27.06.2009


Neue Rechtschreibung: Politik soll Notbremse ziehen

SOK befürchtet rechtliche Unsicherheit

Nach den Sommerferien gilt alte Rechtschreibung in Aufsätzen als Fehler. Sprachpuristen wollen das um jeden Preis verhindern. Sie befürchten eine Klageflut gegen Schulen und Lehrer.

Ab dem 1. August ist die Schonzeit vorbei. Schüler, für die «Gämsen» immer noch «Gemsen» sind, die Schifffahrt bloss mit einem Doppel-f schreiben oder nicht kapieren wollen, dass man «hinaufgehen» zusammenschreibt, müssen bei der Bewertung eines Aufsatzes mit Abstrichen rechnen. Denn die neue Orthografie wird notenwirksam.

Damit endet in den Schweizer Schulen eine Korrekturtoleranz, die man während dreier Jahre hat walten lassen. Die Lehrer konnten Fehler, die gegen die neuen Regeln der Rechtschreibung verstiessen, mit Rotstift markieren, durften sie aber nicht bewerten. Diese Übergangsfrist hatte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) festgelegt.

Vieles bleibt unklar

Allerdings: Auch nach dem 1. August bleibt in den Schulstuben vieles unklar, denn das vom Rat der deutschen Rechtschreibung 1996 beschlossene und zweimal überarbeitete Regelwerk ist keineswegs kongruent. So macht der neue Schülerduden beispielsweise keinen Unterschied, ob ein Schriftsteller «wohlbekannt» oder aber «wohl bekannt» ist. Dass heisst, das Nachschlagewerk akzeptiert ohne Differenzierung sowohl die Zusammen- als auch die Getrenntschreibung – obwohl der Schriftsteller im ersten Fall «sehr bekannt», im zweiten aber bloss «vermutlich bekannt» ist. Kommt hinzu, dass der «Wahrig», das vom Bertelsmann-Verlag herausgegebene Wörterbuch, in zahlreichen Fällen vom Duden abweicht.

Warnung vor Gerichtsklagen

Handelt es sich dabei bloss um Spitzfindigkeiten? Keineswegs, findet die Schweizer Orthografische Konferenz (SOK). Der private Verein, dem namhafte Sprachwissenschaftler, Vertreter des Presse- und Verlagswesens sowie Politiker angehören, schlägt Alarm. Er befürchtet in den Schulen ein grosses Chaos. Schlimmer noch: Es werde schlicht nicht möglich sein, die Rechtschreibung notenrelevant zu prüfen – mit der Folge, dass es bei Aufnahme- und Abschlussprüfungen zu Gerichtsklagen kommen werde.

Die SOK ruft deshalb Bund und Kantone auf, die Einführung der Notenwirksamkeit zu verschieben. Während des Moratoriums sollen alle herkömmlichen Schreibweisen wieder anerkannt und soll das Regelwerk nochmals überarbeitet werden. «Uns geht es vor allem darum, die Schüler zu schützen», sagt Stefan Stirnemann, SOK-Gründungsmitglied und Lateinlehrer an einem Gymnasium im Kanton St. Gallen.

Doch bei den kantonalen Erziehungsdirektoren stösst der Aufruf auf Unverständnis. Die SOK-Experten bewegten sich offenbar in einem Umfeld, das wenig mit dem schulischen Alltag zu tun habe, sagt Bernhard Pulver, Berner Regierungsrat und EDK-Vorstandsmitglied. «Die neue Rechtschreibung gehört definitiv nicht zu den Sorgen der Schule. Sie ist schlicht kein Thema.» Zudem hätten sich die Schüler längst an die neuen Regeln gewöhnt. «Wir sehen keinen Handlungsbedarf.»

Messerstechen der Experten

«Es gibt aus der Schulpraxis null Problemmeldungen», sagt auch Anton Strittmatter vom Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer.

Die Pädagogen kämpften vielmehr mit der Eintrichterung elementarster Rechtschreibregeln – «etwa damit, dass man einen Satz mit Grossbuchstaben beginnt oder Tunnel mit Doppel-n schreibt». Die Befürchtung der SOK, dass es wegen der neuen Rechtschreibung bei Promotionsentscheiden zu Rekursen komme, ist für Strittmatter «realitätsfremd». Erst recht nichts hält er von der Forderung nach einem Moratorium, zumal die Sprachwissenschaftler «in ihrem universitären Eitelkeitsturm» selber zerstritten seien: «Das Messerstechen unter Experten würde von neuem losgehen, eine bessere Lösung käme nicht zustande.»

«Nicht dramatisieren!», lautet auch fast unisono der Kommentar an den Gymnasien. Die Rechtschreibung habe auf die Gesamtbewertung der Schülerleistung «einen verschwindend kleinen Einfluss», sagt Regula Keller, Vorsteherin der Fachschaft Deutsch an der Kantonsschule Glarus. Dass Orthografiefehler rekursrelevant sein würden, kann sie sich schlicht nicht vorstellen, denn bei Schüleraufsätzen gingen im Schnitt bloss zwei Fehler pro A4-Seite auf das Konto der neuen Rechtschreibung.

Bundesrat soll intervenieren

Dennoch beschäftigt das Moratorium jetzt auch das eidgenössische Parlament. Die nationalrätliche Bildungskommission will an ihrer Sitzung vom 20. August eine Anhörung durchführen. Das Anliegen eingebracht hatte SVP-Nationalrat Oskar Freysinger, selber SOK-Mitglied und Deutschlehrer an einem Walliser Gymnasium. Ziel des Hearings sei es, einen Bericht zuhanden des Bundesrates zu erarbeiten, sagt Freysinger: «Dieser soll dann das Moratorium rückwirkend verfügen.» Ob der Bundesrat dazu die Kompetenz hätte, ist allerdings fraglich, zumal die Volks- und Mittelschulen der Hoheit der Kantone unterliegen.

Korrigiert Lehrer Freysinger Deutschaufsätze seiner Schüler, so verzichtet er bei orthografischen Zweifelsfällen schon heute lieber gleich ganz auf den Rotstift. «Sonst kommt der Schüler mit einem Wörterbuch, das seiner Version prompt Recht gibt.» Diese Praxis werde er «angesichts des riesigen Durcheinanders» notgedrungen auch nach dem 1. August weiterführen. Notenrelevanz hin oder her.

Quelle: Basler Zeitung
Link: http://bazonline.ch/schweiz/standard/Neue-Rechtschreibung-Politik-soll-Notbremse-ziehen/story/14439458

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