02.11.2014


Odilia Hiller

Schraib wasdu hörst

Das Schreiben nach Gehör hat sich in der Unterstufe längst durchgesetzt. Kritiker meinen, vor allem auf Kosten der Rechtschreibung. Eine Trendwende findet aber statt.

Ihr Sohn geht in die vierte Klasse. «Er kann noch keinen geraden Satz schreiben», sagt die Mutter aus Appenzell Ausserrhoden. Ein Vater aus St. Gallen sagt: «Ich traue meinen Augen jeweils nicht, wie die Texte meines Sohnes aussehen. Er schreibt kreuz und quer.» Solche Aussagen von Eltern von Primarschulkindern sind immer wieder zu hören. Sie befürchten, dass ihre Kinder in der Schule falsche Schreibweisen einüben, weil die Lehrer «nichts mehr» korrigierten. Dass zum Zeitpunkt, wo den Kindern endlich jemand sagt, wie man ein Wort richtig schreibt, diese bereits verinnerlicht haben, dass es nicht so darauf ankommt, ob man dieses so oder anders schreibt. Wer liegt richtig, die besorgten Eltern oder die «grosszügigen» Lehrer? Wie steht es um den Stellenwert der Rechtschreibung in der Primarschule?

Anfangs herzig, später falsch

Die meisten angefragten Fachleute geben Entwarnung – fast, aber nicht ganz. Der Schreibunterricht, wie er heute an vielen Ostschweizer Primarschulen praktiziert wird, setzt seit gut zwei Jahrzehnten vor allem anfangs stark auf das Schreiben nach Gehör. Dass dies richtig sei, daran zweifeln weder der Schulamtsleiter des Kantons Appenzell Ausserrhoden noch zwei Fachdidaktiker der Pädagogischen Hochschulen St. Gallen und Thurgau. Am Anfang ihrer Schreibkarriere lernen die Primarschüler also nicht Wortbilder oder Regeln, die sie dann richtig anwenden müssen, sondern sie üben, auf gesprochene Wörter und Sätze zu hören und diese anschliessend mit Hilfe der gelernten Buchstaben «lautgetreu zu verschriftlichen». Das Resultat sind die bekannten chaotischen Schriftbilder, die anfangs als «herzig», später als kreuzfalsch gelten. Dies soll der natürlichen Entwicklung der Kinder entgegenkommen und ihre Kreativität fördern. Anstatt aus Angst vor dem Rotstift nur ein paar wenige Wörter zu verwenden, die sie sicher kennen, sollen sie relativ früh kurze Texte schreiben und einen umso breiteren Wortschatz anwenden. Der Haken: Nicht für alle Kinder scheint diese Methode gleich gut geeignet.

«Ich hatte auch Kinder in der Primarschule und musste erst umdenken», sagt Walter Klauser, Leiter des Amtes für Volksschule des Kantons Appenzell Ausserrhoden. «Es braucht etwas Mut – auch von den Eltern – etwas stehen zu lassen. Man muss es aushalten können.» Die Freude am Schreiben bleibe so aber tatsächlich vielen Schülern erhalten. An den Aufsätzen sei klar ersichtlich, dass der Wortschatz breiter geworden sei, wie Studien belegten. Das seien gegenüber früher klare Erfolge. «Die Kinder können heute viel schneller Inhalte und Botschaften aufschreiben als früher.» Doch dürfe dies selbstverständlich nicht auf Kosten der Rechtschreibung gehen. «Hier müssen wir künftig einen besonderen Akzent setzen. Wir müssen diesen Lernzielbereich mit den Lehrern nochmals gut anschauen.»

Denn der Befund unter Schulabgängern zeigt ebenfalls: Während die stärkeren Schüler im Durchschnitt insgesamt gleich gut oder besser schreiben als früher, ist die Schreibkompetenz gerade bei Kindern aus bildungsfernen Schichten oder Migrantenkindern am Ende der Schulzeit häufig katastrophal. «Auch ich erschrecke manchmal, wenn ich Texte von Schülern der Brückenangebote am Ende der obligatorischen Schulzeit sehe», sagt Klauser.

Vier- bis fünfmal pro Woche trainieren

Angesichts der breiten Streuung innerhalb der Klassen stellt sich die Frage, ob das freie Schreiben nach Gehör für alle Schüler nur ein Segen ist. «Die Lehrer dürfen nicht vergessen, einfache Rechtschreibregeln schon ab der 2. Klasse einzuführen», sagt Marco Bachmann, Leiter des Fachbereichs Deutsch und Leiter Berufseinführung an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Das Ziel der Schulausbildung bleibe, orthographisch korrekt zu schreiben. «Doch wie im Zeichnen oder Sport handelt es sich dabei um einen Lernprozess, der verschiedene Stadien durchläuft.» Neuere Lehrmittel führten heute schon während der 1. Klasse erste Rechtschreibmuster ein. «Vor allem schwächere Schüler brauchen Strukturen, Instruktion und Training», sagt Bachmann. Für sie genüge es häufig nicht, erst in der 3. Klasse schwer begreifliche Rechtschreibregeln einzuführen. Dass in einem immer praller gefüllten Stundenplan jedoch genug Zeit bleibe, mit den schwächeren Kindern möglichst vier- bis fünfmal pro Woche grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten zu trainieren, sei eine der grossen Herausforderungen des jetzigen Schulsystems. Unter den Lehrkräften sei das Bewusstsein dafür aber zunehmend wieder vorhanden. «Die Trendwende zurück zur vertieften und differenzierten Beachtung der Rechtschreibförderung ist bereits vollzogen.» Zum Umdenken hätten auch die Resultate der Pisa-Studien geführt: «Es gab in der Schweiz zu viele Jugendliche, welche die Schule ohne das notwendige Rüstzeug für die Arbeitswelt verliessen.»

«Eltern ausreichend informieren»

Christian Thommen, Studienbereichsleiter Sprachen an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, ist für das phonetische Schreiben – als dosiert eingesetzte Zwischenphase eines Entwicklungsmodells. Er hat ein gewisses Verständnis für die Verunsicherung bei manchen Eltern angesichts der jahrelangen Schreibabenteuer ihrer Kinder. Das Problem ortet er jedoch nicht in der Methode, die – richtig angewendet – dem individuellen Entwicklungsstand eines jeden Kindes Rechnung trage.

Viel wichtiger sei, dass die Schulen und Lehrkräfte die Eltern ausreichend aufklärten, was es damit auf sich habe. «Die Verwendung von Rechtschreibstrategien ist die letzte Stufe einer Entwicklung, die jedes Kind in unterschiedlichem Tempo durchläuft», sagt Thommen. Auf diesem Weg gelte es, beim Schreibenlernen die Balance zu finden zwischen der Förderung der Schreibfreude und dem Korrigieren – und zwar bei jedem Kind. Dass es nicht angehe, für jedes Kind einer Klasse ein eigenes Lernprogramm aufzustellen, sei auch klar. «Es ist aber relativ einfach festzustellen, welchen Lernstand ein Kind hat. Dementsprechend können die Lehrkräfte Gruppen bilden.» Es sei nicht auszuschliessen, dass man nach dem Enthusiasmus der 1980er- und 1990er-Jahre für das freie Schreiben ohne Eingriffe in manchen Schulzimmern etwas zu wenig auf die Form geachtet habe. «Üben an der Form ist heute aber wieder von Anfang an ein Thema.»





Lehrpläne – Der Geist der Neunziger

Im Thurgauer Lehrplan für die Primarschule aus dem Jahr 1996 – überarbeitet im Jahr 2006 – steht im Kapitel Deutsch unter «Didaktische Bemerkungen» einiges zu lesen, was noch den Geist der 1980er- und 1990er-Jahre atmet, als man vom früheren Drill wegkommen wollte:
«Beim Schreiben für Adressaten und Adressatinnen ist die Rechtschreibung von besonderer Bedeutung. Das kann so weit führen, dass sie für wichtiger angesehen wird als der Inhalt. Diesen Eindruck darf der Deutschunterricht bei den Schülern und Schülerinnen nicht hervorrufen. Schreiben ist wichtiger als die Rechtschreibung. Rechtschreibung stellt lediglich einen Teilaspekt des Schreibens dar. Die Rechtschreibung bildet ein sehr komplexes und teilweise in sich widersprüchliches System, in dem nur sehr wenige Regeln ohne Einschränkung gelten. Die Lernenden eignen es sich im Laufe der Zeit beim Schreiben und insbesondere beim Lesen vor allem unbewusst an. Dieser Lernprozess sollte durch Individualisierung behutsam gefördert werden. Klassendiktate sind dabei kaum eine förderliche Übungsform. Wichtig sind dagegen der Ansporn und das Erlernen von Techniken, Hilfsmittel wie Wörterbücher usw. zu gebrauchen. Bereits auf der Mittelstufe, vor allem jedoch auf der Oberstufe, ist darauf Wert zu legen, dass Schüler und Schülerinnen mit ihren individuellen Rechtschreibproblemen umgehen lernen. Eine günstige Voraussetzung für das Rechtschreiblernen ist es, wenn Schüler und Schülerinnen Texte für Leser und Leserinnen schreiben können und wollen und dabei wissen, dass Rechtschreibfehler die Wirkung ihres Textes stören können.»

Im Lehrplan 21, der zurzeit überarbeitet wird, heisst es neu:
«Fehler treten sowohl in Deutsch wie beim Fremdsprachenlernen auf und sollen für den Erwerbsprozess genutzt werden. Differenziertes Korrekturverhalten passt sich den unterschiedlichen Lernsituationen an. Wo es um die Förderung des Sprechflusses geht, werden Fehler zurückhaltend korrigiert, für die korrekte Sprachverwendung sind hingegen gezielte Korrekturen nötig.»
(oh)





«Das Üben ist Sache der Schule»

Stefan Stirnemann, Kantonsschullehrer und Gründungsmitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz, zum «groben Unsinn» des Schreibens nach Gehör.

Herr Stirnemann, was halten Sie von der gängigen Methode, Primarschulkinder anfangs phonetisch, also nach Gehör, schreiben zu lassen?

Stefan Stirnemann: Ich halte das für groben Unsinn. Das Stichwort lautet beim Schreiben «Übung». Nur mit Ausdauer und Wiederholung können Kinder sich Schreibweisen einprägen. Dem wird in der Primarschule viel zu wenig Rechnung getragen. Es ist eine Bevormundung, Kindern Informationen vorzuenthalten unter dem Vorwand, sie müssten sich entwickeln.

Sie würden also schon von Anfang an Fehler korrigieren?

Stirnemann: Das Problem ist, dass man mit dem Schreiben nach Gehör erst einmal eine künstliche Welt schafft. Eine Art Paralleluniversum, wo es nicht darauf ankommt, wie etwas geschrieben wird. Ich halte es für wichtig, dass die Schule von Anfang an sagt, was richtig und was falsch ist. Das heisst ja nicht, dass man einen Schüler k. o. schlägt, wenn er einen Fehler macht. Es geht heute zu oft vergessen, dass es den Kindern Sicherheit gibt, zu wissen, wie etwas richtig ist.

Sehen Sie eine Gefahr, dass Fehler sich eingraben?

Stirnemann: Natürlich. Und wenn Fehler, wie bei extremen Formen dieses Vorgehens, erst ab der dritten Klasse korrigiert werden, führt das bei den Schülern zu noch grösserer Verunsicherung. Plötzlich ist alles falsch, was sie zuvor richtig gemacht haben.

Verfechter der Methode des freien Schreibens sagen, im Sport oder Zeichnen erwarte man auch nicht von Anfang an Meisterleistungen. Genauso müsse der Schreibprozess reifen.

Stirnemann: Ja, das muss er. Aber in der Mathematik hört man auch nicht auf mit dem Korrigieren falscher Rechnungen, weil der Schüler sich erst entwickeln muss. Falsch ist falsch. In der Rechtschreibung gilt das gleiche.

Hat sich die Rechtschreibkompetenz in den letzten Jahren verschlechtert?

Stirnemann: Als Leser beobachte ich eine gewisse Verwahrlosung. Viele Zeitungen und Verlage investieren nicht mehr wie früher in diesen Bereich. Als Lehrer sehe ich, dass mehr Schüler Mühe haben mit der Gross- und Kleinschreibung. Die verunglückte Rechtschreibreform verunsichert zudem nicht nur die Schüler, sondern beispielsweise auch mich.

Ist es nicht pingelig und altmodisch, wenn man auf korrektem Deutsch beharrt?

Stirnemann: Die deutsche Sprache, und damit auch die Orthographie, ist ein Weltkulturerbe, das es zu erhalten gilt. Die Rechtschreibung wurde ja nicht erfunden, um Schüler damit zu belästigen, sondern damit die Menschen sich gegenseitig verstehen. Man schreibt immer für den Empfänger, nicht für sich selbst.


Quelle: Ostschweiz am Sonntag
Link: http://www.ostschweiz-am-sonntag.ch/ostschweiz-am-sonntag/thema/Schraib-wasdu-hoerst;art304168,4008007

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