17.05.2009


Rudolf Wachter

Die Gämsen tun uns Leid

„Seit 2004 ist fast allen klar, dass die deutsche Rechtschreibreform von 1996 gescheitert ist.“

Am 1. August 2009 wird die Rechtschreibreform an Schweizer Schulen verbindlich. Das Regelwerk steckt voller Widersprüche, das Chaos ist perfekt. Eine radikale Umkehr tut not, schreibt Rudolf Wachter.

«Ach, hör mir bloss auf mit der Rechtschreibung! Die Probleme der Sprachkompetenz liegen heute ganz woanders!» Solche Stimmen, gerade in Lehrerkreisen oft zu hören, haben nicht ganz unrecht. Doch die Rechtschreibreform von 1996, von der Sprachgemeinschaft nie akzeptiert, aber von der Politik zum Gesetz erhoben, hat ein jämmerliches Chaos angerichtet. Und das heute gültige amtliche Regelwerk 2006, das der seit 2004 tätige «Rat für deutsche Rechtschreibung» ausgearbeitet hat, hat die Situation nicht verbessert: Denn anstatt die begangenen Fehler einzugestehen und zurückzunehmen, hat man sich fast durchgängig darauf beschränkt, die bewährte, herkömmliche Schreibung als «Variante» neben der neuen wieder zu erlauben. Überdies sind in der Eile Inkonsequenzen und Fehler passiert. So hat man vergessen, jedesmal wieder zu erlauben (wie ein paarmal, das nie verboten gewesen war). Ein Lehrer müsste seinen Schülern jedesmal jedesmal als Fehler anstreichen, obwohl ihre (und seine) Eltern, Gross- und Urgrosseltern nur so geschrieben haben!

Immer wieder wird beschwichtigend betont, das durch Reform und Variantentrick entstandene Chaos betreffe ja nur wenige Wörter pro Seite Text. Das ist richtig, entscheidend ist aber, dass es die Anything-goes-Mentalität der Sprache gegenüber stark gefördert hat. Andere sagen: «Ist es nicht schön, wenn sich die Leute mit so einfachen Mitteln wie dem Unterschied Spaghetti / Spagetti, heute morgen / heute Morgen, ohne weiteres / ohne Weiteres, selbständig / selbstständig als eher konservativ oder eher fortschrittlich outen können?» Ja, wenn dem so wäre!

In Wirklichkeit ist die Freude am Neuen der Reform längst verflogen. Viele halten die «fortschrittlichen» Reformschreiber heute eher für xenophobe Fremdsprachenmuffel (Spadschetti) bzw. für Sprachbanausen, die nicht einmal zwischen einem Adverb (heute morgen) und einem echten Substantiv (der heutige Morgen) unterscheiden können. Die sogenannt «Konservativen» aber hält kaum einer für konservativ. Spaghetti, heute morgen, ohne weiteres, selbständig: Was soll denn daran so besonders sein? Das haben wir doch immer so geschrieben und lesen es jeden Tag! Konservativ sind diese herkömmlichen Schreibungen schon gar nicht! Leicht verstaubt sind im Gegenteil die, die ohne Weiteres schreiben, sie sind nämlich tief ins 19. Jahrhundert zurückgefallen; modern ist ohne weiteres mit seiner eleganten, weltläufigen Kleinschreibung. Und selbstständig ist eine altertümelnde Form, die, weil sie kaum aussprechbar ist, vor Jahrzehnten aufgegeben wurde; ihre Wiederbelebung durch die Reform war vollkommen unnötig.

Stolpersteine

Es ist inzwischen deutlich absehbar: Die herkömmliche Schreibung wird in den meisten Fällen die normale bleiben! Denn die Bibliotheken, die sich heute in digitalisierter Form auf unsere Bildschirme drängen, sind voll davon, und die einigermassen unabhängig denkenden Printmedien haben sich die Neuschreibungen höchstens zu einem ganz kleinen Teil zu eigen gemacht. Sogar im Internet sind notleidend und fleischfressend siebenmal häufiger zusammen- als getrennt geschrieben. Aber es herrscht eine enorme Verunsicherung. Ich vergleiche die heutige Rechtschreibung gern mit der schmutzigen Fensterscheibe eines Bergrestaurants, die den Blick auf das schöne Alpenpanorama trübt. Wir wollen doch beim Lesen nicht permanent über Schreibungen stolpern, die unsere Aufmerksamkeit vom Textinhalt ablenken! Orthographische Varianten, Inkonsequenzen oder gar «wilde» Kreationen, die einem seit der Reform sehr viel häufiger begegnen als vorher, tun aber genau das. Schreibungen wie leicht zu Hand haben oder beim Rad fahren, grösst mögliche, hell blau, Vorsichts halber, Bank Angestellter kommen im Internet, in Mails und im Chat tausendfach vor. Da dürfte sogar den überzeugtesten Reformern ein kalter Schauer über den Rücken laufen! Denn vor der Reform wäre niemand auf die Idee solcher Schreibungen gekommen.

Die Reform war in vielen Punkten unnötig oder sogar verfehlt, und ihr 2004 an die Hand genommener Rückbau durch Schaffung der Varianten war mutlos und für die Sache zusätzlich fatal. Sogar die wenigen ganz zurückgenommenen Dummheiten der Reform sind kaum mehr auszurotten, wie es tut mir Leid (leid ist hier ein Adjektiv, deshalb kann sehr, ausserordentlich usw. davor stehen). Und den Vogel abgeschossen hat Johanna Wanka, die ehemalige Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz, die im Januar 2006 in einem Interview mit dem «Spiegel» einräumte: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Wo um Himmels willen sollen wir in diesem mutlosen Nichtstun Staatsräson entdecken?

Die Reformer wollten den Schulkindern das Schreiben erleichtern. Sie haben das genaue Gegenteil erreicht, und zwar gleich bei der ganzen schreibenden und lesenden Bevölkerung: Heute weiss fast niemand mehr, was gestattet ist und was nicht. Es gibt zahllose Haus- und Privatorthographien. Die kommerziellen Wörterbücher wie Duden und Wahrig ziehen aus dem Regelwerk, was sie wollen, jedes wieder anders, keines in sich konsistent, aber beide grossmehrheitlich reformtreu. Paradoxerweise gilt dasselbe auch für die Schulen und ihre Lehrmittel. Zudem kursieren da viele überholte Lehrmittel mit Schreibungen, die gar nicht mehr gelten, zum Beispiel eben es tut mir Leid.

Damit erweist der Staat seiner jungen Generation einen Bärendienst. Es ist zwar begreiflich, dass man den Lehrkräften nicht zumuten will, alle paar Jahre wieder eine neue neue Rechtschreibung lernen und lehren zu müssen. Aber Nichtstun ist noch schädlicher: Aufwändig beispielsweise hat sich nicht einmal im Internet (42%) gegen aufwendig (58%) durchgesetzt, ebensowenig die Selbstständigen (28%) gegen die Selbständigen (72%), und eine Species rara ist auch die Gämse (31%), obwohl Gemse (69%) nach wie vor verboten ist. Man lässt die Schülerinnen und Schüler also bewusst ins Abseits laufen, indem man sie die selteneren Schreibungen lernen lässt und ihnen beibringt, die beliebteren seien falsch. Das zeigt, dass die Reforminitiatoren und -anhänger nach wie vor krampfhaft versuchen, ihr künstliches Geschöpf am Leben zu erhalten. Es ist jetzt höchste Zeit, dieses Experiment abzubrechen. Wir müssen so rasch wie möglich wieder zu einer sprachrichtigen und einheitlichen, kurz: zu einer unauffälligen Rechtschreibung für alle zurückfinden. Fensterputzer, an die Arbeit!

Vorschlag zur Güte

Vor allem müssen wir einen Weg hinaus aus der Variantenflut finden. Am 1. August 2009 endet an den Schweizer Schulen die Korrekturtoleranz. Alle Bereiche der Reform werden dann verbindlich. Darauf sind die Schulen in keiner Weise vorbereitet. Die einzige sinnvolle Massnahme ist ein gesamtschweizerisches Moratorium. Die herkömmlichen Schreibungen müssen unverzüglich wieder freigegeben, und ihrer von Wörterbüchern und Lehrmitteln willkürlich vorgenommenen Diskriminierung zugunsten der Reformschreibungen muss Einhalt geboten werden. Die Lehrerinnen und Lehrer werden unendlich erleichtert sein, für die strittigen Dinge eine Zeitlang keine Fehler mehr anstreichen zu müssen! Nach einiger Zeit können dann ganz unvoreingenommen die Mehrheitsverhältnisse festgestellt und mit Blick auf langfristige Tendenzen, Sprachrichtigkeit und Konsistenz Empfehlungen ausgegeben werden.

Einen praxistauglichen Vorschlag hat seit 2006 die Schweizer Orthographische Konferenz (www.sok.ch) ausgearbeitet, ausgehend von der umsichtigen Rechtschreibung der NZZ. Der wichtigste Grundsatz der SOK-Empfehlungen lautet: «Bei Varianten die herkömmliche». Das heisst, wenn unter den im Regelwerk 2006 gestatteten Varianten eine herkömmliche Schreibung ist, wird diese empfohlen.

Dazu gibt es Präzisierungen, Zusätze und Ausnahmen. Diesen Vorschlag haben im letzten Jahr die Chefredaktorenkonferenz und der Verband Schweizer Presse geprüft und sich zu eigen gemacht. Nach und nach schwenken nun die Zeitungen und Zeitschriften in der Schweiz auf die Empfehlungen der SOK ein, die auch von der Schweizerischen Depeschenagentur seit längerem befolgt werden und bereits auch weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse erregt haben.

Die Vorteile einer einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung im Pressewesen liegen auf der Hand. Die SOK ist eine private Institution ausschliesslich ehrenamtlich tätiger Sprachfreunde. So haben ihre Mitglieder grösstmögliche Unabhängigkeit, sind aber gleichzeitig zu einer objektiven, von allen nachvollziehbaren Argumentationsweise gezwungen. Nur ein völlig transparentes Vorgehen kann zu einem Weg aus dem Schlamassel führen. Dass die SOK dadurch von Zeit zu Zeit auch einmal gegen eine Mauer anrennt, nimmt sie mit Humor auf, etwa wenn die Schulbuchverlage erklären, sie würden ja gerne, aber sie könnten nicht, da ihnen der Staat sonst ihre Bücher nicht mehr abkaufe. Oder wenn sie Lehrmittel analysiert, zum Beispiel den neuesten «Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung» (2008) der Bundeskanzlei, und die Autoren freundlich auf die zahlreichen Irrtümer aufmerksam machen möchte. Aber die Mauern werden laufend weniger, und viel häufiger erntet die SOK freudigen Zuspruch und tritt durch weit offene Türen.

Rudolf Wachter ist Professor für historische Sprachwissenschaft an den Universitäten Basel und Lausanne.



Chaos in der Rechtschreibung

Seit 2004 ist fast allen klar, dass die deutsche Rechtschreibreform von 1996 gescheitert ist. Anstatt sie zurückzunehmen, hat man sie 2006 mit der Freigabe unzähliger Varianten ins Kraut schiessen lassen. Die jetzige Situation ist zutiefst unbefriedigend. Nun, da das Flickwerk verbindlich wird, zeigt die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) einen realistischen Weg zu einer neuen einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung. Dieser kann nur über eine radikale Liberalisierung der strittigen Schreibungen führen, insbesondere in Schule und Verwaltung. Rudolf Wachter

Quelle: NZZ
Link: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_gaemsen_tun_uns_leid_1.2569797.html

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
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