05.08.2012


Martin Helg

Rettet das Komma!

Noch nie wussten weniger Sprachteilnehmer Bescheid, wo ein Komma zu setzen ist und wo nicht. Das ist nicht nur ein Verlust an Verständlichkeit. Es ist ein zivilisatorischer Rückschritt.

Wozu Kommas? Sie quälen doch nur die Menschen, welche nicht wissen, wohin mit ihnen; und jene, die sich über solche Unwissenheit ärgern. Vorbei sind die Zeiten, als jeder Grundschüler die Strichlein zielsicher in seinen Aufsätzen placierte. Heute foutieren sich selbst Literaturwissenschafter und Journalisten um Kommaregeln. In Doktorarbeiten liest man Sätze wie: «Mit der Entdeckung Amerikas, war Kolumbus am Ziel seiner Träume.» Liebe Leserin, lieber Leser, finden Sie auch, es braucht hier kein Komma? Ihre Empfindlichkeit in Ehren. Aber Sie tun gut daran, sich gegenüber solchen Details grösstmöglicher Toleranz zu befleissigen.

Denn der Niedergang der Komma-Kultur hat vermutlich erst begonnen. Je weiter sich die Alltagskommunikation ins Reich der Blogs und sozialen Netzwerke verlagert, desto liederlicher wird unser Umgang mit Rechtschreibung im Allgemeinen und den Kommaregeln im Besonderen; nicht aus Unvermögen, sondern aus der Absicht heraus, auf Tasten einen ähnlichen Ton anzuschlagen wie früher am Telefon. Eine verschriftlichte Form von Mündlichkeit
soll Familiarität erzeugen, und zu ihren Erkennungsmerkmalen gehören gewollte Fehler (wie beispielsweise auch die Marotte, alles klein zu schreiben): Sie stellen die Persönlichkeit des Verfassers demonstrativ über die Normen der Sprachhüter.

So weit die positive Sicht. Negativ ist zu bemerken, dass der orthographische Freistil mit Minimalismus einhergeht. Selbst wer regelmässig für die Öffentlichkeit schreibt, überlässt seine Komma-Wirtschaft heute gern dem Korrektorat. Geschenkt worden sind einem die Regeln noch nie, und die jüngeren Rechtschreibreformen haben sie nicht überschaubarer gemacht – dies lässt zumindest das Faltblatt vermuten, das kürzlich im Pons-Verlag unter dem verheissungsvollen Titel «Kommasetzung auf einen Blick» erschienen ist. Sechs randvoll beschriebene A4-Seiten zeigen, dass die Komma-Zauberformel noch nicht gefunden ist und lernwillige Sprachteilnehmer sich weiterhin mit Details und Spezialfällen herumschlagen müssen: «Kein Komma wird gesetzt, wenn die Infinitivgruppe mit dem übergeordneten Satz verschränkt ist. In einem solchen Satz stehen die zum Infinitiv gehörenden Wörter von ihm getrennt.»

Benutzerfreundlich ist an dem Pons-Faltblatt vor allem die regenfeste Kunststoffbeschichtung. Sie täuscht darüber hinweg, dass es inhaltlich einer Windfahne gleicht. Es mag ja schon immer auch sogenannte fakultative Kommas gegeben haben. Aber ein Regelwerk, das es in ungefähr einem Drittel seiner Beispielfälle dem Leser überlässt, ob er ein Komma setzen möchte oder nicht, untergräbt seinen didaktischen Anspruch. Je tiefer man sich in die Beispiele versenkt, desto dringender wird der Wunsch nach Oberlehrer-Klartext.

Wie viel wirkungsmächtiger waren Kommas doch noch vor wenigen Jahrzehnten! Umsichtig gesetzt, garantierten sie gute Deutschnoten. Noch ein paar Jährchen früher spielten sie eine Schlüsselrolle in der Wissensvermittlung. Nachdem eigenbrötlerische Mönche ihre Weisheit jahrhundertelang als Herrschaftsmittel gehortet und in Form von unleserlichen Satzbandwürmern in ihren Büchern verschlossen hatten, begannen sie im 12. Jahrhundert, das Gebot der Nächstenliebe ernst zu nehmen und ihre Sätze mit Wortabständen und Satzzeichen zu gliedern. Damit öffneten sie ihr Wissen auch Laien, die sich lesend den Kommas entlangzuhangeln verstanden.

Heute können wir uns mit bescheidenerem Aufwand anhand von Bildern informieren – auch viele Bücher bestehen ja mittlerweile aus Piktogrammen. Wozu also noch Kommas? Musikliebhaber mögen sie als Taktgeber schätzen, Stilpäpste preisen ihren Wiedererkennungswert als Statussymbol, der jenem der Krawattenlänge gleicht oder des auf die richtige Höhe gefüllten Rotweinglases. So ist das Komma, seit es nicht mehr als Selbstverständlichkeit gilt, zu einer Art Charakter-Steckbrief geworden – wobei der Leser entscheidet, ob es nun Spiessertum signalisiert oder lobenswerte Prinzipienfestigkeit.

Der Umgang mit dem Satzzeichen ist mittlerweile derart ästhetisiert, dass dessen Grundaufgabe vergessen geht: Kommas gliedern Sätze grammatikalisch und verbessern damit deren Verständlichkeit. Wie fundamental diese Funktion sein kann, haben Lehrer anhand eines Satzes illustriert, mit dem ein König über das Schicksal eines festgenommenen Raubritters gerichtet haben soll: «Wartet nicht köpfen!» Der Satz ist ohne Satzzeichen zweideutig. Ein Komma muss her, und es wird hier über Leben und Tod entscheiden: Steht es vor dem Wort «nicht», überlebt der Raubritter; steht es dahinter, stirbt er.

Kein Regelkompendium kann die Frage beantworten, wo dieses Komma nun hingehört. Aber es geht hier um etwas anderes – um eine Haltung nämlich, die uns heutigen Sprachteilnehmern oft fehlt. Der König, der seine Kommas nach bestem Wissen und Gewissen setzt, fordert nicht einfach, dass die Welt ihn gefälligst zu verstehen habe. Sondern er hilft ihr auch dabei.


NZZ am Sonntag, 5. August 2012, Seite 67



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