16.02.2009


Um der Freiheit willen

Der Althistoriker Christian Meier wird achtzig

Das neue Buch von Christian Meier ("Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?") ist selbstverständlich in herkömmlicher Rechtschreibung erschienen. Eine Würdigung von Uwe Justus Wenzel.

Des Menschen Leben, glaubte der Dichter, sei nur insofern etwas wert, als es «eine Folge» habe. Christian Meier, der seinen Goethe noch kennt, zitiert ihn mit diesem Diktum in der Einleitung zu einer Sammlung von Essays über Geschichte und Politik. Sie ist vor acht Jahren erschienen und trägt den sofort einleuchtenden Titel: «Das Verschwinden der Gegenwart». Der Althistoriker, der sich dem Ansinnen der Zeitdiagnostik nicht verschliesst, ist allerdings geneigt, Goethe zu widersprechen. Ihm wolle inzwischen «die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise mehr einleuchten»: die menschliche Selbstermahnung nämlich, «diesen Ort» doch bitte so zu verlassen, wie man ihn vorgefunden habe.

Es wird Christian Meier, das kann man getrost voraussagen, nicht so schnell gelingen, sein Wirken in der Republik der Gelehrten und der gebildeten Öffentlichkeit ungeschehen zu machen. Pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag, den er am heutigen Montag begehen kann, hat der aus Pommern Stammende ein neues Buch vorgelegt – eines, das das Verschwinden der Gegenwart ein wenig aufzuhalten vermöchte, indem es deren Vor- und Frühgeschichte zum Thema macht: die «griechischen Anfänge», die zugleich den «Anfang Europas» markieren. Zwar ist der Untertitel, der beide Anfänge zusammenbringt, mit einem Fragezeichen versehen. Doch die Frage, das wird spätestens bei der Lektüre der Studie klar, suggeriert keineswegs ein Nein als Antwort. Es ist lediglich Vorsicht, die der skeptische Wissenschafter von Berufs wegen walten lässt.

Europa, lesen wir gegen Ende des ersten Kapitels, das die Frage nach dem Anfang aufwirft, habe keinerlei Anlass, andere Kulturen geringzuschätzen. Gleichwohl aber sei schwerlich von der Hand zu weisen, dass es so etwas wie einen Sonderweg «eingeschlagen und über weite Strecken zurückgelegt» habe. Der hinwiederum habe sein prägendes Präludium bei den Griechen gehabt – bei jener vergleichsweise überschaubaren Gruppe von Gemeinwesen, die, anders als alle anderen bis dato, eine Kultur nicht um der Herrschaft, sondern – trotz Sklaverei – «um der Freiheit willen» ausgebildet hätten. Kurz: Das antike Griechenland habe weltgeschichtlich einen Neuanfang gemacht. An diesem Urteil, so Meier, vermöge auch die gewachsene Kenntnis von den griechischen «Übernahmen aus dem Orient» nichts Grundsätzliches zu ändern. Diese Kenntnis schlägt sich in dem Buch deutlich nieder. Sie verdankt sich übrigens nicht erst der Debatte, die Raoul Schrotts phantasievolle Thesen zu Herkunft und Identität Homers vor einem guten Jahr auslöste; Christian Meier hat dazu (in dieser Zeitung) mit einem erhellenden Essay Stellung genommen.

Das Geburtstagsgeschenk, das er sich und seinen Lesern gemacht hat, ist in gewisser Weise eine Vorveröffentlichung. Es handelt sich, wie der Autor in einem Nachwort verrät, um die beiden ersten von insgesamt sieben Kapiteln, aus denen der lange schon im Rahmen von Siedlers «Geschichte Europas» angekündigte Band «Die alte Welt» dereinst bestehen soll. Meier knüpft thematisch an die Studien an, die er vor bald dreissig Jahren unter dem Titel «Die Entstehung des Politischen bei den Griechen» hat erscheinen lassen. Von Europa war damals wenig die Rede und von Freiheit expressis verbis auch nicht so viel. Neben «dem Politischen», das in den siebziger Jahren Erde und Luft, Wasser und Feuer als gewissermassen fünftes ontologisches Grundelement ergänzte, war «Demokratie» das Signalwort der Stunde. Im Schibboleth «Europa» schwingt dies alles selbstredend auch noch mit, aber es hat doch einen stärker identitätspolitischen Einschlag. Demokratie und Freiheit haben, obgleich sie ins Universelle zielen, einen Herkunftsort.

Die Lebensform, für die «Europa» stehen mag, hat in Christian Meier einen ebenso besonnenen wie hintersinnigen – der Ironie zugetanen – Verteidiger gefunden. Da er allerdings bezweifelt, dass die Historie noch ohne weiteres die Lehrmeisterin des Lebens sein könne, schlüpft der Althistoriker auch in andere Rollen, um für jene Lebensform eine Lanze zu brechen. So zumindest liesse sich verstehen, dass er sich in seiner Amtszeit als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vehement gegen die Unsinnigkeiten der (bisher letzten) Rechtschreibreform wandte. Ob dieses Engagement ganz ohne Folgen geblieben sein wird, wie es zunächst erscheinen könnte, wird erst die Zukunft, die Geschichte also, zeigen.

Quelle: NZZ
Link: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/um_der_freiheit_willen_1.2009384.html

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