08.08.2004


Häme, Hysterie und Triumphgefühle

Georg Klein mahnt zur Mäßigung

Der Schriftsteller Georg Klein zählt sich zu den Gewinnern (nicht den Siegern). Die Reformgegner sollten sich nun aber maßvoll verhalten.
In seinem Beitrag heißt es:

Wenn meine Frau und ich in den zurückliegenden Jahren die öffentliche Debatte verfolgten, freuten wir uns oft über die vielen klugen Leserbriefe an die großen Zeitungen. Da waren sie, die engagierten Eltern und Pädagogen, die wissen, was es heißt, verantwortlich und verantwortungsbewußt mit geschriebener Sprache umzugehen. Menschen, die täglich mit Kindern an Texten saßen, sahen die Ärgerlichkeit der fruchtlosen Veränderungen, sie hatten aber auch das Augenmaß für die Begrenztheit des Unfugs, der da verlangt wurde. Es ging ja gottseidank immer nur um Orthographie, um das graphische Gewand unserer Sprache, an dem recht ungeschickt herumgeschneidert wurde. Die mißratene Rechtschreibreform schien uns eine glückende Öffentlichkeit gefunden zu haben und an der richtigen Stelle zu scheitern.

Merkwürdigerweise waren es aber oft die Schriftsteller, die das Maß verfehlten, und gleich das ganze Deutsch bedroht, den Leib unserer Sprache von den unnötigen Neuschreibungen regelrecht geschändet sahen. Einen Höhepunkt hysterischer Aufgeregtheit setzte vor zwei Wochen Hans Magnus Enzensberger, der von „einer Mafia“ sprach, die sich „zusammengerottet“ habe, „um mit der deutschen Sprache gründlich aufzuräumen.“ Weit schlimmer als die fahrlässige Gleichsetzung der Orthographie mit dem Gesamtorganismus unserer Sprache ist dabei die Art, wie Enzensberger sprachlich mit seinem Gegner umgeht.

Der Schriftsteller Enzensberger nennt die Kultusminister, die die Neuregelung beschlossen haben, unter anderem einen „Kreis von Legasthenikern“. Vermutlich hat der Kollege schon den einen oder anderen Kultusminister kennengelernt. Aber weiß er auch, wie die Menschen mit einer ernstlichen Lese- und Schreibschwäche, die sogenannten Legastheniker, um ihre Teilhabe an unseren Textwelten kämpfen? Wer jetzt den Legastheniker und die Legasthenie zum Schimpfwort und zum Kampfbegriff der Debatte macht, sagt wohl mehr über das eigene Sprachgefühl und über die eigene Sprachverantwortung als über das Sprachvermögen seiner Opponenten.

„Staatlich verordnete Legasthenie“, so haben wir es dann am Freitagabend aus dem Mund des „Spiegel“-Chefredakteurs Stefan Aust in der Tagesschau wiedergehört. Wie nennt man diese rethorischen Verfahren, die das unverschuldete Handicap einer Minderheit dazu benutzen, um bei der Mehrheit auf billige Weise eine fixe Zustimmung für die eigene Position abzuzocken?

Wie gesagt, es wäre eigentlich schön, zu den Gewinnern zu gehören!

Ich bin unverändert für eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung. Aber es geht weiterhin nur um eine Frage von begrenzter Bedeutung. Häme, Hysterie und Triumphgefühle sind dabei völlig fehl am Platze. Wie wir das eine oder andere Wort schreiben werden, dies ist eine unserer kleineren, unserer billigeren Nöte. Weit größere Veränderungen stehen der deutschen Gesellschaft ins Haus. Und wir können von Glück reden, wenn sie den Charakter von freimütig diskutierten und staatlich geregelten Reformen haben werden. Denn weit tiefere Schluchten drohen in der deutschen Bevölkerung aufzubrechen, als der kleine Graben, der sich zwischen Schreibreform-Gegnern und Befürwortern aufgetan hat. Populismus aber – auch in den weniger wichtigen Fragen! – ist wahrlich das letzte, was wir zur Zeit öffentlich einüben sollten.

Quelle: Der Tagesspiegel
Link: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/08.08.2004/1290363.asp

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http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=62