder Mensch ist mehr oder weniger Narzisst?

Genau. Es handelt sich um eine ganz normale Persönlichkeitseigenschaft; der amerikanische Präsident befindet sich nur eben sehr weit am Ende der Skala. Das freilich kann man eindeutig feststellen, ohne gleich von einer Krankheit sprechen zu müssen.


Usw. – aber warum fragt „Spektrum“ dann überhaupt einen Psychiater, ob „Trumps Narzissmus gefährlich“ ist? Der Glaube, daß die Ansichten von Psychiatern über die Arbeit in ihrer Praxis hinaus von allgemeinem Interesse sein könnten, ist der Irrtum unserer Zeit. – Immerhin fragt ein Leser, warum man nicht auch Obama auf diese Art von Couch gelegt hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.01.2018 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37611

Während Neugeborene noch alle rund 70 Phoneme der menschlichen Sprachen unterscheiden können, geht diese Fähigkeit im Laufe des ersten Lebensjahrs erst einmal verloren. (Françoise Hauser: Gebrauchsanweisung Chinesisch. Stuttgart 2015:25) (Bezieht sich auf Spitzer: Lernen.)

Die Aussage ist sprachwissenschaftlich sinnlos, da "Phoneme" immer nur in bezug auf ein bestimmtes Sprachsystem definiert sind. Es ist ein theoretischer Begrriff. Wie viele verschiedene Laute (!) die Menschen überhaupt und die Neugeborenen unterscheiden können, ist nicht bekannt.

Die Zahl 70 geistert durch sehr viele Texte. Vielleicht hat mal jemand geschrieben, daß die meisten Sprachen mit maximal 70 Phonemen auskommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2018 um 04.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37631

„Vielmehr geht sie (die Zwangsneurose) auf eine spezifische Störung der Planungsfunktionen des Gehirns zurück und spricht ziemlich gut auf Medikamente an. Begleitet ist sie von einer abnormen Aktivierung der Hirnareale, die die Verbindung zwischen Plänen und Emotionen herstellen.“ (Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott. Stuttgart 2011:293f.)

Im Gehirn gibt es keine Pläne und auch keine Emotionen, folglich auch keine Verbindung zwischen ihnen. Der Neurowahn treibt seltsame Blüten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2018 um 07.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37638

Wie fühlt Einsamkeit sich an?
Es ist wirklich ein Schmerz. Hirnscans zeigen, dass dieselben Areale aktiv sind wie bei körperlichen Schmerzen.
(FAS 21.1.18, Interview mit Psychologin Maike Luhmann)

Hirnscans bestätigen jede Theorie. Das ist eine Folge der Methode. Manche glauben, daß es für eine Theorie spricht, wenn sie nicht widerlegt werden kann.

Gegen Einsamkeit empfiehlt die Professorin, „bewusst neue Kontakte zu knüpfen“. „Einfach mal überlegen: Was sind meine Interessen, und wo finde ich andere, die diese Interessen teilen? Das kann ein Sportverein sein, ein Chor, eine ehrenamtliche Initiative.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2018 um 07.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37689

Neurologen erklären uns, niemand sei für sein Verhalten verantwortlich, und für diese Erkenntnis lassen sie sich ein Gehalt zahlen, als sei es ihr Verdienst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2018 um 07.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37768

Die Strichfolge gibt einen Schreibrythmus (!) vor, der sich im Kopf abspeichert. (Hefei Huang/Dieter Ziethen: Chinesische Elementarzeichen 1. Gröbenzell 2015:9)

Das Speichermodell fügt nichts hinzu, es bleibt modischer Schnörkel. Die Verfasser wissen ja auch gar nichts darüber.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.02.2018 um 16.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37791

Der Einfluß dieser Auffassung war so groß, daß Freud, als er die Annahme der Existenz unbewußter geistiger Prozesse vorschlug, damit anfänglich auf entschiedenen Widerstand und völliges Unverständnis stieß. (Douglas Hofstadter: Einsicht ins Ich. Stuttgart 1992:19)

Im Gegenteil, diese Lehre war allgemein verbreitet. Widerspruch erntete Freud mit seiner Fixierung auf Sexualität und mit der windigen Methode seiner „Psychoanalyse“. Besonders unter Nichtmedizinern fand die Psychoanalyse sofort viele Anhänger. Hofstadter ist ein Opfer der von Freud in die Welt gesetzten Legende von den "drei Kränkungen" (Kopernikus, Darwin, Freud).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2018 um 15.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37804

Ich spreche zwar gern von "Konstrukten" und definiere sie manchmal als "nützliche Fiktionen", aber eigentlich weiß ich nicht genau, was ein Konstrukt ist. Es ist auch nicht einheitlich definiert.

Dennett benutzt das Gravitationszentrum als Beispiel für ein Konstrukt ("Abstraktum" nach Reichenbach).

It is a purely abstract object. It is, if you like, a theorist’s fiction. It is not one of the real things in the universe in addition to the atoms. But it is a fiction that has nicely defined, well delineated and well behaved role within physics.

So dann auch das "Selbst".

Sind der Nordpol und der Äquator Konstrukte? Man sieht sie nicht und riecht sie nicht, wenn man hinfährt. Aber bestimmte Instrumente verhalten sich so, daß man sie doch für operational definiert halten kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2018 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37810

Amerikanische Forscher haben herausgefunden:

Sollten sich die Resultate (von Ratten) auf den Menschen übertragen lassen, wovon die Forscher ausgehen, würde das bedeuten: Wer sich oft und lange in schwach beleuchteten Räumen aufhält, könnte auf Dauer verdummen. Deshalb Panik bekommen muss aber niemand, denn weitere Tests zeigten, dass der Effekt durch den Aufenthalt in hellen Räumen umkehrbar ist.

Man könnte erwägen, die psychologischen Institute besser auszuleuchten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2018 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37811

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24586

„In der philosophischen Psychologie geht es darum, die Begrifflichkeit zu analysieren, mit der wir im Alltag über mentale Phänomene reden. Dazu gehört die Analyse einzelner mentaler Begriffe wie Wahrnehmen, Erinnern, Empfinden, Bewußtsein, Gefühl, Überzeugung, Absicht und Überlegen. Dazu gehört aber auch der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es ein spezifisches Merkmal des Mentalen gibt. Schließlich geht es in der philosophischen Psychologie darum, welche Hauptarten mentaler Phänomene man unterscheiden kann und wie diese charakterisiert sind.“ (Ansgar Beckermann: Artikel „Philosophie des Geistes“ in: Enzyklopädie der Philosophie, Band 2, hg. von H. J. Sandkühler. Hamburg 1999:1154-1159; S. 1155)

Das kann nur ein Ausdeuten der alltagspsychologischen Redeweise sein. Warum sollte etwas anderes als die Sprachwissenschaft dafür zuständig sein? Die „Philosophie der normalen Sprache“ hatte recht: Die „psychologischen“ Ausdrücke der Alltags- und Bildungssprache sind ein Flickenteppich (Patchwork, wie Searle mit Recht sagt) aus Teilen, die aus verschiedenen Epochen stammen, zur Lösung lokaler Verständigungsprobleme gefunden wurden und sich dort auch mehr oder weniger bewährt haben, aber nicht systematisiert werden können und nicht wissenschaftsfähig sind. Eine philosophierende Psychologie (oder auch umgekehrt) macht aus dem Modalverb wollen eine Theorie der Wollungen usw. (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1651#37513) – gegenüber diesen Verirrungen muß man darauf bestehen, daß die Wörter ihre Daseinsberechtigung ausschließlich im wirklichen Gebrauch finden und daher in ihrem natürlichen Habitat belassen werden sollten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2018 um 08.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37813

Noch ein Beispiel von Neurowahn:

„Tatsächlich gelangen den Wissenschaftlern in jüngerer Zeit weltweit atemberaubende Fortschritte hin zu einem besseren Verständnis des menschlichen Gehirns und seines Produkts, des menschlichen Geistes.“ (Richard F. Thompson: Das Gehirn. Heidelberg 2001:1)

Das Gehirn ist ein konkreter Gegenstand, der Geist ist ein Konstrukt. Kategorienfehler oder semiotischer Bastard. Das „Produkt“ des Gehirns ist allenfalls das von ihm gesteuerte Verhalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2018 um 06.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37930

Auch Neandertaler vor über 60.000 Jahren bemalten schon die Wände, wenn auch nicht gegenständlich (aber warum wird das verlangt?). Schmuck haben sie auch angefertigt, aber das weiß man schon lange.

„Der in Barcelona lehrende portugiesische Paläoanthropologe, der an beiden aktuellen Veröffentlichungen beteiligt war, ist überzeugt, dass der Neandertaler unserer Art kognitiv ebenbürtig gewesen sein muss.“ Andere bestreiten es, aber in dieser mentalistischen Fassung ist das Problem unlösbar.

„Und es verstößt nicht gegen die Würde eines Menschen wie eines Neandertalers, wenn man ihn, obgleich er malt, deshalb noch nicht als Künstler bezeichnet.“
Ja, schon gut. (Früher hat man auch noch diskutiert, ob Jesus auch für sie gestorben ist und in welchem Kreis der Hölle sie allenfalls milde gefoltert werden.)

Es ist naiv bis lächerlich, den autonomen Kunstbegriff in andere Zeiten und Gegenden zu projizieren. Ist jemand, der sich einen Fetisch anfertigt, ein Künstler? Zufällig trifft es sich, daß ein ausgestelltes und dann abgehängtes Bild diskutiert wird, das den türkischen Staatspräsidenten mit einer Banane im nackten Hintern darstellt. War der Neandertaler diesem deutschen Künstler "kognitiv ebenbürtig"? Moralisch sicherlich, zumal es den heutigen Künstler nicht gerade als besonders mutig erscheinen läßt. Warum hat er nicht zum Beispiel Steinmeier gewählt?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2018 um 17.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37935

Wie beginnt die Entstehung der Rede?

„Gegeben ist ein hochaktivierter bzw. im Arbeitsspeicher zugänglicher kognitiver Inhalt (concept), oft eine mental repräsentierte Person, eine geographische Gegebenheit o. dgl. Wir sprechen vom Ausgangskonzept.“ Usw. (Theo Herrmann in Sprache & Kognition 11,4,1992)

Ich übersetze: „Ich weiß, was ich sagen will.“

Neuronen können aktiviert sein, Inhalte nicht. Man vermischt die logische Analyse mit der physiologischen. Begriffe können nicht aktiv oder aktiviert sein. Diesen Galimathias hat Herrmann selbst 1982 in derselben Zeitschrift durchschlagend kritisiert. In der neueren Arbeit orientierte er sich ausdrücklich an dem monströsen Modell von Willem Levelt. (Er wußte das natürlich, hatte aber nicht den Mut zu einem "stilreinen" Ansatz in nicht-mentalistischen Begriffen, wie er mir mitteilte.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.02.2018 um 08.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37943

Mit etwa vier Jahren setzt bei den meisten Menschen ein Prozess ein, den die Psychologen als den Beginn der Fähigkeit des Mentalisierens beschreiben. Wir lernen, das Verhalten der anderen Person einem mentalen Zustand zuzuordnen und aufgrund ihres Verhaltens auf ihren inneren Zustand zu schließen. Zum Beispiel: Papa schimpft, weil er ärgerlich ist. (Jan Kalbitzer, Psychiater, FAS 30.4.17)

In Wirklichkeit werden Kinder in eine bestimmte Redeweise eingeübt, die in unserem Kulturkreis üblich ist. Dazu gehören das Konstrukt eines „Inneren“ (einer „Seele“, des „Mentalen“, des „Geistes“ o. ä.) und die Annahme, das wahrnehmbare Verhalten sei durch Vorgänge und Zustände in diesem Inneren verursacht. (Es ist nicht das Innere des Körpers gemeint, sondern ein nicht lokalisierbarer Modell-Innenraum.) Die naive Psychologie nimmt diese Redweise selbst wörtlich und glaubt an die Existenz des Mentalen. Sie befindet sich auf derselben Entwicklungsstufe, deren Erreichen durch das Kind sie so beschreibt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 26.02.2018 um 16.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37948

Erst mit vier Jahren? Das scheint mir doch ein sehr willkürlich gewählter Zeitpunkt zu sein. Wie die Protokolle http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1401#37850 zeigen, sind mentale Fähigkeiten schon bei Zweijährigen gut erkennbar. Auch von meinen Enkeln kenne ich solche Beispiele.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2018 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37952

Ganz richtig. Die Kinder zeigen schon viel früher ein Verhalten, dem man das Konstrukt des "Mentalen" unterlegen könnte (aber nicht sollte).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2018 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37953

Die Aktualgenese der Rede ist das letzte Paradiesgärtlein der Mentalisten, die hier als Spielart der Kreationisten auftreten. Der Inhalt, der Sinn, die Bedeutung, die Intention steht am Anfang und wird dann irgendwie in hörbare Rede übersetzt. Auf die begrifflichen und empirischen Schwierigkeiten habe ich schon hingewiesen. Vor allem klammern die Mentalisten die Frage aus, wie der Inhalt selbst entstanden ist. Ausdrücklich Levelt:
(The present book) will consider the speaker as a highly complex information processor who can, in some still rather mysterious way, transform intentions, thoughts, feelings into fluently articulated speech. (...) Each speech act begins with the conception of some intention. Where intentions come from is not a concern of this book.
(Das Buch trägt den verkehrten Ansatz schon im Titel: Speaking – From intention to articulation. Und die Anrufung des "Mysteriösen" weckt auch nicht gerade Vertrauen... s. a. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#24452, vgl. Pinker: almost a miracle, http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#24443)

Der Naturalismus geht auch dieses Problem mit den bewährten Mitteln an: Das Nervensystem erzeugt ständig unzählige Impulse, die fast alle unterdrückt werden müssen, weil die motorische Exekutive immer nur eine oder wenige Verhaltensweisen gleichzeitig ausführen kann. Der Mechanismus der Hemmung ist grundsätzlich bekannt. Viele Faktoren wirken jederzeit filternd ein, auch die Wahrnehmung der Umgebung. Am Ende kommt im Fall der Rede wie auch in anderen Bereichen eine sukzessiv angepaßte Verhaltensweise heraus, und deren Angepaßtheit ist genau das, was der naive Mentalist als „Sinn“ usw. interpretiert. Natürlich kann diese Angepaßtheit nicht vorweg existieren, das wäre schon rein begrifflich Unsinn. Sie steht am Ende, wie in der Evolution überhaupt, und ein evolutionäres Modell ist es ja.

Übrigens: Each speech act begins with the conception of some intention. Where intentions come from is not a concern of this book.
Sind denn intention und conception of some intention dasselbe? Die Ausdrücke verschleiern jedenfalls die fundamentale Undurchdachtheit des ganzen Modells. Die zitierten Sätze sind für Nichtmentalisten wie ein Schlag ins Gesicht. Das soll der heutige Stand der Psychologie sein?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2018 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38070

Die Juristen haben ihre eigene Psychologie von Absicht, Vorsatz, Zurechenbarkeit usw. entwickelt, im Anschluß an Alltagssprache und gesunden Menschenverstand, aber diese auch wiederum weiterentwickelnd („kultivierend“, wie ich die Entwicklung der Volkspsychologie nenne). Darum empfinde ich es meistens als unangemessen, wenn sie psychologische Gutachten einholen. Die psychologische Terminologie und Theorie steht immer etwas schief zu den „kultivierten“ Ansichten der naiven Psychologie, und zwar um so mehr, je wissenschaftlicher sie ist. Erst recht gilt das für Neurologie und Neuropsychiatrie. Das merkt jeder, wenn Neurosophen aus ihren MRT- und sonstigen Forschungen einen radikalen (aber wiederum philosophisch naiven) Determinismus folgern: niemand sei an irgend etwas schuld usw. So einen hätte man auch zu Hause lassen können, denn er hilft in Rechtsverfahren nicht weiter. (Schon die alten Griechen kannten das Gegenargument: Der Gutachter muß halt so reden, er ist laut eigener Theorie vollständig determiniert...)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.03.2018 um 04.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38094

In einem Gastbeitrag der FAZ vom 8.3.18 sagt der Englischdidaktiker Werner Bleyhl manches Richtige über Lesen und Schreiben, aber zwischendurch auch:

Beim Lesen müssen die Schriftzeichen mit den mentalen Bedeutungsarealen verbunden werden.

Im Gehirn gibt es Areale, wenn auch keine Bedeutungsareale, und mental sind sie auch nicht, sondern eben zerebral oder neuronal. Es ist auch gar nicht nötig, auf solches Scheinwissen zurückzugreifen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.03.2018 um 06.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38100

Aus einer Zürcher Untersuchung mit dem Kernspintomographen folgt, daß die Gettoisierung von Zuwanderern falsch ist. (Bericht in der FAZ vom 9.3.18) Auch auf die Diskussion um die Essener Tafel wird ein Licht geworfen.

(Grit Hein ist Universitätsprofessorin für Translationale Soziale Neurowissenschaften am Zentrum für Psychische Gesundheit in Würzburg)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.03.2018 um 04.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38108

Aus dem katastrophalen Einfluß der Psychoanalyse auf die Rechtsprechung (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1537#37090) sollte man gelernt haben. Neurosophen (das sind Neurologen, die ihre Grenzen nicht kennen) wollen uns schon länger einreden, daß niemand verurteilt werden kann, weil das Gehirn determiniert ist. Nun soll auch der Umgang mit Zuwanderern nach Maßgabe von kernspintomographischen Untersuchungen geregelt werden. Der schwammige Begriff "Empathie" ist das Bindeglied. Sentimentalisierung des Migrationsproblems, heilige Einfalt!
Mein Verdacht gegen "translationale" Forschungsinstitute bewahrheitet sich früher als gedacht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.03.2018 um 05.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38129

Ist es denkbar, daß die Früh- und Vormenschen das Feuer unterhalten konnten, ohne über irgendeine Sprache zu verfügen? Wir haben nicht die leiseste Ahnung.

"Die ältesten gesicherten Feuerstellen, die zweifelsfrei durch Menschen angelegt wurden, stammen aus der Wonderwerk-Höhle in Südafrika und sind etwa 1,7 Millionen Jahre alt." (Wikipedia "Feuer")

Ich halte es für wahrscheinlich, daß so wertvolle Errungenschaften wie die Bändigung des Feuers (lange Zeit wohl Wildfeuer, bevor das Feuerquirlen aufkam) ebenso wie die Herstellung von Faustkeilen durch strenge Tabus und religiöse Vorstellungen/Rituale gesichert war. Feuer ist überall göttlich oder gar ein Gott (Agni), dient auch als Vermittler von Brandopfern.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.03.2018 um 08.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38132

„The arboreal environment favors the development of a specific type of motor imagery. Povinelli and Cant (1995) have noted that increases in body weight for larger apes such as orangutans make it important to be able to plan motions through the trees. To do this, the animal needs a map of the self as it executes possible motor actions. The reflexes of this penchant for postural adaptation are still evident in the human enjoyment of dance, exercise, and sport.“ (MacWhinney)

Das läßt sich ohne die Annahme von "maps" erklären, und die maps selbst erklären auch nichts. Wer liest sie denn, und wie kommt es vom Besitz einer inneren Karte überhaupt zu angepaßtem Verhalten?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.03.2018 um 16.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38138

Pinker nimmt an:

Innate Social Behaviors
*Primacy of family ties, making nepotism and inheritance appealing.
*A propensity to share based on reciprocity where nonrelatives are concerned (within the family, it is free).
*A drive for dominance and a willingness to use violence to attain goals.
*Ethnocentrism and other forms of group-against-group hostility.
*Variation in intelligence (leading to inequalities) and in conscientiousness and antisocial behavior (leading to punitive constraints).
*Self-serving biases that deceive people into thinking they are freer, wiser and more honest than they are.
*A moral sense, biased toward kin and friends, and linked to ideas of purity, beauty and rank.

Innate Abilities
*An intuitive physics, used to keep track of the "oomph" of objects as they fall, bounce or bend.
*An intuitive biology, used to understand the living world by imputing an essence to living things.
*An intuitive engineering, used to make and understand tools.
*An intuitive psychology, used to understand others by imputing to them a mind with beliefs and desires.
*A spatial sense and a dead reckoner tracking the body´s motions.
*A number sense, based on ability to register small numbers of things (1, 2 and 3) exactly and to estimate larger ones.
*A sense of probability, used to estimate uncertain outcomes by tracking how common one event is in relation to another.
*An intuitive economics, used to exchange goods and calculate favors.
*A mental database and logic, used to represent ideas, associate one thing with another and devise causal explanations.
*Language, the gift of sharing ideas from the mental database with others.


Ich halte das alles für Unsinn. Soweit Verhalten betroffen ist, wird es gelernt, und das "Mentale" ist eine unnütze Erfindung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.03.2018 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38145

Forscher haben herausgefunden, dass bestimmte mikrobielle Gemeinschaften in den Ausscheidungen von Einjährigen zur korrekten Vorhersage späterer kognitiver Entwicklungen herangezogen werden können.
Interessanterweise schnitten Kinder im Alter von zwei Jahren, deren Mikrobiomen eine große Vielfalt aufwiesen, bei Intelligenztests sehr viel schlechter ab, als Kinder, deren Darmflora zu diesen Zeitpunkt weniger vielfältig war.
(HuffPost 27.2.18)

Die Allgegenwart von Korrelationen und der Pubikationszwang führen zu einer verwirrenden Menge von Meldungen in unseren unkritischen Medien. Wie windig der Windeltest ist, sieht man hier:
http://news.unchealthcare.org/news/2017/july/toddler-brain-development-bacterial-clues-found-in-dirty-baby-diapers

Die Forscher selbst sind meistens viel vorsichtiger, sie wollen ja ihre Karriere nicht gefährden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2018 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38166

Bild der Wissenschaft 17.01.2006:

Leben und Umwelt - Hirnforschung
Wo Nomen wohnen

Nomen und Verben werden in unterschiedlichen Regionen des menschlichen Gehirns gespeichert. Das haben amerikanische Wissenschaftler um Alfonso Caramazza von der Harvard-Universität in Cambridge herausgefunden, als sie mehrere Probanden einfache Sätze mit Nomen und Verben sprechen ließen und dabei ihre Gehirnaktivität sichtbar machten.
Alle Sprachen der Welt haben eines gemeinsam: Nomen und Verben sind die beiden grundlegenden Kategorien jeder Grammatik. Wie und wo das Gehirn diese Basiselemente des Sprechens verarbeitet, interessiert schon seit längerem viele Wissenschaftler. Beispielsweise ist aus Studien mit Hirngeschädigten bekannt, dass viele entweder ausschließlich Verben aussprechen können oder aber nur Nomen beherrschen ? je nachdem, welche Gehirnregion nicht mehr richtig funktioniert.

Nun ist es dem Neuropsychologen Caramazza und seinem Team gelungen, diejenigen Hirnregionen, die bei der Verarbeitung von Verben und Nomen eine Rolle spielen, klar zu identifizieren und gegeneinander abzugrenzen. Dazu zeichneten sie bei mehreren Probanden die Aktivitäten in verschiedenen Hirnarealen mit der so genannten funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRI) auf. Während die Forscher mit dem Tomographen das Gehirn ihrer Probanden abscannten, mussten diese verschiedene englische Satzteile wie zum Beispiel "er denkt" oder "eine Idee" laut aussprechen.

Die Wissenschaftler wählten die gesprochenen Testwörter sorgsam aus, denn sie wollten die Verarbeitung von Grammatik unabhängig von der eigentlichen Wortbedeutung untersuchen. Daher erfanden sie Kunstwörter, die im Satzzusammenhang als Verb oder aber als Nomen eingesetzt wurden. Außerdem umfasste der Test sowohl abstrakte als auch konkrete, bildhafte Wörter. Zudem nahmen sie auch unregelmäßige Verben und Substantive mit unregelmäßigem Plural in das Testrepertoire auf.

Das Untersuchungsergebnis: Bei der Verarbeitung von Verben waren zwei Hirnregionen im so genannten linken präfrontalen Cortex und in einem Teil des linken Scheitellappens besonders aktiv. Für Nomen hingegen stellte sich besonders ein Teil im linken Schläfenlappen als wichtig heraus. Trotz dieser Erkenntnisse sind laut Caramazza und seinen Kollegen weitere Untersuchungen nötig, um genauer zu verstehen, wie das Gehirn mit Grammatik umgeht.


Gegen diesen haarsträubenden Unsinn läßt sich viel einwenden. Es ist ja auch nichts weiter gefolgt. Aber unsere Neurolinguisten stellen auch jeden Tag solche Untersuchtungen an und finden immer etwas.

Ich will nur auf einen kleinen Schönheitsfehler hinweisen: Die Probanden haben die Testwörter nicht gebraucht, sondern nur zitiert/vorgeführt. Das macht einen Riesenunterschied, wie jeder Aphasieforscher weiß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2018 um 04.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38202

Zu Synäathesie, Farbensehen:

...the fusiform gyrus, that’s where the colour information is analysed. But amazingly the number area of the brain which represents visual graphemes of numbers, 5 6 7 8 and all of that, is right next to it also in the fusiform gyrus, almost touching it. (...) maybe there’s a cross-wiring between the number and colour area in the fusiform gyrus. (Ramachandran)

Aber es kann kein Zentrum für arabische Ziffern geben. Das Ganze soll auch noch genetisch in Familien vererbt sein. Was liegt wirklich vor? Der Mensch kann sich evolutionär an Farben angepaßt haben, aber nicht an Ziffern, noch dazu an arabische. Ich glaube nicht einmal an Sprachzentren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2018 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38205

Seit man Nerven beobchtet hat und das Gehirn nicht mehr für ein Kühlaggregat hält, nennt man Psychiater auch salopp "Nervenärzte". (Der Psychiater Manfred Spitzer gilt als "Hirnforscher".)
In diesem Sinne fordert der Mediävist Johannes Fried eine "neurokulturelle Geschichtswissenschaft", obwohl er eigentlich nur Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie in die Quellenkritik einführen will (nicht ganz so neu). Die "Kognitionswissenschaften", auf die er sich beruft (aufgrund von Lektüre popularisierender Darstellungen), tragen zu dieser Konfusion bei, weil sie nicht ohne Absicht zwischen "Mind" und "Brain" changieren, wie bereits gezeigt.
Ohne die neurologischen Schnörkel wäre es besser.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2018 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38206

Dasselbe gilt natürlich für Harald Welzer. Die "False memory"-Diskussion zum Beispiel ist eine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Irrlehren und hat nichts mit Neurologie zu tun.

Zum Ganzen verweise ich noch einmal auf Stephan Schleim (auch hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#34922)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.03.2018 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38261

Man hat der Evolutionslehre vorgeworfen, sie sei zirkulär und daher empirisch gehaltlos: Der Fitteste überlebt, und die Fitness besteht gerade darin, das Überleben zu ermöglichen. (Ähnlicher Vorwurf dann gegen die "Verstärkung" beim Konditionieren.)
Das ist aber falsch.
Ob die Sache mit dem Industriemelanismus nun stimmt oder nicht: Die Birkenspanner mit vererbbarer Tarnfärbung haben eine höhere Fortpflanzungsrate; das läßt sich voraussagen und gegebenenfalls falsifizieren. Mehr kann man von einer soliden Theorie nicht verlangen. Natürlich ist es wie bei allem bereits Geschehenen immer etwas unsicher, ob die nachträgliche Vorhersage ("Retrodiktion") richtig ist. Das ist aber kein Einwand.
Dawkins erinnert oft daran, daß die Züchtung, auf die sich Darwin ausdrücklich als Grundlage seiner Metapher bezog, den Mechanismus ja längst bewiesen hatte. Niemand bestreitet die Möglichkeit der Anpassung durch vererbbare Merkmale und Selektion.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2018 um 06.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38310

Nachdem ein Schüler einen anderen erstochen hat, wird ein Psychiater gefragt, der den Fall auch nur aus der Presse kennt:

Was könnte ein Kind zu diesem Verbrechen antreiben?

Ohne Daten kann ich jetzt beim Fall von Lünen natürlich nur spekulieren. In dem Alter, in dem sich der Täter befindet sind Jugendliche häufig voller Impulsivität: Kleinigkeiten können dazu führen, dass es zu aggressivem Verhalten kommt. Das alleine führt aber nicht zu dieser Tat. Dazu würde es in der Regel eine Vorgeschichte geben, die wir jetzt nicht kennen.
(...)

Welche Rolle spielt das Messer als Tatwaffe in diesem Zusammenhang?

Das Messer wird ganz häufig als Tötungsinstrument genutzt. (...)


-
Warum befragt die Zeitung ihn, und warum lehnt er das Gespräch nicht einfach ab?
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 24.03.2018 um 10.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38314

Weil kommerzielle Medien jeden aufregenden Vorfall nach Kräften melken müssen, um Spalten und Sendezeit zu füllen. (Ich weiß, daß die Frage rhetorisch war, will das Link aber nicht kommentarlos posten)

https://virchblog.wordpress.com/2013/02/06/journalismus-am-puls-der-zeit/
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.03.2018 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38320

Musik ist sicher ebenso alt wie Sprache, wahrscheinlich älter und einer von deren Ursprüngen.

Mit Recht wird gesagt, daß die ältesten erhaltenen Musikinstrumente, also die 40.000 Jahre alten Knochenflöten, nicht die ältesten überhaupt sein können, da ihre Herstellung recht anspruchsvoll ist, verglichen mit Trommeln usw.

Vor unserem Haus am Rande von Delhi wanderte ab und zu ein Mann vorbei, der auf dem Kopf einen flachen Korb voller "Geigen" trug, während er eine davon vor den Leib gedrückt spielte. Ich kaufte ihm eine ab (25 Pfennig). Arme Familien stellen solche Dinge in Heimarbeit her. Es handelt sich um ein Monochord (Ektara), und man kann genau dasselbe heute im Internet sehen und hören: https://www.youtube.com/watch?v=3vS7Z7jcEcw; deshalb brauche ich die Bauweise nicht zu beschreiben. Ich habe damals selbst Tonaufnahmen gemacht, aber im Gehen spielte der Mann besser als beim Vorführen, trotz Extrabezahlung.

Angesichts der aufwendigen Sitars usw. mutet es nicht nur armselig, sondern auch archaisch an, wie ein Hauch aus grauer Vorzeit. Wahrscheinlich war es für unsere Vorfahren eine Art Geisterbeschwörung, wie Schwirrhölzer und Didgeridoos. Noch für die Pythagoräer war die schwingende Saite eine Offenbarung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.03.2018 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38342

Die Unhaltbarkeit der Astrologie ist sehr oft physikalisch-astronomisch nachgewiesen worden. Darüber braucht man nichts mehr zu sagen, und ich habe mich in meiner Arbeit über den Okkultismus nicht mehr damit abgegeben. Mich interessiert die Sprache, wie auch bei Graphologie und anderen Systemen der Charakterkunde. Typischerweise gelangt die suggestive Redeweise auch der scheinbar seriöseren Autoren nicht über die horoskoptypische Vieldeutigkeit hinaus. Sie ermöglicht die Projektionen der Gläubigen im selben Maße, wie sie die Widerlegung unmöglich macht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.03.2018 um 10.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38355

Es ist fast unmöglich, den aktiven Wortschatz eines Menschen zu bestimmen. Heute kommt noch hinzu, daß fast jeder durch Schule und Medien über einen unermeßlich erweiterten passiven Wortschatz verfügt, den er bei Bedarf durchaus aktivieren kann. Das ist aber menschheitsgeschichtlich der Ausnahmezustand.

Früher bestand die einzige Erweiterung des aktiven, in der Familie gebrauchten Wortschatzes in Teilen der Ritualsprache mit ihren Archaismen; dann eventuell einiger Berufssprachen. Unter diesen Umständen könnte der Wortschatz eines Steinzeitmenschen ebenso umfangreich gewesen sein wie der eines heutigen Bauern in sehr abgelegenen Gegenden.

Jedenfalls scheint es mir sehr gewagt, wie Greenberg, Ruhlen und andere (auf seine Art auch Richard Fester), die gern mit Lexikostatistik arbeiten, auf immer kleinere Wortschätze, schließlich eine Handvoll Urwörter rückzuschließen. Zwar fangen unsere Kinder mit wenigen "Wörtern" an, aber das sind Ausschnitte aus einem großen Vorrat, nicht Urwörter.

Es scheint logisch zwingend zu sein, aber nur wenn man ein bestimmtes Bild vom Ursprung der Sprache hat. Die Alternative wäre, daß die Wörter durch Stilisierung ("Digitalisierung") aus einem großen Repertoire von Ausdrucksbewegungen hervorgegangen sind. Genauer kann ich es nicht ausmalen, aber man sollte das offenhalten, wo man eh nichts Genaues weiß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.04.2018 um 07.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38381

In 1999, [Gary F. Marcus] discovered that 7-month infants have the capacity to acquire abstract rules, such as the ABB structure in sentences such as la ta ta and wo fe fe.

Das ist unnötig mentalistisch ausgedrückt. Regeln sind Sprache, Sprache ist sozial und kulturell.
Es ist nützlich, den Regelbegriff aus physischen Vorgängen herauszuhalten.

Pendeluhren, die auf einem Regal stehen, gleichen ihren Schlag einander an. Dazu brauchen sie keine „Regeln“ zu entdecken. Die spontane Selbstsynchronisation von locker verbundenen Oszillatoren, von Huygens entdeckt (Doppelpendeluhr), wurde erst neuerdings physikalisch und mathematisch völlig aufgeklärt. Das Prinzip spielt in vielen Bereichen eine Rolle, technisch und vor allem physiologisch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2018 um 07.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38385

Der Wille zum Beispiel ist kein beobachtbarer Gegenstand, sondern ein Konstrukt aus bestimmten Dialogzügen (Ankündigung – [Einspruch/Zuspruch] – Ausführung). Es ist schon rein begrifflich unmöglich, seine neuronale Entsprechung oder Grundlage zu suchen. In diesem Sinne auch:

Wer betende Nonnen in die Röhre schiebt und glaubt, dass die in der Magnet-Resonanz-Tomographie beobachtbare Aktivierung bestimmter Hirnareale das religiöse Empfinden erklärt, der begeht einen folgenreichen Kategorienfehler. (http://www.deutschlandfunkkultur.de/bilder-vom-denken.950.de.html?dram:article_id=134744) (Zu einem Buch von Michael Hagner)

Wie Religion eine kulturelle, geschichtliche Erscheinung ist, so auch die Sprache. Es gibt keine neuronale Entsprechung zu „Sätzen“ usw.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 02.04.2018 um 11.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38387

Wenn ich erklären sollte, was der Wille ist, würde ich sicher nicht sagen, ein beobachtbarer Gegenstand, obwohl man das in einem erweiterten Sinne eines Gegenstands vielleicht auch so sehen könnte. Aber genausowenig würde ich sagen, er ist ein Konstrukt aus Dialogzügen, obwohl mir auch das aus einer bestimmten Sicht als möglich erscheint. Aber ich spüre meinen Willen auch, wenn ich allein im stillen Kämmerlein sitze, ganz ohne Dialog. Beide Charakterisierungen treffen also m. E. nicht das Wesentliche. Was ist dann der Wille ganz genau und vor allem?

Vielleicht sollte man ihn zuerst ein Gefühl, einen Bewußtseinszustand, eine Idee nennen. Sicher ist es schwer, ihm begrifflich beizukommen. Man kann ihn nur mit relativ ausführlichen Worten umschreiben. Wir wissen ja im Grunde, was wir damit meinen, also muß man es auch sagen können.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 02.04.2018 um 12.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38388

Der Hauptmann von Köpenik hat das in dem Film mit Heinz Rühmann doch ganz klar gesagt: "Ick hab mirn Befehl gegeben und ihn ausgeführt."
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 02.04.2018 um 13.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38389

Das Verhalten, einschließlich des sprachlichen Verhaltens, würde ich als mögliches Ergebnis des Willens sehen, aber nicht als den Willen.
Sowohl die Umsetzung des Willens in sprachliches Verhalten als auch die Realisierung des Willens und dadurch teilweise der Wille selbst hängen auch von äußeren Bedingungen ab.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.04.2018 um 11.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38390

Es wird oft von einem "freien Willen" gesprochen bzw. gefragt, ob der Wille frei sei. Aber ist das nicht eine Tautologie? Ein unfreier Wille wäre ja nur ein scheinbarer, kein Wille, sondern ein Sollen, dem unser Handeln unterliegt.

Es ist eine philosophische Frage. Natürlich lebe ich nach der Maxime, daß unser Wille echt ist.

Vielleicht gibt es dafür doch eine recht einfache Beschreibung:
Wille = Freiheit des das Handeln steuernden Denkens
 
 

Kommentar von Gunther Chmela, verfaßt am 03.04.2018 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38391

Ich halte das frei in freier Wille einfach nur für eine Verstärkung. Man sagt ja evtl. auch "großer Gott", wobei dem Sprecher sicher klar ist, daß es wohl kaum einen "kleinen Gott" geben wird.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.04.2018 um 11.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38392

Diese Verstärkung mag vorliegen, wenn man z.B. vor Gericht gefragt wird, ob man etwas "aus freiem Willen" (auch "aus freien Stücken") getan hat. Aber in der philosophischen Diskussion über den "freien Willen" ist es anders gemeint, da geht es darum, ob unser Willen evtl. nur scheinbar selbstbestimmt ist, ob wir also einem Trugschluß unterliegen, wenn wir glauben, eine eigene Entscheidung zu treffen.
Vielleicht will man sich damit vom "scheinbaren" Willen abgrenzen oder "frei" ist hier synonym zu "echt" zu verstehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2018 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38430

Kant spricht in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" über den Willen:

[81] Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.

Dann geht es um Willensfreiheit - fast eine Tautologie.

Ich nehme gleich eine bekanntere Stelle aus der Kritik der Urteilskraft hinzu:

Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.

Kant folgt dem verkappten Konstrukt der Sprachlichkeit, denn die „Vorstellung“ ist aus dem Diskutieren von Optionen hergeleitet. Wenn man die Hypostasierung der Vermögen, also hier der Vernunft, auflöst, bleibt das deliberative Handlungsschema übrig: die Lenkbarkeit durch Argumente. Das vernünftige Wesen ist das sprach- und diskussionsfähige Wesen.

Die Wirkung des Arguments läßt sich aus der Lerngeschichte erklären, aber im Dialog selbst erscheint es wie aus einer anderen Welt, nicht dem natürlichen Lauf der Dinge folgend. Man glaubt nicht auf ein Geräusch zu reagieren, sondern auf den „Inhalt“. Das läßt sich zwar ebenfalls naturalistisch erklären (wie von mir versucht: "Naturalisierung der Intentionalität"), aber im Augenblick des Gesprächs ist es nicht möglich; die Lerngeschichte ist bewußtseinsfremd, transphänomenal. Anders gesagt: Physische Wirkung einerseits und zeichenhafte andererseits scheinen inkommensurabel. Nur die Lerngeschichte (Spracherwerb) vermittelt zwischen ihnen, aber die kann nur "von außen" oder nachträglich in den Blick kommen.

Bemerkenswerterweise definiert Kant den Willen gleich mit Bezug auf „Prinzipien“, womit aber wohl nicht mehr als eben Gründe und Gegengründe gemeint sein kann. Ein Kommando ("Rechtsum!") wäre ebenfalls sprachlich, aber kein Argument, seine Befolgung daher eher auf der Seite der Naturgesetzlichkeit einzuordnen, wie die Dressur eines Hundes.

Die sprachanalytische Rekonstruktion der traditionellen "Vermögenspsychologie" (mit Verstand, Vernunft, Wille usw.) müßte natürlich umfassender dargestellt werden. Zur Bestandsaufnahme immer noch nützlich ist Eislers Kant-Lexikon.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.04.2018 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38459

Die Philosophen legen sich gut cartesianisch den Dualismus von Leib und Seele so zurecht, daß sie selbst nicht mehr sagen können, wie die Seele auf den Leib einwirkt und die willkürlichen Bewegungen erzeugt. Aber gerade Descartes schreibt etwas Kritisches zu diesem ganzen Unternehmen, das wir mit seinem Namen verbinden, was man als Begründung der Ordinary-Language-Philosophie lesen könnte. Freilich nur in einem Brief an Elisabeth von der Pfalz vom 28.6.1643:

L’âme ne se conçoit que par lentendement pur ; le corps, c’est-à-dire l’extension, les figures et les mouvements, se peuvent aussi connaître par l’entendement seul, mais beaucoup mieux par l’entendement aidé de l’imagination ; et enfin, les choses qui appartiennent à l’union de l’âme et du corps, ne se connaissent qu’obscurément par l’entendement seul, ni même par l’entendement aidé de l’imagination ; mais elles se connaissent très clairement par les sens. D’où vient que ceux qui ne philosophent jamais, et qui ne se servent que de leurs sens, ne doutent point que l’âme ne meuve le corps, et que le corps n’agisse sur l’âme ; mais ils considèrent l’un et l’autre comme une seule chose, c’est-à-dire, ils conçoivent leur union ; car concevoir l’union qui est entre deux choses, c’est les concevoir comme une seule. Et les pensées métaphysiques, qui exercent l’entendement pur, servent à nous rendre la notion de l’âme familière ; et l’étude des mathématiques, qui exerce principalement l’imagination en la considération des figures et des mouvements, nous accoutume à former des notions du corps bien distinctes ; et enfin, c’est en usant seulement de la vie et des conversations ordinaires, et en s’abstenant de méditer et d’étudier aux choses qui exercent l’imagination, qu’on apprend à concevoir l’union de l’âme et du corps.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2018 um 04.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38476

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#32666

Der langsamste Computer der Welt (aus Dominosteinen) zeigt auch sehr schön, daß Computer nicht rechnen. Sie überführen Zustände eines Systems in andere Zustände, und wir deuten das Ergebnis als Berechnung. So deuten wir auch die Bewegung einer Uhr oder der Sonne als Zeitanzeige usw. Ähnlich die Sache mit den Jahresringen der Bäume und anderen Pseudozeichen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2018 um 06.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38487

Ruth Scodel hat in einem lesenswerten Aufsatz die Bedeutung der griechischen Partikel ἦ in der Ilias herausgearbeitet und sich dabei der Literatur zur "Theory of mind" bedient: https://rep.adw-goe.de/bitstream/handle/11858/00-001S-0000-0023-9A01-1/21_%E1%BC%A6%20and%20Theory%20of%20Mind%20in%20the%20Iliad.pdf?sequence=22

Ich bin in meinem Aufsatz über Modelpartikeln ähnlich vorgegangen, indem ich die "Verteilung des Wissens" zwischen den Dialogpartnern zugrunde gelegt habe, allerdings ohne ausdrückliche Unterstellung einer Theory of mind (ToM), die ich für überflüssig halte, vgl. Schlingers ausgezeichnete Übersicht und Kritik:
http://opensiuc.lib.siu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1029&context=tpr:

Es geht ganz unpsychologisch um das "Dialogmanagement": Durch autoklitische Sprachmittel kennzeichnen wir bestimmte Stücke der Mitteilung als "schon gesagt", "dir noch nicht bekannt" usw., was offensichtlich eine große Hilfe bei der Verständigung ist und auch pragmatisch als Schmiermittel wirkt, z. B. Rücksichtnahme ausdrückt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.04.2018 um 05.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38492

Auch die homerische Psychologie ist nicht auf die heutige folk psychology abbildbar, sie sind im beschriebenen Sinn "inkommensurabel", und das stellt die Übersetzung vor eine unlösbare Aufgabe. Raoul Schrott erwähnt „die für Homer typische unbeholfene Ausdrucksweise subjektive Denkprozesse betreffend“ und verdeutlicht das angeblich Gemeinte auf drastische Weise, kritisch dazu Paul Dräger und andere Rezensenten.

Schrott übersieht, daß es den Inhalt unabhängig vom folkpsychologischen Modell gar nicht gibt und daß die Übersetzung nicht ein Modell durch ein gleichbedeutendes anderes ersetzen kann, weil das Modell selbst der Gegenstand ist, das Instrument der Verhaltensabstimmung. Man kann nicht Pferde durch Autos ersetzen, wenn man einen alten Text übersetzt. Als ob Homer eigentlich Autos gemeint hätte und es nur nicht ausdrücken konnte, weil er nur Pferde kannte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2018 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38547

Zum allgegenwärtigen Gerede von den "Repräsentationen":

Since we cannot take in the world itself, it has been assumed that we must make a copy. Making a copy cannot be all there is to seeing, however, because we still have to see the copy. Copy theory involves an infinite regress. Some cognitive psychologists have tried to avoid it by saying that what is taken in is a representation, perhaps a digital rather than an analog copy. When we recall ("call up an image of") what we have seen, however, we see something that looks pretty much like what we saw in the first place, and that would be an analog copy. Another way to avoid the regress is to say that at some point we interpret the copy or representation. The origins of interpret are obscure, but the word seems to have had some connection with price; an interpreter was once a broker. Interpret seems to have meant evaluate. It can best be understood as something we do.
The metaphor of copy theory has obvious sources. When things reinforce our looking at them, we continue to look. We keep a few such things near us so that we can look at them whenever we like. If we cannot keep the things themselves, we make copies of them, such as paintings or photographs. Image, a word for an internal copy, comes from the Latin imago. It first meant a colored bust, rather like a wax-work museum effigy. Later it meant ghost. Effigy, by the way, is well chosen as a word for a copy, because it first meant something constructed-from the Latin fingere. There is no evidence, however, that we construct anything when we see the world around us or when we see that we are seeing it.
(Skinner Recent Issues S. 15 – der Text steht im Netz)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.04.2018 um 15.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38567

Spiegelversuche sind bei Psychologen sehr beliebt. Man möchte damit Selbstwahrnehmung nachweisen. Kinder und einige Tierarten scheinen sich selbst zu erkennen, andere nicht. Oft setzt man dem Versuchstier unter Narkose einen Farbtupfer ins Gesicht und beobachtet dann, ob es vor dem Spiegel versucht, an sich selbst und nicht am Spiegelbild den Klecks wegzuwischen.

Die Versuche leiden unter anderem an der Unklarheit des Begriffs "Selbst". Es sind ganz verschiedene Leistungen und "Stufen" zu unterscheiden.

Kinder und viele Tiere reagieren vielleicht anfangs verdutzt auf ihr Spiegelbild, aber bald verlieren sie das Interesse daran. Der Grund wird sein, daß das Spiegelbild nicht so reagiert wie ein Fremder. Der Hund erwartet etwas ganz anderes, und die bloße Widerspiegelung des eigenen Verhaltens "sagt ihm nichts".

Ein Proband mag sich selbst erkennen, ohne sich aber umzudrehen, wenn hinter ihm etwas Interessantes auftaucht.

Man hat auch gesagt, daß nicht jedes Wesen einen Grund hat, sich einen Farbfleck aus dem Gesicht zu wischen.

Es gibt auch keine Probanden, die nicht schon Erfahrungen mit dem eigenen Schatten und mit unvollkommenen Reflexionen gemacht haben. Zum Beispiel habe ich Enkelin und Hund vor der schwarzlackierten Vorderwand des Klaviers beobachtet: derselbe Effekt wie bei einem Spiegel, also baldiger Verlust des Interesses.

Kinder fangen später an, sich selbst zuzugrimassieren, die Lippen an den Spiegel zu pressen und allerlei Spaß dabei zu haben – erkennen sie sich selbst, und was heißt das eigentlich?

(Berichte über Selbstwahrnehmung von Ameisen nehme ich nicht ernst, und Lacans Mystifikationen lasse ich beiseite.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.04.2018 um 18.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38569

Hirnscans bilden in der Regeln verstärkte Durchblutung ab. Die Reizleitung im Nervensystem geschieht jedoch tausendmal schneller als die meßbaren Veränderungen der Durchblutung. Schon darum ist es nicht möglich, dem Gehirn "beim Denken zuzusehen" – oder wie die Formeln lauten. In den meisten Berichten wird das verschwiegen.
 
 

Kommentar von Theoor Ickler, verfaßt am 22.04.2018 um 04.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38574

Wenn man annimmt, daß es eine angeborene Universalgrammatik gibt, und sie mit den Ergebnissen von Hirnscans in Beziehung setzt, dann kommt heraus, daß es eine angeborene Universalgrammatik gibt. Chomsky hat das Nachwort zu Angela Friedricis neuem Buch geschrieben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.04.2018 um 07.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38575

Sprachliches Material ist am leichtesten zu handhaben, weil man es nicht beschreiben muß, sondern bloß auszusprechen braucht, um es in die Diskussion einzuführen, und jederzeit reproduzieren kann. Aber es ist am wenigsten verstanden. Wir wissen im Grunde nicht, was für eine Art von Verhalten es ist. Dazu müßte man es vollständig naturalisieren, eben als Verhalten darstellen, nicht mentalistisch in Handlungsbegriffen. Außerdem ist das Vorführen (Zitieren) von „sprachlichem Material“ nicht dasselbe wie Sprechen/Verwenden); dadurch kommt eine systematische Verzerrung in psycholinguistische Untersuchungen hinein. So ist es zwar bequem, aber sehr problematisch, die Arbeitsweise des Gehirns ausgerechnet an der „Sprachverarbeitung“ untersuchen zu wollen statt an einfacheren Hantierungen. Die Gedächtnisversuche von Ebbinghaus waren allerdings nicht psycholinguistisch, sie haben das Sprachmaterial weitgehend nur als Geräusch genutzt, da macht es nicht viel aus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.04.2018 um 04.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38579

Heiner Willenberg verspricht unter dem Titel „Lesen und Lernen“ (Heidelberg, Berlin 1999) eine „Einführung in die Neuropsychologie des Textverstehens“ zu geben. Davon kann natürlich keine Rede sein, denn weder ist genug darüber bekannt, noch wäre der Verfasser in diesem Fach kompetent. Nach viel Aufwand mit angelesenen Weisheiten kommen ein paar banale Ratschläge heraus.

Angeblich haben Neuropsychologen herausgefunden, wie lange es dauert, bis das Gehirn ein Wort im mentalen Lexikon herausgesucht hat (200 ms) und artikuliert (400 ms) usw. Aber woher weiß das Gehirn, welches Wort es suchen soll? Wie lange dauert es, bis diese Suche entsteht, und wie lange dauert das Heraussuchen der Suche aus anderen Verhaltensmöglichkeiten usw.? Welcher Teil des Gehirns sucht in welchem anderen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.04.2018 um 05.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38598

„There is no reason to assume that the propositional language of thought is unique to man. What is unique to man is that this internal language became externalized as a vehicle of interpersonal communication.“ (Levelt)

Die Vorstellung, daß vielleicht alle Lebewesen innerlich sprechen (oder: daß es in allen Lebewesen spricht) und nur der Mensch auch äußerlich wahrnehmbar, ist abenteuerlich genug. Und das in einem maßgeblichen Werk der "modernen" Psycholinguistik! Haben die Leute den Verstand verloren?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.05.2018 um 15.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38648

Kann es Abbilder von Sachverhalten schlechthin geben? Eine Fotografie bildet keinen Sachverhalt ab, sondern nur eine bestimmte Sicht, als Momentaufnahme. Es fehlt alles Genetische und Funktionale, vgl. Wittgensteins unendlich vieldeutiges Bild eines Boxers.

Nicht zu vergessen die "Handlungseinschüsse" in der Wahrnehmung, das eigenmotorische Lernen, das dem Tiefensehen zugrunde liegt usw.

Wir "sehen" nicht nur ein uninterpretiertes "Phänomen", sondern etwas Kategorisiertes, in eine Vorgeschichte und mutmaßliche Zukunft Eingebettetes. Davon kann es keine Abbildung geben.

Das reine Schauen, das die Phänomenologen daraus abstrahiert haben, ist eine Illusion wie jene Sinnesdaten der introspektiven Psychologie, die inzwischen samt und sonders vergessen sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.05.2018 um 04.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38717

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38579

Wenn ein Text immer wieder auf Wissen Bezug nimmt, muss der Leser in der Lage sein, seine inneren Schemata zu aktivieren. (Willenberg)

Aktivieren Sie Ihre inneren Schemata! – Gern geschehen!

Daher immer wieder die Frage: "Ist Psychologie eine Wissenschaft?"
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.05.2018 um 05.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38725

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36748

Zur Anwendung des Reafferenzprinzips auf die "Sprachproduktion" hat David Poeppel wichtige Beiträge geliefert, vgl. etwa https://pdfs.semanticscholar.org/4265/1831f3c327b8a677b0c0dfb1835fd08f93d0.pdf und anderes, was unter http://en.wikipedia.org/wiki/Efference_copy verlinkt ist.

Natürlich gilt auch hier, daß Sprachmaterial zwar sehr leicht zu handhaben ist, aber wegen seiner Komplexität und historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit nicht gerade der Idealfall einer neurologisch aufzuklärenden Verhaltensweise.

Die verbliebenen mentalistischen Begriffe wie "voraussagen", "beabsichtigen" wären noch zu beseitigen, was aber nicht so schwer sein dürfte.

Der deutsche Eintrag "Reafferenzprinzip" der Wikipedia ist in den letzten Jahren stark verbessert worden.

Wie Helmholtz beobachtete: Wenn wir seitlich auf den Augapfel drücken, scheint sich die Umwelt zu bewegen; wenn wir selbst aktiv umherblicken, ist das nicht so, obwohl sich auch dabei das Netzhautbild verschiebt. Man kann sich nicht selbst kitzeln usw.

Nun wird auch untersucht, wie sich das Hören der eigenen Stimme vom Hören einer fremden unterscheidet. Auch hier wird das eigene "Hervorbringen" mit dem Wahrnehmen "verrechnet". Schizophrene glauben eine fremde Stimme zu hören, dabei ist es natürlich die (innere) eigene.

Übrigens wird darauf verwiesen, daß die bahnbrechende Arbeit von Erich von Holst (jetzt in den gesammelten Schriften) international um Jahrzehnte verspätet rezipiert wurde, weil keine englische Fassung vorlag. Man kann schon verstehen, warum heute praktisch alles auf englisch erscheint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.05.2018 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38727

In diesen Hirnteilen wurde (durch Lernen) ein Modell des Muskelsystems aufgebaut. Dieses Modell ist in der Lage, aus den Informationen, die es erhält, eine grobe Voraussage über den tatsächlichen Ablauf zu machen.

Auch das ist noch zu mentalistisch formuliert – wer soll etwas „vorhersagen“? An einem Modell muß gehandelt werden, das führt also nicht weiter (unendlicher Regreß, Homunkulus). Wie steuert das Modell das Verhalten – und braucht man dann überhaupt ein Modell in irgendeinem spezifischen Sinn, außer dem Schaltbild selbst? Die Simulation in künstlichen neuronalen Netzen enthält nur Leitungen und Schalter, kein Modell.

Das halbe Dutzend Neuronen des Schützenfischs enthält kein Modell des Wassers, des Beutetiers usw., dazu ist es viel zu klein, und das Modell wäre auch ganz überflüssig, nachdem man die Verschaltung vollständig aufgeklärt hat. Im Planimeter sitzt kein Männchen und macht Integralrechnung...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.05.2018 um 04.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38732

Unter https://www.dasgehirn.info/ ist manches ganz gut dargestellt, aber es findet sich auch viel Neurobluff, also neurologisch aufgepeppte Psychologie.
Sprachinteressierte sollten sich also nicht zuviel versprechen. Ein Beispiel unter vielen: https://www.dasgehirn.info/aktuell/frage-an-das-gehirn/was-passiert-wenn-mir-ein-wort-auf-der-zunge-liegt
Ein anderes wäre Dyskalkulie. Man weiß eben so gut wie nichts.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.05.2018 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38733

„Sprache ist ohne Zweifel eine spezifische kognitive Fähigkeit des Menschen.“ (Angela Friederici, FAZ 21.5.2014, auch hier: https://www.dasgehirn.info/entdecken/grosse-fragen/denn-das-wort-ist-im-grossen-netz-verborgen)
Darum ist Sprachverhalten auch nicht wahrnehmbar, und wer sich z. B. einen Vortrag von Angela Friedrici anhören will, sollte gleich zu Hause bleiben, denn er wird von den kognitiven Tätigkeiten der Forscherin nichts mitbekommen.
Wir haben schon gesehen, daß auch Musik etwas Mentales ist, so daß die Eintrittskarten für einen Klavierabend rausgeschmissenes Geld sind: Man hört ja nichts.
Übrigens kann man hier auch sehen, daß neurosophische Spekulationen über Sprache nicht besser sein können als die zugrunde gelegte Sprachauffassung, hier also im wesentlichen die generative Grammatik von anno dazumal.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.05.2018 um 05.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38755

„Language is, of all our mental capacities, the deepest below the threshold of awareness, the least accessible to the rationalizing mind.“ (Bickerton 1990)

Wieso mental? Sprache ist doch ein hör- und sichtbares Verhalten. Und was da so tief verborgen ist und nicht bewußtseinsfähig, das mag für das Sprechen notwendig sein (wie die Verdauung), aber es ist doch nicht die Sprache! Diese Wortverdreherei geht auf Chomsky zurück. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn biedere Sprachwissenschaftler heute "von der menschlichen Perzeption und Verarbeitung von Sachverhalten" schwadronieren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2018 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38801

Den Ertrag der Neuropädagogik faßte ein Neurologe so zusammen:

Don’t raise your child in a closet, starve them, or hit them on the head with a frying pan.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2018 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38805

Die FAS vom 20.5.18 druckt im Rahmen einer Serie über KI ein Kapitel aus dem neuen Buch von Markus Gabriel („Der Sinn des Denkens“) ab. Gabriel hält die Argumente von John Searle und andere zur grundsätzlichen Überlegenheit des Menschen über den Computer für „weiterhin gültig“.
„Die Grundidee lautet: Die Schaltkreise unserer digitalen Technik sind schlicht nicht dafür geeignet, Träger von Bewusstsein zu sein. Nun ist Bewusstsein aber die Voraussetzung von Denken und Intelligenz. Bewusstsein hat sich in der Evolution ausgebildet. Im Menschen hat es einen Punkt erreicht, an dem es sich selbst erkennt. Wir sind nicht nur bewusst (wie andere Tiere auch), sondern wir wissen dies. Wir sind das einzige Tier, das sich selbst über die Erkenntnis seiner Animalität und seines Bewusstseins steuert. Menschen haben eine Anthropologie, Löwen aber keine Leontologie.“
Usw., wie gewohnt. Davon behauptet Gabriel sogar: „Diese Diskussion ist in der deutschen Öffentlichkeit bisher nicht hinreichend angekommen.“ Das kommt darauf an, was man unter Öffentlichkeit versteht. Auch in anderen Ländern spielen solche Gedankenspiele in der Öffentlichkeit keine große Rolle. In der Philosophie und Essayistik sind es Alltagsgegenstände.
Die Theorie ist völlig naiv. Bewußtsein hat sich nicht in der Evolution entwickelt, sondern manche Sprachgemeinschaften haben „Bewußtsein“ und andere Konstrukte geschaffen, um sich besser zu verständigen, zum Beispiel in medizinischen, forensischen und religiösen Zusammenhängen. (Man würde gern erfahren, was es genau bedeutet, daß das „Bewußtsein sich selbst erkennt“, daß ein „Tier sich selbst steuert“ usw. ...) Der Mensch hat Sprache, darauf läuft alles hinaus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2018 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38810

Wenn jemand sagt, er habe kein Bewußtsein, sollte man ihn in einen Deutschkurs für Fortgeschrittene schicken.

Das ist das ganze Geheimnis von Phänomenologie und "Philosophie des Geistes".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2018 um 16.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38816

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38567

Man kann schlechterdings nicht sagen, ob ein einjähriges Kind sich im Spiegel erkennt oder nicht. Es versucht zwar nicht, sich jenen Farbtupfer aus dem Gesicht zu wischen (warum sollte es?), verhält sich aber bei weitem nicht so, als säße ein anderes Kind ihm gegenüber.

Dieser vielbeachtete Versuch ist also nicht besonders aufschlußreich.

Inzwischen ist auch der False-belief-Test, von Dennett ersonnen und von Wimmer und Perner bekannt gemacht, stark an Wert gesunken, vor allem wegen seiner Sprachlastigkeit und der Unzuverlässigkeit seiner Ergebnisse. Man hätte das früher erkennen können.

Der nächste Kandidat ist die "mentale Rotation" (falls nicht schon geschehen, ich bin nicht so auf dem laufenden).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.05.2018 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38838

In Deutschland galt lange Zeit Heinz Heckhausen als Papst der Motivationspsychologie. Auch als Referendare wurden wir damit traktiert. Ich mußte mir auch einen Vortrag von ihm anhören, als ich sein Hauptwerk "Motivation und Handeln" schon kannte. Gelesen hatte ich es eigentlich nicht, weil ich immer nach spätestens zwei Seiten in Tiefschlaf fiel. Es ist eine gigantisch ausgebaute folk psychology, weit diesseits von allem, was ich mir unter Wissenschaft vorstelle. Wer es nicht glaubt, sehe sich dies an: https://de.wikipedia.org/wiki/Rubikonmodell_der_Handlungsphasen

Alles ganz nett und einleuchtend, nicht wahr? Und überflüssig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.06.2018 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38892

Die Spielarten des Okkultismus werden in den Medien durchweg zu unkritisch bis wohlwollend dargestellt. Kürzliche schrieb die FAS über Spukhäuser:

Dass in Häusern Phänomene auftreten, die rational nicht zu erklären sind und von dem Bewohner als „schlechte Energie“ oder auch „Spuk“ benannt werden, wird in der psychologischen Forschung, die sich diesem Grenzgebiet widmet, nicht bestritten. Völlig ungeklärt ist jedoch, wodurch sie auftreten. Vorherrschend ist die psychodynamische Deutung von Spukphänomenen: Sie geht davon aus, dass Spannungen, Konflikte oder auch anstehende persönliche Entwicklungen der Person, die den Spuk erlebt, nicht von ihr gelöst werden können. Die Probleme werden nach außen verlagert und können sich in objektiver Form bemerkbar machen – wie das funktioniert, ist nicht erforscht.

Der Bender-Nachfolger Walter von Lucadou, den man hier zu hören glaubt, wird später tatsächlich zitiert.

Die "psychologische Forschung, die sich diesem Grenzgebiet widmet", ist eben die Parapsychologie selbst, eine reine Pseudowissenschaft. Journalisten untergraben die ohnehin immer gefährdete Schulbildung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2018 um 05.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38901

Der grundlegende Taschenspielertrick besteht darin, „unerklärt“ durch „unerklärbar“ zu ersetzen. Daß etwas „rational“ oder „mit den Mitteln der Wissenschaft“ nicht zu erklären sei, läßt sich nicht beweisen und wird von wirklichen Wissenschaftlern nicht angenommen. Die kennen viel Unerklärtes, aber nichts Unerklärbares. Die professionellen Zauberer helfen dabei, manches Unerklärliche zu erklären. Niemand glaubt ja, daß David Copperfield wirklich durch die Chinesische Mauer schreitet usw. Der einst berühmte Hans Bender, der sich wie seine Nachfolger als psychohygienischer Aufklärer gab, beschäftigte sich ernsthaft mit der Erforschung von Telekinese, deren Spitzenleistung darin bestand, Orangen durchs Wohnzimmer fliegen zu lassen. Bender fiel auch auf Uri Gellers Gabelbiegerei herein. Er hielt manchmal noch an übersinnlichen "Phänomenen" (= Schabernack) fest, wenn sie schon aufgeklärt waren.
Das aufklärerische Mäntelchen stimmt auch den Staat milde, er gibt gern Geld dafür aus, jedenfalls lieber als für die "platten" (= gottlosen) Rationalisten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2018 um 05.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38902

Eine Erinnerung: Der bedenkliche und nicht ungefährliche Ahnenerbe-Forscher Herman Wirth (https://de.wikipedia.org/wiki/Herman_Wirth), den ich beiläufig schon erwähnt habe, lebte die zweite Hälfte seines Lebens unbehelligt in seinem schönen Haus und Garten in Marburg, wo ihn seine Anhänger (und sogar Willy Brandt) besuchten und wo er auch seine religionsgeschichtliche Sammlung untergebracht hatte.

Es war deutlich zu erkennen, daß seine Matriarchats-Phantasien mit seinem Verhältnis zu seiner eigenen Frau zusammenhingen. Wie oft mögen Thesen und Weltanschauungen (heute: "Narrative"), zum Teil mit weltgeschichtlichen Auswirkungen, eine solche Grundlage im Allerpersönlichsten haben?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2018 um 16.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38910

Die Anhänger alternativer Medizin hoffen nicht selten, die "Schulmedizin", die sich mit aufwendigsten Verfahren um eine kausale Therapie von bisher unbeherrschten Krankheiten bemüht, durch Entdeckung eines ganz simplen, aber durchschlagend wirksamen Heilmittels beschämen zu können. Die Karl und Veronika Carstens-Stiftung förderte die Erprobung von Ruta-Tee gegen multiple Sklerose. Der Geschäftsführer sagt in einem Vortrag, Ergebnisse lägen zwar noch nicht vor, aber:

Eine Studie im vergangenen Jahr an 10 Patienten zeigte nach nur einer Tasse Tee bei jedem Betroffenen positive Effekte – und keine unerfreulichen Nebenwirkungen. (Dr. Henning Albrecht in Natur und Medizin 4/93:14)

Er fährt mit deutlich erkennbarer Vorfreude auf den erhofften Triumph über die Schulwissenschaft fort:
Man stelle sich vor: ein Tee gegen MS. Die Meinung der neurologischen Fachwelt können Sie sich denken; verständnisloses Kopfschütteln ist noch das Geringste.

Wikipedia dagegen meldet nüchtern:

In der heutigen Pflanzenheilkunde außerhalb der Volksheilkunde findet die Weinraute keine Verwendung mehr. Die Pflanze ist phototoxisch, das heißt, sie kann Hautreizungen bei gleichzeitiger Berührung und Sonneneinstrahlung hervorrufen (vergleiche Herkulesstaude). Sie sollte außerdem nicht von schwangeren Frauen verwendet werden, da sie zu Fehlgeburten führen kann.

Der emotionale Überschuß in der Redeweise des Naturheilkundlers verrät das Ressentiment.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2018 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38957

Haben Bienen ein Bewusstsein? Neue Forschungen legen das nahe (Wolfgang Krischke berichtet in der FAZ vom 13.6.18 über die Arbeiten von Lars Chittka)

Vorausgesetzt wird natürlich, daß Menschen ein Bewußtsein haben. Es wird nicht erkannt, daß es sich nicht um eine Tatsachenfrage handelt, die folglich auch nicht durch „Forschungen“ beantwortet werden kann. Man sollte also fragen: Ist es zweckmäßig und notwendig, das Verhalten der Bienen mit dem mentalistischen Konstrukt „Bewußtsein“ zu beschreiben, das viele Menschen zur Koordination ihres eigenen Verhaltens benutzen?

Gegen Ende werden praktische Folgen angedeutet: Ausweitung des Tierschutzes von Wirbeltieren auf Insekten.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.06.2018 um 10.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38959

Auf niedrigeren Entwicklungsstufen besteht das Bewußtsein (aus mentalistischer Sicht) vielleicht nur aus einem Schmerzempfinden. Die Kreatur fühlt den Schmerz, bemerkt, daß sie selbst es ist, die Schmerzen spürt, und versucht sich diesen zu entziehen. Alles andere sind Reflexe.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2018 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38963

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir wissen es nicht und werden es nie wissen, aber nicht aus empirischen Gründen (daher mein zuversichtliches "nie"!). Und was soll es heißen, daß eine Kreatur erkennt, daß sie selbst es ist usw.?

Übrigens macht der Radikale Behaviorismus vom Begriff des Reflexes (und auch des Instinkts) keinen Gebrauch.

Bienen sind lernfähig – wen wundert das? Gegen eine nennenswert verbreitete Auffassung verstößt diese Einsicht gewiß nicht. Man muß ja nicht gleich von "Bewußtsein" reden.

Vor einigen Jahren hatte ich schon dies eingetragen:

Bienen sind verdammt gescheit. Sie lernen ungeheuer schnell. Und sie sind zuverlässig. Sie sind eigentlich die idealen Versuchstiere für eine Dressur. Einmal habe ich drei Wochen lang mit einer einzigen Biene gearbeitet. In der Zeit hat sie etwa 25.000 Entscheidungen getroffen. (Randolf Menzel, www.zeit.de) (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#29787)

Zum Umgang des Behaviorismus mit dem schlecht definierten Instinktbegriff vgl. https://edisciplinas.usp.br/pluginfile.php/374430/mod_resource/content/1/The%20phylogeny%20and%20ontogeny%20of%20behavior-%20Skinner%201966.pdf
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.07.2018 um 05.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38992

Wieso "kognitive Revolution" (angeblich vor etwa 70.000 Jahren)? Neuerdings wieder durch den Bestseller von Harari bekannt geworden.

Das Kognitive ist ein Konstrukt; real ist die beschleunigte Veränderung von Verhaltensweisen, faßbar in den Artefakten. Wahrscheinlich gibt es eine soziologische Erklärung kulturellen Wandels ohne künstliche Annahmen über "Kognition".
Man denke an die Veränderungen etwa seit Galilei. Fast möchte man die heutigen Menschen mit ihren Computern und Mondraketen für eine andere Spezies halten. So kann man sich täuschen. Weiterentwicklungen des Faustkeils, die sich über Tausende von Jahren hinzogen, sind keine "Revolution".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.07.2018 um 15.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39046

Wir suchen nicht im Langzeitgedächtnis. Aber sogar Psychologen sprechen das nach, seltsam genug.

Wie soll man nach etwas suchen, wenn man gar nicht weiß, was es ist? (Schon von Platon erkannt.) Der Vorrat, in dem man sucht, ist auch gar nicht gegenwärtig.

In Wirklichkeit lassen wir aufsteigen, und wir verwerfen, bis das Richtige da ist. So lehrt es die Selbstbeobachtung.

Objektiv ist es wieder anders: Eine Reaktion bereitet sich vor ("inkrementell"), ist aber nicht stark genug, um zur motorischen Exekutive durchzubrechen. Es fehlen noch Impulse aus irgendwelchen Hirnregionen oder äußere Stimuli. Das kann ganz Verschiedenes sein. Zum Beispiel eine Verkettung ("fliegender Start").

Manchmal sind andere Reaktionen stärker. Es liegt mir auf der Zunge, aber etwas anderes drängt sich vor. Geänderte Umstände heben die Blockade auf.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.07.2018 um 03.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39052

Wenn wir zu einem Kind sagen Stell dir vor..., bringen wir ihm die „transgressive“ Redeweise bei, die sich auf eine private Innenwelt zu beziehen scheint. Einem solchen Menschen wird es später nicht mehr möglich sein, die Existenz von „Vorstellungen“ zu bezweifeln; das würde ja auf das Eingeständnis hinauslaufen, daß er die deutsche Sprache nicht beherrscht.

Wenn man dies bedenkt, kann man die Grundthese der (immer noch!) „introspektiv“ orientierten naiven Psychologie besser beurteilen: Babies experience their own mental states und: Infants gain an understanding of others in analogy with the self. (Meltzoff)

Das ist offenbar Unsinn. Es gibt da nichts zu erfahren; jeder kann nur explizieren, was die anderen in ihn hineingeredet haben.
Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#35259
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2018 um 04.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39060

Wer zum Bahnhof rennt, muß doch „glauben“, daß der Zug noch nicht abgefahren ist usw. – was hat es mit diesem unbestreitbaren Müssen auf sich?

Er glaubt auch, daß der Boden unter ihm nicht nachgibt, daß er zu Hause nicht dringender gebraucht wird und daß er Deutsch kann, aber nicht Japanisch - und eine Million andere Tatsachen. Außerdem glaubt er, daß er all dies glaubt, denn bestreiten kann er es nicht. Usw. – Irgend etwas stimmt hier nicht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.07.2018 um 10.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39062

Ich finde, daran stimmt schon im Prinzip alles. Nur ist die Gesamtheit dessen, was man alles glaubt, einem nicht ständig bewußt.

Wenn ich versuche, den Zug zu erreichen, also glaube, ihn erreichen zu können, denke ich an den Zug und an praktische Umstände, die damit zusammenhängen, aber normalerweise nicht daran, daß ich etwas glaube, oder daß ich zu glauben glaube.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2018 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39063

Man verwechselt die Voraussetzungen, die etwas hat, mit Voraussetzungen, die man macht. Eigentlich ein Wortspiel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2018 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39081

In Frieden auseinanderzugehen, fällt vielen schwer. Dabei macht Conscious Uncoupling alles leichter. Eine Mediatorin erklärt, warum sich die Trennung im Guten lohnt.
„Bei einer Trennung wird das limbische System im Gehirn aktiviert, das auch zuständig ist, wenn wir uns verlieben. Es kennt nur ein Ziel: Dieser Mensch soll gehalten werden!“
(SZ 13.7.18)

Das sagt Annette Oschmann. Als Mediator und Coach unterstützt die studierte Rechtsanwältin Paare dabei, sich einvernehmlich zu trennen.

Rechtsanwälte wissen alles, kennen auch die Ziele des limbischen Systems.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.07.2018 um 09.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39088

„Das Nachdenken über Sprache unter evolutionärem Gesichtspunkt ist in den letzten Jahrzehnten nach der Öde des Behaviorismus erst allmählich wieder in Gang gekommen.“ (Karl Eibl: „Sprache macht Kultur“ http://eibl.userweb.mwn.de/SpracheKultur.pdf)

„Der ‚Kulturismus‘ (...) ist, konsequent zu Ende gedacht wie im radikalen Behaviorismus, verbunden mit dem Gedanken einer beliebigen Modellierbarkeit des Menschen.“ (Verweis auf: Burrhus F. Skinner: Jenseits von Freiheit und Würde. Reinbek 1972.)

Eibl kann weder „Verbal Behavior“ noch das eigens erwähnte Buch gelesen haben. Man wundert sich über das Selbstbewußtsein des Literaturwissenschaftlers. Der überlegene Ton stammt wahrscheinlich aus oberflächlicher Chomsky-Lektüre.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.07.2018 um 16.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39100

Sicherlich kann man Xenophanes weder einen Dualismus noch eine systematische Unterscheidung von Seelischem und Körperlichem zuschreiben. (Franz von Kutschera: „Das Fragment 34 von Xenophanes und der Beginn erkenntnistheoretischer Fragestellungen“, in: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Akten des 7. Internationalen Wittgensteinsymposiums 1982 in Kirchberg a.Wechsel, Wien 1983: 19-25)

Er selbst glaubt aber daran und fragt, wann dieser vermeintliche Fortschritt stattfand. Das ist naiv. Man kann ein mentalistisches Modell nicht an einem anderen messen, so wenig wie eine Religion an der anderen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2018 um 04.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39171

Die Karl und Veronika Carstens-Stiftung (s. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38910) fördert die Verbreitung der Homöopathie. Soll der Staat so etwas dulden? Schließlich unterminiert es seine Bildungsanstrengungen vom wissenschaftlich gegründeten Schulunterricht bis zur Medizinerausbildung. Unter Religionsfreiheit fällt es auch nicht. Bleibt noch die Meinungsfreiheit. Schwieriger Fall.
Man würde mindestens weniger Duckmäuserei, eine klarere Stellungnahme erwarten. Es stimmt ja einfach nicht, daß es hierzu keine hieb- und stichfesten wissenschaftlichen Arbeiten gebe. Auf anderen Gebieten läßt man "anything goes" keineswegs gelten. Sonst gäbe es immer noch verbleites Benzin, keine Gurtpflicht, keine Rauchverbote usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2018 um 04.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39172

Die Verkettung des Verhaltens zu schönen glatten Abläufen wird gelernt, aber wie es physiologisch zugeht (Lashleys Problem des "serial order"), ist unbekannt.

Beobachten Sie, wie jemand ißt! Kleine Kinder sperren den Mund auf, wenn der Löffel noch weit entfernt ist. Bei einem erwachsenen Tischgenossen käme uns das befremdlich vor.

Man kann es im Computer simulieren, aber damit kommt man einer Erklärung der Nerventätigkeit nicht näher. (Das Hauptinteresse gilt natürlich dem Sprachverhalten. Lashleys Aufsatz hat auch Chomsky angeregt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2018 um 04.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39173

Man kann nicht herausfinden, was das Denken wirklich ist. Der Ausdruck gehört zur folk-psychologischen Redeweise und enthält keine konsistente Theorie. Wissenschaft kann nicht besser als gewöhliche Sprecher wissen, was Denken ist. Ebenso Wollen usw.; Juristen versuchen es zu präzisieren und legen damit zugleich eine Verwendung fest.

Man kann die Vorgänge im Gehirn untersuchen und immer mehr darüber wissen; das ist aber nicht das Denken im Sinne der Allgemeinsprache, sondern ein anderer Gegenstand.
Ich kann von Pakistan sprechen (es erwähnen), aber in Wirklichkeit Afghanistan meinen. Das Meinen ist keine zweite Tätigkeit. Meine Äußerungen stehen unter der Steuerung durch Afghanistan (erlebte oder gelesene Informationen aus Afghanistan); die Erwähnung Pakistans war ein Irrtum. Solche Mißgriffe kommen oft vor und sind logisch nicht schwer auflösbar.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.07.2018 um 15.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39174

Es ist zwar nicht behavioristisch, aber ich würde sagen, der Mensch speichert in sich in irgendeiner biologischen Form Information.
Denken ist Informationsverarbeitung.
Sich im Raum bewegen beruht auch auf Informationsverarbeitung.

Warum diese Annahme nicht Grundlage einer Wissenschaft vom Denken sein kann, erschließt sich mir nicht. Vielleicht kommt die Wissenschaft eines Tages doch noch dahinter oder in die Nähe, wie der Mensch Information speichert, abruft, und wie Denken funktioniert.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.07.2018 um 04.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39175

Zeichen entstehen durch empfängerseitige Semantisierung, das ist klar (s. Naturalisierung). Die Bedeutungszuschreibung ist aber nur der erste Schritt. Vergleichen wir:

„Signal evolution begins when others read some aspect of normal behaviour as significant.“ (Chris Knight in Alison Wray, Hg.: The Transition to Language. 2002:147)

„There must be a listener before there can be a speaker. The same seems to be true of the signaling behavior of other species. Something one animal does (making a noise, moving in a given way, leaving a trace) becomes a signal only when another animal responds to it.” (B. F. Skinner: Recent Issues in the Analysis of Behavior. Columbus 1989:36)

Skinners Formulierung ist besser, weil es nicht damit getan ist, daß ein anderes Lebewesen etwas als bedeutungsvoll „liest“, sondern eine wirkliche Reaktion erfolgen muß, die auf den „Sender“ zurückwirkt und dessen Signalverhalten verstärkt, d. h. die Entwicklung zum wirklichen Zeichen erst in Gang setzt. Die Baumringe werden nicht schon dadurch zum Zeichen, daß ein Beobachter aus ihnen etwas herausliest. Das verändert die Ringe ja nicht, sie werden dadurch nicht prägnanter ausgebildet usw. Wohl aber wirkt es auf die Schwanzfedern der Paradiesvögel zurück, wenn die Weibchen "darauf fliegen".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.08.2018 um 03.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39238

Kinder sollen erst dann in (volle) soziale Interaktion treten können, wenn sie eine „Theory of mind“ ausgebildet haben, d. h. Annahmen über mentale Zustände und Vorgänge im jeweiligen Interaktionspartner. Auch von höheren Tieren wie Schimpansen nimmt man es an (in diesem Zusammenhang hat Premack den Begriff ToM überhaupt erst geprägt). Besonders die Autismusforschung hat diese Ansicht übernommen, sie herrscht aber auch sonst fast allgemein. („One of the most interesting transitions in human mental development happens when a child realizes that other humans are conscious agents who have minds.“ Usw. – Tomasello ist in Deutschland ein besonders naiver Vertreter.) Zur seltenen Kritik vgl. Ivan Leudar/Alan Costall (Hg.): Against Theory of Mind. London 2009; Povinelli, vor allem aber Hacker/Bennett.

Natürlich muß der Begriff der „Theorie“ umgedeutet werden, wenn Lebewesen, die noch nicht oder grundsätzlich überhaupt nicht sprachfähig sind, über eine Theorie verfügen sollen. Aber davon abgesehen: Um diese Theorie mit Inhalt zu füllen, haben Kinder und Tiere nichts zur Verfügung als die Beobachtung des wahrnehmbaren Verhaltens. Daher stellt sich die Frage, ob diese Daten nicht genügen, um sich auf das Verhalten des anderen einzustellen. Was der andere tun wird, kann ohne Annahme von dessen Annahmen (beliefs) und Absichten aus dem „erschlossen“ werden, was er bisher getan hat, was unter den gegebenen Umständen getan zu werden pflegt, was man selbst an seiner Stelle tun würde usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.08.2018 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39239

Noch einmal zu Elisabeth Wehling. Im allgemeinen Geschwätz fiel wohl kaum auf, daß die ZEIT einmal geschrieben hatte:

Die Neurolinguistin Elisabeth Wehling weiß, warum sogar Arbeitslose, Frauen und Einwanderer Donald Trump wählen werden – obwohl er gegen sie hetzt.

Man könnte sie ebenso gut als Astrolinguistin bezeichnen. Mit Neurologie hat sie nichts zu tun und mit Linguistik noch viel weniger als ihr Mentor Lakoff.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.08.2018 um 10.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39240

Raben „können sich in ihresgleichen hineinversetzen“. Wieder einmal berichtet die Zeitung (FAZ 1.8.18) über Forschungen von Thomas Bugnyar (Wien) und Kollegen (vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31615). Der metaphorische Charakter solcher Darstellungen wird nicht erkannt, und er ist mehr als nur eine stilistische Frage. Das gilt auch für die "Perspektivenübernahme", von der z. B. Tomasello so gern spricht. Was liegt wirklich vor, wie ist das Verhalten in eine Lerngeschichte eingebettet?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.08.2018 um 17.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39250

Zur Parapsychologie und Walter von Lucadou:
(http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1103#39247 mit weiteren Links):
Ein Staat, der sozusagen amtlich den Wunderglauben fördert, hat dem Okkultismus im Grunde nichts entgegenzusetzen, und die allgemeine Vorsicht im Umgang mit Religion setzt sich fort in der immergleichen Strategie der Journalisten: Man läßt den Spukgläubigen zu Wort kommen und stellt ihm die Meinung eines Skeptikers entgegen, ohne sich selbst festzulegen. Man ist ja "offen" – die eigentlich wissenschaftliche Haltung...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2018 um 08.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39266

Noch einmal zum Spiegeltest (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38567)

https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegeltest
https://en.wikipedia.org/wiki/Mirror_test (ausführlicher)

Die Spiegelversuche stehen meist unter der Frage, ob das Tier oder das kleine Kind „Selbsterkenntnis“ oder „Selbstbewußtsein“ (self-recognition, self-awareness) hat. Diese Begriffe bezeichnen jedoch kein definierbares Verhalten, sondern sind dessen philosophische Deutung. Ein Verhalten ist zum Beispiel der Versuch, einen Farbtupfer zu entfernen, der dem Tier unter Narkose beigebracht worden ist und den es nur im Spiegel sehen kann.
Zur Erklärung müßte die Konditionierungsgeschichte des Versuchstiers bekannt sein; das ist praktisch nie der Fall. Zwar wird manchmal versichert, das Tier habe keinerlei Erfahrung mit spiegelnden Oberflächen, aber wie will man das sicherstellen?
Die entscheidende Selbstmanipulation des Tiers ist wohl niemals die erste überhaupt unter visueller Steuerung durch das Spiegelbild. Auch das wird praktisch nie untersucht.
Zu beobachten ist, daß Tiere und sehr kleine Kinder das Interesse an ihrem Spiegelbild schnell verlieren, wahrscheinlich weil es nicht so reagiert wie ein Artgenosse. Kinder entdecken erst später, daß man vor einem Spiegel lustige Sachen machen kann: Grimassen schneiden, die Nase plattdrücken usw.
Nicht zu vergessen ist auch, daß Tiere sich nicht für ihren eigenen Schatten interessieren, wohl aus demselben Grund. Auch hier erleben nur Menschenkinder eine zweite Phase, die sie zu Schattenspielen veranlaßt.
Sollten die belgischen Versuche mit Ameisen richtig sein, dürfte es sich verhaltensbiologisch um etwas ganz anderes handeln als bei Menschenaffen und anderen höheren Tieren. Auch darum sollte man jedes Experiment für sich untersuchen und nicht alles unter traditionelle philosophische Begriffe stellen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2018 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39275

Man tut etwas gegen Verkehrsunfälle:

"Elfenbeauftragte nehmen Kontakt zu Naturgeistern, Elementar- und Erdwesen auf", beschrieb Rüter ihr Tätigkeitsfeld. Die Menschen könnten mit Elfen, Zwergen und Trollen im Einklang leben, wenn sie ihnen nur genug Platz ließen – so auch an der A2: "Einige Strecken der Autobahn sind nun energetisch versiegelt."
Amtliche Unterstützung gab es dafür auch. Friedhelm Fischer, Chef der Landesstraßenbaubehörde in Hannover, sagte der Zeitung: "Wir sind eine offene Behörde." Er selbst sei zwar eher ein wissenschaftlich-skeptischer Typ. "Aber wenn die Frauen glauben, mit ihren Kräften etwas bewirken zu können, unterstützen wir das."
(General-Anzeiger 6.8.18)

Der Behördenchef traut auch Rutengängern einiges zu. Man muß halt "offen" sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2018 um 18.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39281

Zum vorigen:

Im Ministerium findet man die Aktion alles andere als gut. Spiritualität sei kein geeignetes Mittel, um den Straßenverkehr sicherer zu machen, sagte ein Sprecher. Nach jetzigem Stand sei das Ministerium vorab nicht über die Aktion informiert worden. Der Fall werde aus Sicht des Ministeriums in keiner Weise dem Thema Verkehrssicherheit auf Autobahnen gerecht – im Gegenteil: Er sei geeignet, die bereits ergriffenen und zukünftigen Maßnahmen für die Sicherheit auf Niedersachsens Straßen zu konterkarieren. Der Verantwortliche müsse sich zu dem Vorfall erklären, so etwas dürfe sich nicht wiederholen.

Mir fiel hier vor allem die Verwendung von Spiritualität auf. Wenn das Spiritualität ist (und nicht Spiritismus...), dann müssen sich unsere Theologen festhalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.08.2018 um 16.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39292

Ich gehe morgens einen Feldweg entlang und denke über dies und das nach, vor allem Literaturkritik, nicht sehr konzentriert. Plötzlich wird mir bewußt, daß ich es vor wenigen Minuten acht Uhr habe schlagen hören s. hier: https://www.google.de/search?q=spardorf+glockenhaus&hl=de&dcr=0&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwiLvej3g-DcAhWlxYUKHYM7BN8Q_AUICygC&biw=1280&bih=877#imgrc=iPASN7P-XJ50pM:

Genau genommen habe ich nicht mitgezählt, sondern nur den vollen Stundenschlag gehört, und ich weiß einfach aus anderen Gründen, daß es acht Uhr gewesen sein muß. Wie ist das „gespeichert“?
Zu Hause könnte ich meiner Frau erzählen, daß ich den Acht-Uhr-Schlag gehört habe, aber diese Mitteilung geht nicht auf den „Nachklang“ zurück, sondern auf eine ebenfalls unbekannte andersartige Veränderung in meinem Kopf („deklaratives Wissen“, haha!). Und ich könnte mir den Glockenschlag mit dem „inneren Ohr“ vorstellen, gleichsam vergegenwärtigen, das wäre wieder etwas anderes und von ähnlich illusorischer Art wie jenes „Ich sehe es genau vor mir“.

Alltägliche Erfahrungen und allesamt physiologisch vollkommen ungeklärt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2018 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39298

Der Deutschdidaktiker Lutz Götze (Bertelsmann-Wörterbuch 1996) gibt als sein Arbeitsgebiet u. a. Hirnforschung an, nur weil er gegentlich etwas Populärwissenschaftliches auf diesem Gebiet gelesen hat; andere Literatur gibt er nie an.

Sein eigenes offizielles Schriftenverzeichnis enthält fünfmal einen Aufsatz bzw. Vortrag zum Stand und Nutzen der Hirnforschung für den Zweitspracherwerb.

So etwas ("Neurobabble") fällt im Zeitalter der Spitzer usw. gar nicht mehr auf.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2018 um 06.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39302

Mit den neuen neurobiologischen Verfahren ist es möglich geworden, Bewusstseinsvorgänge, die zuvor nur über den Weg der Reportage aus der Perspektive der ersten Person studiert werden konnten, der direkten Untersuchung aus der Perspektive der dritten Person zugänglich zu machen. (Jens G. Reich)

Nein, nicht die Bewußtseinsvorgänge, die ein mentalistisches Konstrukt sind. Immer derselbe Fehler.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2018 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39304

Der Versuch, für mentalistische Konstrukte doch noch eine physiologische Entsprechung zu finden, führt zu Eccles’ "Liaison-Hirn" und Bunges "Psychonen". Also Pseudoneurophysiologie. Das Liaison-Hirn ist zwar eine hypothetische Einheit (wie die Synapsen es waren, bevor man sie sah), aber die Ausgangsannahme ist ein mentalistisches Konstrukt „Geist“. Darum bleibt die Suche nach dem Liaison-Hirn vergeblich, aus begrifflichen und nicht aus physiologischen Gründen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2018 um 17.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39306

Wenn Säuglinge andere dabei beobachten, dass sie dasselbe tun „wie ich“, gehen sie davon aus, dass diese anderen dieselbe mentale Erfahrung machen, die ihr eigenes Selbst diesem speziellen Verhaltensmuster zugeordnet hat. (Andrew N. Meltzoff, zit. nach Falk 198)

„Mentale Erfahrung“, „Selbst“ sind Erfindungen der jüngeren Philosophiegeschichte und werden hier dem Säugling untergeschoben als „theory of mind“.
Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39052
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.08.2018 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39367

In seinem neuesten Werk rechnet der bedeutende Sprachwissenschaftler Geoffrey Sampson mit der Allgemeinen Sprachwissenschaft ("Theoretischen Linguistik") ab:

An academic discipline which was founded a century ago, and took off in numbers and popularity half a century ago, ought presumably by now to be offering us worthwhile new insights into its subject-matter. We are not getting that from linguistics. (...) If the discipline of linguistics has so little to be said in its favour, one might wonder how it continues to flourish as widely as it does.

Die Einleitung kann man hier lesen: https://www.grsampson.net/BLxD.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.08.2018 um 04.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39412

Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. 3. Aufl. München (Beck):2011.

In nichtreformierter Rechtschreibung.

Konventionelle mentalistische Psychologie bzw. Philosophie der Psychologie. Wiederholt die These George A. Millers von den sieben „Informationseinheiten“ (1956), die das Kurzzeitgedächtnis fasse. Die These ist wertlos, weil die wissenschaftlich klingenden „Informationseinheiten“ (Chunks) nie definiert worden sind. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1540#26926

The concept of chunking has had a powerful influence on modern studies of cognition, in particular, analyses of serially organized behavior. However, the uncritical application of this concept has led to the neglect of operational definitions of a chunk. The few definitions of chunks that have been proposed assume that chunks are organized verbally [e.g., (Simon, 1974) and (Shiffrin & Nosofsky, 1994)]. Such definitions are of no value in analyses of chunking in animals. (Herbert Terrace)

Die These von der erfolgreichen unterschwelligen Werbung durch in Filme eingeblendete, nicht bewußt wahrnehmbare Werbetexte wird unkritisch referiert, wahrscheinlich aus Vance Packards einflußreichem Buch „Die geheimen Verführer“. Dazu Wikipedia:

Packard brachte als Erster das Thema Unterschwellige Werbung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, indem er über die von James M. Vicary, dem Inhaber der New Yorker Werbeagentur „Subliminal Projection Co.“ angeblich entwickelte Technik der subliminalen Beeinflussung berichtete. Diesen Berichten zufolge sollten im Kino nicht wahrnehmbare Werbespots für Popcorn den Verkauf von Popcorn in die Höhe getrieben haben (Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie). Die Behauptungen erwiesen sich aber bald als von Vicary erfunden.

Dieselbe Leichtgläubigkeit gegenüber den bildgebenden Verfahren (Hirnscans).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.08.2018 um 04.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39417

Welzer berichtet, wie er den neugeborenen Sohn auf seinem Bauch liegen hat; aus seinen Bewegungen erschließt er, daß das Kind träumt: Im Schlaf hatte das Neugeborene offenbar die stärkste Erfahrung des jungen Lebens wiederholt: die sequenzierten Anstrengungswellen seiner eigenen Geburt. (S.73)

Wahrscheinlich hat die Psychoanalyse dazu beigetragen, daß die Willkür solcher Spekulationen („offenbar“!) kaum noch empfunden wird. (Was soll es eigentlich heißen, daß das Kind die Geburtsanstrengungen "wiederholt"? Ich sehe nur pseudowissenschaftliches Gerede, wo man in Wirklichkeit nichts weiß.)

Im Buch ist so oft von "Repräsentationen" die Rede, dem Kernbegriff der kognitivistischen Mode, daß dies nicht einmal ein Stichwort im Register ist – so selbstverständlich wird es verwendet. (Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26065) Was sollen „neuronale Repräsentationen des Selbst-im-Zusammenhang-mit-anderen“ sein (82)? Keine noch so genaue Untersuchung des Gehirns wird je eine "Repräsentation des Selbst-im-Zusammenhang-mit-anderen“ entdecken. Das Ganze ist Neurobluff, brain porn. Welzer erreicht an keiner Stelle die Erklärungsebene des Neuronalen, obwohl er ständig aus der neurologischen Literatur zitiert. Das wäre auch gar nicht nötig, weil es ihm als Soziologen ja um die gesellschaftliche Konstruktion des sogenannten Gedächtnisses geht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.08.2018 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39437

Die Hirnforschung kann heutzutage nachweisen, dass Kinder vor allem achtsame Begleitung benötigen. (Nicola Schmidt: Artgerecht. Das andere Kleinkinderbuch. München 2018:10)

Fehlt nur noch die Lokalisation der Repräsentation von Achtsamkeit. Das Buch geht noch an vielen Stellen auf das Gehirn ein, alles gutgemeint und überflüssig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.08.2018 um 07.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39441

Welzer hält die Zeit für ein soziales Konstrukt.

Zeit ist also keineswegs etwas Objektives, weshalb genialische naturwissenschaftliche Bemühungen wie Stephen Hawkings „Kleine Geschichte der Zeit“ vollständig das Thema verfehlen. (134)

Ich habe Hawking nicht gelesen, kann mir aber nicht denken, daß er dasselbe Thema hat wie Welzer. Aber Welzer gerät auch in einen Selbstwiderspruch, wenn er unter Zeit nichts anderes versteht als den kulturell geprägten Begriff von Zeit. So referiert er Piagets Lehre von der Entwicklung des Zeitbegriffs beim Kinde, und Entwicklung vollzieht sich ja ihrerseits in der Zeit – aber in welcher? Und er selbst schreibt:

Es bedurfte phylogenetisch einer außerordentlich langen Entwicklungszeit, bis Menschen lineare, regelmäßige und abstrakte Zeitintervalle operationalisiert hatten. (113)

Wie denn das? Je radikaler sich der Konstruktivismus gibt, desto eher fragt man, wie es denn um ihn selbst und seinen Wahrheitsanspruch steht.
In der Widerständigkeit der Natur liegt doch wohl etwas Nichtkulturelles, Nichtkonstruiertes. Zum Beispiel in der Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit und dann in der Speziellen Relativitätstheorie wurde es erfahren und nicht erfunden. Welzer selbst spricht ja zwischendurch von der Regelmäßigkeit der Naturerscheinungen als Grundlage unserer Zeitmessung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.08.2018 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39447

In my experience it’s a waste of time trying to convince someone who endorses representational cognition that there are no representations. (http://psychsciencenotes.blogspot.com/2011/07/selection-of-problems-with.html)

Sehr wahr.

A total rejection of representationism ignores everything that is currently known about cognition. Without accurate mental maps one cannot even find the restroom in a philosophy department. (Jan Koster)

Woher will der Linguist das wissen? Die begrifflichen Schwierigkeiten einer solchen Annahme scheint er nicht zu sehen. Kartenlesen will gelernt sein, und überhaupt: Wer liest die Karten im Geist (im Gehirn?)? Das oberflächlich überzeugende Gerede verdeckt die Unwissenheit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.08.2018 um 08.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39452

Noch eine Beobachtung zu Welzers Buch:

Das sehr lückenhafte Personen- und Stichwortverzeichnis enthält andererseits irrelevante Namen wie Olof Palme und John F. Kennedy, die lediglich in Beispielen von Erinnerungsverhalten vorkommen. Aber am schönsten ist der zweimalige Verweis auf eine gewisse Smilla...

Das erklärt sich wohl aus der Gewohnheit, Stichwortverzeichnisse durch Hilfskräfte anfertigen zu lassen. Ich selbst habe als Student mal ein riesiges Stichwortverzeichnis zum Wälzer eines Latinisten gemacht, damals noch ohne Computer mit Tausenden von Zetteln, die alphabetisch geordnet und dann abgetippt werden mußten. Die Entscheidung, was überhaupt aufgenommen werden sollte, in Abstimmung mit dem eigenwilligen Verfasser, war ziemlich strapaziös. Bei meinem eigenen Fachsprachenbuch habe ich dann die entsprechende Funktion meines StarWriter genutzt, aber eine abschließende Durchsicht ist immer geboten.

Die automatischen Funktionen des Textprogramms snd wahrscheinlich auch schuld daran, daß in Welzers Buch die Kapitel III und VII jeweils nur ein einziges, mit "1." numeriertes Unterkapitel haben.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.08.2018 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39453

In my experience it’s a waste of time trying to convince someone of anything.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.09.2018 um 05.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39462

Hans-Joachim Maaz hat auch wieder zugeschlagen. Er ist ja „Experte“ für das Seelenleben der Ostdeutschen und wird bis an sein Lebensende immer wieder gefragt werden. „Gefühlsstau“ läuft schon 30 Jahre unverändert sehr gut.

Es war amüsant zu beobachten, wie der Mann gleich nach der Wiedervereinigung ins (westdeutsche) Bestsellergeschäft einstieg, das er nur zu gut verstanden hatte (ein Schlagwort als Markenzeichen muß her!). Ein bißchen erstaunt war ich darüber, daß die Mischung aus Psychoanalyse und Gesellschaftskritik bzw. politischer Kannegießerei immer noch so gut ankam. Der Vertrauensvorschuß für die Psychoanalyse ist immer noch nicht aufgebraucht. Maaz ist nun ziemlich weit rechts ("Charta 2017"), aber das kann auch auf seinem Geschäftssinn beruhen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2018 um 04.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39545

https://www.spektrum.de/news/der-hype-um-die-achtsamkeit/1589158

Recht so! Besonders unangenehm finde ich die Verbindung der "Achtsamkeits-Industrie" mit dem Genderwahn. Dadurch kommt die Achtsamkeit aus den Jogazirkeln heraus und durchdringt "alle Lebensbereiche", wie vom Mainstreaming gefordert.
 
 

Kommentar von Frank Daubner, verfaßt am 15.09.2018 um 17.27 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39547

Die Universitäten sind natürlich wieder an vorderster Front dabei, weil die Fortbildungsverantwortlichen nie wissen, was sie eigentlich machen sollen: An der Uni Bielefeld gibt es eine Weiterbildung für "Lehrende" zu "Gender-Achtsamkeit in der Lehre", in der man zum Beispiel reflektieren kann, mit wie viel Gender-Achtsamkeit man in der Lehre "unterwegs" sei. "Dieser Workshop kann im Bielefelder Zertifikat für Hochschullehre mit 3 AE für das Methodenmodul Themenfeld C (Studierende begleiten und beraten) angerechnet werden."
(http://www.uni-bielefeld.de/pep/fortbildung/service_lehre/VonBelow_gender_achtsamkeit.html)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.09.2018 um 04.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39548

Als Professor kann man sich (noch) von dieser Spielwiese fernhalten, aber es ist einem doch immer peinlich, daß es sie hinterm Haus gibt und daß Kollegen sich darauf tummeln.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.10.2018 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39816

Die FAZ hat zur Buchmesse einen Sonderteil über das Lesen. Hirnforscher Wolf Singer wird befragt, was beim Lesen im Hirn vorgeht, weiß es aber auch nicht. Thomas Thiel schreibt:

„Anders als das Sprechen ist die Lesefähigkeit nicht angeboren, sondern das Ergebnis der Verknüpfung der sensomotorischen und mentalen Gehirnareale.“ (FAZ 3.10.18)

Den neurologischen Unsinn lasse ich beiseite; der Verfasser, ein gescheiter Journalist mit germanistischem Hintergrund, weiß ja sowieso nichts darüber.

Aber wieso ist das Sprechen angeboren? Es muß doch ebenso gelernt werden wie das Lesen und Schreiben. Daß alle Völker sprechen, aber nicht alle lesen, ist kein Argument, denn als Kulturwesen von Natur aus könnte der Mensch ohne Kulturtechniken, die er erlernen muß, gar nicht überleben. Auch das Jagen und Sammeln mußten die Jäger und Sammler lernen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2018 um 06.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39835

Meine Bibliothek wird immer übersichtlicher. Alles von Luhmann weggeworfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.10.2018 um 10.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39910

Versuche, Tieren eine Sprache beizubringen, die grundsätzlich wie die uns bekannten Menschensprachen gebaut ist, könnten naiver sein, als man denkt. Die Prädikation als Grundstruktur könnte unauflöslich mit der menschlichen Kultur verbunden sein. Die Suche nach Syntax im Verhalten der Tiere ist vielleicht irregeleitet, weil sie nur auf die Kombinatorik gerichtet ist, die „erste Gliederung“ im Sinne Martinets.
Selbst wenn Signale für Bodenfeinde und Luftfeinde analysierbar zusammengesetzt wären (Feind + Boden, Feind + Luft) und somit eine Art Syntax festgestellt werden könnte, wären wir immer noch weit von der Prädikation entfernt und damit vom Behaupten und Bestreiten, was möglicherweise der Kern der menschlichen Kommunikation ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.10.2018 um 06.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39916

Im Handy steckt der Geist von Tausenden von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern. Es stellt eine extrem komplexe Konstruktion dar. Der Geist, der in dieses Gerät verpackt ist, ist den meisten Nutzern gar nicht zugänglich. Wir wissen nicht, wie ein Handy genau funktioniert. Aber die durch diesen Geist erzielten Vorteile des Geräts sind für uns von großem Nutzen. Festzuhalten bleibt, dass auch in einfachen Gegenständen, wie dem Trinkbecher, die Idee des Werkzeugmachers steckt, der das Gerät (Werkzeug) für eine bestimmte Handlungsmöglichkeit entworfen hat. Wenn Kinder Gebrauchsgegenstände, wie Trinkbecher, Teller, Messer und Gabeln benutzen, dann erkennen sie die vom Werkzeugmacher konstruierte Handlungsmöglichkeit: die Idee, die im Gegenstand steckt. Kinder sind sehr geschickt im Auffinden dieser Handlungsmöglichkeiten. (Rolf Oerter)

In einem populärwissenschaftlichen Text mag solche Poesie erlaubt sein. Oerter geht aber auch sonst nicht über die bildungssprachlichen, folkpsychologischen Konstrukte hinaus: Denken als inneres Handeln usw. Er wendet sich eben vor allem an Lehrer und gibt praktische Ratschläge.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.10.2018 um 09.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39926

Julia Shaw: The Memory Illusion: Remembering, Forgetting, and the Science of False Memory. Random House, 2016

Der deutsche Verlag muß geradezu zwanghaft das Gehirn ins Spiel bringen:

Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser 2016

Es geht um Psychologie (im Anschluß an Elizabeth Loftus u. a.), nicht um Neurologie. Die Marketing-Masche bringt allmählich die ganze Hirnforschung in Verruf.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2018 um 09.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39948

In seinem vorzüglichen Sammelband "Follies of the wise" kritisiert Frederick Crews am Rorschach-Text nicht nur die Willkürlichkeit der Deutungen, die jeder Beschreibung spottet, sondern auch die „vague personality descriptors“ (S. 193). Das gilt auch für Astrologie, Graphologie, Handlesekunst usw. Das war auch der Grund, warum ich mich unter dem Aspekt der Sprache mit dem Okkultismus beschäftigt habe.

(Das Buch ist übrigens für wenig Geld bestellbar. Es enthält auch die Auseinandersetzung mit Freud, Kritisches zum Poststrukturalismus und vieles andere.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2018 um 07.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39967

„Unser Gehirn muss sich die neuen Objekte vermutlich zunächst in Gedanken vorstellen, erst dann wird die Ausführung im Detail geplant.“ (FAZ 30.10.18 über Werkzeugherstellung und -gebrauch bei Vögeln und Kindern)

„Bislang dachte man immer, das kann nur ein Mensch oder höchstens ein Menschenaffe: aus mehreren Komponenten ein Werkzeug herstellen. Doch Krähen können das offensichtlich auch. Was dabei genau in ihrem Gehirn vorgeht, ist aber noch unklar.“ ((https://www.br.de/nachrichten/wissen/kraehen-bauen-sich-aus-mehreren-teilen-werkzeuge-zusammen,R7x77rv)

Die Untersuchungen am MPI für Ornithologie in Seewiesen haben aber mit Hirnforschung gar nichts zu tun, wollen und werden daher nie herausfinden, was im Gehirn der Vögel vorgeht.

"Eventuell simulieren sie das Problem, in dem sie mögliche Abläufe im Gehirn wieder und wieder durchspielen. Haben sie eine funktionierende Möglichkeit entdeckt, führen sie diese dann aus." Dr. Alex Kacelnik, Universität Oxford.

Auch hier werden die Begriffsebenen vermischt. Das „Durchspielen“ ist ein populärpsychologischer Begriff, dessen Übertragung in die neurologische Sprache keinen Sinn hat und mit dem Vogel als Agens auch nie Sinn haben wird. Ich kann etwas "in Gedanken durchspielen", aber nicht in meinem Gehirn.

"Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, denn die Geradschnabelkrähen bekamen keine Hilfe und auch kein Training, um diese Werkzeuge zu bauen, sie haben ganz alleine herausgefunden, wie sich das Problem lösen lässt." Dr. Auguste von Bayern, Max-Planck-Institut für Ornithologie, Seewiesen

Auch dies ist fragwürdig, weil wie üblich nicht die ganze Lerngeschichte der Vögel dokumentiert ist; sie haben ja bereits Monate oder Jahre der Interaktion mit ihrer Umwelt hinter sich. Dabei können sie natürlich sehr viel „ganz alleine“ herausgefunden haben. Das ist schon zu Köhlers Affen gesagt worden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2018 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39968

Die Sonnenblumenfelder sind abgeerntet, ich will ihnen dieses Gedenkblatt widmen.

Bekanntlich drehen sich diese majestätischen Pflanzen immer nach der Sonne. Morgens gucken sie sich verschlafen um, dann geht es wieder los. Man kann sie durch eine rote Folie verwirren, weil sie nur auf Blau reagieren.

Ihre Bewegung sieht aus wie "intentional", Philosophen sehen immerhin eine gewisse "Gerichtetheit" (so David Beisecker). Wir wissen aber seit Darwin grundsätzlich, wie dieser Schein zustande kommt, und kein anderer als Darwin selbst hat ein bestimmtes Hormon postuliert, das im "Pulvinus" (dem "Gelenk", das er eigenhändig gezeichnet hat) den unterschiedlichen Turgor steuert, der als Drehbewegung in Erscheinung tritt. Jahrzehnte später wurde das Auxin identifiziert.

Das ist also die eine Lehre der Sonnenblumen: Erklärung der "scheinbaren Absichtlichkeit" (Schopenhauer) in der Natur.

Die zweite geht aus einem neueren Übersichtsartikel zum Stand der Erforschung des Heliotropismus hervor:
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3963583/

Man erkennt daran die haarsträubende Kompliziertheit der wirklichen biochemischen Vorgänge. Mit unseren heutigen Mitteln könnten wir eine heliotrope "Blume" ganz leicht konstruieren und haben es ja auch schon getan. Aber die Natur ist lange und komplizierte Wege gegangen und hat typischerweise die Vorstufen nicht aufgegeben, sondern immer nur ergänzt.
 
 

Kommentar von Theodor Icker, verfaßt am 01.11.2018 um 06.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39979

Seit Tomasello die "Neunmonatsrevolution" erfunden hat (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#26973), spukt sie durch die Darstellungen frühkindlicher Entwicklung. Keiner hat sie beobachtet, aber weil es das Wort gibt, muß es auch die Sache geben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.11.2018 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39983

Nachtrag zu den Sonnenblumen: Der Sachverhalt wird, wie ich gerade sehe, oft falsch dargestellt:

Die Sonnenblume folgt mit ihrem Blütenstand also dem Lauf der Sonne. In dem Teil des Blütenstandes, der weniger Licht erhält, bildet die Pflanze ein so genanntes Auxin. Das ist ein Stoff, der das Wachstum der Pflanze steuert. Durch diesen Stoff wächst die im Schatten liegende Seite des Blütenstandes schneller als die direkt von der Sonne bestrahlte. Daher neigt sich der Stängel der Sonne zu. Der Botaniker nennt das in der Fachsprache Heliotropismus.
(https://www.wissen.de/raetsel/drehen-sich-sonnenblumen-tatsaechlich-nach-der-sonne)

Das wäre aber Phototropismus: Ein wichtiger Unterschied zum Phototropismus ist die Reversibilität des Heliotropismus, da die länglichen Motorzellen nachts ihre Originalgröße wieder einnehmen können. (Wikipedia)

Die Sonnenblumen kehren auch nicht nachts zurück in die östliche Richtung, sondern in der Morgendämmerung. Ich habe mir vorgenommen, nächstes Jahr selbst mit Sonnenblumen zu experimentieren, ihnen auch mit roten und blauen Folien einen Streich zu spielen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2018 um 05.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40041

The ability to successfully perform long-distance migrations can probably only be fully explained with an accounting for the cognitive ability of the birds to recognize habitats and form mental maps. (https://en.wikipedia.org/wiki/Bird_migration)

Man kaschiert sein Nichtwissen erst durch Hinzufügung des modischen "Kognitiven" (womit gar nichts gesagt ist), dann durch die undurchschaute Metapher der "Karte". Die begrifflichen und empirischen Probleme, die mit dem Anfertigen, Lesen und Auswerten von Landkarten verknüpft sind, kommen gar nicht in den Blick. Und wo sollen die Karten sein, im Gehirn? "Mental" gehört zum folkpsychologischen Konstrukt, mit dem man das Verhalten interpretiert, und ist kein Teil der erforschbaren Wirklichkeit.

Many birds have been shown to use a sun compass. (https://en.wikipedia.org/wiki/Bird_migration)

Auch das ist Unsinn, sie haben ja keinen Kompaß, sondern verhalten sich allenfalls so, als ob sie einen hätten.

Man sieht wieder, in welche begriffliche Sackgasse der Kognitivmus führt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.11.2018 um 07.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40071

Die Psychoanalyse wird in deutschen Medien so schonend behandelt wie sonst nur noch die Religion. Über Bücher und Kongresse von Psychoanalytikern berichten stets Angehörige der psychoanalytischen "Kirche" (diese Einschätzung stammt nicht von mir, sondern aus dem Kreise selbst): Caroline Neubaur, Andreas Mayer. So in der heutigen FAZ, die im Hochschulteil auch gleich noch ein Plädoyer für die Psychoanalyse enthält. Die umfassende kritische Literatur insbesondere aus der angelsächsischen Welt findet in solchen Zeitungen keinerlei Echo. - Man ist eben spirituell, das schließt vieles ein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2018 um 18.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40078

Während Fertigkeiten und automatisierte Handlungsabläufe ins prozedurale Gedächtnis „gespeichert“ werden, geht Auswendiggelerntes ins deklarative Gedächtnis ein, das neurologisch dem Neocortex zugeordnet wird. (Wikipedia „Auswendiglernen“)

Teils tautologisch und insgesamt Ausdruck unserer vollständigen Unwissenheit über diesen Gegenstand. Die Anführungszeichen machen es nicht besser.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.11.2018 um 10.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40109

Die landesüblichen psychologischen Konstrukte (von der Vermögenspsychologie bis zum Freudschen seelischen Apparat) erscheinen uns – weil sie längst in die Sprache eingebaut sind – so realistisch, daß wir ihren fiktionalen Charakter nicht leicht durchschauen. Heilsam ist der Blick in andere Kulturen. Die Jogalehren mit ihren Chakren, Kundalini usw. oder die Traditionelle Chinesische Medizin (Meridiane usw.) sind Beispiele für psychologische Konstrukte, an denen sich etwas zeigen und mit denen sich sogar erfolgreich arbeiten läßt (Psychosomatik braucht Bilder, aber die physiologischen Auswirkungen sind real).
Wer sein Schlafzimmer nach neumodischen Fengshui-Regeln einrichtet, schläft wirklich besser; jedenfalls dürfte das vorkommen. Es beweist nicht die Richtigkeit der Lehre, an die die meisten von uns nicht glauben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2018 um 06.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40115

Dazu auch http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1544#29962

Es gibt kein Qi und keine Leitungsbahnen (Meridiane), auf denen es durch den Körper strömt, das ist die schlichte Wahrheit. Ebenso phantastisch sind die indischen Lehren.

Es hat schon immer Naturheilmittel und -praktiken gegeben, von denen einige auch eine gewisse Wirksamkeit hatten (entzündungshemmend, fiebersenkend). Im großen und ganzen waren unsere Vorfahren aber unwissend und hilflos. Das spricht sich allmählich herum, man sucht statt "uralter" Weisheit nun vorzugsweise in fernen Ländern, am besten im Osten.

Wenn man einmal darauf aufmerksam geworden ist, stellt man mit Erstaunen fest, daß gleich um die Ecke sich jemand als „Coach“ anbietet, der alle Weisheitslehren der Erde aufgenommen und zu einer „integralen“ oder „systemischen“ Theorie und Praxis verarbeitet hat. Das kostet zwischen 50 und 100 Euro pro Stunde.

Wilbers [sic] beruft sich auf die Lehren von Plotin, Meister Eckhart, Sri Aurobindo, des deutschen Idealismus, des Advaita Vedanta Hinduismus, des tibetischen Buddhismus, Jean Gebser, Jürgen Habermas, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg, Arthur Koestler, Teilhard de Chardin, Alfred North Whitehead, Clare W. Graves, Rupert Sheldrake, Jiddu Krishnamurti und vieler anderer. Er will die Stärken und Schwächen verschiedener weltanschaulicher und philosophischer Richtungen aufzeigen und einen theoretischen Rahmen entwickeln, in dem verschiedene Traditionen Platz haben. Deshalb trägt diese Denkrichtung die Bezeichnung „Integrale Theorie“.
(Wikipedia Ken Wilber)

Man gibt sich ein Ansehen durch name dropping und Zusammenrühren möglichst vieler Weisheitslehren. Die Häufung von Stichworten soll beglaubigen – untrügliches Zeichen der Unwissenschaftlichkeit, aber das merken die Leute nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2018 um 06.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40116

Nach Aussagen der Anbieter von Tierkinesiologie kann der kinesiologische Muskeltest nicht direkt am Tier durchgeführt werden, weshalb er an einem Menschen, der mit dem Tier in Kontakt steht, durchzuführen sei. Reaktionen des Menschen würden dabei dem Tier zugerechnet. Auch sei es möglich, anstelle des Muskeltests eine Diagnose mit Pendeln oder Wünschelruten (siehe Radiästhesie) vorzunehmen, die bei Abwesenheit des Tieres ersatzweise an Tierhaaren, Spielzeug, Fotos oder Tierkot durchgeführt würde. (Wikipedia)

Das ist verrückt, aber grundsätzlich nichts anderes als andere esoterische Lehren, von denen einige weit verbreitet und angesehen sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.11.2018 um 16.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40131

Schon mal zitiert (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1029#39160):

„Referenten sind nicht die Objekte in der Welt selbst, sondern die Vorstellungen von solchen Entitäten, die bei der Produktion bzw. Rezeption der Äußerung bei Sprecher und Hörer bestehen.“ (Rainer Dietrich: Modalität im Deutschen. Opladen 1992:18)

Auch wenn man weniger psychologisch redet und etwa sagt: „Die Naturwissenschaften handeln heute nicht mehr von den Dingen selbst, sondern von den Modellen, die wir uns von ihnen machen“ – ist das nicht ganz richtig. Denn sie handeln von den Modellen nur insofern, als sie Modelle von etwas sind, und dies ist eben die Wirklichkeit. Von den Modellen an sich kann man feststellen, ob sie logisch-mathematisch konsistent sind. Das erledigt der Physiker am heimischen Computer, dazu braucht er keinen aufwendigen LIGO-Detektor, um festzustellen, daß es die Gravitationswellen tatsächlich gibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.11.2018 um 13.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40165

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38902

Über den Ahnenerbe-Mitgründer Herman Wirth liest man:

„Seine Externsteinforschungen haben ihn sogar bei Himmler und Rosenberg mißliebig gemacht.“ (Manfred Lurker, hg., Wörterbuch der Symbolik. 5.Aufl. Stuttgart 1991:835)

Na ja, so schlimm wird das nicht gewesen sein.

Lurker bringt es übrigens auch fertig, das Hakenkreuz zu behandeln, ohne den Nationalsozialismus zu erwähnen. Es gibt nur einen Hinweis auf „faschistisch-nationalistische Symbole“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.12.2018 um 03.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40235

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#33518

In der FAS vom 2.12.18 wiederholt Güntürkün im Interview seine Behauptung, daß Tauben zwar nicht Englisch, wohl aber englische Orthographie lernen können, und zwar wenden sie die "Bigramm"-Strategie an. Nach Tausenden von Konditionierungsvorgängen unterscheiden sie mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit, ob eine Folge von zwei Buchstaben zulässig ist (belohnt wird) oder nicht: done vs. odne.

Wieder fehlt der Hinweis, daß man das ebenso gut mit Kombinationen von anderen Gegenständen hätte machen können. Aber Sprachliches überrascht natürlich und wirkt in der Pressearbeit vorteilhaft.

Die "Strategie" ist hinzuerfunden, aber das merken diese Forscher wohl wirklich nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.12.2018 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40237

Dazu paßt die generative Grammatik. Chomsky hat sich zeitlebens mit den Regeln beschäftigt, nach denen zulässige von unzulässigen Kombinationen von Gegenständen unterschieden werden. Daß er dazu Sprachmaterial (ausschließlich englisches) verwendete, ist aus theoretischer Sicht Zufall. Darum hat er auch etwas über den menschlichen "Geist" herausfinden wollen, während man den eigentlich linguistischen Ertrag seiner Arbeit nicht erkennen kann (außer eben soweit Sprache ein Beispiel der allgemeinen Kombinatorik ist, ein sehr beschränktes Bild von Sprache). Dazu paßt, daß Sprache nach Chomsky nicht der Kommunikation dient, sondern ein zweckfreies Spiel des "Geistes" zu sein scheint.

Die so verstandene Sprache ist denn auch nicht im wirklichen Leben verankert. Darum kommt zum Beispiel Zeigen nicht vor, nur "Pronominalisierung", und die wird als Ersetzungsoperation aufgefaßt und in Hunderttausenden von Aufsätzen und Büchern untersucht. So erklärt sich auch das nicht-empirische Arbeiten, das Desinteresse an der "Performanz". Für logisch-mathematische Zwecke genügt ein halbes Dutzend selbstgemachter Sätzchen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2018 um 08.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40251

Aus Jahresringen in Bäumen und aus Eisbohrkernen hat man erstaunlich viel herauslesen können, aber das ist noch gar nichts gegen die erdgeschichtlichen Rekonstruktionen aus den Befunden rund um das Nördlinger Ries – lauter "Anzeichen", also keine wirklichen Zeichen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Ries-Ereignis
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2018 um 06.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40288

When humans think of an object, such as a screwdriver, many different areas of the brain activate. Marcel Just and his colleague, Tom Mitchell, have used fMRI brain scans to teach a computer to identify the various parts of the brain associated with specific thoughts. (https://en.wikipedia.org/wiki/Thought_identification)

Daß es Gedanken gibt, wird schlicht vorausgesetzt, ohne Versuch der Naturalisierung und Objektivierung. Was heißt denn "an einen Schraubenzieher denken"? Wird die Vp aufgefordert, sich einen vorzustellen? Das Wort innerlich auszusprechen? Zu denken, daß man jetzt einen Schraubenzieher brauchen könnte? – Das bleibt alles undurchdacht. Heraus kommt Neurobluff.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2018 um 06.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40289

Etwa seit den siebziger Jahren schrieben viele Sprachwissenschaftler, von denen ich genau wußte, daß sie nie Psychologie studiert hatten, Einführungen in die „kognitive Linguistik“. Das war und ist möglich, wenn man das „Kognitive“ im Sinn einer rationalistischen, nichtempirischen Psychologie versteht, die sich ausschließlich aus der Sprachreflexion nährt, also im Grunde die Logik als „Denken“ hypostasiert.

Es funktioniert ein Stück weit, weil die mentalistische, folkpsychologische ("transgressive") Redeweise funktioniert, deren Plausibilitätsreservoire man anzapft.

Wie Skinner immer wieder gezeigt hat, bedeutet dieses Plausibelmachen aber noch keine wissenschaftliche Einsicht. Es ist mehr ein rhetorisches Ereignis.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.01.2019 um 16.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40494

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38205

(Die Meme und Memkomplexe) sind zerebral in komplexe weiträumig angelegte „neuronale Netze“ sensorischer, motorischer und zwischengeschalteter Nervenzellen verflochten und auf diese Weise in das taxonomische (Werturteile fällende) System „Gehirn“ eingebunden. (Johannes Fried: Die Aktualität des Mittelalters. Stuttgart 2002:19)

Aber Fried weiß natürlich gar nichts von Nervenzellen – niemand weiß auch nur annähernd, wie die Meme in solche Zellen „verflochten“ sein könnten. Das Gehirn fällt auch keine Werturteile, und warum man diese Funktion „taxonomisch“ nennen sollte, ist auch nicht klar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.01.2019 um 19.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40517

Zu Vera Birkenbihl:

In Seminaren und Publikationen befasste sie sich mit den Themen gehirn-gerechtes Lernen und Lehren, analytisches und kreatives Denken, Persönlichkeitsentwicklung, Numerologie, pragmatische Esoterik, gehirnspezifische Geschlechterunterschiede und Zukunftstauglichkeit. Bei esoterischen Themen nahm sie Bezug auf Thorwald Dethlefsen. (Wikipedia)

Birkenbihl mit ihrem „gehirngerechten Lernen“ verstand zwar nichts vom Gehirn, um so mehr von Marketing. Es gibt ein breites Publikum für Rattenfänger aller Art. (Zu Thorwald Dethlefsen s. den Wikipedia-Eintrag.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.01.2019 um 04.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40551

Das Kind lernt, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. – Von diesem unbestreitbar wahren Satz geht man ohne weiteres über zu: Das Kind bildet eine (mentale) Repräsentation seiner Umwelt aus. Dieser Übergang wird überhaupt nicht mehr als eine gewagte und bei näherem Hinsehen unsinnige Spekulation erkannt.

Dann beschäftigen sich die Kognitivisten und Neurosophen mit dem Scheinproblem: "Wie kommt die Welt in den Kopf?" Die "Welt im Kopf" steht in vielen Buchtiteln usw. (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#29741) Aus dieser Falle kommt man nicht heraus, weil man gar nicht bemerkt hat, daß es eine ist und wie man hineingeraten ist.

Es ist hübsch zu sehen, wie kleine Kinder, die noch gar nicht sprechen können, sich lange mit Legosteinen, Selbstklebeetiketten, Bindfäden beschäftigen. Die Fingerchen erfahren jede Sekunde, was geht und was nicht geht. Lauter winzige Erfolge und Mißerfolge, Mikrolernen, Konditionierung. Dazu braucht man nicht zu spekulieren, die Dinge würden im Geist oder im Gehirn "repräsentiert". Bisher hat niemand diese vermeintliche Repräsentation so definiert, daß daraus eine Erklärung des Verhaltens ableitbar wäre; meistens sind schon die Umschreibungen zirkulär oder schlicht sinnlos.

Hinzu kommt ja noch das Problem "Blaupause oder Rezept", das ich anderswo besprochen habe. Die "Vorschrift", wie mit Legosteinen zu verfahren ist, "repräsentiert" die Legosteine nicht. Wenn das Kind mit Lego "im Geiste" umginge, müßte das ja auch wieder erklärt werden usw.

Es gibt keine Repräsentationen und keinen Geist und nichts "Mentales", ganz einfach.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.01.2019 um 07.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40554

In der Diskussion über Willensfreiheit kann man nicht mit Hirnscans argumentieren (Libet, Singer, Roth, Markowitsch, Prinz), weil solche Argumente eo ipso naturalistisch sind und daher quer zu den mentalistischen wie Willensfreiheit, Entscheidung usw. stehen. Sie sind begrifflich inkompatibel, d.h. weder Bestätigung noch Widerspruch ist hier möglich. Das ist den genannten Forschern anscheinend nicht recht klar, auch in der Übersicht von Duttge fehlt eine solche Einsicht. (Gunnar Duttge, Hg.: Das Ich und sein Gehirn - Die Herausforderung der neurobiologischen Forschung für das (Straf-) Recht. Göttingen 2009)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.01.2019 um 05.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40562

„Zu den sinnvollen Übungen gehört auch das Schreiben mit der Hand. Dieses hinterlässt sogenannte Engramme, eine motorische Gedächtnisspur.“ (https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/Remote/km/180629_Rechtschreibrahmen-Klassen-1-bis-10.pdf)

Man sieht hier, wie unkritisch Didaktiker umstrittene Konzepte der Fachwissenschaften übernehmen.

Vgl. das hilflose Gestammel bei Wikipedia: Letztlich realisieren Engramme Funktion. Bei jeder Handlung und jeder Situation greift das Gehirn auf Engramme zurück.

Lernen beruht trivialerweise darauf, daß etwas hängenbleibt. Mehr weiß man nicht. Das Kultusministerium redet von "motorischen Gedächtnisspuren", als sei ihm etwas darüber bekannt. So wird die Unwahrheit und Hochstapelei schon in den "Rahmen" eingebaut.
 
 

Kommentar von Duttge, verfaßt am 15.01.2019 um 13.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40583

Sehr geehrter Herr Ickler,

ich habe Ihren Hinweis zu meinem – schon vor Jahren publizierten – Band "Ich und mein Gehirn" zur Kenntnis genommen. Mir ist freilich nicht klar, was Sie konkret vermissen, und ich ahne, dass Sie möglicherweise – anders als ich – einem begrifflichen Essentialismus zuneigen. Da ich um Ihre exzellente Sachkunde in Fragen der "deutschen Sprache" weiß (und als FAZ-Leser Ihre Beiträge zur leidigen "Rechtschreibreform" und Entwicklung der letzten Jahre kenne), würde mich der Grund Ihres Unbehagens kraft meiner wissenschaftlichen Neugier schon etwas näher interessieren.

Mit freundlichen Grüßen,
G. Duttge
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.01.2019 um 15.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40584

Sehr geehrter Herr Duttge,
ich freue mich über Ihr Interesse und bitte um Nachsicht, wenn ich Ihnen mit einer hingeworfenen Notiz nicht gerecht geworden bin. Ihr Beitrag zu jenem Sammelband gehört zum Besten, was ich dazu gelesen habe, sehr umsichtig und mit ausgezeichneten Zitaten versehen. Ich sollte ihn noch einmal ganz lesen, bevor ich antworte.
Natürlich kann ich das Riesenthema hier nicht hinreichend behandeln.
(Im selben Diskussionsstrang stehen noch weitere Bemerkungen über Willensfreiheit, z. B. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31564)
Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften sind für das Problem der Willensfreiheit irrelevant, und zwar aus begrifflichen Gründen. Wille und Willensfreiheit sind keine Tatsachen oder realen Gegenstände (im Sinne von Forschungsgegenständen), sondern gehören in den großen Zusammenhang von mentalen Konstrukten. Das sind sozusagen Erfindungen, im besten Fall nützliche Fiktionen. Ich verweise vorläufig auf diese Einträge:
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=suchen (Naturalisierung der Intentionalität)
Die Neurowissenschaften, wenn sie sich selbst richtig verstehen, kennen den Begriff des Willens gar nicht; er sollte auf dem Weg der Naturalisierung aufgelöst worden sein. Erst recht nicht können sie mit Willensfreiheit etwas anfangen (wie es aber Singer, Roth usw. dennoch versuchen).
Die Rede vom Willen und von Willensfreiheit hat also einen ganz anderen Zusammenhang als den naturwissenschaftlichen und empfängt ihre Bedeutung (oder Funktion) ausschließlich in diesem Zusammenhang, nämlich der Allgemeinsprache mit ihrem pragmatischen Verständigungszweck. Man überspannt diese Begriffe in sinnzerstörender Weise, wenn man sie verwissenschaftlichen will.
Die ganze Diskussion um Libet und die Interpretation seiner Befunde hätte man sich sparen können, wenn die im wesentlichen gleichartigen Versuche Kornhubers bekannter gewesen wären, den Libet auch ausdrücklich als Vorgänger anerkennt. An keiner Stelle sehe ich eine Einstiegsmöglichkeit für Diskussionen um Willen und Willensfreiheit; es geht einfach um Verhalten und seine selbstverständlich vorauszusetzende Anbahnung im Gehirn.
Was z. B. Singer ausführt, ist aus begriffskritischer Sicht ein unverständlicher Mischmasch naturalistischer und mentalistischer Begriffe. Darum folgt aber auch nicht, was er folgert: Willensfreiheit als „Illusion“. Dieser Begriff hat hier gar keinen Sinn, jedenfalls nicht den üblichen von Illusion, also Täuschung oder Selbsttäuschung, die es ja wirklich gibt. Wille und Willensfreiheit haben ihren guten Sinn, und zwar genau in den kommunikativen Zusammenhängen oder „Sprachspielen“, für die sie entwickelt worden sind.

Ich hatte damals beim Lesen Ihrer ausgezeichneten Übersicht sozusagen den scharfen Biß vermißt, der mit den Neurosophen (wie ich sie nenne) radikal aufräumt, weil sie nicht wissen, was sie tun.
(Ich sehe mich weitgehend auf der Linie von Bennett/Hacker: Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften – sowie andere Arbeiten von Hacker, in denen er die begriffskritische = philosophische Arbeitsweise von der empirisch-fachwissenschaftlichen unterscheidet.) Bei soviel Singer/Roth/Markowitsch werde ich immer kribbelig, weil mir das Ganze vollkommen neben der Sache zu sein scheint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 06.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40605

Kitzeln und Lachen sind beide nicht recht aufgeklärt und hängen außerdem zusammen. Beide haben auch eine kommunikative Seite. Valentin Braitenberg dazu:

Einerseits ist das Lachen eine Folge des Kitzelns. Einen biologischen Sinn dieser Reiz-Reaktionsfolge kann man heute nicht mehr erkennen, da das Kitzeln-bis-zum-Lachen zum Kinderspiel abgesunken ist und von Erwachsenen höchst selten und nur als Zitat aus der Kindheit praktiziert wird. Aber man kann einen früheren Sinn erraten, wenn man die Stellen der Körperoberfläche betrachtet, wo der Mensch besonders kitzlig ist: unter den Achseln, seitlich an der Brust, auf dem Bauch, auf der Innenseite der Oberschenkel, auf den Fußsohlen. Abgesehen von den Fußsohlen sind das Stellen, bei denen man sich vorstellen kann, dass ihre Berührung als Vorspiel zu einer Umklammerung eine Rolle spielte, und mit etwas Phantasie kann man sich auch eine Rolle für die Fußsohlen dazudenken.
Es macht dann auch Sinn, dass es immer ein anderer sein muss, der den Kitzel auslöst: selber kann man das nicht. Und das Lachen könnte eine Erinnerung an die Schreie sein, die den Sexualakt begleiten.
(Das Bild der Welt im Kopf: Eine Naturgeschichte des Geistes. Stuttgart 2009:208f.)

Paarungslaute sind bei Tieren sehr verschieden verbreitet, den unmittelbaren Vorläufer müßte man bei Menschenaffen finden. Vor allem aber: Niemand lacht beim Geschlechtsverkehr, schon gar nicht beim Orgasmus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40607

Ich sehe Sprachverhalten durch Vorgänge erzeugt, die überhaupt nichts Sprachähnliches haben. Sprache ist gesellschaftlich und historisch, weit entfernt von jeder Physiologie. Eher vergleichbar mit dem Spielen eines Instruments oder dem Autofahren. Gesellschaftliche Normen werden beachtet oder auch verletzt. Neurologen können dazu so wenig sagen wie zum Dreißigjährigen Krieg (pace Johannes Fried).
Wenn ein falscher Sprachbegriff zugrunde gelegt wird, kann auch die Neurolinguistik nichts taugen. Das ist ein begriffskritisches Thema: Was sollen „Begriffe“, „Regeln“ usw. im Gehirn sein? Die Umbenennung von Cell assemblies (nach Hebbs Modell) in „Begriffe“ bringt nichts außer eingebildetem Wissen.

Wenn man überhaupt von „Denken“ spricht, scheint es unvermeidlich, dieses folkpsychologische Konstrukt nach Art einer Sprache auszugestalten, wie es ja in der Sprache selbst vorgezeichnet ist, die Gedachtes wie Gesagtes konstruiert (direkte und indirekte Rede, Inhaltssätze). Das liegt sicher auch daran, daß man stumm vor sich hinspricht.
Die wenigsten Modelle kommen ohne „Begriffe“ aus, und die sind deutlich erkennbar den Wörtern nachgebildet, vor allem den Substantiven. „Propositionen“ entsprechen natürlich Sätzen. Die logische Terminologisierung dieser Begriffe ist unverfänglich, ihre psychologische oder gar physiologische Deutung ist Unsinn.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 18.01.2019 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40608

Neurologen können sich ja immerhin mit den Kopfverletzungen des Grafen Slawata befassen . . .
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 09.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40609

Sie befassen sich auch, was noch viel näher liegt, mit Kopfverletzungen von Aphatikern, ohne einer neurologischen Erklärung des Sprachverhaltens näher zu kommen. (Oder allenfalls einen Zentimeter, und auch der wird gleich wieder verspielt, wenn man "grammatische Regeln" usw. lokalisieren zu können glaubt, was nicht empirisch falsch ist, sondern begrifflich verkorkst.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 18.01.2019 um 14.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40613

Typisch für das Lachen ist nicht ein Schrei, sondern das rhythmische Zusammenpressen und Herausstoßen der Luft, auch wenn das manchmal mit einem Laut verbunden ist. Es ist also eine Art Sich-Schütteln, was man als Abwehrreaktion beim Kitzeln deuten kann. Deshalb das Lachen beim Kitzeln.

Der Sexualakt besteht dagegen aus einer Phase stetig steigender Anspannung des Körpers, gefolgt von schneller Entspannung und Ruhe, beides paßt nicht zu einem Schütteln, also auch nicht zum Lachen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 16.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40614

Lachen hat ja viele Funktionen. Panksepp will es bei Ratten entdeckt haben, ebenfalls auslösbar durch Kitzeln, und das wäre zu erwägen, wenn Lachen viel älter sein sollte als Sprache und damit auch als Witze. Nach einer anderen Auffassung könnte das Zähnezeigen ohne Zubeißen der Kern sein, daher also das Signal "nicht ernst!" Es würde die latent aggressive Natur des Lachens erklären, vgl. Freuds Witztheorie. Die Lautgebung könnte hinzukommen, damit man auch bemerkt, daß jemand bleckt. Oft zeigt Lachen die Erleichterung, wenn man einen Normverstoß als harmlos erkennt. So in vielen Witzen, etwa dem mit den flugunfähigen Bumsen.

Das Schütteln oder Abschütteln kommt mir nicht so plausibel vor.

Der Eintrag Laughter in der englischen Wikipedia ist noch umfangreicher als der deutsche und zeigt, wie viele Probleme es gibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40615

Die Sprache soll in ihrer modernen Form 40.000 Jahre, vielleicht sogar 100.000 Jahre alt sein. Da der Neandertaler Krankenpflege und Totenbestattung kannte, soll er eine „zumindest rudimentäre Sprachform“ gehabt haben. (Bildatlas der Sprachen, hg. von B. Comrie u.a.)

Es gibt keinen Grund zu solchen Aussagen. Totengräber brauchen bei ihrer Arbeit vielleicht nicht viele Worte, aber warum sollten die Neandertaler einander nicht alle möglichen Geschichten erzählt haben? Das ganze Gestammel von rudimentären Sprachen (gelehrt: "Protolanguage") ist dünkelhafter Quatsch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 18.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40617

In Gehirnen ist die Welt abgebildet. (Valentin Braitenberg: Das Bild der Welt im Kopf: Eine Naturgeschichte des Geistes. Stuttgart 2009:135)

Dass die Struktur des Gehirns eine Abbildung der Welt ist, habe ich schon gesagt. Sie ist es im gleichen Sinn, in dem der Körper eines Lebewesens Abbildung der „biologischen Nische“ ist, an die ihn die Evolution angepasst hat. (Ebd. 142)

Was bildet der Darm eines Pflanzenfressers ab? Was ist in ihm repräsentiert? Was bildet der Stachel der Honigbiene ab? Aus der Anatomie eines Fossils kann man einiges entnehmen über seine Umgebung und seine Lebensweise. Aber die Merkmale sind keine Abbildung dieser Umstände. Es bringt nichts, den sinnvollen Begriff der Anpassung noch durch die Deutung als Abbildung oder Repräsentation zu überhöhen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2019 um 19.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40618

Man sagt, wer einen Gegenstand herstellen wolle, müsse zuvor ein Bild davon im Kopf oder im Geist haben. Bei Platon war es die Idee. In Wirklichkeit dürfte dieses Bild ein so flüchtiger und fragwürdiger Eindruck sein wie jener: „Ich sehe es genau vor mir“ – meistens eine Selbsttäuschung, wie man experimentell aufdecken kann.

Ich suche Pilze. Dabei habe ich kein Bild von Pilzen im Kopf, sondern man könnte sich vorstellen, daß die Empfindlichkeit gewisser Sensoren gesteigert ist (top down), die Wahrnehmungsschwelle also herabgesetzt. – Ich suche ein Stöckchen, mit dem ich die Lehmklumpen von meinen Schuhsohlen entfernen kann. Dabei sehe ich kein bestimmtes Stöckchen vor mir (welches auch?), und ein allgemeines Stöckchen kann ich mir nicht vorstellen, geschweige denn es vor mir sehen (wie schon George Berkeley wußte). Ich bin aber sicher, daß ich ein geeignetes Stöckchen sehen werde, wenn ich es treffe. Wahrscheinlich sind die Sensoren für gewisse Merkmale besonders empfindlich.

Ich weiß genau, was ich sagen will. Auch hier wieder dürfte ich es erst genau wissen, wenn ich es gesagt habe. Ich weiß dann, daß es das war. Entweder logisch oder emotional erfüllt es die Bedingungen. Schon mal zitiert: „En composant, on ne sait bien ce qu’on voulait dire que lorsqu’on l’a dit. Le mot en effet est ce qui achève l’idée et lui donne l’existence. C’est par lui qu´elle vient au jour, in lucem prodit.“ (Joubert: Pensées 101)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.01.2019 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40621

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40617

Aus dem Bau des menschlichen Körpers könnten Außerirdische schließen, wie stark die Gravitation auf ihn einwirkt und wie groß ungefähr die Masse der Erde sein muß. Was bringt es zusätzlich, wenn man sagt, im menschlichen Körperbau sei die Masse der Erde „abgebildet“?

S. auch http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1432#27018

Danach müßte man sogar sagen, der Körper habe die Erdmasse "erkannt". Mein Körper "weiß", natürlich "implizit", welche Masse die Erde hat... (Das ist kaum als Karikatur zu lesen, so ähnlich reden die Kognitivisten wirklich.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2019 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40626

Im Zusammenhang mit der Willensfreiheit wird die Unvorhersagbarkeit des Verhaltens diskutiert. Mit der Miniaturisierung der Bauteile könnte ein Computer Quanteneffekte zeigen, so auch das Gehirn. (Cziko http://www.sscnet.ucla.edu/polisci/faculty/chwe/austen/cziko.pdf S. 22)
Es läuft darauf hinaus, daß wegen der großen Komplexität das einzelne Verhalten eines Menschen nicht (genau) vorhergesagt werden kann. Ob Kreativität eine Erklärung auf quantenmechanischer Ebene braucht oder mit der astronomischen Zahl der möglichen Konstellationen des Nervensystems auskommt, ist eine unbeantwortete Frage. Aber auch das hat nichts mit Willensfreiheit zu tun. Selbst der strengste Determinismus hat keinen Einfluß auf unseren Umgang miteinander. Freiheit kann nicht Nichtdeterminiertheit (Zufälligkeit) bedeuten. Das wäre ja ein Ausgeliefertsein an die Statistik und damit erst recht das Gegenteil von Freiheit. Aber die Begriffe gehören ohnehin in verschiedene „Diskurswelten“ und können einander nicht ins Gehege kommen. Im Dialog mit einer anderen Person ist irrelevant, ob ich sie für vollständig determiniert halte oder nicht. Die wechselseitige Zustimmung oder Ablehnung hängt vom Inhalt der ausgetauschten Argumente ab, nicht von der Vorgeschichte der Partner.
Wir verhauen unsere Kinder nicht mehr (oder nicht mehr so oft wie früher...), aber dieser Wandel hat nichts mit neuer Einsicht in die Determiniertheit des Verhaltens zu tun. Es gehört mit der Gleichberechtigung der Frauen und ähnlichen Entwicklungen zusammen.
Es ist zweierlei, ob ich jemanden etwas frage oder ihm eine Frage vorlege. Ich kann einem Computer eine Zeichenkette vorlegen, die in einem anderen Zusammenhang als „Frage“ gelten würde, und dann sehen, wie er reagiert. Aber ich habe ihn nicht im gewöhnlichen Sinn etwas gefragt. Eigentlich ist es dasselbe, und der Turing-Test beweist es, aber der Unterschied zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive bleibt.
Ein Psychologe verfährt doppelgleisig. Er fragt den Probanden/Patienten nach seiner Mutter. Zugleich beobachtet er, wie der Mensch auf die Zeichenkette „Mutter“ reagiert: Umgang und Beobachtung gleichzeitig bzw. oszillierend. Juristen, besonders Strafrichter, stehen vor demselben Problem. Indem sie MIT dem Täter reden, erkennen sie pragmatisch seine volle Zurechnungsfähigkeit („Willensfreiheit“) an, aber zugleich erwägen sie, was ihn zu seinem Verhalten gebracht haben könnte usw., sehen ihn also als Objekt und determinierten Organismus. Früher war das nicht üblich, es herrschte reines Tatstrafrecht: auf Mord (= jede Tötung) folgte Todesstrafe, auch wenn der Täter ein Rind oder ein Ziegelstein war.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2019 um 05.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40627

„Rot“ ist eine Farbempfindung. (Die Psychologie des 20. Jahrhunderts I: Die europ. Tradition: 293)

Rot ist eine Farbe („rot“ ist deren Bezeichnung). „Empfindungen“ sind eine späte Entwicklung der naiven Psychologie; frühere Sprecher des Deutschen hätten gar nicht verstanden, was damit gemeint ist, und wir gelangen auch allmählich wieder dahin, solche Reden nicht zu verstehen = uns von solchen Redeweisen zu befreien, jedenfalls als Psychologen.

Ein lebendiges Wesen ist ein solches, das sein ganzheitliches Sein durch ein ganzheitliches Funktionieren ständig verwirklicht und das bei ständigem Austausch mit der umgebenden Welt dennoch ein Ganzes bleibt. (William Stern: Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Haag 1950:99)

Man möchte zustimmen, wenn nur nicht dieses Gerede vom „Sein“ wäre, das „verwirklicht“ wird usw. Es ist nicht zum Aushalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.01.2019 um 09.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40634

Zum "Gottes-Neuron" und ähnlichen Schnapsideen recht hübsch gesagt:

Experimente der Hirnforschung auf der Suche nach Gott sind ungefähr so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgerätes auf der Suche nach Ulrich Wickert. (Ulrich Lüke, Theologe)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.01.2019 um 18.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40651

zu #40627:

Wenn ich nur das Wort ganzheitlich lese, gehen bei mir schon automatisch die Klappen runter. Es ist fast immer ein Anzeichen von irgendwelchem esoterischen Schmarrn.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2019 um 18.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40653

Mir geht es ebenso. Schon deshalb finde ich den größten Teil der traditionellen Psychologie ungenießbar.

Norbert Bischof führt in seinem Psychologie-Lehrbuch (dem "Grundkurs für Anspruchsvolle") den einst sehr berühmten und einflußreichen Philipp Lersch lobend und ohne Distanzierung an. Lersch schrieb "vorher":

Es sind vor allem die ontisch gegebenen Lebensgemeinschaften von Rasse, Blut und Volk, die im Gemeinschaftsstreben entdeckt werden als die Grundlagen einzelmenschlichen Daseins, als Ganzheiten, in die der Einzelne eingegliedert ist und an deren Entfaltung und Erhaltung er mitzuwirken hat. (Aufbau des Charakters. 1938:174)

"Nachher" an derselben Stelle: ontisch gegebene Lebensgemeinschaften von Familie, Stamm, Volk und Menschheit. (1951)

Der Ton ist ungefähr derselbe wie beim Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber, vgl. das befehlende "hat mitzuwirken". Das unbestimmte Raunen mündet dann doch in sehr bestimmte Forderungen, sich gefälligst in die Ganzheit des Volkskörpers einzufügen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2019 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40698

Die Bibliotheksexemplare von Lerschs „Aufbau der Person“ (früher: „des Charakters“) sind alle sehr zerlesen, waren also wohl lange Pflichtlektüre für angehende Psychologen. Das Buch ist in der allgemeinen Bildungssprache abgefaßt und nicht-experimentell, spürt den Feinheiten der allgemeinsprachlichen, folkpsychologischen Charakterologie nach. Es verläßt sich auf deren Plausibilität für den hierzulande sozialisierten Leser.
Theo Herrmann (Lehrbuch der empirischen Persönlichkeitsforschung. Göttingen 1969) weist auf den spezifisch deutschen Charakter dieser geisteswissenschaftlichen Psychologie (Lersch, Rothacker und viele andere) hin. Das liegt m. E. zur Hälfte an einer wissenschaftsgeschichtlichen Tradition (Dilthey und andere Amateure als „Psychologen“), zur anderen Hälfte an der Sprachgebundenheit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2019 um 04.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40712

Wie Skinner zeigt, hat Freud vergessen, daß es sich bei Ich, Es, Überich usw. um Konstrukte handelt, d. h. seine eigenen Erfindungen, die möglicherweise einen gewissen Erklärungswert haben (Skinner bezweifelt es), aber dadurch nicht zu Gegenständen werden, die man auffinden kann. Freud glaubte anscheinend, in ferner Zukunft werde die Neurophysiologie sein Modell bestätigen; manche hoffen heute noch darauf. (B. F. Skinner: „Kritik psychoanalytischer Begriffe und Theorien.“ In Ernst Topitsch, Hg.: Logik der Sozialwissenschaften. Köln 1993:400-410)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2019 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40733

Forscher haben festgestellt, daß man die Speere der Neandertaler, die man gefunden und nachgebaut hat, durchaus 20 m weit werfen konnte. Aber warum sollte das „überraschend“ sein? Um sie herzustellen, mußte man einen Plan haben, so folgern die Kognitivisten – das sind die Kreationisten der Psychologie. Nein, man mußte es nur Schritt für Schritt so machen, wie es immer schon gemacht wurde. Dazu kann auch das Plänemachen gehört haben, als zweites, sprachliches Verhalten neben der Wahl der Hölzer und der Schnitzerei.

Der Botaniker Theophrast, freilich kein Neandertaler, schrieb übrigens schon:
„Die gedrängt stehenden Bäume wachsen und breiten sich viel mehr in die Länge aus; daher sind sie ohne Knoten, gerade und schlank, und es werden die schönsten Ruder daraus gemacht. Die einzeln stehenden wachsen mehr in die Breite und Dicke; daher sind sie knorriger, knotiger und im Ganzen fester, als die, welche gedrängt wachsen.“

Dieses „Wissen“ kann auch ohne solche Explikation in der Praxis enthalten sein. Man kann aber das Verhalten mit solchen metaphorischen Begriffen nicht wirklich erklären, das kann nur die Konditionierungsgeschichte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.02.2019 um 18.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40748

In dem Bestseller von Daniel Kahneman, "Thinking, fast and slow" (auch auf deutsch), werden zwei "Systeme" des Denkens einander gegenübergstellt; einen praktischen Überblick findet man hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Thinking,_Fast_and_Slow

Nun, das ist ziemlich dasselbe wie der Unterschied zwischen kontingenzgeformtem und regelgeleitetem Verhalten bei Skinner (vgl. schon http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#21839)

Das Buch ist sicher lesenswert, aber mir fehlt eben etwas. Wie leichtfertig man verschiedene Funktionen zu verschiedenen Systemen hypostasiert, s. auch hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1587#37685
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.02.2019 um 04.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40783

Wir handhaben Geräte, die wir nicht selbst gebaut haben, und so auch eine Sprache und Argumente, die wir nicht selbst „gebaut“ haben. In der akademischen Welt ist ein gewisser Stil des Argumentierens „Brauch“ geworden, weil er sich als besonders wirksam erwiesen hat: logisch diszipliniert. (Bräuche, Gewohnheiten sind ja eigentlich das Gegenteil von Rationalität, bis auf den Brauch der Rationalität selbst...) Dazu gehört auch der Publikationsstil: Peer review usw. Wir machen uns das gar nicht mehr bewußt, so sehr sind wird daran gewöhnt. Erst die immer wieder auftretenden Außenseiter und Quacksalber erinnern uns daran, welche auch möglichen Verhaltensweisen wir gar nicht mehr in Betracht ziehen: magische Zuschreibungen, Analogien, Autoritätsbeweise, Verweis auf „uralte Weisheit“, Metaphern, physiognomische Deutung; in der Darstellung dann das ganze Repertoire der pseudowissenschaftlichen Rhetorik (vgl. meinen Okkultismus-Aufsatz).

Wir verhalten uns teils intuitiv (kontingenzgeformt), teils rational (regelgeleitet), aber die Regeln beherrschen wir wiederum intuitiv. Das Rationale ist der „akademisch“ disziplinierte Teil des Intuitiven.

Wir haben den Eindruck, daß die rationale Disziplinierung irgendwie „oberhalb“ des irrationalen und urtümlicheren Fundaments liegt und immer gefährdet ist:
Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister,
Sie liegen wartend unter dünner Decke,
Und leise hörend stürmen sie herauf.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2019 um 14.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40822

My knowledge of consciousness, in the first instance, comes from my own case, not from any external observation. It is my first-person experience of consciousness that forces the problem on me. (David J. Chalmers: The Conscious Mind. New York 1996:101f.)

Großer Irrtum. Bewußtsein ist ein gemeinschaftliches Konstrukt bestimmter Kultur- und Sprachgemeinschaften. Die Illusion der radikalen Privatheit ist ein definierender Teil dieses Konstrukts.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.02.2019 um 16.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40823

Die radikale Privatheit ist ein definierender Teil dieses Konstrukts. Soweit einverstanden, aber die Illusion?

Ist nicht die Tatsache, daß wir vernunftbegabte Wesen sind, daß wir Erfindungen und Entdeckungen machen, miteinander kommunizieren können und dabei feststellen, daß wir alle die gleichen Erfahrungen hinsichtlich unserer geistigen Fähigkeiten haben, ein hinreichender Beweis für die Existenz eines Bewußtseins? Wie kann ich denken, mein Bewußtsein wäre nur eine Illusion? Wie sollte ich überhaupt eine Illusion haben, wenn mein Bewußtsein gar nicht existierte?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2019 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40824

Ich habe doch nicht gesagt, daß das Bewußtsein eine Illusion ist, sondern die radikale "Privatheit" – als wenn ich (und jeder andere) ganz für mich alleine mit der "Gegebenheit" meines Bewußtseins wäre. Das ganze Konstrukt des Mentalen, des Geistes ist wie die Sprache selbst eine gemeinschaftliche Angelegenheit. Es ist ein Hilfsmittel der Verhaltensabstimmung, von der Gemeinschaft in Jahrhunderten erarbeitet (konstruiert, nicht entdeckt).
Die Pointe ist, daß in diese nützliche Redeweise schon eingebaut ist, daß "ich nur von mir weiß, wie etwas sich anfühlt" usw. Das gehört zur "Geschäftsordnung" der mentalistischen Sprache, wie ich immer sage, oder zu ihrer "Grammatik", wie Wittgenstein es genannt hat.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.02.2019 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40828

Ja, ich habe hier die Rede von der radikalen Privatheit mit der Rede vom Bewußtsein verwechselt. Aber das kam wohl daher, daß ich wirklich beides fast gleichsetze, genau wie Sie sagen, ich bin ganz für mich allein mit meinem Bewußtsein.

Ist es denn nicht so? Mag es dann eben mentalistische Sprache sein, aber mein Bewußtsein gehört nun einmal nur mir, niemand weiß, wie und was ich denke, wie und was ich fühle. Daß jeder andere in seiner ureigensten Privatheit (seinem Ich) auch so ein Bewußtsein hat, sehe ich als eine logische Folgerung aus meinen Erfahrungen, es beruht auf Analogiebetrachtungen.
 
 

Kommentar von Manfred, verfaßt am 14.02.2019 um 15.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40829

"genau wie Sie sagen" soll hier natürlich heißen, genau wie Sie ablehnend sagen, ...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2019 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40830

Mein Hauptgedanke ist: Die mentalistische (folkpsychologische) Redeweise ist ein bewährtes Verständigungsmittel, das ich ein "Konstrukt" nenne, also eine nützliche Fiktion. Dazu habe ich hier an verschiedenen Stellen Hunderte von Bemerkungen eingestreut, die ich einmal zusammenfassend darstellen sollte und bald auch einmal darstellen will, damit man darüber diskutieren kann. Kurz gesagt: nützlich, aber nicht wissenschaftsfähig.

Zu den vielen heterogenen, keinesfalls konsistent-systematischen Bestandstücken dieses riesigen Konstrukts (das übrigens erstaunlich jung ist!) gehört, daß "ich mit meinem Bewußtsein allein bin". "Du steckst nicht in meiner Haut" usw. – es gibt unzählige Wendungen, mit denen wir diesen Teil des mentalistischen Gebäudes immer wieder in Ordnung bringen. Was dabei wirklich vorgeht, ist "von außen" zu untersuchen, durch Verhaltensanalyse und Lerngeschichte. Denn dieses Gebäude ist ja in historischer Zeit entstanden und wird in das kleine Kind allmählich hineingeredet. Es gibt also einen historischen Aspekt und einen psychologisch-ontogenetischen zu untersuchen.

Wollte ich behaupten, ich hätte kein Bewußtsein oder keine Erlebnisse, wäre das ein Zeugnis mangelhafter Sprachbeherrschung. Aber wissenschaftlich gesehen ist der Gebrauch solcher Ausdrücke nur ein Bekenntnis zur "transgressiven" Redeweise, also zur Verwendung des genannten Konstrukts (des "Geistes", kurz gesagt).
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.02.2019 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40831

Auch die anderen stellen solche Analogiebetrachtungen an und kommen zum gleichen Ergebnis, wir kommunizieren miteinander, tauschen unsere Erfahrungen darüber aus und folgern, unsere jeweilige radikale Privatheit des Bewußtseins ist keine Illusion.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.02.2019 um 16.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40832

Dies letzte hatte ich noch geschrieben, ohne die Antwort 1106#40830 zu kennen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2019 um 16.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40834

Das macht nichts, lieber Herr Riemer. Es gibt mir die Gelegenheit, meinen alten Einwand gegen die "Phänomenologie" und die ganze Richtung zu wiederholen: Woher kommt denn die Sprache, in der ich meine Privatheit pflege und ausdrücke? Die Mentalisten fangen ganz einfach mit "ich" und "wir", sind also immer schon in der gemeinschaftlichen Sprache unterwegs. Nicht diese Sprache ist illusionär, die funktioniert prächtig, wenn man sie läßt, aber die Deutung als tatsächlicher Sachverhalt des "Allein-bei-sich-Seins" ist es. Das Innenleben des anderen erschließe ich in Wirklichkeit nicht durch Analogie, wie die Philosophen es erklügelt haben. Wie denn auch? Ich habe das alles ja erst von den anderen gelernt.

(Stammt natürlich nicht von mir, es gibt nur nicht allzu viele Stellen, wo es bündig gesagt ist. Einen einschlägigen Aufsatz von Adams hatte ich hier mal erwähnt: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#24409)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.02.2019 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40835

Sie meinen, im wissenschaftlichen Sinne kann man Ausdrücke, wie Bewußtsein usw. gar nicht benutzen, richtig? Aber ist das nicht lediglich Ausdruck einer ganz bestimmten Weltanschauung, auch einer ziemlich radikalen Sicht, die außer der Existenz der materiellen Welt nichts Existierendes anerkennt?

Andere Philosophen sprechen davon, daß sich Materie im Bewußtsein widerspiegelt, Bewußtsein selbst ist eine Eigenschaft der belebten Materie. So wie der Blitzschlag eine Spur am Baum hinterläßt, schon eine Art Erinnerung an den Einschlag, so wird auf einer weit komplizierteren Entwicklungsstufe das Bewußtsein gebildet. Damit existiert es und sollte doch den Wissenschaften zugänglich sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2019 um 17.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40863

Letzteres nennt man eine Petitio principii, nicht wahr?

Ich weiß ungefähr, was und wie die Leute so reden, auch und gerade die Philosophen, und finde es falsch, aber verständlich. Ich bemühe mich herauszufinden, wie es zu diesem praktischen, aber nicht wissenschaftsfähigen Modell kommen konnte, kommen mußte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2019 um 17.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40864

Die traditionelle mentalistische Psychologie tritt in vielen Spielarten und unter verschiedenen Namen auf (geisteswissenschaftlich, phänomenologisch, humanistisch ...). Alle nutzen den rhetorischen Vorsprung des Appells an das „Menschliche“ gegenüber dem „Mechanischen“. So auch Carl Rogers.

Grundannahmen der Humanistischen Psychologie sind:

Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile
Der Mensch lebt in zwischenmenschlichen Beziehungen
Der Mensch lebt bewusst und kann seine Wahrnehmungen schärfen
Der Mensch kann entscheiden
Der Mensch ist intentional

(Wikipedia)

Also: Nach zwei Gemeinplätzen folgt das klassische Bekenntnis zum transgressiven Modell, wie es in der Allgemeinsprache unhintergehbar verankert ist. Man kann doch den Geist, das Bewußtsein, die Intentionalität nicht leugnen, ohne sich selbst zu widersprechen! Mind is back! (Skinner über die Kognitivisten)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2019 um 06.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40868

Wer sich auf die Rede von der „materiellen Welt“ einläßt, sei es auch nur durch die Behauptung, es gebe nur diese, gesteht bereits zu, daß eine andere wenigstens denkbar wäre. Aber gerade das bestreite ich. Der Zusatz „materiell“ hat keinen Sinn, er unterscheidet nichts. Es gibt die Welt (= es gibt, was es gibt), und es gibt Konstrukte, also Fiktionen, aber nur in dem „adverbialen“ Sinn, daß man etwas konstruieren kann. Ob das Konstruierte auch existiert, ist eine sinnlose Frage. Daß etwas rot ist oder ob es rot ist, kann ich sprachlich durch das Abstraktum Röte ausdrücken, aber ich werde doch nicht fragen, ob es die Röte gibt. Ich weiß doch, daß es sich nur um eine sprachliche Technik handelt. Die Röte läßt auf Fieber schließen = Daß es rot ist... usw.

(Damit ist nebenbei der Universalienstreit aufgelöst, ganz unblutig.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 18.02.2019 um 11.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40870

Zur Petitio principii, es liegt wohl an meiner Formulierung (#40835), aber letztlich läßt sich ja keine der Grundannahmen der verschiedenen philosophischen Richtungen beweisen. Ja, es gibt halt, was es gibt, oder was man annnimmt, daß es es gibt.

Man könnte also auch sagen, der Ausdruck Materie ist nur eine nützliche sprachliche Konstruktion, ein bewährtes Verständigungsmittel, eine Illusion, genau wie das Bewußtsein.

Ihren Anspruch, es gäbe nichts Mentales, keinen Geist, kann ich von Ihrer Grundannahme her durchaus nachvollziehen, aber Ihr Anspruch geht ja noch weiter, Sie sprechen gleich allen anderen Grundannahmen, die der Ihren widersprechen, die Wissenschaftlichkeit ab, und daran habe ich dann doch einige Zweifel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2019 um 14.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40873

Nein, lieber Herr Riemer, so stimmt es immer noch nicht. Ich bestreite nicht die Existenz von Bewußtsein und Geist, sondern versuche, diese Konstrukte auf ihren wirklichen Platz in der Verständigungspraxis zurückzuführen. (Das kann ich hier nicht noch einmal in der nötigen Breite ausführen.)
Und das Absprechen der Wissenschaftsfähigkeit dürfen Sie nicht persönlich nehmen, es ist einfach die bekannte grundsätzliche Ablehnung einer bestimmten Wissenschaftstheorie. Kant hat auch viele damals anerkannte Wissenschaften in die Tonne gestoßen, ohne jemanden persönlich zu kränken. So hat die behavioristische Einstellung, die entgegen einer verbreiteten Legende immer noch die experimentelle Psychologie beherrscht, die auf Introspektion gegründete Psychologie grundsätzlich abgelehnt und auch tatsächlich überwunden, denn wer spricht noch von James, Titchener usw.? Als große Forscherpersönlichkeiten werden sie noch gewürdigt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2019 um 05.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40878

Die hier mehrmals genannte Elisabeth Wehling hat sich ja nun mit ihrem geleakten Framing-Gutachten für die ARD wieder einmal ins Gespräch gebracht. Die von ihr empfohlenen Manipulationen könnte man niederträchtig finden, wenn sie funktionierten. Wahrscheinlich hat sie für ihr Neurogefasel auch ein schönes Honorar bekommen (aus unseren Zwangsgebühren).

Über betrogene Betrüger freuen wir uns ja am meisten. Wehling hat das "Berkeley International Framing Institute" gegründet. Das schmückt den Kopf ihres Gutachtens und das Logo jedes neue Kapitel. Die ARD fällt prompt darauf herein. Eigentlich ist es ein traditionelles Rhetorik-Papier, nur zeitgemäß aufgepeppt.

Der Bericht im SPIEGEL ist übrigens so gegendert:

Kommunikationswissenschaftlerinnen und Sprachforscher nennen dieses Phänomen "Framing".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2019 um 05.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40879

Ich möchte noch nachtragen, daß die "Linguistin" Wehling keine sprachwissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht hat. Ihre Dissertation (https://escholarship.org/uc/item/4jt0p1hw) kann man nicht als solche bezeichnen. Wehling psychologisiert und politisiert wie ihr Meister Lakoff in seinen schlechteren Jahren. Die Selbstgewißheit, mit der die Thesen vorgetragen werden, ist allerdings umwerfend (wie bei Spitzer).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2019 um 08.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40882

Ich glaube zwar nicht, daß die Macht der Sprache so einfach funktioniert, wie die sophistische Rhetorik von Gorgias bis Wehling behauptet (vgl. auch das "Begriffebesetzen" der CDU vor einigen Jahren), und das hat auch etwas Tröstliches. Aber die Hauptfrage ist doch: Warum hat die ARD überhaupt diese Dame damit beauftragt, ein solches Elaborat zu verfassen? Sie war ja ausschließlich deshalb bekannnt geworden, weil sie eine solche Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung behauptete und sich anbot, dabei mitmachen zu können. Sie aufgrund dieser Verheißung zu engagieren kommt einem kriminellen Anschlag auf die Zwangszahlenden gleich.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 19.02.2019 um 10.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40884

Was Wehling entdeckt zu haben vorgibt, beschäftigt erfahrene Werber seit Jahrzehnten. Entsprechend dumm sind Wehlings Empfehlungen. Peinlich.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/was-das-framing-manual-der-ard-von-elisabeth-wehling-soll-16047741.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2019 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40885

Auf ihrer Website (https://www.framinginstitute.org/) dreht sich ein Modell des menschlichen Gehirns, von dem sie gar keine Ahnung hat.

Matthias Heine nimmt das Ganze auch auseinander, behauptet allerdings zu Unrecht:

Zwar wiederholt sie, was in der Wissenschaft Konsens ist: dass es überhaupt kein Reden und Denken außerhalb von Frames gibt. (welt.de 16.2.19)

Das ist keineswegs Konsens.

Aber recht hat er damit, daß das Ganze eine glänzende Geschäftsidee ist, wie "Neurorhetorik", "Neuromarketing" usw., wo sich ja heute viele tummeln.

Das Bekanntwerden dieser skandalösen Geschichte schadet hoffentlich dem Geschäft recht nachhaltig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2019 um 20.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40889

Inzwischen hat Frau Wehling eine "Klarstellung" auf ihre Website gestellt (http://www.elisabethwehling.com/klarstellungzuraktuellendebatte), die aber nichts klarstellt, was nicht bereits klar wäre. (Ob Paul Kirchhof ihr zu Hilfe kommen wird?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2019 um 05.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40891

"Sprache prägt das Bewußtsein." Tja, das ist leicht gesagt und ist ja auch nichts Neues (seit Tausenden von Jahren), aber so etwas konkret nachzuweisen ist keine Kleinigkeit. Zur Kritik vgl. mein "Nichts lernen aus Metaphern", zweiter Teil, über Lakoff und seine Anhänger, zu denen sich seither Frau Wehling gesellt hat. Schon Lakoff selbst hat sich mit seinem pseudowissenschaftlichen Politisieren ins Abseits gestellt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2019 um 06.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40892

Inzwischen wird bekannt, daß Wehlings "Manual" nicht nur eine Diskussionsgrundlage ist, wie entschärfend behauptet wird, sondern daß die ARD tatsächlich auf dieser Grundlage neun Mitarbeiterschulungen zusammen mit Wehling durchführt, von denen vier bereits stattgefunden haben. Frau Wehling sei "branchenüblich" honoriert worden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2019 um 07.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40893

Wehling bietet fachlich die nochmals stark verdünnte Form des dünnen Süppchens, das George Lakoff seit Jahrzehnten auftischt. Er ist die Leitfigur der "Kognitiven Linguistik". Sein Erfolgsrezept besteht darin, die Fachliteratur zur Metaphernforschung zu ignorieren, ebenso die Kritik an seinen Thesen. Für Linguisten und Literaturwissenschaftler lohnt sich die (allzu leichte) Lektüre nicht, aber in der populären Literatur hat er viel Anklang gefunden, wie es eben mit parawissenschaftlichen Ideen so zu gehen pflegt. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1546.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.02.2019 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40901

Inzwischen findet die ARD es richtig, daß das Wehlingsche Elaborat veröffentlicht ist. Gestern sprachen noch Urheberrechtsgründe dagegen. Die ARD gibt nun auch die Kosten bekannt: 120.000 Euro. Gestern wollte sie aus Gründen der Vertraulichkeit nicht damit herausrücken. (Für das Geld hätte eine professionelle Werbeagentur bestimmt weniger tolpatschige Sprüche gefunden.)

Frau Wehling wird wohl nie wieder einen solchen Großauftrag an Land ziehen.

Sie kann noch so sehr versuchen, sich herauszureden – die famosen Formulierungen, mit denen sie das Publikum zu verarschen empfiehlt, sind ihrem Blondkopf entsprungen und nirgend sonst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.02.2019 um 06.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40930

Ich habe das „Framing Manual“, also eine fachlich solide Anleitung zur Manipulation – kein Scherz – mit Gewinn gelesen. Der Sender hatte die renommierte Sprachpsychologin Elisabeth Wehling um Überlegungen gebeten, mit welchen Begriffen den bisweilen rüden Angriffen gegen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu begegnen sei. So entstand ein 89 Seiten starkes Lehrwerk, das in Schulen, Parteien und Redaktionen als Pflichtlektüre verteilt werden sollte, um erstens die Mechanismen von Propaganda zu kapieren und zweitens eigene Sprachmuster zu überdenken. (Hajo Schumacher, Berliner Morgenpost 24.2.19)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.02.2019 um 06.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40931

Ostdeutsche sympathisieren eher mit dem Kommunismus. „Die Forscherinnen suchen eine mögliche Erklärung in der Neurologie.“ (FAS 24.2.19)
Natürlich nicht, sie verstehen auch gar nichts von Neurologie. Aber die Wald-und-Wiesen-Psychologie kann man jederzeit gefahrlos mit Neurobabble aufbessern, irgendwie wird es schon was mit dem Gehirn zu tun haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.02.2019 um 09.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40936

Das Inventar der transgressiven Redeweise, also des „volkspsychologischen“ Konstrukts des Geistes, der Seele, des Mentalen o. ä., wird nicht durch Definitionen eingeführt und zu logischen Schlüssen genutzt, sondern bedient sich aus verschiedenen Quellen, um lokale Probleme der Verständigung und Verhaltensabstimmung zu lösen. Die Bestandstücke stammen teils aus der Alltagssprache, teils aus den Vorstößen von Dichtern und Denkern, auch religösen; in jüngerer Zeit auch aus den Wissenschaften, als „abgesunkenes Kulturgut“. Diese Art des Ausbaus nenne ich „Kultivierung“. Das Ergebnis ist, wie man gesagt hat, ein Patchwork, niemals konsistent und daher auch nicht nachträglich systematisierbar, wie es einige Psychologen und Philosophen immer wieder versuchen.
Dazu einige unscheinbare Beispiele, Zufallsfunde aus älteren Zeitungen:

Literaten treiben Psychologie, und andere Literaten finden es mehr oder weniger gelungen. Wenn die Psychologie eine Wissenschaft ist, kann sie solche Laientätigkeiten nicht unkommentiert lassen. Keine andere Disziplin kennt Vergleichbares. Reich-Ranicki erklärt zuerst Manzoni und eine Woche später Conrad für großartige Psychologen (FAS Juli 2007). Ijoma Mangold hält Martin Mosebach für einen großen Soziologen (SZ 11.8.07), obwohl weder Mosebach noch Mangold Soziologen sind. Mangold schreibt auch in der SZ vom 9.10.07, daß Thomas Glavinic ein „psychologisch enorm gescheites Buch“ (einen Roman) geschrieben habe. Ist Mangold Psychologe? „Mit Renée gelingt Franzen das überzeugende Porträt einer von Selbsthaß zerriebenen, sexuell frustrierten Karrierefrau.“ (FAZ 6.8.05)

Usw., endlos vermehrbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.02.2019 um 06.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40940

In der FAZ (26.2.19) wird die Unbeträchtlichkeit der Forscherin Wehling ausführlich dargelegt. In der Kommunikationswissenschaft werde sie kaum zitiert. Man kann hinzufügen, daß sie auch in Linguistik und Sprachpsychologie nicht vorkommt. Hajo Schumacher fabuliert von einer „renommierten Psycholinguistin“ und findet ihr Manual „solide“. Entweder hat er es gelesen und verfügt über wenig Urteilskraft, oder er hat es nicht gelesen und stellt seiner journalistischen Ehre ein schlechtes Zeugnis aus.
Wehling hat der Friedrich-Ebert-Stiftung „Eine neuro-linguistische Analyse des EU-Wahlkampfes“ verkauft (http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/06756.pdf), die natürlich gerade dies nicht ist – wie denn auch? Wehling hat ja von Neurologie keine Ahnung, ein paar Gemeinplätze über das Gehirn genügen ihr.
Wehling baut seit Jahren ihre Marke auf, wobei ihr die Gutgläubigkeit der Medienkonsumenten und -produzenten zu Hilfe kommt. Das immerhin hat sie ganz genau erkannt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2019 um 07.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40942

Im Internet stößt man immer wieder auf Leute, die ähnlich wie Wehling ihre Marke aufbauen.

Kürzlich sah ich bei Wikipedia unter "Lebenswelt" nach, bekanntlich ein Grundbegriff der Phänomenologie. Alles scheint dort auf einen gewissen Björn Kraus hinauszulaufen. Dazu der lange Eintrag über ihn selbst: https://de.wikipedia.org/wiki/Bj%C3%B6rn_Kraus. Typischerweise werden andere Autoren zitiert, die Krausens Bedeutung hervorheben. Das Markenzeichen, das ständig mit seinem Namen verbunden wird, ist „Relationale Soziale Arbeit“, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Relationale_Soziale_Arbeit und weitere verlinkte Artikel.
Auch hier hat er sich angehängt: https://de.wikipedia.org/wiki/Radikaler_Konstruktivismus

Wäre soziale Arbeit ein Thema, das die Leute vom Hocker reißt, würde man sicher noch öfter von ihm hören, auch in Talkshows usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2019 um 08.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40943

Zuschriften bitte an meine neue Adresse: Oxford Academy of Behaviour Analysis. Spardorf, Germany
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2019 um 09.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40980

Menschliches Erleben umfasst Gefühle, Denken, Aufmerksamkeit und Gedächtnis. (Wikipedia „Psychische Störung“)

Dies wird nicht als besondere Theorie mit identifizierbaren Urhebern dargeboten, sondern als Allgemeingut. Auch das Konstrukt der radikal privaten, nur durch Introspektion erschließbaren Innenwelt wird undiskutiert vorausgesetzt. Überhaupt herrscht in solchen Einträgen die herkömmliche dualistische Anthropologie von „Leib und Seele“, unangefochten von Jahrhunderten philosophischer Diskussion und hundertjährigem psychologischen Methodenstreit. Der Alltagsnutzen ist kaum zu bezweifeln; in der klinischen Praxis findet man sich damit ab, weil nichts Besseres zur Hand ist. Tabletten lösen sich im Körper auf und wirken dann auf die Seele – na und? Ärzte suchen nach dem Grund von Krampfanfällen, finden nichts und folgern, es müsse etwas Psychisches sein. Sie geben den Fall an die Kollegen. Philosophen haben leicht fordern, man solle das Menschenbild konsistent machen. Das prallt an der Notwendigkeit des sofortigen Handelns ab. Der Flickenteppich der volkstümlichen, die Sprache durchziehenden Anthropologie spiegelt es wider.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.03.2019 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40991

Das "Berkeley International Framing Institute" scheint inzwischen keine Website mehr zu haben, und Wehling hat wohl auch zugegeben, daß es gar nicht existierte, sondern nur eine Marke war, unter der sie ihre Dienste anbot; sie war zugleich ihre eigene Direktorin.

Der ganze Bluff ist weniger interessant als die Vorgänge bei der Vergabe des lukrativen Auftrags. Vielleicht erfährt man mal etwas darüber.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2019 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40997

Bericht der FAZ (6.3.19) über die Rückbesinnung der Kognitionswissenschaft auf den Körper: Embodiment usw. – Der Logizismus und die rein formale Modellierung, auch durch Computersimulation, haben ausgedient. Manuela Lenzen hebt die Verschiedenheit der Ansätze und Gegenstände hervor; die Kognitionswissenschaft scheine nicht zu wissen, was Kognition überhaupt ist, ein Sammelsurium, das in neuen Handbüchern zusammengebunden wird.
„Wenn ich einen Stuhl sehe, möchte ich mich setzen, der Ball verleitet, ihn zu treten.“
Was nicht erwähnt ist: Der ideomotorische Effekt wurde schon 1852 von Carpenter beschrieben. Auch die „Handlungseinschüsse in der Wahrnehmung“ (Gehlen) wird man wiederentdecken, nur Geduld!

Auch die Sprachpsychologie könnte sich erholen. Man müßte nur aufhören, den Computerlinguisten Chomsky für einen Psychologen zu halten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2019 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40998

Die Wiederentdeckung der Körpers – unter verschiedenen schönen Namen – ist eigentlich die Wiedereinsetzung des gesamten Organismus als Agens: Er verhält sich in einer bestimmten Weise, wirkt auf seine Umwelt ein und wird seinerseits durch diese Wirkung verändert. (Das ist fast wörtlich der Anfang von Skinners „Verbal Behavior“.) Es ist lupenreiner Behaviorismus.
Skinner hat immer wieder gesagt, daß die Neurophysiologie einmal eine wertvolle Ergänzung der Verhaltensanalyse sein könnte. Aber solange wir so wenig darüber wissen, ist es besser, nicht zu spekulieren und kein Neurobabble zu stammeln. Natürlich haben die Kognitivisten starke Hemmungen, ihren Irrtum einzugestehen.
Vgl. Skinners „Origins of cognitive thought“ und dazu das Video des 84jährigen: https://www.youtube.com/watch?v=NpDmRc8-pyU
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.03.2019 um 04.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41035

In der Mitarbeiterschulung der Unternehmen prasselt die psychologische Bearbeitung auf die Opfer ein, unterfüttert von hanebüchener Popularpsychologie und Neurobabble über das „Gehirn“, das „Entscheidungen trifft“ (auch „aufgrund von Vorurteilen“, "unbewußt") usw. Man gibt auch ohne Erfolgskontrolle viel Geld für Gehirnwäscherei aus. Widerstand ist nicht ratsam, man läßt es über sich ergehen.

Das Framing-Manual der Frau Wehling hat viele überrascht, aber in der Mitarbeiterschulung sind solche Texte Alltag.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2019 um 08.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41059

Der Psychiater Allen Frances („Amerika auf der Couch“) warnt zwar seit Jahren vor einer Psychiatrisierung der Politik und Ferndiagnosen – Trump sei bad, nicht mad –, kann es aber nicht lassen, vom Aufbau des Gehirns zu sprechen und vom „Amygdala-Hass“, den die Propaganda auf Hillary Clinton gelenkt habe und der durch keinerlei „Kortex-Rationalität“ gestützt gewesen sei. Er merkt ebenso wenig wie unser Manfred Spitzer, daß er damit seine fachliche Zuständigkeit überreizt.

Das ist aber nur ein sehr kleiner Teil des genannten Buches. Obwohl ich in der Tendenz zustimme, finde ich es weitschweifig und kaum lesenswert, im Gegensatz zu manchen wirklich recherchierten Arbeiten über Trump und seine Wähler.

(Der deutsche Buchtitel ist auf den ersten Blick irreführend, auf den zweiten dann aber doch nicht ganz.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2019 um 06.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41080

Zürcher Forscher haben Hocketts Beobachtung oder Behauptung aufgegriffen, daß in den Sprachen der Jäger und Sammler die bilabialen Laute w und f seltener vorkommen als in den Sprachen der Ackerbauer. Sie bringen das mit dem Überbiß der letzteren in Verbindung, gegenüber dem älteren Kopfbiß, der in der Tat das Bilden solcher Laute erschwert.
Ich kann aus den Berichten nicht erkennen, daß die Wissenschaftler die Kieferstellung heutiger Jäger und Sammler untersucht haben, es werden anscheinend nur fossile Befunde herangezogen. Bei diesen Frühmenschen wissen wir allerdings nichts über die Sprache.
Auch die germanische Lautverschiebung wird auf diesen Zusammenhang abgebildet, aber dem steht natürlich entgegen, daß die Germanen sich von den anderen Indogermanen nicht durch eine besondere Umstellung der Ernährungsweise (und der Kieferstellung!) unterschieden. Außerdem ist p > f ja nur ein kleiner Ausschnitt.
Weder die alten Inder noch die Griechen hatten ein f – um nur mal zwei von vielen großen Sprachen zu erwähnen. Die Halbvokale sind oft Stellungsvarianten von i und u. Was das mit Fleisch und Brei zu tun haben soll, steht dahin.
Außerdem kann sich die Artikulation viel schneller ändern als die Lebensweise oder gar die Kieferstellung, nämlich in wenigen Jahrzehnten.

Weitere Forschungen sind notwendig – ja gewiß, aber man könnte mit der Veröffentlichung auch mal warten, bis man weitergeforscht hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.03.2019 um 05.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41086

The switch to farming and a softer diet reshaped adults’ jaws and teeth—and gave them the ability to pronounce new sounds. When humans switched to processed foods after the spread of agriculture, they put less wear and tear on their teeth. That changed the growth of their jaws, giving adults the overbites normal in children. Within a few thousand years, those slight overbites made it easy for people in farming cultures to fire off sounds like "f" and "v," opening a world of new words, according to a study. The newly favored consonants, known as labiodentals, helped spur the diversification of languages in Europe and Asia at least 4000 years ago.
(http://science.sciencemag.org/content/363/6432/1131.summary?intcmp=trendmd-sci)

American anthropologist C. Loring Brace has brought forth a theory that the human overbite of Europeans is only about 250 years old and was the result of the widespread adoption of the table knife and fork. Before the use of cutlery, Europeans would often clamp their teeth on a piece of meat and cut off a piece with a knife. When Europeans started using forks and knives, the cutting was done on the plate and the overbite became much more common. Brace also researched the Chinese, who had adopted chopsticks 900 years earlier and found the instances of overbites increased about the same time the new eating method was introduced. (Wikipedia)

Using forks and knives has changed the human face
(https://www.businessinsider.com/using-cutlery-has-changed-the-human-face-2015-3?IR=T)

Aber die Inder essen immer noch mit den Fingern und haben auch keine andere Kieferstellung als wir. Und hat man die Größe und Form der Lippen bei beiden Typen von Kieferstellung berücksichtigt? Über allem schwebt natürlich das Problem der zeitlichen Dimensionen. Tischsitten wie die Einführung der Gabel spielen sich in anderen Zeiträumen ab als genetische Veränderungen.

Kritisch auch: https://www.nextnature.net/2013/01/did-forks-really-give-modern-humans-an-overbite/
(Weist auch darauf hin, daß Völker, die weder Messer noch Gabel zum Essen benutzen, die Speisen zuvor zerkleinern und keineswegs mit den Zähnen zerreißen. Es ist eher umgekehrt, als diese Theorie vermutet.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2019 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41174

But one thing is certain, no other species has the sort of well-elaborated mentalizing skills that so importantly shapes our own experience in the world. (Verfasser spielt keine Rolle, da Allgemeingut)

Die einzigartige Fähigkeit des Menschen zum Mentalizing ist einfach seine Sprachfähigkeit. Eine bestimmte Redeweise ist ohne Sprache nicht möglich. Ohne Sprache ist auch das sprachliche Konstrukt des Geistes nicht möglich. Das sind alles Tautologien, daher unbezweifelbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2019 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41209

Mit einiger Mühe kann man vielleicht die Habituation bei Meeresschnecken physiologisch erklären. Aber wie ist das Memorieren beider homerischer Epen oder des ganzen Rigveda möglich? (Wobei das Aufsagen auch weitgehend ohne Verständnis möglich ist.) Oder die Fähigkeit, hundert Stunden Klaviermusik auswendig zu spielen? Es hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem „Lesen“ einer Festplatte, das steht fest. Auf wenigen Gebieten ist die Forschung so wenig vorangekommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.04.2019 um 06.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41255

Zum Walroß, dessen Verhalten wir noch beobachten können, im Gegensatz zum Säbelzahntiger:

Die wichtigste Funktion der Stoßzähne neben zahlreichen anderen Funktionen, etwa zur Verteidigung gegen Fressfeinde, als Kopfstütze, zum Aufbrechen von Atemlöchern im Eis oder als Hilfsmittel beim Verlassen des Wassers, besteht darin, Geschlecht, Alter und sozialen Status ihrer Träger zu demonstrieren. Durch einfaches Vorzeigen ihrer imposanten Hauer sind dominante Tiere beiderlei Geschlechts zum Beispiel regelmäßig in der Lage, untergeordnete Individuen von günstigen Ruheplätzen zu verdrängen. Dadurch kommt es nur dann zum Kampf, wenn zwei Träger annähernd gleich langer Hauer aufeinandertreffen. (Wikipedia)

Es geht um die Trennung von praktischen und symbolischen (zeichenhaften) Funktionen.
Ob es um „günstige Ruheplätze“ geht, scheint mir auch nicht sicher; s. ebd. zum Sozialverhalten und zur Haremsbildung. Die Günstigkeit der Ruheplätze ist vielleicht nicht nachgewiesen, sondern zirkelhaft erschlossen. Vergleichen die Tiere ihre eigenen Hauer mit denen des Rivalen? Woher wissen sie, wie lang ihre eigenen sind? – Die Darstellung ist etwas oberflächlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2019 um 05.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41281

Zu den magischen Praktiken der Mitarbeiterschulung gehört auch die Mystifikation von Banalitäten durch fernöstliche Vokabeln wie Gemba oder Kaizen. In fünf Jahren kann aber schon wieder etwas ganz anderes Mode sein. Die Anleitungen werden sich aber weiterhin wie Selbstparodien lesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2019 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41306

Oft fragt man, wann in der Geschichte der Sprache Grammatik notwendig wurde, als sei der Sprache die Grammatik als zusätzliche Komplikation hinzugefügt worden. In Wirklichkeit führt jedes Sprechen zum Beispiel zu Gewohnheiten der Wortstellung und zu Perseverationen, die dann sekundär (durch „Exaptation“) funktionalisiert wurden, etwa zur Kennzeichnung von Satzarten (Wortstellung) und zur Kongruenz (Perseveration). Grammatik ist keine zusätzliche Leistung, sondern die ungewollte und unvermeidliche Folge der Routine. (Das ist natürlich eine junggrammatische Einsicht; Hermann Paul drückt es seinen "Prinzipien" ähnlich aus. Ich bin nur gerade in Arbeiten zur Frühgeschichte der Sprache darauf gestoßen: Alan Barnard u. a.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.04.2019 um 04.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41311

Über die komplizierten Wirkungen des ominösen FOXP2-Gens (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#19998) ist inzwischen so viel bekannt, daß man es nicht mehr als "Sprach-Gen" bezeichnen kann, was allerdings in vielen Büchern immer noch geschieht.

Wenn das Gen bei Tieren wie Ratten mit der Steuerung der Atmung zusammenhängt, könnte man denken, daß dies eigentlich nicht überrascht. Ist nicht Sprechen eine bestimmte Steuerung der Atmung? Und zwar sind die zugehörigen Organe unter die Steuerung durch neuentwickelte Nervenbahnen geraten, die es ermöglichen, daß Gruppenangehörige auf diesen Teil der Willkürmotorik Einfluß nehmen. Sprache ist partnerschaftlich gesteuertes Atmen.

Human mind needs human cognition and human cognition relies on human speech. We cannot envisage humanness without the ability to think abstractly, but abstract thought requires language. This finding confirms that the molecular basis for the origin of human speech and, indeed, the human mind, is critical. Ultimately, we will find great insight from further unravelling the evolutionary roots of human speech - in contrast to Noam Chomsky´s lack of interest in this subject. (MacAndrew: http://www.evolutionpages.com/FOXP2_language.htm)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.04.2019 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41316

Die FAZ bespricht ein neues Buch von Maryanne Wolf. Darin scheint sie auch wieder über das Gehirn zu sprechen: „Schnelles Lesen, langsames Lesen: Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen“ (2019)

Das werde ich nicht lesen, nach dem Unsinn in ihrem vorigen Werk, auch wenn ich ihr in der pädagogischen Tendenz zustimme.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.04.2019 um 05.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41317

"The processing of ideas in the neocortex" - so reden sie daher, in aller Unschuld. Das Gehirn verarbeitet keine Ideen, es steuert Muskeln. Einige dieser Bewegungen werden in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen als "Ideen" oder als "Äußerung von Ideen" interpretiert. Das ist aber nicht mit der Sprache der Neurologie in Verbindung zu bringen. Die Koppelung wie in der zitierten Wendung ist sinnlos.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2019 um 08.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41485

Die Welt ist bevölkert von black boxes – komplexen Systemen, von denen wir zwar sagen können, was in sie hineingeht und aus ihnen herauskommt, deren Innenleben und interne Funktionsweisen uns aber weitgehend rätselhaft bleiben. Der menschliche Geist zählt nach wie vor dazu, erst recht die mentalen Zustände von Tieren. Wer kann schon sagen, was der eigene Wellensittich wirklich denkt?
(FAZ 15.5.19)

Geist, mental, denken – das sind die Vokabeln von gestern, die das Problem unlösbar machen. Der naive Zeitungsartikel zeigt die herrschende Auffassung unverfälscht. Die Hirnforschung, die in derselben Wissenschaftsbeilage referiert wird, kann sich damit nicht aufhalten. Auch stammt der Begriff der black box nicht aus der Philosophie des Geistes, sondern aus der naturalistischen Verhaltensanalyse (Behaviorismus) und ist „anschlußfähig“ an die Neurologie, nicht an die traditionelle Geistmetaphysik. Den Geist haben wir selbst konstruiert und brauchen ihn nicht zu erforschen, er ist keine black box, sondern enthält genau das, was wir hineingesteckt haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2019 um 03.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41491

„Kürzlich wurde entdeckt, daß beim Menschen das Kleinhirn keineswegs nur ein Bewegungssteuerungszentrum ist, sondern auch an kognitiven Leistungen und Sprache erheblichen Anteil hat, allerdings ohne daß dies uns bewußtseinsmäßig zugänglich ist.“ (Gerhard Roth/Wolfgang Prinz (Hg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg, Berlin, Oxford 1996:42)

Das ist die herkömmliche Trennung von Wissen und Verhalten, als wenn das Kognitive und die Sprache etwas anderes als Bewegungssteuerung wären.
Die Bewegungssteuerung durch das Kleinhirn läuft automatisch ab, d. h. nicht durch Einspruch oder Zuspruch anderer beeinflußbar (= nicht willkürlich).

Willkürmotorik baut sich auf unwillkürlichen Bewegungen auf. Ich kann entscheiden, ob ich Rad fahre oder nicht, aber ich kann nicht entscheiden, ob ich dabei das Gleichgewicht halte oder umfalle.

Der Kniesehnenreflex läuft über das Rückenmark, ohne das Kleinhirn, und ist überhaupt nicht zu beeinflussen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2019 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41499

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40617

Die Metapher vom „artgeschichtlichen Gedächtnis“ (Gerhard Roth/Wolfgang Prinz (Hg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg, Berlin, Oxford 1996:359) im Sinne von Lorenz usw. ist überflüssig und irreführend. Am besten an den Schützenfischen zu zeigen, wo man die Funktionsweise einer Handvoll Neuronen kaum als artgeschichtliches Gedächtnis bezeichnen würde. Noch weniger die Chemotaxis der Kleinstlebewesen.
Übrigens auch interessant: Die Flagellaten führen Suchbewegungen aus, weil die Brownsche Molekularbewegung den Stoffkonzentrationsgradienten überdeckt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Chemotaxis)
Das tun sie, weil es sich bewährt hat, nicht weil sie ein Gedächtnis für Züge ihrer Umwelt haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2019 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41502

Um lange Läufe durchzuhalten, reicht es nicht, nur den Körper zu trainieren, man muss auch die Psyche vorbereiten. (FAS 19.5.19)

Die Seele ist pseudowissenschaftlich ein wenig verfremdet (es geht mit „mental“ weiter), aber im wesentlichen wird tagtäglich das herkömmliche Modell von Leib und Seele weitergeführt (wie auch die ständige Rubrik überschrieben ist). Religiöse Implikationen sind aufgegeben. Auf dieser Basis sind sich die Menschen dann einig und bezahlen auch Fachleute, die sich um den Körper oder die Seele oder auch um beides kümmern.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2019 um 11.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41544

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39088

Nach Karl Eibl baut die Lust an Kunst und Dichtung Streß ab und stärkt damit die Immunabwehr, schützt also vor Infektionskrankheiten. Das müßte sich epidemiologisch nachweisen lassen, vielleicht sogar experimentell. Allerdings ist nicht klar, ob unsere heutige Ästhetik viel mit dem Ursprung der Kunst zu tun hat. Haben die Ritualgegenstände oder die Höhlenbilder der Steinzeit Streß abgebaut? Wir wissen es nicht.
Die Herauslösung der Kunst aus durchaus funktionalen Zusammenhängen (Religion als Teil der Lebenspraxis) wäre zu untersuchen, geht vielleicht nicht tief. Wenn wir heute von Kunst sprechen, beziehen wir Duchamps Urinal und Manzonis „Künstlerscheiße in Dosen“ ein, die als eine Art Metakunst die moderne Kunstreligion und den kommerziellen Kunstbetrieb voraussetzen und kommentieren. Aber das ist viel zu künstlich, um irgend etwas mit dem anthropologischen Ursprung der Kunst zu tun zu haben. Wie stressig waren die „Kunstwerke“ (Moai) der Osterinsel? Danach sollte man wohl gar nicht fragen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.05.2019 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41561

Der Bienenforscher Randolf Menzel nimmt ohne weitere Diskussion an, daß auch der Mensch über einen magnetischen Sinn verfüge, der sich trainieren lasse und bei australischen Aborigines so stark entwickelt sei, daß er wesentlich zu ihrer Orientierung beitrage.

Soweit ich weiß und etwa bei Wikipedia sehe, ist ein solcher Sinn sehr umstritten und eigentlich bisher nicht nachgewiesen.

Die "kognitiven Karten", die Menzel ebenfalls den Bienen zuschreibt, führen begrifflich in Schwierigkeiten, worauf ich schon hingewiesen habe. Menzel führt Verhalten von Bienen an, das man nicht ohne die Annahme einer kognitiven Karte erklären könne. Kann man es denn mit einer solchen Annahme erklären?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.05.2019 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41564

How does the honeybee form and update the cognitive map based on experience? How
does the cognitive map interact with other navigational capacities, such as dead reckoning and route following? How does the cognitive map figure in the honeybee’s path-planning? So far, these questions remain unanswered. (Rescorla)

Die „Karte“ in irgendeinem uns vertrauten Sinn setzt einen Kartenleser voraus, bei der Biene also eine innere Apicula (die aber, wie der Homunkulus, bemerkenswerterweise die Kulturtechnik des Kartenlesens beherrscht...). Wenn man das nicht will, muß man die „Karte“ als Metapher verstehen, die nichts erklärt und keinen Streit lohnt, wie Menzel ihn mit anderen Bienenforschern austrägt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.05.2019 um 04.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41588

The study of perceptual consciousness must begin with an adequate phenomenology of perceptual experience. The aim of this book is to bring together new writings of philosophers and cognitive scientists that respond to the need for a better phenomenology of perceptual experience. (Alva Noé: Vorwort zu „Is the visual world a grand illusion?“ J. of consciousness studies 9, 5-6, 2002)

Mit einem solchen Beginn ist schon viel vorentschieden. Der Verfasser hat mit dem „Erleben“ von vornherein den Joker der Qualia in der Hand: Die schönste naturwissenschaftliche Analyse der Wahrnehmung kann nicht erklären, wie die Erlebnisqualität zustande kommt. Im Grunde wird die Introspektion mit dem Erleben als primärem Datum wiederbelebt. Die Kritiker stehen seit hundert Jahren bereit.
An der Möglichkeit einer „Phänomenologie“ und deren sprachlicher Darstellung zweifelt der Verfasser nicht, wird also einer sprachkritischen Analyse solcher Redeweisen nicht gewogen sein.

Für William James war der Bewußtseinsstrom eine unbezweifelbare Tatsache und der Ausgangspunkt der ganzen Psychologie. Neuere wie Susan Blackmore stellen es strikt in Abrede. Ihre eigenen unbezweifelbaren Tatsachen werden ebenfalls nicht von Dauer sein, insbesondere unter dem Angriff der Sprachanalyse.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.06.2019 um 10.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41640

OECD: Understanding the Brain: The Birth of a Learning Science

(https://www.oecd-ilibrary.org/education/understanding-the-brain-the-birth-of-a-learning-science_9789264029132-en)

Wie kommt die OECD dazu, bestimmte Thesen und Meinungen in dieser Weise zu kanonisieren und damit gleichsam der Fachdiskussion zu entziehen? (Die deutsche Fassung, mit einem Geleitwort von Manfred Spitzer – wem sonst! – ist nicht mehr im Handel.)

Zu den Hintergründen:

Bruno della Chiesa (* 7. Juli 1962) ist ein Linguist italienischer, französischer und deutscher Herkunft, der sich selbst als „engagierten Kosmopoliten“ bezeichnet. Er lehrt an der Harvard University und wird als einer der Hauptgründer der Neurodidaktik (educational neuroscience) betrachtet. Zudem ist er dafür bekannt, die Ausdrücke „Neuromythos“ (2002) und „Neuro-Piraten“ (2013) geprägt zu haben, und hat die Theorien zum „Motivationsvortex“ (2007) und zu den „Tesserakten im Gehirn“ (2008)[7] aufgestellt. Er hat außerdem das internationale Science Fiction Festival Utopiales gegründet.
(...)
Anfang 1999 nahm er eine Stelle als Projektmanager im Zentrum für Forschung und Innovation im Bildungswesen (Centre for Educational Research and Innovation, CERI) der OECD an. Sein Projekt „Lernwissenschaften und Gehirnforschung“ (1999–2008), das unter Anreiz von Jarl Bengtsson gegründet wurde, hat über 300 Experten aus 26 Ländern zusammengebracht und zur Entstehung von Initiativen geführt, die einen transdisziplinären Ansatz der Neurodidaktik entwickeln, zunächst in Nordamerika, Asien und Europa und schließlich weltweit. Während dieser Zeit begann er, mit Kurt W. Fischer und Howard Gardner an der Harvard-Universität zusammenzuarbeiten. Von 2007 bis 2012 entwickelte er – zwischen Cambridge (Massachusetts, USA), Ulm und Paris (Frankreich) – ein umstrittenes Projekt zu Sprachen und Kulturen im Zeitalter der Globalisierung, ohne jedoch die Neurowissenschaften aufzugeben. Zahlreiche tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten philosophischer Natur bezüglich der Ziele und Ausrichtungen dieses Projektes, sowie bezüglich interner Politik und Strukturen führten 2012 zu seinem Ausscheiden aus der Organisation.

(https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_della_Chiesa)

Auch der Europarat wurde schon von weitgehend unbekannten Autoren benutzt, ihre Ansichten mit vergleichsweise unbeschränkten Ressourcen flächendeckend zu verbreiten. Die OECD treibt es besonders wüst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.06.2019 um 11.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41652

Gestern fiel mir beim Wandern nicht ein, wie wir als Kinder das Spiel nannten, bei dem man mit Daumen und Zeigefinger von bestimmten Wildgräsern die unreifen Fruchtstände nach oben abstreift und dann ein "Sträußchen" davon herzeigt. Heute fiel es mir plötzlich ein: "Hühnchen oder Hähnchen?" Im Internet überwiegend: "Hahn oder Henne?" (Wortfolge nach dem Gesetz der wachsenden Glieder) (http://tiergezwitscher.de/hahn-oder-henne/)

Wie kann etwas so lange in meinem Gehirn "gespeichert" sein? Solange das niemand erklären kann, sollen die Neurosophen still sein.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 09.06.2019 um 12.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41653

Ich finde die Frage seltsam. Es muß ja gespeichert sein. Ich würde statt dessen fragen: Wie kann es NICHT gespeichert sein? Wäre es nicht gespeichert (beispielsweise wie in Ihrem Bild vom Gebirge in Form eines Flußbettes), woher sollte dann plötzlich die Erinnerung kommen? Das einmal gefräste Flußbett (Name des Spiels) war wohl durch lange Nichtbenutzung zunächst leicht verschüttet, also nicht sofort präsent, aber es war noch vorhanden und ist nun wieder freigelegt und nachgespurt worden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.06.2019 um 12.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41654

Übrigens, ich habe die ganze Zeit überlegt, wie dieses Spiel bei uns im Erzgebirge ging. In diesem Moment ist es mir wieder eingefallen:

Grashalm: „Dos is a Baam.“
abstreifen: „Dos is a Busch.“
.......: „Un dos krichste in de Gusch.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.06.2019 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41655

Mit "Speichern" sagt man mehr als mit "Verändern", und zwar zuviel. Es wird nichts gespeichert, vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1616#36291
Das ist auch kein Streit um Worte (oder Metaphern), Die Probleme, die sich mit dem Speichermodell ergeben (physische Realisierung, Abruf usw.), sind unlösbar.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 09.06.2019 um 21.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41656

Die Ansichten sind offensichtlich nicht vereinbar, aber ich möchte meine gern danebenstellen.

Natürlich speichern Lebewesen im „Gedächtnis“ (ich nenne den Speicher jetzt einmal so, ohne zu wissen, wo er genau steckt und wie er funktioniert, das spielt ja hier keine Rolle) keine Kopien von den Dingen und Tätigkeiten. Aber es ist möglich, Abbilder der Dinge und Beschreibungen der Tätigkeiten zu speichern, so auch Verhaltensmodelle. Wenn das alles grundsätzlich speicherbar ist, wieso dann nicht auch im Gedächtnis eines Lebewesens?

Meiner Ansicht nach ist alles Wissen und Können, kognitive und motorische Fähigkeiten, alle Reflexe im allgemeinsten Sinne Information. Information ist eine bestimmte Ordnung, Reihenfolge, Struktur der Materie. Da wird natürlich nicht „etwas“ im Sinne eines materiellen Dinges gespeichert, sondern die Anordnung der Materie wird verändert. So ist jede Informationsspeicherung eigentlich eine Veränderung der Struktur der Materie.

Natürlich gibt es rein zufällige Veränderungen, die zu keiner sinnvollen Information führen. Aber Veränderungen können, absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt, eine Information speichern.

Das heißt, ich bin sehr wohl der Meinung, daß, abgesehen von zufälligen (sinnlosen) Veränderungen, letztlich Informationsspeicherung und Veränderung dasselbe ist.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.06.2019 um 22.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41657

Ganz kurz gesagt:

Speichern (von Information) ist sinnvolles Ändern (der Materiestruktur).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2019 um 06.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41659

Lieber Herr Riemer, mit dieser Ausweitung des Begriffs "Speicher" bin ich natürlich nicht einverstanden, ganz abgesehen davon, daß Sie zuletzt auch noch die Einschränkung "sinnvoll" einbauen. Auch Ihre Verwendung von "Information" findet ich nicht vertretbar.

Schon mal zitiert:

„A great deal of information is amassed in the Encyclopedia Britannica. In that sense, there is none at all in the brain. Much information can be derived from a slice through a tree trunk, or from a geological specimen. And no doubt too from a dissection of a brain. But that is not information which the brain has. Nor is it written in the brain, let alone in ‘the language of the brain’, any more than the information ‘in’ the tree trunk about the severity of winters in the 1930s is written in arboreal patois.“ (Peter Hacker: „Languages, Minds and Brains“ In: Colin Blakemore/Susan Greenfield (Hg.): Mindwaves. Thoughts on Intelligence, Identity and Consciousness. Oxford 1987: 485-505, S. 492f.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2019 um 06.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41661

Du kannst  t h u n  was du  w i l l s t :  aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes  w o l l e n  und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine. (Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens. Hamburg 1978:58-59)

Das wird oft zu der Frage verkürzt: Kann ich wollen, was ich will? Darauf folgt heute gewöhnlich eine Diskussion neurophysiologischer Versuche (Kornhuber, Libet).

So wird aber der Begriff wollen nicht gebraucht. Mit dem allgemeinen Determinimus ist die einzig gerechtfertigte Verwendung durchaus vereinbar. Die besten Beweise der Determiniertheit ändern nichts am Gebrauch von wollen – im Rahmen des Deliberationsdialogs, in dem er entstanden ist und außerhalb dessen er seinen Sinn verliert.

Wollen ist kein Verhalten, kann nicht angeordnet und nicht verboten werden.

Goethe erweist sich als waschechter Behaviorist, wenn er das Nichtverhalten "Wollen" in das Verhalten "Ankündigen" überführt (s. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1587). Das ist der Weg der Naturalisierung: von der Erlebnisrede zur Verhaltensbeschreibung.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.06.2019 um 14.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41663

Lieber Prof. Ickler, Sie haben recht, meine Einschränkung auf "sinnvolle" Änderungen ist unnötig. Ich wollte es nur nicht "speichern" nennen, wenn gar keine Information beteiligt ist, aber im Grunde ist auch eine rein zufällige (sinnlose) Änderung eine Speicherung der aktuellen materiellen Struktur.

M. E. wird der Ausdruck "speichern" (von Ideen, Information, nichtmateriellen Dingen) nur deshalb von "ändern" unterschieden, weil mit "speichern" gemeinhin eine länger anhaltende Änderung gemeint ist. Um die Dauer geht es hier auch nicht. Es gibt zweifellos sehr stabile Änderungen (=Speicherungen). In einem lebenden Organismus muß man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Gespeichertes sich periodisch oder permanent erneuert.

"In that sense, there is none at all in the brain."
Wieso nicht? Ich finde, das entspricht genau dem menschlichen Gehirn. Unser Wissen umfaßt u. a. auch enzyklopädische Fakten.
Wir haben hier zwei verschiedene Ebenen. Auch in der dicksten Encyclopedia Britannica findet man keine Information über sie (das dem Leser vorliegende Buch) selbst. In der Enzyklopädie steht nicht, daß sie auf Seite 100 ein Eselsohr und auf Seite 200 einen Fettfleck hat (sie "weiß" es nicht), was der Betrachter jedoch leicht feststellen kann, selbst wenn er nicht lesen kann. Ebenso sieht der Chirurg Dinge über das Gehirn, die der Träger des Gehirns nicht weiß/wußte (z. B. einen Tumor). Daß der Chirurg kein gespeichertes Wissen des Trägers sehen kann, liegt an seinen begrenzten Möglichkeiten, er kann es eben (vielleicht noch) nicht lesen. Das ist aber kein Beweis dafür, daß kein Wissen gespeichert ist.

Was mich so sicher macht, daß es doch gespeichert ist, sein muß, das ist einfach der Fakt, daß ich heute noch weiß, was ich gestern getan habe. Woher kommt dieses Wissen, diese Information, wenn es nicht (z. B. in Form von irgendwelchen eingefrästen Spuren, wie ein Flußbett im Gebirge) gespeichert ist?

Eigentlich sagen Sie es selbst so, Sie bestreiten nur, daß diese wie auch immer gearteten Spuren genau der gesuchte Speicher sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2019 um 04.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41676

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41640

OECD: Understanding the Brain: The Birth of a Learning Science. OECD 2002.

Fremdsprachen sollen möglichst früh erlernt werden, weil der Beginn nach dem 13. oder 14. Lebensjahr unbefriedigende Ergebnisse zeitigt (51). Diese alte Erfahrung wird hier als Folgerung aus Hirnscans dargestellt, die gezeigt hätten, daß beim späten Grammatiklernen größere Teile des Gehirns (nicht nur dessen linke, sondern auch die rechte Hälfte [?]) aktiviert werden.
Das ist aber eine unvollständige und scheinhafte Begründung, die nicht plausibel wäre ohne die längst feststehende Erfahrung und Überzeugung vom Nutzen des Frühbeginns. (Die OECD gibt das an anderer Stelle auch zu: „This enlightening publication is essential reading for all those involved in education as parents, teachers, researchers, policy makers and learners. It may confirm and illuminate what they already know from experience, but there will be surprises too.“ (http://www.oecd.org/education/ceri/centreforeducationalresearchandinnovationceri-brainandlearning.htm) – Überraschendes habe ich allerdings nicht gefunden. Durchgehend werden alltägliche oder psychologische Erfahrungen in eine lose Verbindung mit Nerven und Gehirnen gebracht, der wirklichen Einsicht weit vorausgreifend.
Das Werk ist ein krasses Beispiel von Neurobluff. Von „birth of a learning science“ kann keine Rede sein. Man hat sich dreimal zu „Foren“ getroffen (New York, Granada, Tokio, jedesmal unter dem Titel „Brain mechanisms and...“), aber außer Spesen ist nichts gewesen. Es scheint denn auch nichts weiter erfolgt zu sein, und um diese Veröffentlichung ist es still geworden.
Inzwischen arbeitet eine bescheidenere Hirnforschung daran, die wirklichen „Brain mechanisms“ aufzudecken, ist sich aber der enormen Schwierigkeiten bewußt. Nur in der populären Literatur wird zum Beispiel noch schlicht behauptet, die „Emotionen“ hätten ihren Sitz im limbischen System, das logische Denken im Neocortex usw.

(Auf diese Schrift beruft sich wiederum eine weitere Unternehmung der OECD: The Neuroscience of Mathematical Cognition and Learning.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.06.2019 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41678

zu #41661:

Ich frage mich, ob Wollen wirklich immer mit einer Ankündigung verbunden sein muß. Ist es wirklich nur eine Verständigungstechnik, ist es nur sinnvoll zum Zweck der Kommunikation?

Kann ich nicht meinen Willen auch einfach für mich behalten? Das Kind muß nicht unbedingt "Orange" sagen, trotzdem kann es die Orange auf dem Tisch vermissen.

Daß Wollen an sich kein Verhalten ist, ist mir klar. Aber es ist doch ein gedanklicher Vorgang, vielleicht ein Gefühl zu nennen. Gedanken, Gefühle, sind nun wieder von außen nicht beobachtbar, nicht objektiv nachweisbar. Andererseits kann man Wollen m. E. nicht aufs sprachliche Verhalten beziehen. Wenn ich will, kann sogar das Gegenteil von dem ankündigen, was ich will.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2019 um 04.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41679

Wollen ist selten mit einer Ankündigung verbunden. Es geht darum, daß das ganze Konzept des Willens im Rahmen eines "Sprachspiels" entstanden ist, das aus Ankündigung – Zuspruch/Einspruch – Ausführung/Unterlassung besteht. Wo dies grundsätzlich nicht möglich ist (mangels Sprache), kann auch nicht sinnvoll von Wollen gesprochen werden.

Jenes "Sprachspiel" nenne ich Deliberationsdialog. Nachträglich rekonstruieren wir es, etwa vor Gericht, wenn überlegt wird, ob der Beschuldigte auch anders hätte handeln können ("Rechtfertigungsdialog").

Die "Ursituation" ist also gewissermaßen:

Was hast du vor? – Ich gehe ein Bier trinken. – Tu’s nicht!

Ich bin immer wieder darauf zurückgekommen und halte diese Erklärung der "Intentionalität" für richtig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.06.2019 um 04.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41703

Manchmal reagieren wir logisch, manchmal unlogisch. Daraus folgt nicht, daß es in unserem Geist zwei „Systeme“ gibt, für logisches bzw. unlogisches Verhalten. Es sind Unterschiede im Grad der Diszipliniertheit des Verhaltens („spanische Stiefel“). Die Ausübung der logischen Funktionen kann unlogisch sein. Die demokratischen Mehrheitsbeschlüsse unseres Nervensystems führen zu aristokratischen Machtsprüchen der „Vernunft“. Die wahrheitswertige Entschiedenheit der motorischen Exekutive stellt sich erst unter den gesellschaftlichen Anforderungen ein.

Am Ende der Aktualgenese steht die saubere Entscheidung: Muskelkontraktion oder nicht (alles oder nichts). Aber der Weg dahin ist schmuddelig: die Neuronenrepublik stimmt ab.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2019 um 15.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41711

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41086

Allen Bedenken zum Trotz gibt auch das neueste Heft von Max Planck Forschung die abenteuerliche Theorie unkritisch wieder.

Ich wollte noch nachtragen, daß die meisten griechischen Dialekte den Laut v aufgegeben haben, während andere ihn noch schrieben (Digamma) und er auch bei Homer usw. noch positionsbildend nachwirkt.

Der erste Haupteinwand bleibt, daß wir in zeitlichen Dimensionen, die für anatomische Veränderungen des Menschengeschlechts (!) in Betracht kommen, nichts über die Phonetik unserer Vorfahren wissen. Der zweite bezieht sich auf die Teile der Menschheit, die nicht mit Messer und Gabel essen. Man müßte sich auf Menschen vor Erfindung des Feuers und des Garens stützen, aber dann fällt der phonetische Teil erst recht weg.

Zu ähnlichem Unsinn vom Max Planck Institut s. schon hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#27885
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2019 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41726

Putzerfische scheinen den Spiegeltest zu bestehen: Sie versuchen, Flecken von ihrer Haut zu entfernen, die sie nur im Spiegel sehen können. (https://www.mpg.de/12699780/putzerfische-selbst-bewusstsein)

Nun diskutieren die Forscher, ob das ein Beweis für „Selbstbewußtsein“ ist oder ob man den Spiegeltest neu interpretieren muß, um dieser unliebsamen Konsequenz zu entgehen. Das zeigt, wie wenig die Funktion von solchen mentalistischen Konstrukten verstanden ist. Es ist keine empirisch entscheidbare Frage, ob ein Organismus „Selbstbewußtsein“ („Bewußtsein“ usw.) hat. Solche Begriffe sind Hilfsmittel, mit denen wir uns untereinander verständigen, und empirisch untersuchen kann man allenfalls diesen Sprachgebrauch.

(Ob der Spiegeltest korrekt durchgeführt ist, lasse ich außer Betracht.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2019 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41729

Schnittstelle zwischen Psyche und Soma (Ulrike Ehlert u. a.: Biopsychologie. Stuttgart 2013:21) klingt modern und schick, ist aber auch nichts anderes als die gute alte Verbindung zwischen Leib und Seele und verdeckt die unveränderte Hilflosigkeit der Neurosophen. Hört das denn niemals auf?

Es gibt den Körper, und es gibt die Seele, aber es gibt nicht den Körper UND die Seele. (Gegenstände und Konstrukte können nicht kopulativ zu einem Bestandssystem vereinigt werden.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.06.2019 um 05.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41740

Das Gegenstück zu diesem "kopulativen Dualismus" ist der ebenso falsche Monismus: "Das Mentale IST (in Wirklichkeit) das Körperliche", "der Geist ist das Gehirn" usw. Wenn man sich auf die Redeweise von Geist, Bewußtsein, Erlebnis usw. eingelassen hat, kann man sie nicht naturalistisch "korrigieren". Man kann ja auch andere Kulturhervorbringungen nicht "korrigieren", die antike Tragödie, die Barockmusik...
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.06.2019 um 14.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41741

Seele ist mir zu sehr religiös behaftet. Sie wiegt "21 Gramm" (Filmtitel) und löst sich nach dem Tod vom Körper, um in einer Seelenwelt ("Himmel") selbständig weiterzuleben. Ich finde es schade, daß in letzter Zeit alle möglichen Religionen wieder mehr Zulauf zu gewinnen scheinen. Oder trügt mich mein Empfinden, weil es in dieser Hinsicht in der DDR vernünftiger zuging? War der Westen schon immer so wundergläubig? Ich denke, durch den Wegfall der ökonomischen und gesellschaftspolitischen Konfrontation von Kapitalismus und Kommunismus haben religiöse Auseinandersetzungen an Bedeutung gewonnen, und dadurch werden Religionen mehr beachtet, obwohl durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt eigentlich die Vernunft zunehmen sollte.

Ich würde statt Seele eher Bewußtsein sagen. Das Bewußtsein ist die Eigenschaft lebender Materie, lebende Informationsspeicher und -verarbeiter zu erzeugen, die über sich selbst reflektieren können, was man Selbstbewußtsein nennt. Es ist nicht materiell, sondern eine Form oder Struktur von (lebender) Materie, d.h. an lebende Materie gebunden.

Das Verhältnis von menschlichem Körper zu seinem Bewußtsein ist etwa das gleiche wie das eines Buches zum Roman, der darin steht. Verschwindet das Buch, ist auch der Roman weg. Der Roman kann nur durch das Buch existieren. Nichtsdestotrotz existiert beides real, das Buch wie auch der Roman. Das Buch ist ein realer materieller Gegenstand, der Roman ist eine reale Form eines materiellen Gegenstandes.

So verstehe ich den Dualismus, natürlich nicht als kopulatives Mit- oder Nebeneinander von Körperlichem und Geistigem auf der gleichen Ebene, sondern als zwei reale Gegebenheiten, von denen die eine, die Formseite, von der andern, der materiellen Seite abhängig ist.

Insofern kann ich im Bewußtsein auch nicht einfach ein bloßes "Konstrukt" sehen. Ein Konstrukt wäre für mich etwas, das es nur als Idee, aber nicht als reale Form gibt. Das Bewußtsein ist jedoch real, es ist eine real existierende, lebende Struktur lebender Materie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.06.2019 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41768

„In München-Obergiesing hat ein Mann mit Wolfsmaske ein elfjähriges Mädchen vergewaltigt und ist seitdem auf der Flucht. Der Psychologe Dr. Stephan Lermer (70) erklärt im Interview, wie der Sexualstraftäter tickt.“ (Merkur 27.6.19)

Er redet drauflos, wie es jeder beliebige könnte, der ebenfalls nichts weiß. Ob die interviewenden Journalisten wirklich nichts merken? Oder tun sie nur so?

„Dr. Stephan Lermer leitet das Institut für Persönlichkeit und Kommunikation“ (ein privates Unternehmen). Er tritt auch als Glücksforscher auf. „Dabei bezieht er sich auf Albert Schweitzer, wonach glückliche Menschen erfolgreicher sind.“

Wir haben uns als Schüler einer Albert-Schweitzer-Schule auch mit dem Meister beschäftigt, aber diese Lehre ist mir nicht in Erinnerung, war wohl nicht zentral.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.06.2019 um 12.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41769

Lieber Herr Riemer, wenn ich auf Ihren letzten Eintrag in diesem Strang nicht gleich geantwortet habe, dann nicht, weil ich ihn nicht gelesen hätte. Vielmehr habe ich - das wird Sie nach all den Jahren nicht überraschen - Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Das Bewußtsein als Form lebender Materie – so hat auch Aristoteles gesprochen (natürlich sagte er Seele, das Wort Bewußtsein ist ja neuzeitlich), aber verstehen kann ich so etwas nicht.
Ich weiß auch nicht, wie Informationsspeicher über sich selbst reflektieren können usw.
"Konstrukte" sind für mich (oft nützliche) Fiktionen, die eine bestimmte Funktion in der menschlichen Verständigung haben, ganz ähnlich wie wissenschaftliche Konstrukte in der wissenschaftlichen Kommunikation. Ich behaupte also (wie schon oft gesagt) weder, daß es das Bewußtsein gibt noch daß es das Bewußtsein nicht gibt. Die Existenzfrage hat bei Konstrukten keinen Sinn. (Gibt es den Äquator, die Bevölkerungspyramide, das Langzeitgedächtnis usw.?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.06.2019 um 15.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41770

Ergänzend will ich noch ein Zitat von Bruno Snell in Erinnerung rufen, das ich an zwei Stellen wiedergegeben habe:

http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1651#38783

http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1546#26795

– dazu den dortigen Zusammenhang.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.06.2019 um 23.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41774

Mathematiker fragen z.B.: "Existiert" eine natürliche Zahl größer als 8 und kleiner als 10? Und sie antworten: Ja, so eine Zahl "existiert", es ist die Zahl 9.

Nun weiß natürlich fast schon jedes Kind, daß man das ganze Universum nach der angeblich "existierenden" Zahl 9 absuchen kann ohne je irgendein materielles Objekt zu finden, das als Zahl 9 zu identifizieren wäre. Es gibt also offenbar zwei ganz verschiedene Arten oder Bedeutungen von "Existenz".

Die eine möchte ich mal "reale Existenz" nennen, sie bezieht sich auf materielle Objekte und auf Strukturen von materiellen Objekten. Beide sind im Universum tatsächlich auffindbar und konkret lokalisierbar. Die andere ist eine "ideelle Existenz", das sind Dinge, die selbst nicht existieren, sie sind nur "Konstrukte", d.h. von ihnen existieren real nur die Ideen. Mathematiker sprechen von "Existenz" ihrer Konstrukte, wenn diese bestimmte logische Bedingungen erfüllen. Ein logischer Widerspruch bedeutet "Nichtexistenz" der betreffenden Idee bzw. des Konstrukts.

Noch einmal: Ideen existieren real, sie sind mit Information oder einer bestimmten Struktur oder Ordnung von Materie gleichzusetzen! Jeder kennt die perspektivische Täuschung einer im Kreis verlaufenden Treppe, auf der man anscheinend ständig treppauf gehen kann, aber immer wieder an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Der Verstand sagt, so etwas kann nicht real existieren. Richtig. Aber die Idee davon existiert real, als reale Abbildung oder wie hier als Beschreibung.

Ich sagte schon, daß die Zahl 9 nicht real existiert. Sie ist genauso ein "Konstrukt" wie der Äquator oder die Bevölkerungspyramide oder der "Baum" als Abstraktum. Was haben wir aber, wenn ein Computer in seinem elektromagnetischen Speicher auf einem Byte die Zahl 9 abspeichert?
Das geht so (D-duale, X-hexadezimale Darstellung):
D(00001001) = X(09) (als Integer-Zahl)
D(00111001) = X(39) (als ASCII-Zeichen)
D(10011100) = X(9C) (als gepackte Dezimalzahl)
Hier wird nicht die Zahl 9 an sich gespeichert, sondern die Idee, die Information über die Zahl 9.
Diese Speicherung der Information "9" ist natürlich kein Konstrukt wie die Zahl 9 selbst. Die Speicherstruktur im Computer existiert real!

Deshalb, lieber Prof. Ickler, kann ich Ihnen nicht folgen, wenn Sie das (Langzeit)Gedächtnis, also gespeicherte Information, in eine Reihe mit Konstrukten wie dem Äquator oder der Bevölkerungspyramide setzen. Letztere sind tatsächlich Konstrukte, Ideen, aber das Gedächtnis ist eine materielle (biologische) Struktur, also etwas real Existierendes, das hat sich niemand nur ausgedacht. Das Gedächtnis, Bewußtsein usw. sind keine bloßen Konstrukte. Sie existieren real, genau wie jede Information real (als materielle Ordnung) existiert.

Sie sagen, Sie wüßten nicht, "wie Informationsspeicher über sich selbst reflektieren können". Das weiß ich natürlich auch nicht, aber die aktuelle Frage ist doch nicht, wie sie das können, sondern ob sie das können. Und diese Frage ist für mich eigentlich gar keine, genauso wie wir fraglos Information in uns speichern. Denn genau das tun wir hier gerade, wir sprechen über und mithilfe der in uns gespeicherten Information, wir reflektieren darüber.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.06.2019 um 23.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41775

Beim Wiederlesen meines Beitrags bemerke ich, daß ich das Wort "Idee" nicht einheitlich verwendet habe. Einmal setze ich es den "Konstrukten" gleich, so wie ich glaube, daß sie von Prof. Ickler gemeint sind, ein andermal spreche ich von der real gespeicherten Idee gewissermaßen als der gespeicherten Realisierung dieses Konstrukts.

Ich glaube aber, daß im Zusammenhang meines Beitrags trotzdem jeweils völlig klar ist, was gemeint ist. An der genauen Formulierung müßte ich noch etwas feilen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.07.2019 um 20.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41811

Das Wort "Idee" ist doppeldeutig, deshalb hätte ich es in meinem letzten Beitrag hier besser weggelassen. Es wird einerseits für geistige Konstrukte gebraucht, die nicht real existieren. Dennoch sagt man, sie "existieren" oder "existieren nicht", wenn sie bestimmte logische Bedingungen erfüllen oder nicht. So "existiert" in diesem Sinne die Zahl 9 oder der Äquator, hingegen "existiert nicht" eine quadratische Primzahl. Da es mit dem Begriff der realen Existenz nicht kollidiert (diese geistigen Konstrukte, egal ob logisch "existent" oder nicht, sie existieren sowieso alle nicht real), braucht man für diesen rein logischen Existenzbegriff normalerweise keine besondere Markierung wie etwa Anführungsstriche. Wenn es darauf ankommt, muß man reale und logische Existenz aber unterscheiden.

Andererseits wird das Wort "Idee" auch für die Speicherung der Beschreibung/Bedingungen eines solchen Konstrukts verwendet. In dieser Form handelt es sich um Information, die z. B. in einem Buch als Bild/Text oder im Gehirn als Gedanke/Wissen gespeichert ist. Egal, ob das Konstrukt logisch "existiert" oder nicht, die im Buch oder im Gehirn darüber gespeicherte Information existiert immer real als materielle Struktur/Ordnung.

Information kann nur gespeichert sein. Es gibt keine Information (Daten, Wissen, ...), die nirgendwo gespeichert wäre.

Ich möchte Information mal etwas salopp mit Löchern im Käse vergleichen. Niemand kann sagen, wie das Loch im Käse schmeckt, denn man ißt immer nur den Käse, nie das Loch. Dennoch existiert das Loch ganz real, man kann es sehen, es hat seinen genau bestimmten Platz im Raum, es besteht in einer materiellen Form. Man kann aber nicht den Käse aufessen und nur das Loch übriglassen. Das alles geht genau analog zum Begriff der Information.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 05.07.2019 um 08.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41812

Am Rande: das Wort Idee wird zunehmend im englischen Sinne gebraucht. "Ich habe bis heute keine Idee, wer von meinen Vorgängern im Amt wohl jemals Zeit hatte, Fernsehen zu gucken." (Robert Habeck, Wer wagt, beginnt)
 
 

Kommentar von R. H., verfaßt am 05.07.2019 um 20.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41813

Allerdings schon im Grimm: Ich habe keine Idee, was das geben soll. (DWb 1877)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2019 um 08.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41823

Unzählige Arbeiten beschäftigen sich mit Themen wie „göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos“ – so der Titel einer bekannten Abhandlung. Es wird kaum gesehen, daß der Begriff „Motivation“ in einen bestimmten Zusammenhang gehört, der keineswegs übergeschichtlich und allgemein verbreitet war und ist. Aus diesem Grund spüren wir ein Unbehagen bei der Lektüre solcher Texte: sie scheinen irgendwie am Gegenstand vorbeizugehen. Die „folkpsychologischen“ Konstrukte verschiedener Kulturen sind weder miteinander kompatibel noch ineinander übersetzbar; das ist oft festgestellt worden. Sie sind aber auch in sich nicht stimmig, weil sie ihren Zweck in der Bewältigung lokaler Kommunikationsaufgaben erfüllen und ihre Urheber und Nutzer nie das Bedürfnis hatten, sie in ein widerspruchsfreies System zu bringen. Die „psychologischen“ Begriffe (wie wir sagen) der alten Inder, der Griechen, aber auch unsere eigenen werden manchmal gegeneinander abgesetzt, manchmal aber auch ununterscheidbar gleichgesetzt.

Menschen und Götter arbeiten bei Homer gegeneinander, miteinander, ineinander mit unterschiedlichen Gewichtungen. Es wird nicht als widersprüchlich empfunden, wenn jemand etwas mit göttlicher Unterstützung „von sich aus“ (automatos) tut.
Es wird auch nicht als problematisch angesehen, daß im Neuen Testament jeder Handelnde seine eigenen Gründe hat, zugleich aber handelt, „damit erfüllt werde, was geschrieben steht“, nämlich im Alten Testament. (Als sie ihn gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum, damit erfüllt werde, was gesagt ist durch den Propheten: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen“.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2019 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41829

Forscher haben festgestellt, daß Prokrastination in den Genen liegt, allerdings nur bei Frauen. Und es ist auch nicht die Prokrastination selbst, sondern eine erhöhte Dopaminproduktion. Ach so!

Voriges Jahr hatte die Bochumer Gruppe um Güntürkün allerdings gemeldet, daß Prokrastinierer eine vergrößerte Amygdala haben und weniger Verbindungen zum dorsalen anterioren cingulären Kortex.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2019 um 15.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41830

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41823

Wie wechseln doch in der für das homerische Menschenbild so wichtigen Eingangsszene des 20. Gesanges der Odyssee phrên, thymos, kradiê und êtor, ohne daß wir scharfe Trennungslinien ziehen dürften! (Albin Lesky, anders transkribiert)

Das sind die Probleme, die sich aus der Synonymik ergeben. Nicht nur in fremden Kontexten werden Synonyme teils unterschieden, teils auswechselbar gebraucht. Bei uns ist es nicht anders.

Andere Probleme stammen aus der Inkommensurabilität der mentalen Konstrukte:

Hermann Fränkel hat für den homerischen Menschen die wichtige Feststellung gemacht, daß an ihm Körperliches und Seelisches nicht in unserem Sinne geschieden werden.

„Die Arme sind ebenso gut ein Organ des Menschen, nicht des Körpers, wie der thymos (das Organ der Erregungen) ein Organ des Menschen, nicht der Seele ist.“ (Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München 1993:85)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.07.2019 um 04.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41891

Hätten Sie’s gewußt?

Bei Fridays for Furture (sic) seien die gut Gebildeten überrepräsentiert, auch bei den Eltern. Sie sei eine Politisierung einer Minderheit, eben nicht ein Phänomen einer ganzen Generation, so der Soziologe Dieter Rucht im Dlf. Das Besondere sei, dass die Teilnehmer im Durchschnitt sehr jung seien. (DLF 28.7.19)

Ja, wenn wir unsere Soziologen nicht hätten! Dann müßten wir alle Trivialiäten selbst aussprechen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.07.2019 um 19.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41897

Zum Frankfurter ICE-Mord an einem Kind:

Was könnte also das Motiv sein? Christian Lüdke, Kriminalexperte und Kinder- und Jugendpsychotherapeut aus Essen, sagt: Man könne natürlich nur spekulieren, aber oft entwickelten sich solche Taten aus Frust, Wut, Angst oder dem Gefühl, alles verloren zu haben, sagt er. "Das führt zu einem Ohnmachtsgefühl. Durch die Gewaltausübung verwandelt sich diese Ohnmacht in ein Gefühl der Allmacht." (n.tv 30.7.19)
Durch das Interview verwandelt sich die Unwissenheit in eine zitierbare Spekulation.

Kleiner Trost in dieser furchtbaren Sache: Der Täter war kein Merkel-Gast. Trotzdem:

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel sprach von einer abscheulichen Tat. Zugleich setzte Weidel die Tatsache, dass ein Afrikaner die Tat beging, in Verbindung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. „Schützt endlich die Bürger unseres Landes – statt der grenzenlosen Willkommenskultur!“, schrieb sie bei Twitter. Parteivize Georg Pazderski äußerte sich ähnlich.
Ein anderer Parteigenosse schrieb, das Blut des Kindes klebe an Merkels Händen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2019 um 08.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41959

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38725
und
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36748:

Peter Godfrey-Smith wendet Begriffe wie Efferenzkopie und Reafferenz auf Psychologisches wie „Vergleichen“ an, während es in Wirklichkeit ein physiologisches Schaltschema ist (v. Holst/Mittelstaedt scheint ihm unbekannt zu sein.). Das entspricht dem populären Begriff der Rückkopplung. Der metaphorische Charakter dieser Verwendung wird nicht durchschaut:

Now let’s apply all this to the case of speech. Everyone wants their words to come out as planned, and speech is a very complex action. In speech, the creation of an efference copy enables you to compare your spoken words to an inner image of them; this can be used to work out whether the sounds “came out right.” As we say things out loud, we also register, internally, the sounds of whatwe meant to say, and we can then tell if the words came out incorrectly. Ordinary speech involves, in the background, a kind of internal quasi-saying and quasi-hearing. (Peter Godfrey-Smith: Other minds. The octopus and the evolution of intelligent life. London 2018:145)

Also: Ich (als Person) höre mich innerlich sprechen, vergleiche das mit dem, was ich sagen wollte, und korrigiere mich gegebenenfalls. – Das ist weit von der physiologischen Reafferenz entfernt und müßte als Verhalten seinerseits erklärt werden.

Zur Kritik allgemein vgl. John S. Kennedy: The New Anthropomorphism. London 1992

Ich weiß nicht, wie weit die postulierte Schleife inzwischen neurologisch nachgewiesen werden kann, aber der Vergleich eines Textstücks mit dem, was der Sprecher wollte, ist sehr weit von einer neurologischen Verifikation entfernt.

Die „Verrechnung“ ist ein physikalisch-chemischer Vorgang und kann nicht in Handlungsbegriffen wie „Vergleichen“ beschrieben werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.08.2019 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41963

Zum vorigen und zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#38725

Ein großer Fehler ist es, die aktive Bewegung als "absichtlich" zu bezeichnen. Wenn ich also (mit Helmholtz, s.u.) mit dem Finger gegen den Augapfel drücke, scheint sich die Umgebung zu verschieben; wenn ich aktiv umherblicke, tritt dieser Effekt nicht ein, die Augenbewegung wird mit der Wahrnehmung "verrechnet". Das geschieht aber auch bei automatischen, reflexartigen Eigenbewegungen. Absichtlichkeit (Intentionalität) liegt auf einer ganz anderen Ebene.

In der künstlichen Situation, wo ein Zug auf dem Nebengleis abzufahren scheint (oder ist es der eigene?), fehlt mir der Schlüssel, Eigen- und Fremdbewegung zu unterscheiden.

Wenn mir nach Eigenrotation schwindlig wird, "verrechnet" der Körper die passive Wahrnehmung des Vestibularorgans mit der nichtvorhandenen Bewegung der Umgebung, und sie scheint sich zu drehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.08.2019 um 06.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41970

Gerald Hüther, laut Amazon einer der renommiertesten Hirnforscher Deutschlands, hat ein Buch über "Würde" geschrieben. Die Gemeinde ("verifizierter Kauf") findet es toll.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.08.2019 um 18.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41972

Aus einem Interview mit Gerald Hüther:
Was genau hat die Würde mit dem Gehirn zu tun?

Wenn Sie Personen, die eine solche Würdevorstellung entwickelt haben, in einen funktionellen Kernspintomographen legen und ihnen per Videobrille Szenen würdelosen Verhaltens zeigen, so werden Sie Aktivierungsmuster im Gehirn nachweisen können, die sich deutlich von denen unterscheiden, die sich im Gehirn von Personen nachweisen lassen, die keine klare Vorstellung von menschlicher Würde haben. Das ist aber eigentlich banal und macht nur deutlich, dass jemand, dem die menschliche Würde etwas bedeutet, Würdelosigkeiten anders wahrnimmt und anders verarbeitet als jemand, dem das völlig egal ist.

Wie wird die Vorstellung eigener Würde im Gehirn verankert?

Mit der Fähigkeit, zu spüren, ob die Art, wie jemand mit uns umgeht, gut und hilfreich für unsere weitere Entwicklung ist, kommen wir alle bereits auf die Welt. Jedes Neugeborene hat ein Empfinden dafür, wie es sein müsste und meldet sich lauthals, wenn es nicht so ist.

Und was passiert später?

Aus diesem frühen Empfinden kann eine zunehmend klarere Vorstellung entwickelt und in Form neuronaler Verschaltungsmuster im Gehirn verankert werden, wenn ein Heranwachsender die Erfahrung eigener Würde machen kann, als Subjekt gesehen und wertgeschätzt und nicht zum Objekt der Erwartungen, Bewertungen oder Maßnahmen anderer gemacht zu werden. Wenn es dann noch gelingt, diese Vorstellung auf die Ebene des Bewusstseins zu heben, kann der betreffende Mensch sich seiner eigenen Würde und der Würde anderer, auch anderer Lebewesen bewusst werden.


Es gibt also keinen Zusammenhang zwischen Würde und Gehirn, und der „renommierte Hirnforscher“ fabuliert einfach drauflos über „neuronale Verschaltungsmuster“ usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.08.2019 um 07.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41986

Natürlich werden grammatische Schnitzer schneller erkannt als semantische Abweichungen. Die Spielräume der Grammatik sind viel enger als die der Semantik. Man kann und muß immer versuchen, doch noch einen Sinn in den Text zu bringen. (Dies als Kritik an der "Neurolinguistin" Angela Friederici.)

Ausnahmen sind die gut versteckten Grammatikfehler, auf die ich schon an vielen Stellen eingegangen bin, sozusagen grammatische Vexierbilder (mehrfache Verneinungen, Verschachtelungen usw., siehe "Kopfrechnen").
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.08.2019 um 08.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41987

„Jeweils zwölf Männer und zwölf Frauen mussten sich im Magnetresonanztomografen in einem virtuellen Irrgarten zurechtfinden und von einem Ort im Irrgarten ausgehend den Ausgang finden. Wie sich zeigte, führte die Lösung der gleichen Aufgabe bei Männern und Frauen zum Teil zur Aktivierung unterschiedlicher Bereiche des Gehirns: Während es bei Männern zur Aktivierung des linken Hippocampus kam, wurde bei Frauen das rechte Frontalhirn aktiviert.“ (Manfred Spitzer in Das Magazin. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen)

Das ist doch äußerst unwahrscheinlich.

Die methodische Kritik überlasse ich Neurologen, die den ganzen Bericht kennen, aber vorab muß man doch wohl sagen, daß Männer und Frauen nicht so verschieden sein können wie Hunde und Tintenfische.

Wenn bei einer so geringen Zahl von Probanden auch noch "zum Teil" so verschiedene Regionen "aktiviert" (soll heißen: "stärker aktiviert") werden, kann man daraus nicht solche weitreichenden Deutungen ableiten.

Es kommt hinzu, was man bei allen Versuchsanordnungen dieser Art einwenden muß: Die Probanden befinden sich nicht wirklich in einem Irrgarten, aus dem sie herausfinden müßten, und Irrgärten sind an sich auch schon Spielformen, also Simulationen von wirklichen Orientierungsaufgaben. Im Versuch wird das Ganze nochmals simuliert, nämlich ins „Virtuelle“ verschoben. Mit dieser doppelten Verstellung sind die Probanden konfrontiert, aber dieser eigentliche Charakter der Aufgabe scheint den Veranstaltern nicht klar zu sein. Falls es wirklich Unterschiede im Durchblutungsmuster zwischen Männern und Frauen gab, könnten sie zum Beispiel darauf zurückzuführen sein, daß die einen sich etwas stärker auf die Simulation einließen als die anderen, das Spiel ernster nahmen... Der Versuch hätte also etwas ganz anderes gemessen als behauptet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.09.2019 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42143

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#41972

Die „Akademie für Potentialentfaltung“ scheint bisher mehr in der Vorstellung Gerald Hüthers zu existieren. Auch zwei Jahre nach ihrer Gründung wird sie auf der Website vorwiegend im Futur dargestellt.
Er veröffentlicht weiter seine Bücher über Kindererziehung und Gesellschaft, die von den Medien als Werke eines „Hirnforschers“ usw. vorgestellt werden.
Sein neuester Auftritt hier: https://www.wuerde-und-demokratie.eu/veranstaltung/
Auch der abgehalfterte Christian Wulff ist dabei. (Eintritt 25 Euro)

Die famose Website des Event-Veranstalters ist auch orthographisch bemerkenswert:

Veränderung stellt Altbewährtes in Frage. Deckt Altgedientes und Wertvolles auf, das abgelegt, verworfen oder zu Bewahren lohnt. Sie bringt Bewegung und wirbelt Staub auf. Vernebelt die Sicht. Verunsichert und kann Menschen, die Angst vor Veränderung haben, in Panik versetzen. Strukturen lösen sich auf, noch bevor sich Neue zeigen. Woher die Zuversicht, den Mut und den Halt nehmen?

Typisch für Leute, die sich perfekt mit Webdesign auskennen, aber weniger mit Inhalt und Sprache.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.09.2019 um 05.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42147

Manche Okkultisten erzählen offenherzig, wie sie zu ihrem Erwerbszweig gekommen sind. Sie wissen auch, wie man sich am Rande der Legalität einrichtet.

https://www.geistheiler-sananda.net/heiler-sananda/

Dazu https://blog.gwup.net/2015/07/03/multi-medium-sananda-erst-als-finanzmakler-jetzt-als-geistheiler-auf-bauernfang/

Der Künstlername eines Geistheilers sollte möglichst viele a enthalten, dann sieht es irgendwie indisch aus. In Sananda schwingt außerdem lateinisches Sanitätswesen mit, das ist auch nicht schlecht. Eine Zahnpasta könnte man Sanadent nennen. (Ich schlage spaßeshalber nach und sehe, daß es das schon gibt, wenn auch nicht als Zahnpasta. Ich hätte es mir denken können, denn das Dutzend einschlägiger altsprachlicher Bausteine muß schon in jeder denkbaren Kombination genutzt worden sein.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.09.2019 um 04.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42152

Bei „Weltbild“ kann man Edelsteine erwerben, auch Herze, Kreuzchen oder kleine Engel aus Bergkristall usw., dazu Literatur über deren heilende Kräfte. Man kann damit auch Wasser energetisieren.

Die FAZ schreibt eindeutiger als früher, daß Homöopathie nicht über den Placeboeffekt hinaus wirkt, aber die Leserbriefredaktion arbeitet dem entgegen, indem sie eine vertrauensselige Zuschrift nach der anderen veröffentlicht. Es erinnert an Victor Hugos Bemerkung über Dorfschullehrer und Pfarrer.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.09.2019 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42156

Die Apotheken sollten verpflichtet werden, eine Liste aller wirkungslosen Medikamente auszuhängen. Das wäre wichtiger als der lächerliche Hinweis, man solle seinen Arzt oder Apotheker bzw. seine Ärztin oder Apothekerin fragen, würde allerdings das Geschäft um mehrere Milliarden schädigen, wird also nicht geschehen. Auch jene Apothekerin, die keine homöopathischen „Medikamente“ mehr verkauft, wird ein Einzelfall bleiben.

Was ich in Apotheken manchmal an „Beratung“ mitanhören muß, läßt meinen Blutdruck in gefährliche Höhen steigen. Und dabei spreche ich noch gar nicht von erst jüngst widerlegten Theorien („freie Radikale“ usw.). Einmal hatte ich besonders lange zu warten, weil meine Bedienung fast eine halbe Stunde brauchte, um mir eine Tüte Lindenblüten (also mal keine Beutelchen) abzupacken. Am schwersten war es offenbar, den Kasten mit den (vermutlich überalterten, nicht mehr DAB-konformen) Blüten überhaupt zu finden – und dann den Preis dazu.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2019 um 09.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42246

Zur Erstveröffentlichung einer frühen Nietzsche-Fotografie (FAZ 16.10.19) bemerkt der Sammler, die vollen Lippen verrieten eine „gewisse Sinnlichkeit“. Diese recht verbreitete Deutung voller Lippen scheint die Pathognomik in die Physiognomik zu übertragen: Wenn man „streng“ ist, preßt man die Lippen zusammen, das wirkt wie das Gegenteil einer Kußschnute. Ähnlich wird ein stark ausgebildetes Kinn wie ein vorgeschobenes wahrgenommen und als „willensstark“ gedeutet.
Bei manchen Menschen kerbt sich die gewohnheitsmäßige Mimik tatsächlich ein und wird physiognomisch (heruntergezogene Mundwinkel, dagegen Lachfältchen), aber im wesentlichen ist alles vererbt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2019 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42317

Die Azteken glaubten, daß ohne ihre blutigen Menschenopfer die Sonne nicht aufgehen würde. Dawkins wundert sich, daß sie das nie getestet haben. So ist es aber mit vielen Zwangshandlungen. Ein Test wäre viel zu riskant, verbietet sich aus ethischen Gründen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2019 um 04.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42330

Zu Rumpelstilzchen:

(Märchenforscher) „vermuten – hinter dem offenkundigen Motiv des Lächerlichen – immer wieder einen Narzissmus um Geld und Ehe.“ (Wikipedia)

Die Abschnitte Psychoanalyse und Analytische Psychologie sind besonders wild. So hat man vor Jahren drauflosspekuliert, wobei jeder jedem widerspricht. Aber das Männchen ist meistens der Penis. Es erinnert mich an meine Lektüre der völlig enthemmten psychoanalytischen Zeitschrift Imago vor 50 Jahren.

Stark auch der Abschnitt Antisemitismusforschung! Das Männchen ist der Jude usw.

Ab in den Giftschrank!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.11.2019 um 05.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42363

Satzbau einer Sprache beeinflusst das Denken

Die eigene Muttersprache hat einen starken Einfluss auf das Denken. Sie beeinflusst die Art, wie wir Informationen verarbeiten, speichern und abrufen. Viele Studien widmen sich dem Zusammenhang. Auf den Einfluss der sogenannten Verzweigungsrichtung einer Sprache hat sich jetzt ein interdisziplinäres Forscherteam aus Psychologen, Linguisten und Biologen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie konzentriert.
"Die wichtigste Erkenntnis der Studie ist, dass sich Sprecher linksverzweigter Sprachen bei verbalen und nicht verbalen Arbeitsgedächtnisaufgaben besser an anfängliche Reize erinnern können", sagte Forscher Alejandro Sanchez-Amaro, derzeit in der Abteilung für Kognitionswissenschaft an der University of California, San Diego, laut einer Mitteilung des Instituts.
Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch sind demnach typische Rechtsverzweigungssprachen (RB). Der Satzkopf steht normalerweise an erster Stelle, zum Beispiel "die Frau" oder "der Mann". Dahinter – also gewissermaßen rechts vom Kopf – folgt eine Abfolge von Modifikatoren, die zusätzliche Informationen liefern. Im Gegensatz dazu gehen in Linksverzweigungssprachen (LB-Sprachen) wie Japanisch, Türkisch oder Finnisch Modifikatoren im Allgemeinen den Köpfen voran.

Linksverzweigte Sprachen: Satzaussagen lange ungewiss
Um herauszufinden, wie sich die Verzweigungsrichtung einer Sprache auf das Denken der Befragten auswirkt, sind die internationalen Forscherinnen und Forscher in acht verschiedene Sprachkulturen gereist. Vor Ort haben sie Gedächtnistests durchgeführt. Dabei mussten ihre Probandinnen und Probanden Wörter, Zahlen und räumliche Stimuli verarbeiten.
Die bessere Erinnerung an zurückliegende Reize bei Personen mit linksverzweigten Muttersprachen erklärt sich Forscher Sanchez Amaro damit, dass das Verstehen von Sätzen in LB-Sprachen in Echtzeit sehr stark davon abhängt, sich Informationen zu merken, die am Anfang stehen, was in RB-Sprachen nicht der Fall sei.
In RB-Sprachen könnten Sprecher Informationen dagegen in der Reihenfolge verarbeiten, in der sie im Satz vorkommen. Die Satzköpfe werden zuerst angezeigt und Modifikatoren beeinflussen Satzanalyse-Entscheidungen nur selten.
Im Gegensatz dazu könnten LB-Strukturen bis zum Ende sehr vieldeutig sein, da am Satzanfang stehende Modifikatoren oft erst nach der Analyse des Satzkopfes eine klare Bedeutung bekämen. Daher müssten LB-Sprecher möglicherweise am Anfang eines Satzes stehende Modifikatoren im Arbeitsgedächtnis behalten, bis der Kopf zum Verständnis des Satzes hinzugezogen werde.
Die Tatsache, dass Verzweigungsrichtung und Wortreihenfolge mit einem solch grundlegenden kognitiven Prozess wie dem Gedächtnis verknüpft sein könnten, eröffne neue Möglichkeiten für die psycholinguistische Forschung. Insgesamt gibt es laut Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie derzeit weltweit mehr als 7.000 gesprochene Sprachen.

(Forschung und Lehre 6.2.2019)
-
Forscher, die das Deutsche so falsch darstellen, werden wohl kaum etwas über die linguistische Relativität herausfinden.
Außerdem: Wäre der Einfluß der Syntax auf das Denken wirklich „stark“, hätte man ihn über die Jahrhunderte wohl kaum übersehen – bei so vielen Millionen von Probanden. Denken und Erinnern werden sicher durch andere, kulturelle Einflüsse stärker geprägt, frühes Auswendiglernen (indische Gedächtnisakrobatik) usw. Dazu dürften auch die Gewohnheiten der Schriftkultur gehören. Humanistisches Papierdeutsch gegen britische Parlamentsrhetorik usw. Wie will man das herausrechnen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.11.2019 um 07.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42494

Wenn jemand behauptet, eine Methode zur Effizienzsteigerung gefunden zu haben, dann gibt es auch Unternehmen, die ihm das abkaufen. Unspezifische Erfolge und Placebo-Effekte bestätigen eine Zeitlang die Wirksamkeit, bis zur nächsten Mode.
Das erwünschte Verhalten wird nicht objektiv und operationalisierbar beschrieben, sondern mit werthaften Begriffen und in der Sprache einer zeitgemäßen Wald-und-Wiesen-Psychologie (besonders der Charakterologie), was wegen seiner Nähe zum gesunden Menschenverstand immer sehr überzeugend wirkt. Wenn man den wohlmeinenden Psychoterror der Gruppensitzungen durchgestanden hat, fühlt man sich schon ziemlich gestärkt.
Mali-Kämpfer werden bei ihrer Rückkehr „sophrologisch“ behandelt, um ins Zivilleben integriert werden zu können.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.12.2019 um 07.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42528

FAZ am 5.12.19 über chinesische Gehirnwäsche:

„Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht stehen hinter den weitgehend unbewussten Denk- und Handlungsschemata des Menschen synaptische Signalbahnen im Gehirn, die durch ständige Wiederholung zustande kommen und die umso stabiler sind, je stärker die die Lernprozesse begleitenden Emotionen sind. Die Umerziehung in Xinjiang scheint das gezielt zu nutzen.“ (usw.)

So wird es wohl sein. Man weiß nichts, aber solche neurosophischen Phrasen kann man risikolos dreschen. Das ist eben Kognitionswissenschaft.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.12.2019 um 08.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42653

Weihnachten mit den Schwiegereltern kann zu einer Veränderung der Darmflora und dadurch zu Depressionen führen. 24 Versuchspersonen, in zwei Gruppen geteilt. Keine Kontrollgruppe, keine Verblindung, Weitere Forschungen sind nötig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.01.2020 um 05.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42709

Die Windräder sind zerstörerisch
Die Evolution hat uns so geschaffen, dass der Blick auf den Horizont uns glücklich macht. Windkraft zerstört Horizonte. Dank Windkraft leben Bürger wie mitten in einem Kraftwerk, depressiv und nervös unter rotierenden Stahlmonstern. Windkraft ist Gewalt!
(Dushan Wegner)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.01.2020 um 04.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42765

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42246

Es ist geradezu ein Kennzeichen der älteren Literatur, daß sie den unvermeidlichen Schluß vom Körperbau auf den Charakter (um es in einem bekannten Begriffspaar auszudrücken) in aller Unschuld zu weit treibt. Seite um Seite wurden mit Schilderungen der hohen, edlen Gestalt und Haltung, des feinen Gesichts usw. gefüllt.

Noch im 19. Jahrhundert lesen wir von Augen, aus denen Phantasie, Klugheit und Treue sprachen usw.

Da wußte man doch immer gleich, woran man war.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2020 um 10.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42837

Kürzlich gingen neue Untersuchungen zum Verhalten von Ameisen durch die Presse. Ein Aufsatz von Diemut Klärner in der FAZ ist inzwischen online. Hier ein Zitat aus dem Abstract der Originalarbeit:

The study of rational choice in humans and other animals... (Takao Sasaki, Benjamin Stott, Stephen C. Pratt: „Rational time investment during collective decision making in Temnothorax ants“)

Also eigentlich bei sprachfähigen und nichtsprachfähigen Lebewesen. Die entscheidende Frage ist aber gerade, ob diese beiden Gruppen von Lebewesen mit denselben Begriffen beschrieben werden dürfen.

„Wahl“, „Entscheidung“ usw. sind Begriffe, die aus dem Dialogverhalten stammen, und sie gehören in die Sichtweise und folk psychology der Teilnehmenden. Diese entwerfen sprachlich ein Handlungsszenario, in dem es stets mehrere Optionen gibt. Das Für und Wider kann im Deliberationsdialog erörtert werden. Welche Entsprechung das in einer sprachlosen Welt haben könnte, ist unklar. Ameisen und andere Insekten folgen zum Beispiel Geruchsgradienten und anderen Signalen, aber dieses „Folgen“ hat nichts mit dem Befolgen eines Gebotes oder Beschlusses zu tun. Tiere entscheiden sich nicht, sondern etwas entscheidet sich für sie. Man muß sich hier vor Äquivokationen und Anthropomorphismen hüten. (Eigentlich Soziomorphismen, denn Beratungsdialoge und Entscheidungen sind gesellschaftliche Vorgänge, wie die Sprache selbst.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.01.2020 um 14.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42839

Wie ist das, wenn ein Mensch von Geburt an völlig isoliert aufwächst? Solche "Wolfskinder" soll es ja schon gegeben haben. Er kann nicht sprechen und versteht keine Sprache. Mit seiner angeborenen Intelligenz sollte er aber in der Lage sein zu wählen, einen besimmten Willen zu verfolgen.
Genau dasselbe würde ich auch höheren Tieren zugestehen. Eine Ameise könnte wohl völlig reflexgesteuert sein, aber bei höheren Tieren kann ich mir nicht vorstellen, daß sie nicht auch wählen und eigene Entscheidungen treffen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2020 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42840

Es geht mir wie bisher um die Begrifflichkeit. Wo nicht im Dialog eine Entscheidungssituation konstituiert wird, ist es nicht sinnvoll, von Entscheidungen zu sprechen. (Von "Reflexen" habe ich übrigens hier so wenig wie anderswo gesprochen, ich gebrauche das Wort nie, aber das ist hier gleichgültig.)

Natürlich besteht das Ziel letzten Endes darin, auch das Konstituieren einer Entscheidungssituation naturalistisch "aufzulösen": Auf das Sprechen, Diskutieren, Argumentieren, Handlungkoordinieren usw. sind gelerntes Verhalten. In einer Verhaltenslehre kommen dann mentalistische (folkpsychologische) Begriffe nicht mehr vor.

Bei Ameisen sind wir uns wohl einig, das muß mir im Augenblick genügen.

Vgl. übrigens meine Bemerkungen zu Randolf Menzel und seinen Bienen, u.a. hier:

http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#29787

http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1432#41629

An die Wolfskinder glaube ich nicht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.01.2020 um 22.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42845

Muß ich denn ausdrücklich dazusagen, "ich entscheide mich für A", damit mein Tun anerkanntermaßen auf einer Entscheidung beruht?

Kann ich nicht einfach wortlos A tun, um zu beweisen, daß ich mich für A entschieden habe?

Mir leuchtet es nicht ein, daß Wahl, Entscheidung, auch Wille, nur mittels eines Dialogs erklärbar oder definierbar sind.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.01.2020 um 23.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42846

Gibt es ein Problem mit dem Wort "Reflex"?
Sie sagen:
"Tiere entscheiden sich nicht, sondern etwas entscheidet sich für sie."
Genau das meine ich auch mit "Reflex", eine unbewußte, automatische Handlung oder Bewegung.

Eine nicht reflexhafte Handlung/Bewegung ist eine nicht erzwungene Handlung/Bewegung, also eine, bei der der Ausführende mehrere Optionen und somit eine Wahl hat. Er kann sich entscheiden. An welcher Stelle kommt hier ein Dialog ins Spiel?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.01.2020 um 01.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42847

Entscheidung ist ein metaphorischer Begriff ähnlich wie Entzweiung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2020 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42848

Die Alltagspsychologie (folk psychology) ist ein in die Gemeinsprache eingebautes Konstrukt, das ich darum nicht als metaphorisch bezeichne, weil es die nichtmetaphorische Bezeichnung gar nicht gibt. Es ist eine bestimmte Verständigungstechnik.
Auch zu Herrn Riemers Bedenken, die ich sehr gut verstehe, wir sprechen ja dieselbe deutsche Sprache: Ich kann nur immer wieder auf meinen langen Text über Intentionalität und Sprache verweisen, aber ich werde mich in Zukunft bemühen, meine naturalistische Auffassung mit Engelszungen genauer auszuführen. Nur nicht hier und heute. (Mein übernächstes Buch ist seit Jahrzehnten in Arbeit.)
Einige meiner Leser haben seither tatsächlich Skinners "Verbal Behavior" gelesen und bereuen es nicht...

Man kann dieselbe deutsche Sprache sprechen und trotzdem theoretisch astronomisch weit voneinander entfernt sein. Zum Glück gibt es die "Rakete zu den Planetenräumen".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2020 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42899

Noch einmal zu den Ameisen, über die Diemut Klärner in der FAZ berichtet (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42837):

Wenn ein Ameisenvolk eine neue Wohnung sucht, schwärmen normalerweise aber mehrere Kundschafterinnen aus. Sobald so eine Ameise eine potentielle Bleibe inspiziert hat, läuft sie zum Nest zurück, um anderen den Weg zu zeigen. Dabei agiert sie umso eifriger, je besser das gefundene Quartier ihren Vorstellungen entspricht.

Das geht nun wirklich nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.02.2020 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42966

Reclam hat ein Werk des Neurorhetorikers, Schreibtrainers usw. Markus Reiter herausgebracht: Gehirn. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#23285

Ein lehr- und hilfreiches, dabei amüsantes Buch über das Gehirn und alles, was dazugehört – kann das sein? Aber selbstverständlich: Kurzweilig offeriert Markus Reiter Grundlagenwissen über Neuronen, Synapsen, Hirnareale, Altern, Intelligenz, Täuschung und Fehlschlüsse oder über Amygdala und Hippocampus. Nebenbei gibt es Empfehlungen für hirnstärkende Drinks (»Mix Dir Deinen Neuro-Cocktail mit den beliebtesten Neurotransmittern!«) sowie Tipps, wie man sein Gehirn möglichst lebendig hält (»Der Dreiklang fürs Gehirn: Laufen. Lieben. Lernen«), oder darüber, wie man Fehler beim Lernen vermeidet. Reiter verspricht: »Wenn Sie lesen, vernetzen Ihre Gehirnzellen sich neu – und dabei werden Sie schlauer.« Was will man mehr?

"offerieren" ist unfreiwillig treffend. Man assoziiert die richtige Branche. Aber was denkt sich ein Verlag dabei, der doch mal als seriös gelten konnte?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2020 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42968

Die "Dekade der Hirnforschung" liegt schon etwas zurück. Ich kann den wissenschaftlichen Ertrag nicht beurteilen, aber für die nichtexistente Neurolinguistik ist nicht viel dabei herausgekommen, ansonsten eine Flut von "Neuro"-Scharlatanerie.
Meine kritische Haltung stimmt (natürlich) mit der von Christoph Bördlein überein, der es im Anschluß an J. Bowers am Beispiel der Neurodidaktik sehr klar ausgedrückt hat:

Christoph Bördlein: Neurowissenschaftliche Pädagogik? (https://verhalten.wordpress.com/)

Zu Bowers gab es Kritik und eine ausführliche Replik, alles in der Psychological Review. Siehe http://www.scalab.cnrs.fr/images/bowers.response.PsyReview.pdf

Die Hirnforschung oder Neuroscience usw. kann keine "Leitwissenschaft" sein, weil sie eine begriffliche Kluft überspringt, statt sie zu schließen. Solange von Leib und Seele, Körper und Geist die Rede ist (unter welcher Camouflage auch immer), geht es nicht weiter. Zuerst muß der Geist naturalisiert werden. Die Verhaltensanalyse ist die Leitwissenschaft. Bördlein gibt eine gute Einführung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.02.2020 um 08.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42978

In der FAZ spricht ein Psychoanalytiker über Gott und die Welt oder vielmehr über Liebe und Haß und alles andere. Homer, Freud, die Rolling Stones, Freud, Goethe, Freud, Konfuzius und buddhistische "Rituale", Freud usw. – alles wie seit 100 Jahren gewohnt, nur die "Achtsamkeit" ist hinzugekommen. Die Literatenpsychologie ist unverwüstlich.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.02.2020 um 21.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42979

Ja, so im "Feuilleton". Ein paar Seiten danach, im Teil "Unternehmen" der gleichen Ausgabe, offenbart die FAZ anhand des Hasses auch ihre orthographischen Fähigkeiten. Da finden wir einerseits die "Diskussion um Hass verbreitende Inhalte", andererseits im gleichen Artikel "auch hasserfüllte Kommentare".

Mit dem Haß (ich kann das Wort bald nicht mehr hören) ist es wie mit der "Nachhaltigkeit". Deren Anbeter meinen damit ja nicht die nachhaltige Zerstörung der Umwelt um Tschernobyl und Fukushima. Wenn das nicht nachhaltig war, was dann? Und die Heuchler, die den allgemein anwachsenden "Hass im Netz" (FAZ) beklagen, lassen ihrem eigenen Haß auf Andersdenkende freien Lauf. Immer gib ihm, Haß ist geil!
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.02.2020 um 21.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42980

Übrigens im gleichen Artikel auch "Gewalt verbreitende Videos" und "gewaltverherrlichende Ideologie".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2020 um 07.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42982

Michael Tomasello:

Die grundlegende Tatsache besteht also darin, daß Menschen die Fähigkeit besitzen, ihre kognitiven Ressourcen in einer Weise zu bündeln, die anderen Tierarten abgeht. Dementsprechend haben Tomasello, Kuger und Ratner (1993) das menschliche kulturelle Lernen von weiter verbreiteten Formen des sozialen Lernens unterschieden und drei Grundtypen identifiziert: Imitationslernen, Lernen durch Unterricht und Lernen durch Zusammenarbeit. Diese drei Typen kulturellen Lernens werden durch eine einzige besondere Form sozialer Kognition ermöglicht, nämlich durch die Fähigkeit einzelner Organismen, ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst. Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, sich in die geistige Welt einer anderen Person hineinzuversetzen, so daß sie nicht nur vom anderen, sondern auch durch den anderen lernen können.

Tomasello setzt also seinerseits diese naive Psychologie voraus; auch er glaubt an ein geistiges Leben. Das Hineinversetzen ist außerdem eine Metapher, die nicht aufgelöst wird. Noble kritisiert mit Recht:

Tomasello et al. (1993) talk about “perspective taking” as being central to the ability to truly imitate another. In neither of these cases do the authors go any further than labelling the phenomenon; we are left in the dark as to just how identification or perspective taking might be achieved. (Jason Noble/Peter M. Todd: „Imitation or something simpler? Modelling simple mechanisms for social information processing“, eprints.soton.ac.uk/265263/1/imitationBook.pdf)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2020 um 08.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42983

Was der andere sehen kann, berücksichtige ich, indem ich die Konstellation Gegenstand-Auge-Personen als Stimulus berücksichtige. Das ist kompliziert und wird ja auch erst spät gelernt, aber warum sollte es nicht gelernt werden können? Alle Kinder spielen Verstecken. Zuerst „glauben sie“, daß man sie nicht sieht, wenn sie sich die Augen zuhalten.
Kinder können lernen, daß man ein Bild oder Buch umdrehen muß, damit der andere es erkennen kann. Ebenso können sie ohne eine geheimnisvolle (metaphorische) Perspektivenübernahme lernen, was ein anderer sehen kann und was nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2020 um 08.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#42996

Ich "suche" in der Hosentasche nach dem Hausschlüssel. Ein mentalistischer Beobachter würde sagen, daß ich "glaube", der Schlüssel sei in der Tasche. Man könnte also einen "mentalen Zustand" unterstellen.

In Wirklichkeit ist das alles unnötig und erklärt nichts. Erst wenn man mich unterbräche und fragte, ob ich so etwas glaube, wird das Glauben als eine Phase des Verhaltensablaufs konstruiert. Vorher existiert es nicht etwa unausgesprochen, sondern überhaupt nicht. Das ist aber keine Tatsachenfrage, sondern eine sprachkritische. (Wie bei den Planeten, die den Keplerschen Gesetzen "folgen".)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2020 um 10.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43000

„Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass jede Form von Erkenntnis und Beobachtung theoriegeleitet ist.“ (Vera und Ansgar Nünning: Grundkurz anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart 2005:22)

So zu reden war vor Jahrzehnten in Mode, klang auch sehr aufgeklärt. Es ist die übliche Fehldeutung der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verhaltens als Annahmen, die der sich Verhaltende macht und die man als "Theorie" deuten konnte. Tiere und kleine Kinder hätten demnach auch Theorien, die ihnen Beobachtungen und Erkentnisse ermöglichen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2020 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43035

Humans have a folk psychology, without question. (Kristin Andrews: „Critter Psychology: On the Possibility of Nonhuman Animal Folk Psychology“. In: Daniel D. Hutto, Matthew Ratcliffe, Hg.: Folk Psychology Re-Assessed. Dordrecht 2007:191-209, S. 191)

Das habe ich auch lange angenommen. Inzwischen sehe ich es anders: Bei Bedarf (in einer bestimmten philosophischen Tradition) werden aus bestimmten Redeweisen Bruchstücke einer Psychologie abgeleitet. Es gibt zwar redensartliche Verbindungen wie Leib und Seele, Körper und Geist, aber sie fügen sich nicht zu einer halbwegs konsistenten Theorie des Geistes.

Wenn ich mich mit meiner Frau unterhalte, nehme ich zwar nicht an, daß sie eine Maschine ist. Ich nehme aber auch nicht an, daß sie keine Maschine ist. Die Frage stellt sich normalerweise nicht, folglich tue ich nichts dergleichen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2020 um 06.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43037

Anderson und Lightfoot schreiben in ihr Buch „The Language Organ“:

Dedicated to the memory of Victoria Fromkin, who was way ahead of us in the investigation of language as an aspect of the mind/brain

So reden sie alle und betrügen sich selbst und andere. Die Zeichenfolge mind/brain ist die größte Unverschämtheit dieser „Kognitionswissenschaftler“, wie sie sich nach Chomsky nennen. Lightfoot treibt gar „cognitive physiology“!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2020 um 15.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43085

Editorial
Im Alltag scheint es zumeist so, als handelten wir souverän. Doch spielen biochemische Prozesse im Gehirn eine entscheidende Rolle.
(„Hirnforschung“, Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45, 2008)

„Doch“? Wo ist denn da ein Gegensatz? (Das Essen schmeckt mir, doch in meiner Nase finden chemische Vorgänge statt.)

(Auch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31454)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 04.03.2020 um 20.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43086

Der Autor meint wohl, daß das Bewußtsein nur makroskopisches Handeln steuert. Hingegen sei das Bewußtsein den unbewußt ablaufenden biochemischen Prozessen im Gehirn hilflos ausgeliefert. Somit hinge der Willen letztlich von unbewußten Vorgängen ab, er sei eine Illusion. Der Mensch bemerke nicht, daß er von Faktoren außerhalb seines Bewußtseins gesteuert wird.

Bei dieser Argumentation wird aber nicht berücksichtigt, daß es durch das Denken auch Rückwirkungen auf die biochemischen Prozesse geben kann, sogar geben muß.

Ich weiß, Sie sehen darin einen Kategorienfehler. Wie kann ein Gedanke, also ein immaterielles Konstrukt, irgendeinen Einfluß auf ein materielles Objekt haben?

Aber nach meiner Auffassung gibt es diesen Kategorienfehler nicht. Für mich ist ein Gedanke eine lebendige Information. Information ist durchaus an Materie gebunden, sie besteht in der Form der Materie. Lebende Information wie das Bewußtsein ist die sich laufend verändernde Form lebender Materie. Zwischen beiden besteht eine wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung. Der Mensch steuert seine Handlungen mit seinem Bewußtsein, er hat einen freien Willen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.03.2020 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43088

Wie Sie mit Recht sagen, handelt es sich nach meiner Ansicht um einen Kategorienfehler. Wie anderswo dargelegt, stammt das Handlungsschema aus dem Deliberationsdialog, und dorthin gehört auch der Begriff des "Willens" mit allen seinen synonymen Weiterungen. Die philosophische Diskussion nimmt ihn heraus und diskutiert ihn in einer überspannten Form, die jede Antwort unmöglich macht.

Das Handlungschema (Ankündigung – möglicher Einspruch/Zuspruch – Ausführung) hat schon rein begrifflich überhaupt nichts mit Physiologie usw. zu tun und kann nicht in eine kausale oder sonstige reale Beziehung dazu gesetzt werden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 05.03.2020 um 21.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43095

Wenn ich den Willen im Rahmen der Deliberation betrachte, gibt es eigentlich zu keinem Zeitpunkt den endgültigen Willen, sondern die angekündigte Handlung kann jederzeit bis zur Ausführung geändert, umentschieden, neu bedacht und wieder geändert werden. Mithin entspricht jeder Zeitpunkt einer Handlung dem augenblicklichen Willen. Letztlich kann man genausogut sagen, es gibt gar keinen Willen, oder der Willen ist immer identisch mit der Tat. Beides macht natürlich die Rede von einem freien Willen überflüssig.

Ich frage mich aber, ob man dem wissenschaftlichen Anspruch wirklich gerecht wird, wenn man den Willen auf diese Art sozusagen ad absurdum führt. Was zwingt uns diesen Deliberationsdialog auf? Ist der Willen nicht vielmehr ein in die Zukunft und auf ein bestimmtes Handlungsziel gerichteter Gedanke, der sich nicht nur auf den Augenblick beschränkt? Als Gedanke hat der Willen eine materielle Grundlage.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 06.03.2020 um 23.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43104

Philosophen stellen die Frage, ob der Mensch in seinem Handeln fremdgesteuert ist, oder ob er selbstbestimmt handelt. Dies ist, nur etwas anders ausgedrückt, die Frage nach der Freiheit des Willens.

Meines Erachtens ist diese Frage wichtig und legitim, und man wird ihr nicht gerecht, wenn man die Existenz des Willens überhaupt anzweifelt. Sollten wir etwa alle nur willenlose, fremdgesteuerte Roboter sein?

Man muß also doch letztlich etwas genauer sagen können, was der menschliche Willen ist, als nur ein bloßes umgangssprachliches Hilfskonstrukt, dessen Handlungsschema (Ankündigung - möglicher Einspruch/Zuspruch - Ausführung) aus dem Deliberationsdialog stammt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.03.2020 um 03.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43105

Ich führe den Willen nicht ad absurdum, sondern rechtfertige ihn gegen die Deterministen wie Roth und andere Hirnforscher. Unsere Dialoge, der eigentliche Ort, wo vom Willen gesprochen werden kann, sind eine unbestreitbare Wirklichkeit, und solange wir daran teilnehmen, kann uns kein Hirnforscher ausreden, daß wir einen Willen haben und daß er "frei" ist, d. h. durch Argumente bestimmt und umgestimmt werden kann. Das gehört, wie gesagt, zum Begriff des Willens schon dazu.

Aber schon lange vor den Hirnforschern (die natürlich wieder mal ihre Kompetenz überschreiten) haben Philosophen durch Überspannung des Freiheitsbegriffs den Willen in Frage gestellt, so daß sie am Ende einen Determinismus behaupten, aber nicht leben konnten. Sogar die Quantenphysik haben sie herangezogen... Eine Unbestimmtheit unseres Verhaltens auf quantenphysikalischer Ebene hätte freilich nichts mehr mit dem Freiheitsbegriff zu tun, wie ihn jedermann sinnvollerweise versteht.

Soweit also meine Verteidigung des Willens und der Willensfreiheit. Auf einem anderen Blatt steht die Betrachtung des gesamten menschlichen Verhaltens aus naturalistischer Sicht. Da ist natürlich alles "determiniert"; wir glauben ja nicht an Wunder.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.03.2020 um 04.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43106

Man kann sich kein allgemeines Dreieck vorstellen (George Berkeley), es gibt ja auch keins in der Wirklichkeit, das man wahrnehmen könnte. Aber die Merkmalsdetektoren könnten durch eine Schwellenwertveränderung so eingestellt werden, daß wir ein Dreieck leichter erkennen, wenn es uns unter lauter verschiedenen Figuren begegnet. So etwas muß beim Suchen vor sich gehen. Das Ensemble von voreingestellten Detektoren (wozu auch motorische Komponenten gehören können, etwa das „Bewegungsgefühl“ beim Suchen einer Treppe) liefert noch keine Wahrnehmung oder Vorstellung, sondern nur deren unanschauliche Vorgestalt. Das ist natürlich nur eine funktionale Beschreibung, keine physiologische. Wie die Merkmalsdetektoren verwirklicht sind, ist eine empirische Frage. (Das ist wie bei einem Schaltbild: Da kann ein Symbol für einen Gleichrichter stehen, aber wie er technisch verwirklicht ist, bleibt zunächst offen.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.03.2020 um 14.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43112

zu #43105:

Ich glaube auch nicht an Wunder, jedoch ebenso wenig an den Kategorienfehler.

Der Gedanke ist Teil der körperlichen Welt!

Das ist er, genauso wie die immateriellen Lücken im Lattenzaun ein sichtbarer Teil des Zauns sind. Erst unterhalb der allgemeinsten Ebene der einen, einheitlich materiellen Welt unterscheiden wir zwischen Inhalt und Form, d.h. zwischen Stofflichem und Geistigem.

Prinzipiell können wir Mentales (z.B. Gedanken, Willen u.a.) als materielle Form also von außen erkennen. Ob wir dazu praktisch jemals in der Lage sein werden, kann man natürlich bezweifeln.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.03.2020 um 06.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43113

Ich gebe mir Mühe, all das NICHT zu verstehen...

Verhält sich der Körper zum Geist wie die Latte zum Zwischenraum in Morgensterns Lattenzaun? Daß es den Zwischenraum gibt, ist nur die substantivierende Paraphrase dafür, daß die Latten einen Abstand voneinander haben. Ich kann mit dem Gegensatz materiell-immateriell nichts anfangen. Folglich weiß ich auch nicht, was damit gemeint ist, wenn jemand etwas als materiell bezeichnet. Worin soll das Unterscheidende bestehen? Manche Dinge gibt es und andere nicht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.03.2020 um 10.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43115

Morgenstern wollte ja nur hindurchschauen. Aber wenn man die Latten beispielsweise so anordnet wie bei einem der heute üblichen Barcodes, dann kann jeder Gartenbesitzer in seinem Zaun eine Willkommensbotschaft oder auch „Vorsicht, bissiger Hund“ verschlüsseln und jeder Besucher kann es mit seinem Smartphone lesen. Früher hat man mit Löchern in Lochkarten Daten gespeichert, und noch früher hat man Kerben in ein Kerbholz geschnitten. Woraus bestehen die Kerben, Löcher, Zwischenräume? Aus nichts. Ganz recht, es geht nur um den Abstand voneinander, um die (An-)Ordnung, Sortierung, nicht um den stofflichen Inhalt, sondern nur um die äußere Form. In der Form steckt die Information. Jede Information läßt sich in der Konsequenz auf die Form zurückführen.

Meiner Ansicht nach ist das menschliche Bewußtsein nichts anderes als ein lebender Informationsspeicher, in ständiger innerer Bewegung begriffen. In irgendeiner Art und Weise, biochemisch oder wie auch immer, wird darin Information als Gedanken verarbeitet. Da Information nicht anders als über die materielle Form gespeichert werden kann, kann man theoretisch jeden Gedanken von außen sehen und lesen. Das heißt aber nicht, daß ich an die praktische Möglichkeit glaube, daß man jemals Gedanken von außen vollständig lesen kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.03.2020 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43116

Ich erinnere an die Zweideutigkeit von Information. Der wahrscheinlichkeitstheoretische oder nachrichtentechnische Begriff hat so gut wie nichts mit dem semiotischen ("Sinn", "Bedeutung") zu tun. Die Löcher in einer Lochkarte steuern z. B. den mechanischen Webstuhl, allerdings zusammen mit ihrer Umgebung, ohne die sie eben keine Löcher wären. Dazu braucht man sich nicht in Überlegungen über Form und Substanz zu verlieren. Der Lattenzaun hält Hunde fern und läßt Katzen durch. Die Latten bestehen aus Holz, aber woraus die Zwischenräume bestehen, ist wohl keine sinnvolle Frage. Zwischenräume sind nicht nichts.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.03.2020 um 12.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43117

Bei dem Wort Information denke ich in sehr allgemeinem Sinne etwa an das gleiche wie bei Wissen. Je nachdem, wie Information gespeichert wird, analog (wie z. B. auf einer alten Schallplatte) oder mittels Zeichen (wie bei Barcode oder Lochkarte), kann die Semiotik wohl eine Rolle spielen, aber einen Gegensatz oder Doppeldeutigkeit sehe ich in dem Wort Information nicht.

Warum sagen Sie, ich „verliere mich“ in meinen Überlegungen? Ich argumentiere mit Form und Substanz, aber ich verliere mich doch nicht darin.

Ich sage nicht, Zwischenräume seien nichts, sondern ganz im Gegenteil, ich sage, sie können eine Information sein.
Ich frage eher rhetorisch, woraus sie bestehen, und die Antwort „aus nichts“ soll darauf hinweisen, daß es dabei nicht um Stoffliches, sondern ausschließlich um die äußere Form geht.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 08.03.2020 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43118

Irgendwie scheint mir das Verständnis für die "mechanische Datenverarbeitung" verlorengegangen zu sein. Die Löcher in Lochkarten und Lochstreifen steuerten mechanische Abtaststößel. Schlaue Leute konnten die Lochkombinationen direkt lesen. Wichtig waren die Umschaltzeichen für Buchstaben oder Zahlen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.03.2020 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43140

Amazon: Make Money As A Life Coach: How to Become a Life Coach and Attract Your First Paying Client (Make Money From Home, Band 5) von Sally Miller und Melissa Ricker

Die Käufer sind zufrieden. (Es gibt noch mehr Bände von Sally Miller in der gleichen Reihe. Sie ist wahrscheinlich all das nicht, wozu sie anleitet, aber das ist natürlich auch eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.)

Anleitungen zum Coaching: Dutzende von „strengths“ werden in Begriffen einer Wald-und-Wiesen-Psychologie aufgezählt, ohne den Versuch einer Operationalisierung, und das rhetorische Umgehen damit soll Erfolg bringen, der aber nicht spezifisch auf das Coaching zurückgeführt werden kann, falls er überhaupt eintritt.
Banalitäten werden mit der größten Selbstgewißheit vortragen, als seien es tiefe Weisheiten. Es erinnert an die Kurgäste, die mit Andacht Wasser schlürfen. Es kommt wie bei den Globuli auf den Glauben an, nicht auf die Substanz. Die "Talente" der Coaching-Szene sind immer noch die antiken Tugenden, nur mit ein wenig zeitgeistigem Psycho-Babble aufgepeppt.
Wenige werden zugeben, daß es keinen Erfolg gehabt hat, wo sie doch so viel Geld dafür ausgegeben haben. Und die Unternehmen möchten sich nicht nachsagen lassen, sie hätten nichts für die "Mitarbeiterentwicklung" getan (so heißt das wirklich).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.03.2020 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43286

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#37355

Wenn ich recht sehe, ist aus dem Eintrag der deutschen (aber nicht der englischen) Wikipedia über den Jenseitsreisenden Eben Alexander alles Kritische entfernt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.04.2020 um 16.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43391

Um ein Objekt wiederzuerkennen, müssen nacheinander zwei Prozesse ablaufen: Zuerst sucht das Gehirn im Gedächtnis, ob der Gegenstand oder die Szene schon irgendwo abgespeichert ist.
(https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/wie-ein-deja-vu-entsteht/)

So so, das Gehirn sucht im Gedächtnis. Neurobabble ohne Sinn.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2020 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43419

Zu den Termiten in http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#31617

The termites only follow the principle of placing their clay balls where the smell is strongest. The physical laws of the environment then lead to the development of the complex hill. (Peter Gärdenfors: How homo became sapiens. Oxford 2010:185)

No termite has the foggiest idea of what a termite mound should look like. None of them has anything like a picture or plan of a mud church in its brain or in its DNA. (Richard Dawkins)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.04.2020 um 04.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43461

„Our brain constructs models of the external world.“ (Bruce Hood: The self illusion. London 2011:XI)

Was soll denn das heißen? Wir lernen, uns in der Welt zurechtzufinden, z. B. auf Treppen die richtigen Bewegungen der Beine und Füße zu machen. Ich finde auch im Dunkeln den Lichtschalter und weiß nach dem Aufwachen, wo ich meine Brille hingelegt habe. Dazu braucht man kein Modell anzunehmen (das ja auch irgendwer benutzen müßte).

Das eigentliche, beobachtbare Verhalten des Organismus kann nicht durch ein im wesentlichen gleichartiges, aber unbeobachtbares, erfundenes „inneres“ Verhalten der Gehirns (oder im Gehirn) erklärt werden. (Homunkulus)

Wie bei den „Karten“ (Londoner Straßennetz im Hippokampus von Taxifahrern...) hat niemand die geringste Ahnung, wie solche Modelle im Hirn aussehen könnten. Es ist einfach nur ein zu weit gehender Begriff für irgendwelche Veränderungen, die das entsprechend veränderte Verhalten steuern.
„We are our brains“ – auch das ist sinnlos, weil es die Redeweisen vermischt. So wird „wir“ nicht gebraucht. Man kann nicht entdecken, daß „wir“ eigentlich das Gehirn bezeichnet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.04.2020 um 15.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43471

Ein schönes Stück naive mentalistische Neurosophie kann man hier sehen:
https://www.mpg.de/14559563/0305-nepf-113272-das-gehirn-besitzt-zwei-systeme-um-sich-in-andere-hineinzuversetzen

Die Rede vom "Sichhineinversetzen" und von der "Perspektivübernahme" ist anscheinend gar nicht als Metapher durchschaut. Das Verhalten wird folglich nicht als solches beschrieben, sondern innerhalb derselben Metaphorik, die man in das Kind hineinredet. Die Hirnscans können daran nichts mehr ändern. Da findet sich immer etwas, wenn Kinder älter werden und mit verschiedenen Aufgaben konfrontiert werden.

Immerhin glauben die Forscher endlich ein starkes Gegenargument gegen die Datierung der False-belief-Test-Leistungen überwunden zu haben. Denn schon sehr kleine Kinder, die den Test noch lange nicht bestehen, lernen es, ein Bilderbuch andersherum zu halten, damit ihr Gegenüber es betrachten kann. Sie lernen es wirklich, aber dazu muß man nicht die blumige Rede vom Sichhineinversetzen bemühen, die nichts erklärt, sondern nur schon vertraut klingt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2020 um 04.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43475

Wenn man an die "Theory of mind" glaubt und auch überzeugt ist, daß das kleine Kind eine solche ToM ausbildet, dann kann man sie natürlich auch in Hirnscans aufspüren. Verschiedene Aufgaben sind mit Erregungen in verschiedenen Hirnregionen verbunden, das ist vollkommen trivial.
Ich wundere mich immer wieder, daß die Forscher diese Falle nicht erkennen. Sie wissen buchstäblich nicht, was sie tun, wenn sie vor ihren bunten Bildern sitzen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.04.2020 um 08.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43503

Wenn man Probanden verschiedene Aufgaben stellt, werden sich im Hirnscan immer verschiedene Erregungsmuster zeigen. Das ist trivial. Nicht trivial ist die Deutung. Wenn man schon in die Beschreibung einfließen läßt, daß die eine Aufgabe mit Hilfe einer „Theory of mind“ gelöst wird und die andere nicht, dann glaubt man im Hirn den Sitz einer Theory of mind zu beobachten. Das ist nicht wesentlich verschieden vom Aufspüren eines „Gottes-Neurons“ usw. (vgl. S. F. Faux: „Cognitive neuroscience from a behavioral perspective: A critique of chasing ghosts with Geiger counters“. The Behavior Analyst 25, 2002:161-173.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.05.2020 um 11.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43562

Die folgende Hervorbringung heutiger Psychologie sagt mehr über sich selbst als über ihren Gegenstand:

The Personality of a Nonperson: Gauging the Inner Skinner.
Overskeid G, Grønnerød C, Simonton DK
Perspect Psychol Sci. 2012 Mar;7(2):187-97. doi: 10.1177/1745691611434212. Epub 2012 Mar 9.

Abstract
B. F. Skinner is consistently rated as one of the most important figures in the history of psychology. Much has been said about his character, some of it strongly negative. Yet little is known about what kind of man he really was. Drawing on information from published sources, archival material, and people who knew him, we used "blind" raters to assess Skinner´s score on the Big Five personality factors. We found that Skinner was a highly conscientious man and highly open to experience. He was also somewhat neurotic and somewhat extraverted but neither agreeable nor disagreeable. The resulting personality profile was compared with meta-analytic results concerning scientists versus nonscientists, creative scientists versus noncreative scientists, and artists versus nonartists. In general, Skinner’s personality profile was consistent with findings regarding those of other notable scientists.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.05.2020 um 16.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43597

Warum unsere Psyche uns Corona unterschätzen lässt (Welt 14.5.20)

= Warum wir Corona unterschätzen
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.05.2020 um 16.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43655

Zufällig stoße ich auf den Thuja-Menschen, den die Homöopathie so beschreibt:

Leitsymptome

Geringe Selbstachtung und Gefühl von Wertlosigkeit
Fühlt sich unattraktiv
verbringt viel Zeit, sein Aussehen zu perfektionieren
Zweifel, "dazu zu passen"
Gefühl, "andere würden mich nicht mögen, wenn sie mich wirklich kennen würden"
Einsamkeit und Traurigkeit wegen des Gefühls, anders zu sein
Verschlossenheit bis zum Lügen (in Bezug auf die Lebensumstände)
fixe Ideen oder Wahnvorstellungen: etwas Lebendiges sei im Bauch; schwanger zu sein; er sei zerbrechlich oder aus Glas
beim Reden werden die letzten Worte des Satzes gemurmelt
Reizbarkeit und hastige Wesensart oder Milde und Traurigkeit
Augenbrauen sind dünn oder verschwinden auf der seitlichen Hälfte
bemerkenswert glatte Gesichtshaut, ebenmäßige Züge, keine Spuren von emotionaler Belastung - oder plötzlich über Nacht um Jahre gealtert
Gesichtshaut wie geölt oder gefettet
Warzen oder Tumore in Gesicht oder auf den Augenlidern
Warzenartige u. pilzartige Wucherungen auf Haut und Schleimhaut
Warzen an Händen und Fingern
Kondylome an den Genitalien
Folgen und Erkrankungen nach Pocken- oder anderen Impfungen
geteilter Urinstrahl
Schweiß stinkend, ölig, süßlich oder sauer; nur an unbedeckten Stellen; an einzelnen Körperteilen; überall, außer am Kopf
Entzündung der Schleimhäute mit dicker, gelblicher oder grünlicher stinkender Absonderung (Urogenitaltrakt)
Karies der Zahnwurzel bei intakter Krone
Träume von Fallen
schläft auf der linken Seite
Kopfschmerzen links, Stirn oder Schläfe
< nachts, um 3 Uhr; um 15 Uhr; durch Kälte; nasses Wetter; Bettwärme; Ruhe; Fett und Zwiebeln
> durch Bewegung; durch Druck und Berührung


Ich bin wohl keiner, denn ich schlafe auf der rechten Seite, träume nicht von Fallen, mein Urinstrahl ist nicht geteilt (?), und grünlicher stinkender Ausfluß ist auch nicht dabei.

Aber mal im Ernst: Kann man über eine solche Wissenschaft noch diskutieren? Die Methode hatte ich anderswo schon beschrieben: Alles, was jemand irgendwo dazu aufgeschrieben hat, wird kompiliert, nichts je aufgegeben, und das Ergebnis ist der "Kent".

Thuja ist bekanntlich sehr giftig, aber wenn in den Globuli nix mehr drin ist, schaden sie auch nicht weiter.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.06.2020 um 08.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43698

Es wird behauptet, daß Affen die künstliche Gebärden-„Sprache“, die ihnen Menschen beigebracht haben, an ihre Kinder weitergeben, aber wie das vor sich gehen soll, ist nicht näher beschrieben. Anscheinend nimmt man Nachahmung an, aber kein Vormachen. Sprachunterricht ohne Vormachen ist überhaupt kein Unterricht. Und wenn die Jungen die Alten nachahmen, warum ahmen dann nicht überhaupt die Affen die Menschen nach, so daß das jahrelange Training entfallen könnte? Das sind überflüssige Fragen, weil es seither ohnehin still geworden ist. Wenn ein Affe überhaupt nur ein Dutzend Gebärden gelernt hat, die man bei wohlwollender Interpretation wiedererkennt, läßt sich aus allen beliebigen Kombinationen dieser Zeichen ein Sinn erschließen – zumal bei der großzügigen „Bedeutung“, die der Mensch diesen Gebärden zuschreibt. So sind die phantastischen Dialoge zustande gekommen, die Fouts beschreibt und Leichtgläubige wie Dieter Zimmer oder Volker Sommer referieren. Naive Sprachauffassung ohne Sinn für das Historisch-Kulturelle der vermeintlich einfachen Bedeutungen. Es ist nicht möglich, daß ein Affen die Bedeutung „ungezogen“ usw. kennt. Diese Paarung von Form und Bedeutung ist ganz naiv menschlich. Die Sprechakte Entschuldigung usw. werden Schimpansen zugeschrieben, ohne daß man die Kulturgebundenheit überhaupt bemerkte. Abstrakta wie „Geruch“ (= daß/wie etwas riecht) soll der Affen vom Konkretum „Blume“ unterschieden haben - das kann nur einem ganz naiven Beobachter einfallen. All das von Tieren, die sonst ganz unzivilisiert auf den Teppich defäzieren usw.

-
Hirnscans sollen zeigen, daß schon Säuglinge die Abweichung von einer grammatischen Regel bemerken. Ich kenne die Einzelheiten nicht, stelle aber einige Fragen.
Schon die Annahme, daß Sprechen und Verstehen im Befolgen von Regeln bestehen, ist sehr fragwürdig. Was Regeln sind, bevor sie sprachlich ausformuliert werden, ist schwer zu verstehen. Diesen Einwand gegen die Chomskysche Sprachphilosophie lasse ich auf sich beruhen. Anlage und Interpretation von Experimenten sind aber wahrscheinlich durch die mentalistischen Vorannahmen beeinflußt.
Aber wir wissen, daß auch erwachsene Muttersprachler „Regelverstöße“ weder beim eigenen Sprechen noch beim Hören immer bemerken. „aus aller Herrn Länder“ und „abgebrochener Student“ (oder auch Lessings „nicht ohne Mißfallen“ und andere Negationsknoten), den "falschen" Appositionsdativ usw. nehmen sie hin, und es ist nicht anzunehmen, da Hirnscans etwas anderes zeigen.
Ferner: Wie wurden die abweichenden Sätze gesprochen? Eine sinnvolle Intonation überspielt Konstruktionsfehler, und eine unnatürliche Intonation kann selbst grammatisch einwandfreie Gebilde befremdlich klingen lassen. Darüber erfahren wir nichts.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.06.2020 um 04.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43786

In "Crazy like us" beschreibt Ethan Watters, wie nach dem Tsunami Heuschreckenschwärme von westlichen Psychologen über Sri Lanka herfielen, um gegen die erwarteten, aber nicht eintretenden "Posttraumatic Stress Disorders" (nach dem DSM) zu helfen. Sie hatten nicht verstanden, daß es anderswo ganz andere Techniken der Krisenbewältigung geben könnte. Schon die ganze westliche Auffassung vom radikal-privaten (subjektiven) "Psychischen" ist nicht universal. (Außerdem das übliche Durcheinander, weil die Vertreter der NGOs einander auf die Füße traten, die Landessprachen nicht verstanden usw.)

Übrigens sehr lesenswertes Buch, gut geschrieben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2020 um 04.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43791

Sign languages are not just simplified or distorted versions of spoken language, but whole new languages that emerge wherever groups of deaf people come together. They are languages in their own right with gestures and facial expressions that take on the grammatical functions of word endings, word orders or inflexion. (Susan Blackmore: The meme machine 87f.)

Gebärdensprachen „emergieren“ nicht unter Taubstummen. Sie werden ihnen beigebracht, und wenn man es daran fehlen läßt, vegetieren sie als Dorfidioten dahin. Gebärdensprachen sind auch nicht autonom, sondern bauen auf Lautsprachem und deren jahrtausendelanger Geschichte auf.

Blackmore sagt übrigens auch:

Although languages may vary considerably in the size of their vocabularies, they do not differ much in the complexity of their grammar. Hunter-gatherers and remote tribal groups have languages just as complex as modern industrial English or Japanese.

Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=719#22963

Blackmore vertritt einen Nativismus strengster Chomsky-Observanz, dabei orientiert sie sich wie Dawkins an Pinkers „Language instinct“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.07.2020 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43830

Noch zu Kahneman (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#40748)

Ich hatte mir besonders zu den Priming-Experimenten lauter Fragezeichen an den Rand gemalt, weil ich dieser Art von Berichten grundsätzlich nicht glaube.

Nun sehe ich, daß Kritik sogar im englischen Wikipedia-Eintrag zum Buch verzeichnet ist:

https://replicationindex.com/2017/02/02/reconstruction-of-a-train-wreck-how-priming-research-went-of-the-rails/

https://slate.com/technology/2016/12/kahneman-and-tversky-researched-the-science-of-error-and-still-made-errors.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.07.2020 um 12.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43849

Scientists first discovered that dogs are excellent at imitating their owners in 2006. (http://news.sciencemag.org/2013/07/your-dog-copycat)

Berichte über Nachahmung bei Hunden gab es schon lange vorher, aber auch Kritik an der Deutung anekdotischer Zeugnisse. Andererseits: Wenn es so eindeutig wäre, hätte Hunderte von Millionen Hundehaltern es bemerken müssen. Dafür sind die Berichte dann wieder überraschend selten.

Schopenhauer glaubte, daß sein Hund ("Atman"!) die Kausalität durchschaute, nämlich die Mechanik der Gardinenschnur. (Ich zitiere aus dem Gedächtnis.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.07.2020 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43892

Eines dieser typischen psychologischen Experimente: Richter würden ein um 50% verschiedenes Strafmaß verhängen, je nach dem Ausgang eines vorgeschalteten Würfelspiels, das mit der Sache nichts zu tun hat. So berichtet es Daniel Kahneman, der überhaupt Hunderte von Versuchen referiert, von denen manche sich inzwischen als unhaltbar oder gefälscht herausgestellt haben. Hier geht es um den „anchoring effect“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ankereffekt). Diesen Effekt gibt es anscheinend, aber die Versuche sind trotzdem windig, weil weit entfernt von der Lebenswirklichkeit, in der noch vieles andere eine Rolle spielt. Die Frage der Replizierbarkeit wird praktisch nie aufgeworfen. Auch die Lehrbücher der Psychologie sind voll davon. In Zeitschriften und sogar Tageszeitungen wird dann berichtet, daß nach neuesten Untersuchungen der bekannte Effekt XY in Wirklichkeit nicht nachweisbar ist (wieder je eine Nummer auf der Publikationsliste).
Wahr ist: Wenn ein Paar Schuhe zum Schnäppchenpreis von 199 statt 299 € angeboten wird, kaufen es viele, obwohl es anderswo regulär nur 129 kosten würde.
Ihren schönsten Sieg feierte schon die antike Rhetorik, wenn der Gerichtsredner es schaffte, einen Freispruch für den Mörder und ein Todesurteil für den Unschuldigen zu erwirken. Kleines groß und Großes klein erscheinen zu lassen und aus Schwarz Weiß zu machen – das war das Programm und ist es geblieben. Die Apologeten behaupten bis heute, diese Kunst sei moralisch indifferent, es komme auf den jeweiligen Zweck an, aber die Rigoristen (Platon, Kant) halten es an sich für verwerflich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.07.2020 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43898

Sich mit Floskeln wie "Das packst du!" anzuspornen, gilt als eine der heiligen Kühe der Motivationstrainer. Auf diese Weise, so heißt es, erreicht man seine Ziele leichter und rascher. Dem widerspricht allerdings ein Forscherteam um Dolores Albarracin nach einer Studie von 2010.
Gemeinsam mit ihren Kollegen Ibrahim Senay und Kenji Noguchi kam die Psychologin vielmehr zu dem Schluss: Statt allein auf bestätigende Anfeuerung zu setzen, sei es oft erfolgversprechender, sich auch Fragen zu stellen, etwa: "Packe ich das?"
Die Wissenschaftler hatten rund 50 junge Probanden in ihr Labor bestellt. Alle sollten unter Zeitdruck aus zehn Wörtern jeweils andere Wörter bilden, so genannte Anagramme. Zuvor hatten sie sich entweder eine Minute lang fragen sollen, ob sie das schaffen würden – oder sich ebenso lange zureden, dass es kein Problem sei. In einem zweiten Versuch wurde den Probanden vorgegaukelt, man wolle ihre Handschrift analysieren. Dafür mussten sie die folgenden Wörter und Kurzsätze wiederholt aufschreiben: "will I?" (werde ich?), "I will" (ich werde), "I" (ich) und "will" (werde).
Sich selbst Mut zuzusprechen oder ironische Bemerkungen zu machen, kann in Stresssituationen entlastend wirken.
Anschließend folgte wiederum die Anagramm-Aufgabe. In beiden Experimenten schnitten jene Probanden deutlich besser bei der Problemlösung ab, die sich die Frage stellten, ob mündlich oder schriftlich. Die Art der Formulierung beeinflusste demnach, welche Gedanken und Handlungsimpulse daraus erwuchsen.
In einem dritten Test wollte das Team wissen, ob die Frage (statt einer Anfeuerung) die Motivation der Studienteilnehmer erhöhte. Wieder wurden sie mit den Worten und Kurzsätzen "vorbereitet" – und dann gefragt, wie viel Sport sie in der kommenden Woche treiben wollten. Mit einem standardisierten Text prüften die Forscher schließlich die Motivationslage. Auch hier zeigte sich: Wer sich die Frage gestellt hatte, war eher gewillt, das Vorhaben zu verwirklichen.
"Geht es um spezifische Aufgaben, ist diese Frageform als Motivationstechnik besser geeignet, um das Ziel zu erreichen", erklärt Albarracin. In "fragenden" Selbstgesprächen führten sich die Betreffenden vermutlich eher vor Augen, warum es sich lohnt, sich für die jeweilige Sache einzusetzen. Wer sich seine persönlichen Gründe klarmacht, profitiert davon.

http://www.spektrum.de/news/schweigen-ist-silber-reden-ist-gold/1130042

Es gibt Millionen Texte dieser Art. Oft schließen sie mit praktischen Ratschlägen, so windig die Untersuchungen auch sein mögen. Ich halte das alles für wertlos und sogar schädlich. Die nicht-operationalisierte Begrifflichkeit würde allein schon genügen, das Ganze in den Müll zu treten. Nach den Standards der geschlossenen Gesellschaft amerikanischer Psychologen (die zugleich weltweit gelten) ist die Wertlosigkeit nicht zu entdecken. Man findet bloß, daß es zu jedem Ergebnis einige Zeit später einen gegenteiligen Befund gibt, aber das stört nicht weiter, sondern belegt nur die Lebendigkeit der Forschung. „Weitere Untersuchungen sind nötig“, Geld fließt. Erstaunlich, wie geduldig das Publikum es hinnimmt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.07.2020 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43902

Yoga, Meditation und Achtsamkeit besänftigen das Ego? Im Gegenteil: Sie befeuern den eigenen Geltungsdrang. (SZ 11.7.20)

Das haben Psychologen jetzt herausgefunden. Immer derselbe Quatsch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.07.2020 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43938

Fabelhafte Berichte über kulturelle Weitergabe von Fischfangtechniken bei Delphinen werden von sämtlichen Medien kritiklos weitergegeben.
https://www.media.uzh.ch/de/medienmitteilungen/2020/Delfine-Shelling.html

Die in freier Wildbahn beobachteten Ereignisse waren allerdings extrem selten. Man freut sich aber immer, wenn ein Wunsch erfüllt wird, sei es auch seltener als Weihnachten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.07.2020 um 04.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43950

Viele Psychologen wollen von Behaviorismus nichts wissen, glauben aber an das „Belohnungssystem“ im Gehirn. Angeblich führt Pornokonsum zu einer Verkleinerung des Nucleus caudatus usw. Der Eintrag https://en.wikipedia.org/wiki/Reward_system bei Wikipedia hat keine deutsche Entsprechung. Umgekehrt gibt es keinen englischen Eintrag, der „Mentales Training“ entspricht (im deutschen findet man ein Sammelsurium, das auf eine wenig gefestigte Theorie deutet).
Alle Experten streichen die Bedeutung ihres Spezialgebietes heraus, indem sie möglichst hohe Zahlen von Betroffenen angeben. So auch die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS). Eigentlich sollten wir den ganzen Tag im Wartezimmer verschiedener Fachärzte sitzen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2020 um 05.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43991

„Daß das Selbstgespräch ein richtiges Gespräch ist, macht uns gerade auf die merkwürdige Tatsache aufmerksam, daß zwei Seelen in unserer Brust wohnen können.“ (Walter Porzig: Das Wunder der Sprache. 6. Aufl. Bern 1975:96)

In Wirklichkeit fehlt dem „Selbstgespräch“, wie es auch im Folgenden beschrieben wird, alles Wesentliche einer solchen gespaltenen Persönlichkeit. Es ähnelt weit eher einem Vorsichhinsprechen und Probeformulieren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2020 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43992

Man wundert sich, wie viele Wahrheiten aus unseren Biologiebüchern nach einiger Zeit in Frage gestellt werden: der Schwänzeltanz der Bienen, die Funktion des roten Flecks am Unterschnabel der Möwe, die Merkwelt der Zecke (Buttersäure), die Prägung der Küken, die Beißhemmung der Hunde, das Kindchenschema, der Stichlingsbauch und andere „Angeborene Auslösemechanismen“. Vieles scheint nicht replizierbar zu sein und wird heute als gehobene Bauernweisheit dargestellt. Manches wird rehabilitiert, das gibt dann wieder eine Veröffentlichung.

In der Sprachwissenschaft dauert die Reinigung von Chomskyschen Mythen schon Jahrzehnte. Das ist aber gar nichts gegen die Psychoanalyse und die Homöopathie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2020 um 13.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#43994

Neue Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern der Universität von Nebraska stärken die Annahme, dass das Coronavirus auch durch kleinste Tröpfchen in der Luft übertragen wird. Die Untersuchungen zeigen auch, dass der Erreger lange in der Luft überlebt – und dass der bisher empfohlene Abstand von 1,5 Metern womöglich nicht ausreicht.

Usw., schön für die "Merchants of doubt". Aber wer hat denn je angenommen, daß Abstand und Maske absoluten Schutz bieten? Das ist jedenfalls nie die Grundlage der sinnvollen und hochwirksamen Verhaltensmpfehlungen gewesen, die jetzt durch Dummheit und Wurschtigkeit durchlöchert werden, so daß es zu dem viel schwereren zweiten "Lockdown" kommen muß. Sie nennen es "feiern"... Ist die Menschheit noch zu retten?

Zu jedem Bericht über Corona melden sich im Forum der WELT umgehend fast ausschließlich Corona-“Skeptiker“ und Verschwörungstheoretiker in großer Zahl. Es sind wohl dieselben, die sich auch als Klimawandel-“Skeptiker“ betätigen. Ich habe schon auf die verdächtige Gleichförmigkeit der treudeutschen Pseudonyme hingewiesen; ob die Redaktion schon mal überprüft hat, aus welcher Ecke das kommt?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.08.2020 um 06.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44039

Anekdoten über schlaue Tiere werden beim Weitererzählen ausgeschmückt und immer unglaubhafter.

Eine Schimpansin aus Chicago hat nämlich eine Leistung erbracht, die durchaus eine Art Schach mit dem Vorausbedenken mehrerer Züge beinhaltet. DRÖSCHER (1981, S.127) beschreibt den Vorfall so:
„Als der Tierpfleger den Käfig der Schimpansin „Katanga“ betrat, war die sonst so Unnahbare die Freundlichkeit in Person. Sie schmuste mit ihm und erbettelte das Schlüsselbund. Doch statt damit zu spielen, setzte sich „Katanga“ nachdenklich in eine Ecke, schaute den Vierkantschlüssel, der zu ihrer Tür passte, lange an und betastete ihn von allen Seiten. Am anderen Morgen war sie verschwunden. Die Käfigtür stand offen.
Wie der Ausbruch möglich war, zeigte ein Indiz: Im Türschloss steckte noch ein „Dietrich“, ein Vierkant aus Holz, genau passend zurechtgeschnitzt von den Zähnen der Schimpansin.
Bemühen wir nochmals die Analogie zum Schachspiel, dann lauten die Züge - anthropomorph ausgedrückt: - „Wenn ich nett bin, gibt mir der Wärter die Schlüssel. Dann präge ich mir die Form ein, schnitze den Vierkant und breche über Nacht aus“.

(Jürgen Tausch in Kerstin Höner/Maike Looss /Rainer Müller: Naturwissenschaften im Unterricht - Wahrnehmung und Konstruktion. 2006: 44)
Lit: Dröscher, Vitus „Was Tiere alles denken“. In: HÖR ZU (1981) Nr. 8, S. 127-128.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.08.2020 um 22.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44042

Die Äffin mußte sogar noch mehr „Schachzüge“ machen, denn ein Schlüsselbund hat normalerweise mehrere Schlüssel. Sie mußte also zunächst gelernt haben, daß nur ein bestimmter Schlüssel paßt, nicht irgendeiner, und sie mußte dann beobachtet und sich gemerkt haben, welcher Schlüssel es ist.

Ist es überhaupt glaubwürdig, daß Käfige mit wertvollen Tieren nur mit einem einfachen Vierkant-„Schlüssel“ (ähnlich wie unsere städtischen Müllbehälter) gesichert werden?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.08.2020 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44053

Vielleicht habe ich anderswo schon erwähnt, daß der blinde Fleck in unserem Auge erst überraschend spät entdeckt worden ist (1660). (Bald darauf sollen französische Adlige ihn ungemein spaßig zum gegenseitigen "Köpfen" genutzt haben, bevor ihre Köpfe dann wirklich rollten.)

Überraschend, weil der bekannte Versuch eigentlich sehr leicht zu machen ist. Trotzdem gibt es keine antiken Berichte.

Die Erklärung aus der Anatomie des Auges ist auch nicht schwer.

Jeder kennt wohl die Tatsache, daß wir ein kleines blaues Licht besser – oder überhaupt nur – gegen den Rand des Gesichtsfeldes hin sehen. Das beruht darauf, daß im Zentralbereich der Fovea keine Zäpfchen vom S-Typ sind, die für Blau zuständig wären. Das ist also viel schwerer zu entdecken und zu erklären. Man braucht schon für das Phänomen selbst ein reines Spektralblau, das es abgesehen von Prismenversuchen in der Umgebung unserer Vorfahren nicht gab. (Der Regenbogen kommt kaum in Betracht.)

(Gedanken im Behandlungszimmer beim Blick auf ein blaues Kontrollämpchen; es ist immer wieder verblüffend.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.08.2020 um 04.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44062

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#39250

Erst 2020 beendet Baden-Württemberg die Förderung der Freiburger Spökenkiekerei aus Steuermitteln. Eine Klage gegen das Land wäre längst fällig gewesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.08.2020 um 05.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44063

Die Handschrifterkennung durch Google-Software soll Fortschritte machen. Leider wird auch geich wieder eine Verknüpfung zur Parawissenschaft der Graphologie hergestellt.

Dabei fällt mir auf, daß heute bei Bewerbungsschreiben kaum noch handschriftliche Lebensläufe verlangt werden, wie es früher die Regel war. Das ist ein erfreuliches Zeichen zunehmender Rationalität.

Wenn der Empfänger Ihrer Bewerbung Sie also quasi um eine handschriftliche Probe bittet, arbeitet dieser aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Schriftexperten (Grafologen) zusammen.

Ein Grafologe ist darauf spezialisiert, die Handschrift zu analysieren und daraus Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Bewerbers zu ziehen, die Rede ist hier von einem grafologischen Gutachten. Allgemein sagt man beispielsweise, dass eine nach links geneigte Handschrift ein Zeichen von Selbstbezogenheit ist. Kein gutes Zeichen für einen Arbeitgeber, der sich eine harmonische Zusammenarbeit unter seinen Arbeitnehmern wünscht. Allerdings kommen Grafologen in der Regel erst in der letzten Runde des Auswahlprozesses zum Einsatz, also für die Spitzenkandidaten einer zu besetzenden Position.

(https://www.die-bewerbungsschreiber.de/handschriftlicher-lebenslauf)

Man sieht hier die ganze Fragwürdigkeit. Naturgemäß ist bei einer Bewerberauswahl die Unsicherheit groß, und man greift nach jedem Strohhalm, der sie verringert. Dabei fällt man immer wieder auf die Alltagspsychologie zurück ("Selbstbezogenheit").

Es geht aber zurück.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.08.2020 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44071

Schon Hahnemann litt darunter, daß seine Zeitgenossen das "Verschütteln" einfach als "Verdünnen" bezeichneten, was es ja in jeder Hinsicht auch ist. Die magische Handlung des Verschüttelns kommt allein durch die sprachliche Umhüllung zustande. Dazu gehört aber – noch viel wichtiger – die Rede vom "Potenzieren": Durch das Verdünnen wird die vermeintliche Arznei immer mächtiger. Aber:

Homöopathische Arzneimittel haben keine Nebenwirkungen. (https://www.netdoktor.de/homoeopathie/mercurius-solubilis/)

Wie kann das sein?

Der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) empfiehlt bei der Selbstbehandlung für alle homöopathischen Medikamente die Potenz C12.(https://www.homoeopathie-online.info/mercurius-solubilis-quecksilber/)

C12:

Entspräche etwa einem Tropfen im Volumen des Atlantiks
Bei dieser Potenz enthalten in einem idealisierenden Gedankenexperiment nur etwa die Hälfte aller 1-Liter-Flaschen D24-Lösung ein Molekül einer einmolaren Urtinktur; dementsprechend wird ab hier bei weiterer Zugabe von Lösungsmittel nicht mehr verdünnt, sondern Lösungsmittel mit Lösungsmittel gemischt.

(https://de.wikipedia.org/wiki/Potenzieren_(Homöopathie)#Beispielverdünnungen)

Warum solche Mittel, wenn sie keine Nebenwirkungen haben, nur in Apotheken verkauft werden dürfen, ist nicht klar. Vielleicht dient es ebenfalls zur Erhöhung der Magie. Erstaunlich bleibt, daß akademisch ausgebildete Ärzte und Apotheker mitmachen. Der Gesamtumsatz ist nicht so bedeutend, aber ein Zubrot nimmt man gern mit, auch wenn man dafür seine Seele verkaufen muß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.08.2020 um 11.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44112

Aus der evangelikalen Ecke kommt dies:

Roger Liebi: Herkunft und Entwicklung der Sprachen

Linguistik kontra Evolution
Weltweit werden heute über 7000 verschiedene Sprachen (ohne Dialekte) gesprochen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich durch artikulierte Laute differenziert auszudrücken. Im Tierreich gibt es dazu keine Parallelen.
Diese Feststellungen wecken Fragen: Woher kommen die Sprachen? Hat es eine Sprachevolution von Urlauten bis hin zu modernen Sprachen gegeben? Sind die ältesten Sprachen der Welt primitiver als moderne Sprachen des 21. Jahrhunderts? Sind Sprachen von Eingeborenen im Vergleich zu den Sprachen des Abendlandes „unterentwickelt“? Kann man in den Sprachen, deren Geschichte über Jahrtausende hinweg dokumentiert ist, eine allmähliche Aufwärtsentwicklung feststellen? Der Autor zeigt: Die dokumentierten Fakten der Sprachwissenschaft widersprechen einer Sprachentwicklung im Sinne der Evolutionslehre. Die Geschichte von der Sprachverwirrung in Babel ist kein Mythos. Sie muss von der Linguistik ernst genommen werden.

 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.08.2020 um 11.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44113

Wie stellen die sich das vor? Ein paar Jahrtausende hat der Mensch den aufrechten Gang eingeübt und nichts als "Uh, uh" oder "Aaah" gesagt, und plötzlich steht eines Morgens der Vater auf und sagt: "Guten Morgen! Ulla, komm, mach uns jetzt erst mal einen Kaffee"?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.08.2020 um 14.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44115

Mir ist ohnehin nicht klar, gegen wen sich die Thesen richten. Es gab sicherlich Versuche, Darwins Gedanken auf kulturelle Erscheinungen und besonders Sprache anzuwenden, und die "Mem"-Theorie hat auch noch solche Züge. Der ständige Wandel der Sprachen ist ja unübersehbar, aber "Evolution" fügt doch noch etwas mehr hinzu.
Über die Frage eines "Fortschritts" in der Sprachgeschichte haben wir ja schon gesprochen (Jespersen: Progress in language), aber selbst das muß man nicht evolutionär sehen.
Die Stammbäume, die man im 19. Jahrhundert entwickelte, um die Sprachverwandtschaft darzustellen, sind nicht unbedingt evolutionär zu lesen, sondern eher so wie die Stemmata der Textüberlieferung.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.08.2020 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44119

Was auch immer gegen eine "Sprachevolution" vorgebracht wird, also gegen eine spezielle Art der "allmählichen Aufwärtsentwicklung", die Kritiker werden wohl wissen, was genau sie damit meinen, aber sie stellen ja sogar diesen allgemeineren Begriff in Frage.

In diesem Tagebuch geht es im Zusammenhang mit Jespersen oft darum, daß eine "komplexere" Sprache eigentlich die primitivere sei. Es kommt aber auch wieder darauf an, was man unter Komplexität versteht. Ist eine Sprache komplexer, wenn sie z.B. ein kompliziertes Flexionssystem hat, oder ist sie umso komplexer, je mehr Ausdrucksmöglichkeiten (incl. Wortschatz und gesamter Grammatik) sie überhaupt hat? Ich halte es eher mit dem letzteren.

Nun kann man sich ja trefflich darüber streiten, wie primitiv oder "komplex" die Sprachen der Jäger und Sammler waren. Aber es spielt doch überhaupt keine Rolle, wann genau die menschliche Sprache den heutigen Wortschatz und Grad an Ausdrucksmöglichkeiten erreichte. Vielleicht war es schon lange vor der Steinzeit, ganz egal! Fest steht doch, daß es irgendwann mit wenigen Tierlauten anfing, mit einer Kommunikation, die völlig zweifelsfrei viel primitiver als die heutigen Sprachen waren, richtig? Nach Wittgenstein korrelieren die Grenzen der Sprache mit denen der Welt, und die baut der Mensch in seiner Geschichte immer mehr aus. Die Sprache wird immer leistungsfähiger.

Also muß es irgendwann eine zwischenmenschliche Verständigung gegeben haben, die schon komplexer als Tierlaute, aber nur halb so komplex wie die heutige war. Jedes Zwischenstadium an Primitivität und Komplexität muß es zwangsläufig gegeben haben, wenn wir den in meinem letzten Beitrag geschilderten Fall ausschließen wollen.

Deshalb ist die allgemeine Frage nach einer "allmählichen Aufwärtsentwicklung" der Sprachen völlig überflüssig, die Antwort darauf selbstverständlich.
 
 

Kommentar von Thedodor Ickler, verfaßt am 20.08.2020 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44152

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36216

Die konstruierte Welt, in der es die "Über"-Beziehung gibt (Aboutness, Referenz...), ist nicht dieselbe wie die, in der es Gehirne gibt, also nicht die physische Welt, die einzige wirkliche.

Wer über Wärme spricht, spricht nicht "eigentlich" über die Brownsche Molekularbewegung. Man kann höchstens sagen, daß sein Sprachverhalten u. a. von der Molekularbewegung gesteuert wird. Das ist aber eine ganz andere Sicht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.08.2020 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44153

Andererseits ist die "konstruierte Welt" keine, die mit der physischen, wirklichen Welt gar nichts zu tun hätte, sondern es gibt eine Entsprechung. Der Mensch versucht, die wirkliche Welt bestmöglich zu erkennen und zu beschreiben. Seine "konstruierte Welt" würde ohne die wirkliche gar nicht existieren, sie hängt von ihr ab.

Deshalb möchte ich hierbei eigentlich nicht von zwei verschiedenen Welten sprechen, sondern davon, daß der Mensch sich ein nicht ganz adäquates Abbild der einen wirklichen Welt schafft. Dieses Abbild wird letztlich auch zum Bestandteil der einen wirklichen Welt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.08.2020 um 18.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44154

Das stimmt natürlich. Auch Mythen über die Entstehung der Welt sind solche Modelle und hängen in der von Ihnen beschriebenen Weise mit der wirklichen Welt zusammen und sind außerdem Teil von dieser. Mehr will ich auch gar nicht sagen. Ich hätte streng genommen nicht von zwei Welten reden sollen, an die ich ja auch gar nicht glaube.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.08.2020 um 07.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44176

„Bei jeder Handlung und jeder Situation greift das Gehirn auf Engramme zurück.“ (Wikipedia) = Das Gehirn ist durch Lernen verändert.

Natürlich verändert sich der Organismus durch Lernen, sonst würde er sich ja danach nicht anders verhalten (wie es zur Definition des Lernens gehört), und insbesondere das Gehirn (wie wir heute wissen). Aber warum sollte man das außerdem noch Gedächtnis nennen? Man kann nachsehen, welche Regionen besonders beteiligt sind, aber „Engramme“ wird man nie finden.

Es geht nicht nur um harmlose Metaphern, sondern um ein verkehrt angelegte Begrifflichkeit und um eingebildetes Wissen (Neurosophie). Wenn man in Wirklichkeit gar nichts Näheres weiß, sollte man es auch nicht so ausdrücken, als wüßte man es.

 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.08.2020 um 13.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44177

Andererseits – wieso sollte man diese Spuren oder Veränderungen im Gehirn nicht Engramme und in ihrer Gesamtheit Gedächtnis nennen?
Wenn etwas existiert, spielt es doch keine Rolle, welchen Namen man ihm gibt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.08.2020 um 18.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44178

Sie haben natürlich meiner Frage in Ihrem letzten Absatz schon vorgebeugt. Aber welches Wissen bildet man sich ein, wenn man ganz allgemein von Reizeindrücken (Engrammen) oder von Gedächtnis spricht? Allgemeiner kann man es m. E. kaum formulieren. Damit ist noch gar nichts über die genaue Funktionsweise des Gedächtnisses gesagt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.08.2020 um 11.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44179

„Die Gesamtheit aller Engramme – es sind Milliarden – ergibt das Gedächtnis.“ (Wikipedia)
Das sind die Milliarden (oder Trilliarden? Egal) Verhaltensweisen, zu denen das Gehirn die Dispositionen enthält. Wozu sollte man dafür den traditionell belasteten Begriff „Engramm“ verwenden? Davon haben die meisten ja auch Abstand genommen. In englischen Eintrag „Engram“ werden Konstrukte wie „deklaratives Gedächtnis“ erwähnt, die aus anderen Gründen kritikwürdig sind. Mit der Engramm-Theorie ist fast immer die Theorie von Repräsentationen o. ä. verbunden, also einer Art Speicherung von enzyklopädischem Wissen. Mit Recht wird in diesem Zusammenhang das „Großmutter-Neuron“ erwähnt, das es natürlich nicht geben kann. (Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36984 und die Fortsetzung.)

Die Fähigkeit, ohne Hinsehen einen Schnürsenkel zu binden; das Umschalten auf Französisch, wenn man einen Franzosen vor sich hat; Ironie richtig zu verstehen; ein Lied spontan zu transponieren – all das sollen Engramme sein. Was bringt es? Man kann danach weder suchen, noch wird man etwas finden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.08.2020 um 13.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44180

Der Hinweis auf eine Anzahl ist überflüssig, denn er suggeriert, man wisse etwas über die Größe oder sogar das Aussehen eines Engramms, oder es sei so etwas wie die kleinste Speichereinheit und die einzelnen Engramme ließen sich gegeneinander abgrenzen und abzählen. Das ist natürlich alles Spekulation. Insofern das Wort Engramm vorbesetzt ist durch so etwas, wäre es schlecht geeignet. Ich würde es (zusammen mit den "Milliarden") höchstens in dem Sinne verstehen, daß der Mensch sehr viel Information verschiedenster Art (Wissen, motorische Fertigkeiten) auf kleinstem Raum speichert, bzw. daß die Speicherung in einer z. Z. noch ganz unbekannten Weise erfolgt, die wir eben noch nichz genauer als mit "Eindrücken" von Reizen (im Sinne der bloßen wörtlichen Bedeutung von "Engramm") beschreiben können.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 26.08.2020 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44190

Forscherinnen und Experten, die sich wissenschaftlich mit dem Weltraum beschäftigen, zweifeln an der Astrologie.
(MM, 24.8.20, S. 5)

Kein ernstzunehmender Wissenschaftler "zweifelt" an Astrologie, sondern alle sagen, daß Astrologie Humbug ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.08.2020 um 17.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44191

Diese faule "Neutralität" hat mich zeitlebens geärgert, sie bereitet auch den Boden, auf dem die "Merchants of doubt" ihre Geschäfte betreiben. Das Schlüsselwort ist "umstritten".
Auch wenn etwas erwiesenermaßen völlig indiskutabel ist, finden diese Leute irgendwo eine Quelle, die es ihnen erlaubt, es "umstritten" zu nennen. Viele Menschen glauben, das sei die wissenschaftliche Methode, aber deren Verfahren, mit Hypothesen zu arbeiten, ist etwas ganz anderes.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.09.2020 um 04.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44264

Die Erkenntnis eines Psychologieprofessors, daß der Mund-Nasen-Schutz die untere Hälfte des Gesichts verdeckt, hat es auf die erste Seite der SZ gebracht. Es ist dort ein wenig anders ausgedrückt, aber das ist der Kern.

Die sichtbar bleibende Augenpartie ist für Mimik nur halb so gut wie der Mund, wer hätte das gedacht! Und was wird aus dem Vermummungsgebot? Die Chinesen arbeiten schon an Gesichtserkennung trotz Maske. Unsere Polizei ist noch nicht so weit, statt dessen nutzt sie die Gästelisten der Restaurants für die Fahndung, die darum zur Hälfte gefälscht sind. Usw., das übliche Wettrüsten der Evolution.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.09.2020 um 06.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44278

„Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebräuchlicher Begriff für die Vorstellung, die jemand vom Wesen des Menschen hat.“ (Wikipedia)
Niemand hat eine Vorstellung vom Wesen des Menschen. Wir haben kein „Menschenbild“, weil die verschiedenen lokalen Problemlösungen nie zu einem System zusammengeführt werden (was weder möglich wäre noch nötig ist). Die Bibliographie zum Wikipedia-Artikel (vermutlich weitgehend von Herrn Fahrenberg) sagt alles! Es ist ein beliebiges Sammelsurium. Das kann nicht anders sein. Auch das Inhaltsverzeichnis von Detlev Ganten (Hg.): Was ist der Mensch? – ein wüstes Durcheinander. Vgl. das Marburger interdisziplinäre Projekt „Menschenbilder“, dort das Verzeichnis der Veröffentlichungen. Jeder tut, was er schon immer getan hat, und bringt es unter den neuen Titel eines geförderten Projekts. Sammelbände belegen, daß Experten verschiedener Fächer aneinander vorbeireden. Das ist auf vielen Gebieten so und hängt mit der Verfügbarkeit von „Projekt“-Mitteln zusammen, kurzatmigen Unternehmungen im Namen der modischen Interdisziplinarität.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.09.2020 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44361

Ich habe die Pupillometrie erwähnt, an die sich Zahavi unkritisch anschließt.
Das Buch von Eckhard H. Hess („Das sprechende Auge“, orig. „The Tell-Tale Eye“) ist ein weiteres Beispiel jener Sorte von populärwissenschaftlichen Werken, die eine wirkliche oder vermeintliche Entdeckung sogleich mit weit ausgreifenden Folgerungen verbinden und sich dabei übernehmen, weil sie allzu viel erklären wollen und dabei die empirischen Grundlagen hinter sich lassen. Die These ist oft mit einem griffigen Schlagwort verbunden und verbreitet sich unter der gebildeten fachfremden Bevölkerung, wo sie sich dann einige Jahrzehnte als vermeintlich unbezweifelbare Wahrheit hält. Die Pupillenreaktion sollte nicht nur die (u. U. verschwiegene, verdrängte) geschlechtliche Orientierung verraten, sondern auch an die Stelle des Lügendetektors treten usw. Die Theorie war – wie der Aggressionstrieb, das Handicap-Prinzip, die Spiegelneuronen, die Mem-Theorie – zu schön, um wahr zu sein. Sieht man einige Zeit später in der Forschungsliteratur nach, was übriggeblieben ist, findet man außer einem Körnchen Wahrheit nicht viel. Die Pupillen weiten sich bei den verschiedensten Anlässen, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Wahrscheinlich ist es die Begleiterscheinung einer anderen unwillkürlichen Reaktion ohne Zeichencharakter. Deutlich wahrnehmbar ist sie ohnehin nur bei den 10 Prozent der Menschen mit hellen Augen (wahrscheinlich ein sehr junges Merkmal).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.09.2020 um 08.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44372

Was sich liebt, das neckt sich. Doch scherzhaftes Necken ist nicht nur bei Verliebten und Freunden üblich. Erste Ansätze dieses Verhaltens finden sich bereits bei Kleinkindern. Jetzt weisen amerikanische und deutsche Anthropologen in einem Übersichtsartikel des Fachblatts Biology Letters darauf hin, dass vergleichbare Aktivitäten auch bei Menschenaffen vorkommen. Das Verhalten könnte sich im Lauf der Evolution als vorteilhaft entwickelt haben, da es soziale Bindungen innerhalb einer Gruppe stärkt. Freundschaftliches Necken setzt komplexe kognitive Fähigkeiten voraus, die es ermöglichen, sich in andere hineinzuversetzen und deren Erwartungen und Reaktionen vorauszusehen. Die Forscher vermuten darin auch einen der Ursprünge des Humors, der damit nicht nur dem Menschen eigen wäre.
"Wir präsentieren Hinweise darauf, dass auch Menschenaffen die drei Formen des spielerischen Neckens praktizieren, die bei Kindern noch vor dem Spracherwerb zu erkennen sind", schreiben die Wissenschaftler um Erica Cartmill von der University of California in Los Angeles. Diese drei Verhaltensweisen sind zum einen das Anbieten und wieder Zurückziehen eines Gegenstands, die provokative Zuwiderhandlung sowie das mutwillige Stören der Tätigkeit eines anderen. Dabei bewegt sich die Aktivität des Handelnden auf einem schmalen Grat zwischen Aggression und Spiel, erzeugt aber positive Emotionen bei beiden Beteiligten.
(SZ 24.9.20)

Aus der Originalarbeit:

Crucially, recent research demonstrated that apes are also capable of ´mind-reading´ abilities that require a simultaneous representation of two conflicting views of the world: one’s own (correct) perspective and the (incorrect) perspective of another individual. Hence, great apes are not only sensitive to what other individuals intend to do and what they know, but they also have some understanding of others’ beliefs, even when these beliefs conflict with reality (also see [77–79] for similar findings on false belief attribution in young children). (https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsbl.2020.0370)

Der metaphorische Charakter dieser Darstellung wird anscheinend gar nicht mehr gesehen, so sehr hat man sich an die kognitivistische Redeweise gewöhnt. Das Ganze wird gleich für die „Theory of mind“ vereinnahmt. Auch Tieren wird eine solche Theorie des Geistes samt Beliefs, Sichhineinversetzen (Perspektivübernahme) usw. zugeschrieben, also kulturell begründete sprachliche Konstrukte bestimmter Menschengruppen. Die objektive Erforschung des Verstellungsverhaltens, dessen Unterart das Necken ist, ist auf dieser Grundlage nicht möglich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.09.2020 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44376

Fortsetzung des vorigen:

Die erste Form des ungemein wichtigen Verstellungsverhaltens ist das Guck-guck-Spiel (Peekaboo; s. Wikipedia zu beidem). Es dient aber nicht dem Einüben der „Objektkonstanz“, wie Piaget und Bruner allzu intellektualistisch meinten, sondern der Bewältigung der Angst vor dem Verlassenwerden. Die Mutter versteckt daher keine beliebigen Gegenstände, sondern sich selbst, sei es auch nur partiell durch Bedecken der eigenen Augen, dann auch der Augen des Säuglings durch ein Tuch usw. Das Kind übernimmt dieses Spiel etwas später. Die Zeit zwischen „Verschwinden“ und Wiederauftauchen darf am Anfang nicht zu lang sein, wächst aber an. Die Erleichterung des Kindes ist sehr deutlich, sie äußert sich in ausgelassener Freude. Auch die Freude an der eigenen Kraft, eine längere Zeitspanne des „Verlassenseins“ auszuhalten, ist zu beobachten. Die Permanenz anderer Gegenstände kommt hinzu, ist aber nicht so wichtig wie die der beiden Personen der ursprünglichen Dyade.
Dieses Spiel schafft, mentalistisch gesprochen, die Zuversicht, daß die Mutter (oder wer auch immer) wiederkommen wird, auch wenn sie im wirklichen Leben, z. B. nach dem Abliefern in der Kita, länger wegbleibt.
Verstellung ist das A und O. Volker Sommer hätte sein Buch nicht „Lob der Lüge“ nennen sollen, sondern „Lob der Verstellung“. Leider wird „pretend play“ usw. heute fast immer mit dem mentalistischen Überbau der Theory of mind, des Mind reading, des False belief usw. befrachtet, was eine objektive Analyse erschwert.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2020 um 04.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44387

Während ich mich als Nichtbiologe und mathematischer Schwachmatikus mit Zahavis Handicap-Prinzip beschäftigte, das ja ein wesentlicher Beitrag zur biologischen Semantik (samt kulturhistorischen Weiterungen) sein will, kamen mir immer mehr Zweifel, vor allem wegen der hochspekulativen und oft unglaubhaften Beispiele. Nun sehe ich, daß jüngst ein besonders gründlicher kritischer Aufsatz erschienen ist, den man lesen sollte, schon weil er auch Alan Grafens Modellrechnungen ins rechte Licht rückt:

https://doi.org/10.1111/brv.12563

John Maynard Smith ist ja verstorben, und ob Richard Dawkins, der sich immerhin nur vorsichtig zustimmend geäußert hatte, sich noch mit der fundamentalen Kritik auseinandersetzen wird, bleibt abzuwarten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.10.2020 um 19.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44416

Ein Zeichen ist etwas, was für etwas anderes steht, auf das es hinweist, das es andeutet oder bedeutet, d. h. im geistigen Prozeß des Auffassenden die Vorstellung oder den Begriff eben jenes anderen hervorruft. (Friedrich Kainz in Gottfried Arnold: Die Sprache und ihre Störungen. Wien, New York 1970:36)

Die Nebensätze hängen alle vom ersten ab, spezifizieren also nur das „Stehen für etwas“. Dieses Hauptmerkmal wird mitsamt seinen – wohl als paraphrasierende Synonymenschar zu verstehenden – Explikationen psychologisch gedeutet als Hervorrufen einer Vorstellung oder eines Begriffs im Geist des Zeichenempfängers. Man darf annehmen, daß die gleiche Vorstellung oder der gleiche Begriff nach dieser Theorie bereits im Geist des Zeichengebers vorhanden war.
Die Auffassung ist also im wesentlichen die gleiche wie schon zur Zeit des Aristoteles (De interpr. 16), nur verunklart durch den begrifflichen Schutt von Jahrtausenden. Für etwas stehen, auf etwas hinweisen, etwas andeuten, etwas bedeuten – das sind ja ganz verschiedene Beziehungen oder Modelle, die man nicht einfach anhäufen kann, als seien sie Umschreibungen desselben Sachverhalts.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.10.2020 um 08.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44580

Statt traditionell zu sagen, Sprache drücke Gedanken, aus, sagt man heute, sie drücke aus oder repräsentiere „thought structures“ - womit man mehr zu sagen scheint, aber in Wirklichkeit weiß man weniger als zuvor. Denn jeder weiß zwar, was Gedanken sind (ein alltagspsychologischer Ausdruck, der zur Geschäftsordnung der Alltagssprache gehört); aber was der künstliche Ausdruck „gedankliche/mentale Strukturen“ (und auch „repräsentieren“) bedeuten könnte, ist mehr als unklar.
Von dieser Art ist vieles in der „kognitiven“ Psychologiie und Linguistik. Nur weil es auf der Spielwiese folgenlos bleibt, wird es kaum kritisiert (vergleichbar theologischen Streitereien, bei denen die Irrelevanz sprichwörtlich ist).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2020 um 04.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44664

Die Evolutions-Neurologie und Experimentelle Archäologie erforschen den Zusammenhang zwischen Werkzeugintelligenz und Sprachursprung. Dazu viele Arbeiten von Dietrich Stout und anderen.

Beim Anfertigen eines schönen Faustkeils beteiligen sich auch einige derselben Hirngebiete wie bei einem Oldowan-Werkzeug. Doch nun ist in der präfrontalen Hirnrinde auch die rechte untere Stirnhirnwindung aktiv.

Weil im Kernspin der Proband stillhalten muß, hat man ersatzweise das Betrachten und innere Nachvollziehen der Werkzeugherstellung im Film genutzt. Zugrunde liegt die Erkenntnis, daß beim Betrachten einer Handlung die gleichen Hirnregionen aktiv sind wie beim tatsächlichen Ausführen:

Und wenn der Film die Anfertigung von Werkzeugen des späten Acheuléen zeigte, war zusätzlich die rechte untere Stirnhirnwindung aktiv.

Das Ganze ist höchst unglaubwürdig. Die Unterschiede zwischen wirklichem Handeln und dessen Beobachtung bei anderen müssen so gering sein, daß sie die Unterschiede zwischen den Durchblutungsmustern bei der Anfertigung von Oldowan- vs. Acheuléen-Faustkeilen nicht zudecken. Das ist sehr unwahrscheinlich. Die wirkliche Ausführung einer Fertigkeit ist in einen übergreifenden Handlungszusammenhang eingebettet und ganz anders motiviert als die experimentelle Nachbildung der bloßen „Topographie“. Der Unterschied ist so groß, daß z. B. Aphatiker ein bestimmtes Wort im Zusammenhang verwenden, aber nicht isoliert aussprechen können (wie Kurt Goldstein gezeigt hat).

Es wird wieder einmal nicht untersucht, wie spezifisch die Erregungsmuster sind – die ja außerdem aus Messungen bei mehreren Personen gemittelt werden. Bei welchen anderen Tätigkeiten bzw. Beobachtungen treten ähnliche Muster auf? (Die Deutung der Pupillenerweiterung durch E. Hess und andere verlor an Glaubwürdigkeit, als man entdeckte, bei wie vielen ganz verschiedenen Gelegenheiten die gleiche Reaktion eintrat.)
Die abgebildeten Hirnregionen mit stärkerer Durchblutung sind vergleichsweise riesig, und wie üblich wird aus den Abbildungen nicht ersichtlich, daß andere Regionen keineswegs unbeteiligt sind, sondern nur minimal weniger angeregt.
Außerdem wird nicht bedacht, daß der Steinzeitmensch die Werkzeuge in einem ganz anderen, für uns nicht mehr rekonstruierbaren Kontext herstellte: andere Motivation, soziale Ordnung, Formen der Anleitung usw., vielleicht eine zugehörige Mythologie und begleitende magische Vorstellungen. (Ein Schwirrholz oder ein Didgeridoo wird handwerklich angefertigt und kann trotzdem mit übernatürlicher Deutung ausgestattet sein. Waffen werden überall auf der Welt „gesegnet“, mit Jagdzauber belegt usw. Die Werkzeugintelligenz ist nicht klar getrennt von der sozialen oder soziomorphen.)
Auf die anatomischen Befunde der Vergrößerung bestimmter Nervenstränge nach einigen Übungsstunden gehe ich nicht noch einmal ein. Es wird angenommen, daß diese individuellen Veränderungen, die natürlich an sich nicht vererbt werden, einen Selektionsdruck ausübten, der dann tatsächlich zu einer erblichen Veränderung in Richtung dieser Anpassung führte: Wer an sich schon die vorteilhaften anatomischen Züge mitbrachte, vererbte sie an die erfolgreichere Nachkommenschaft.

All das ist hoch spekulativ; man denkt an die angeblich vergrößerten Hirnregionen der Londoner Taxifahrer mit und ohne Examen... Es scheint aber kaum Kritik zu geben, die hübschen Bilder von Faustkeilen und Hirnscans füllen populäre Zeitschriften („Spektrum“) und Sonntagszeitungen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2020 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44669

Noch einmal zum Hippocampus von Londoner Taxifahrern:

Ich verstehe so gut wie nichts von Hirnforschung, aber ich sage mir: Wir lernen im Laufe unseres Lebens Millionen von Einzelheiten. Ein gebürtiger Londoner kennt vielleicht nur ein Hunderstel der Straßen(namen), die ein geprüfte Taxifahrer lernen mußte, bevor das Navi aufkam. Aber er kennt natürlich noch viele andere Orte mit anderen Namen und außerdem die Millionen anderen Dinge, Gesichter, Stimmen, Techniken und Gelehrsames. Sollte ein durchgefallener Taxifahrer sich von einem erfolgreich geprüften so stark unterscheiden, daß man anatomische Unterschiede im (winzigen!) Hippocampus messen kann? Außerdem: Die Schädelkapsel wächst nicht mit; wenn einige Nerven wachsen, müssen andere schrumpfen. Welche Defizite zeigt ein Pianist, der 200 Stunden Klaviermusik auswendig spielen kann, oder ein Pandit, der den ganzen Veda samt Kommentaren im Kopf hat? Das müßte sich doch beobachten lassen, wenn man Unterschiede zwischen den Gehirnen von Studenten beobachten kann, die Oldowan-Faustkeile machen können, und solchen, die es bis zu Acheuléen-Faustkeilen gebracht haben.
(Meine Einwände klingen vielleicht so, als wollte ich mich über gewisser Forscher lustig machen, aber das ist nicht meine Schuld; ich karikiere nichts.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2020 um 07.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44710

Bei Aristoteles findet man als selbstverständlichen Hintergrund die These, daß die Welt (= die Dinge) und deren Eindrücke in der Seele (= die Vorstellungen und Begriffe) für alle Menschen dieselben seien, die gesprochenen Wörter dafür und die Schriftzeichen aber je nach Konvention verschieden. Kritiker wiesen darauf hin, daß verschiedene Menschen verschiedene Meinungen über die Dinge haben (so Alexander von Aphrodisias nach Zitaten bei anderen Autoren), aber das ist wahrscheinlich kein Widerspruch, im Gegenteil: Damit man verschiedene Meinungen haben kann, müssen die Begriffe die gleichen sein.
Gar nicht erinnern kann ich mich an Stellen, an denen die Verschiedenheit der Meinungen aus der Verschiedenheit der Sprachen hergeleitet würde, also der Humboldtsche Sprachidealismus. Herodot, der mehr als jeder andere seine Landsleute mit den kuriosen Ansichten und Sitten fremder Völker bekannt machte, hätte am ehesten Gelegenheit gehabt, so etwas zu bedenken, aber er sagt nichts dergleichen, interessiert sich auch nicht besonders für die Sprachen, mit denen er in Berührung kam. Seine Bemerkung über skythische Frauennamen habe ich schon erwähnt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.11.2020 um 14.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44711

(Zur Herstellung eines Faustkeils:)

Nach der Auswahl eines geeigneten Steinbrockens schlug der Steinschläger mit einem anderen Stein kleine Stücke davon ab und löste sorgfältig einen Splitter nach dem anderen ab, bis er eine scharfe Kante erhielt. Dieses Verfahren erforderte Voraussicht und die Fähigkeit zu planen, und mit Hilfe so spärlicher Hinweise lassen sich Rückschlüsse auf die handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten unserer frühen Ahnen gewinnen.
(...)
Warum der Faustkeil so lange das vorherrschende Werkzeug blieb, ist unbekannt (...)

(Knaurs neuer historischer Weltatlas. Augsburg 1999:34, entspricht The Times Atlas of World History)

Mit der Hinzufügung der „intellektuellen Fähigkeiten“ ist nichts gewonnen, denn die bestehen ja in den handwerklichen. Wenn man gelernt hat, wie etwas gemacht wird, braucht man keine Voraussicht oder Planung. Die Hauptsache steckt in dem ungelösten Rätsel, warum die Frühmenschen eine Million Jahre nicht über die primitivste Form eines Werkzeugs hinausgelangten.

(Zu den Frühmenschen von 100.000 bis 10.000:)

Ihren Erfolg verdankten sie ihrer Fähigkeit, sich in ihrer Lebensweise als Jäger und Sammler an unterschiedliche Umgebungen anzupassen. In einigen Regionen gelang die Anpassung so vollkommen, daß ihre Lebensweise sich über Jahrtausende kaum veränderte. (ebd. 35)

Wären sie nicht angepaßt und erfolgreich gewesen, hätten sie nicht überlebt. Ihre Lebensweise änderte sich nicht, obwohl Verbesserungen und Erleichterungen immer möglich sind und dann ja auch irgendwann eintraten. Die Tautologien täuschen über unsere Unwissenheit hinweg.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2020 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44804

Das Phänomen habe ich irgendwo schon besprochen, aber hier ist noch einmal eine schöne literarische Fassung, die ich mal gefunden habe:

Everyone knows the manner in which some specific name will recur several times in quick succession from different quarters; part of that inexplicable magic throughout life that makes us suddenly think of someone before turning a street corner and meeting him, or her, face to face. In the same way, you may be struck, reading a book, by some obscure passage or lines of verse, quoted again, quite unexpectedly, twenty-four hours later. (Anthony Powell)

Gar nicht inexplicable. Wir denken ständig an die verschiedensten Dinge, lesen alles mögliche; es fällt uns aber erst auf, wenn zufällig das gleiche Element kurz darauf ein zweites Mal vorkommt – wie es rein statistisch nicht anders sein kann.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.12.2020 um 18.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44805

Es geht ja nicht um das Zusammentreffen zweier ganz bestimmter Dinge, das wäre wirklich ein großer Zufall, sondern es geht letztlich um ein beliebiges Zusammentreffen. Das ist dann ähnlich wie beim sog. Geburtstagsparadoxon, die Wahrscheinlichkeit irgendeines Zusammentreffens ist viel größer als erwartet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.12.2020 um 05.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44807

Jetzt habe ich es wiedergefunden: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1103#29483

Daß zwei Klassenkameraden am selben Tag Geburtstag haben, ist zwar auch überraschend, aber die Überraschung ist mehr von der lotteriehaften Art. Es geht um eine begrenzte Grundmenge (365 Tage stehen zur Wahl) und ein wenig Arithmetik. Dagegen ist das Auftreten einer Person im erwähnten Fall an sich schon unwahrscheinlich, ebenso der Gedanke an sie, und das Zusammentreffen beider Ereignisse kommt uns astronomisch unwahrscheinlich vor. (Wenn ich an meine Frau denke und sie im nächsten Augenblick die Treppe herunterkommt, habe ich nicht den Eindruck eines wunderbaren Zufalls.) Die Erklärung ist: Wir denken ständig an sehr vieles, und normalerweise folgt nichts Entsprechendes darauf, so daß die einzelnen Episoden sogleich vergessen werden. Aber unter Tausenden, vielleicht Millionen kommt es dann doch mal zu einem wirklichen Zusammentreffen mit dem Gedachten, und erst dann fällt uns etwas auf. Wenn ich 100.000 Seiten lese, stoße ich eben auf einige Stellen, die ich mir so ähnlich auch gedacht habe, zum Beispiel das Zitat aus Powell. Manchmal lese ich ein Wort in genau derselben Sekunde, in der meine Frau es ausspricht. Auch das ist nicht anders zu erwarten, da ich viel lese und meine Frau viel spricht, aber es fällt mir wirklich auf.

Mir geht es also mehr um die Psychologie des Aberglaubens. Das Beispiel mit den Geburtstagen haken wir gewissermaßen nach kurzem Staunen ab, aber es gibt "Zufälle", die einen geradezu schockieren und dann auch zum Aberglauben führen oder einen solchen enorm bestärken können. Ich habe oft Erzählungen von Verwandten und Bekannten gehört, die von solchen Erlebnissen berichteten, über die sie manchmal ein Leben lang nicht hinwegkommen konnten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.12.2020 um 06.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44863

Wie er sich räuspert... Das kann man bei sektenähnlichen „Schulen“ (Adorno, Freud, Heidegger) beobachten, wo die Lehre keine Befreiung vom Jargon überleben würde.

Freud-Schüler René A. Spitz benutzt wie Freud solche Übergangsformeln wie Wir dürfen nun die Behauptung aufstellen... (Nein und Ja 36) Diese Rhetorik trug schon die Freud-Leser von einem Einfall zum nächsten. Das ersetzt nähere Begründungen.

Spitz, der bei Freud selbst eine "Lehranalyse" absolviert hatte und mit dessen Tochter Anna in der Kinderanalyse zusammenarbeitete, geht empirischer vor als Freud, aber die Befunde werden geradezu zwanghaft in dessen hydraulisches Triebmodell eingebaut.

Auch der Orientierungsvorgang im menschlichen Denken erfolgt nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Aber statt der hohen Beträge von Muskelenergie, die für das Handeln notwendig sind, genügt für den Denkvorgang als einem Probehandeln die Verschiebung minimaler Energiebeträge auf den Gedächtnisspuren (Freud, 1911). (Nein und Ja. S. 28)

Solche psychische Energie gibt es nicht, es handelt sich um ein transgressives Konstrukt, eine Fiktion also, deren Nutzen zweifelhaft ist. Modell war vielleicht die (männliche) Erfahrung mit dem Geschlechtsakt und der Refraktärphase danach: als wenn ein Energiespeicher wieder aufgefüllt werden müßte. (Schließlich ist die Psychoanalyse eine Männerphantasie.)
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 16.12.2020 um 01.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44865

"Wie er sich räuspert... "
Worauf nehmen Sie damit Bezug?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.12.2020 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44867

Sie haben ganz recht, mich zart auf die populäre Entstellung des Wallenstein-Zitats aufmerksam zu machen. Richtig hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1507#44213
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2020 um 10.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44870

„Forscherinnen und Forscher“ haben bei Raben das „Verständnis von Mengen, kausaler Zusammenhänge, aber auch die Fähigkeit zum sozialen Lernen, zur Kommunikation und zum Lesen der Absichten anderer Vögel untersucht.“ (Bericht in der SZ vom 18.12.20) Das sind allerdings keine Forschungsgegenstände, sondern Interpretationen der Ergebnisse, ohne Begründung in mentalistische (anthropomorphisierende) Begriffe gekleidet. Nützlicher wäre die objektive Beschreibung des Verhaltens.
In den Berichten fehlt wieder die Vorgeschichte: das Lernen des Umgangs mit „Werkzeugen“ usw.
Außerdem wird wieder das naturgemäß „erstaunliche“ Verhalten der Raben mit dem von Schimpansen und Menschen verglichen, als sei die „Leistung“, also etwa der Umgang mit „Werkzeugen“, über die Arten hinweg immer die gleiche, ohne Berücksichtung der Spezifität. Man hat ja mit Recht gesagt, die Intelligenz eines Raben bestehe darin, sich wie ein Rabe zu verhalten. Wie ist das besondere Verhalten in das sonstige Verhalten und das gesamte Habitat der Spezies einzuordnen? Vögel, die mit ihrem Schnabel Nester bauen, und Affen, die mit Stöckchen Termiten angeln, sind kaum zu vergleichen, auch wenn manche Bewegungen ähnlich aussehen. Um zu zeigen, was Raben „auch schon“ können, zieht man geradezu zwanghaft andere Tierarten heran. "Die Raben können das, was die Menschenaffen erst als ausgewachsene Tiere können, bereits im Alter von vier Monaten." – Ist es wirklich dasselbe?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2020 um 06.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44912

Aus dem Spiel zweier Schimpansenkinder wurde Ernst, so daß ein Eingreifen einer der beiden befreundeten Mütter nötig wurde. Da diese Intervention jedoch die Freundschaft belastet hätte, weckte eine der Mütter in dieser Not ein ranghohes Weibchen, das sie durch Gestik zu einer Intervention bei den Kindern bewegen konnte. In dieses soziale Problem waren 5 Individuen involviert!
(https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/problemloesung/53788)

Die Deutung des Schimpansenverhaltens ist allzu wohlwollend (vermenschlichend): Da diese Intervention jedoch die Freundschaft belastet hätte ... - Was bedeutet „Freundschaft“ zwischen Affen? Kann man das nicht operationalisieren?
Das Ganze soll das Konstrukt „Perspektivübernahme“ belegen. Es fehlen sowohl die Phylogenese des Schimpansenverhaltens als auch die Konditionierungsgeschichte. Welche Reize lassen sich als verhaltenssteuernd identifizieren? Woran erkennt der Beobachter, daß aus Spiel Ernst wurde? Wie haben sich die Kinder verhalten, haben sie geschrien usw.? Worin bestand die Gestik, und führt sie regelmäßig zu einer „Intervention“ (welcher?)? Die Darstellung überträgt das Spielplatzverhalten von Menschenkindern und -eltern auf die Affen, ohne darin ein Problem zu sehen.
Die Motivation wird nebenbei deutlich: In dieses soziale Problem waren 5 Individuen involviert!
Das Ausrufezeichen deutet auf den Wunsch des Verfassers, etwas Erstaunliches, nämlich schon Menschliches, herauszustreichen.
Anekdoten dieser Art bevölkern die traditionelle Literatur über Tierverhalten und sind schwer zu beurteilen, um nicht zu sagen wertlos.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.12.2020 um 12.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44917

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1058#39474 und
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1464#23187 (Bandelow)

"In der Krise übernimmt das Angstgehirn" (Boris Bandelow t-online.de). Dann tun wir so irrationale Dinge wie Klopapier horten. - Aber was ist daran irrational? Das „Angstgehirn“ hat Angstforscher Bandelow natürlich erfunden.

Auch die Philosophen wollen von Corona profitieren:

Die Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP) hat einen Essay-Wettbewerb ausgerufen: »Nachdenken über Corona«. Dieser Band versammelt die Texte der drei Preisträger und die besten Essays aus mehr als 100 Einsendungen. (Reclam 2021)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2021 um 07.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44942

Die Schlafforschung hat festgestellt, daß nächtliche Erektionen in keiner Beziehung zum Inhalt gleichzeitiger Träume stehen. Es scheint sich um rein physiologische Vorgänge zu handeln.

Das schreckt allerdings an Freud geschulte Traumdeuter nicht ab. Wenn ein scheinbar völlig unerotischer Trauminhalt berichtet wird, dann liegt das eben an der Traumarbeit, die einen sexuellen und daher anstößigen Gegenstand umgedeutet hat.

Es bleibt natürlich das Paradox, daß wir Inhalte, die wir tagsüber ungeniert bedenken und besprechen, nachts als unmöglich tabuisieren – als seien wir im Schlaf noch die Viktorianer aus Freuds Jugendzeit.

Die unfreiwillige Komik der Psychoanalyse wird selten genutzt, Couch-Witzen zum Trotz. Der gravitätische Stil des Meisters scheint immer noch nachzuwirken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2021 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44944

Obwohl wir kein nennenswertes Fell mehr haben, das sich bei Bedarf respekteinflößend sträuben könnte, erleben wir in der Gänsehaut noch die Tätigkeit der Muskelfasern an den Haarbälgen – ein Atavismus. Öfter erleben wir die Verwendung des sprachlichen Atavismus haarsträubend. Es gibt Berichte, wonach Menschen in Extremsituationen buchstäblich die Haare zu Berge standen.
Dagegen ist der Familienname Straubhaar (samt Varianten) auf eine dauerhafte Eigenschaft zurückzuführen, die den Übernamen ergeben hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.01.2021 um 06.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44947

Ereignisse wie Berufswechsel usw. werden zuerst im Hippocampus verarbeitet und teilweise gespeichert, dann an die Großhirnrinde weitergeleitet usw. – so ähnlich steht es in der SZ. Der übliche Unsinn. Der Peloponnesische Krieg wird wahrscheinlich in anderen Hirnregionen verarbeitet als der Dreißigjährige Krieg. Noch nie hat man beobachtet, daß zwei verschiedene Gegenstände genau gleiche Ergebnisse im Hirnscan verursachen. Das schließt die Methode praktisch aus.

Das Gehirn kann Biopics und Wirklichkeit nicht trennen (FAS 3.1.21). Auch wenn man den Hirnforscher Güntürkün zitiert, wird daraus keine neurologische Einsicht, es bleibt modisches Neurobabble.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.01.2021 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#44956

Zum Babbeln (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=877#23786)

MacNeilage hat immer wieder auf die grundlegende Rolle des Babbelns hingewiesen, das alle Menschenkinder, nicht aber Affen spontan zeigen. Es besteht aus einer rhythmischen, silbisch wirkenden Abfolge von Verschluß und Öffnung, etwa nach dem Muster bababa. Da es vorsprachlich ist, kann man noch nicht im phonologischen Sinn von Konsonant-Vokal-Folge sprechen, aber rein lautphysiologisch läuft es darauf hinaus. Das Kind artikuliert keineswegs alle erdenklichen Laute sämtlicher Sprachen, wie Roman Jakobson ohne eigene Beobachtungsgrundlage postulierte, sondern ein sehr beschränktes Muster. Anscheinend baut aber die von den Erwachsenen erlernte Sprache nicht unmittelbar auf diesem frühen Verhaltensmuster auf. Seine Funktion bleibt unklar.

Der Silbenrhythmus ist möglicherweise im Dienste einer besseren Erkennbarkeit der "zweifachen Gliederung" (Martinet) der Sprache entwickelt. Eine Melodie ohne Takt wäre nicht nur schlechter erkennbar, sondern würde auch bei der Weitergabe alsbald bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Das