01.04.2008


Das Tagblatt der Zukunft

Tip(p)s vom «klugscheisser.ch»-Team

Die jungen Merker des St. Galler Tagblattes wenden sich gegen die „Vorgaben der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK)“.

Die neusten Leserzahlen sprechen Klartext: 15 000 Leser hat das Tagblatt im letzten Halbjahr laut Medienanalyse der Wemf verloren. Ganz anders die Gratiszeitungen: Sie legten wieder kräftig zu. Gerade Jugendliche informieren sich heute meist bei «20 Minuten» und Co. – Bezahlzeitungen wie das Tagblatt werden jedoch immer weniger gelesen.

Wie soll das Tagblatt dieser Entwicklung begegnen? Hat das Tagblatt so längerfristig eine Zukunft? Wir sind überzeugt: Ja, das Tagblatt könnte auch im Zeitalter der Gratiszeitungen wieder neue Leser gewinnen und seine Position als Tageszeitung der Ostschweiz verteidigen. Aber nur, wenn bald grundlegende Änderungen vorgenommen werden. Und diese müssen weit über die bisherigen Faceliftings hinausgehen!

Deshalb blicken wir in diesem Merker für einmal nicht zurück, sondern voraus. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie das Tagblatt der Zukunft aussehen könnte.

Tagblatt muss schrumpfen

Eines der grössten Probleme des Tagblatts ist für uns sein Format. Wer morgens mit Bus oder Zug unterwegs ist, kennt das Problem: Es ist eine echte Herausforderung, das Tagblatt zu lesen, wenn links und rechts jemand sitzt. Kein Wunder, lesen die meisten Pendler lieber die handlicheren Gratiszeitungen im Tabloid-Format. Wir wünschen uns auch das Tagblatt in einem kleineren Format.

Doch wäre das Tagblatt nach einem Wechsel zum Tabloid-Format noch von den Pendlerzeitungen zu unterscheiden? Ja! Das hat es diesen Monat selbst bewiesen. Am 7. März erschien eine 40seitige Beilage zu den St. Galler Regierungs- und Kantonsratswahlen (siehe Bild). Diese wurde im Tabloid-Format und im gewohnten Tagblatt-Design gedruckt. Die Beilage wirkte seriös, war aber im Gegensatz zum eigentlichen Tagblatt sehr handlich!

Turnverein und Männerchor

Aber nicht nur das Äussere des Tagblatts muss sich ändern, auch inhaltlich muss es neue Wege gehen. Heute versuchen die Redaktoren häufig einen schier unmöglichen Spagat zwischen amtlichem Publikationsorgan und grosser Tageszeitung zu machen. Häufig kommt das Tagblatt deshalb wie ein Gemischtwarenladen daher.

Ein Beispiel: Die Lokalteile der kleineren Gebiete berichten immer wieder über die Hauptversammlungen von Vereinen. «Neues Logo für den MV Rheineck» (4. März), Männerchor Waldkirch: «Vizepräsident wird Präsident» (25. März), Turnerinnen Andwil: «Sechs fleissige und vier neue Turnerinnen» (25. März) – so die Schlagzeilen. Im Lokalteil der Stadt St. Gallen sind solche Meldungen nie zu finden. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso die Hauptversammlung der Andwiler Turnerinnen ins Blatt kommt, die HV eines St. Galler Turnvereins jedoch nicht.

Oder ein anderes Beispiel: Am 4. März erschien auf der Lokalseite «st. gallen und umgebung» der Artikel «Politik statt Sonntagszopf». Dieser handelte von einem ungleichen Ehepaar: Die Frau politisiert bei der CVP, ihr Mann bei der SVP – und beide kandidierten sie für den St. Galler Kantonsrat. Eine witzige und aussergewöhnliche Geschichte. Völlig unverständlich, dass sie auf «St. Gallen und Umgebung» versteckt wurde. Eine solche Geschichte interessiert in der ganzen Ostschweiz.

Zu den Gewichtungsproblemen kommt es, weil auf den Lokalredaktionen zum Teil sehr unterschiedliche Mentalitäten herrschen. Es gibt keine einheitliche Themengewichtung, und für verschiedene Redaktionen gelten offenbar unterschiedliche Qualitätsstandards. Jede Redaktion funktioniert wie ein eigener Mikrokosmos. Eine Zusammenarbeit findet kaum bis gar nicht statt. Das Tagblatt bräuchte dringend eine Instanz, die die Arbeit der Lokalredaktionen kontrollieren und koordinieren würde.

Lokalredaktionen nutzen

Auch sonst müssten die Lokalredaktionen besser eingebunden werden. Es erstaunt immer wieder, dass die kleinen Internet- und Gratiszeitungen oft bessere und spannendere Geschichten recherchieren als das grosse Tagblatt. So druckte das Tagblatt zum Beispiel am 28. März eine Meldung der Kantonspolizei über einen Mann, der in Oberbüren illegal Reifen im Wald entsorgt hatte. Die «20 Minuten»-Redaktion machte mehr aus der Geschichte: Sie fand heraus, dass der Täter dank einer Nonne überführt werden konnte. Gerade bei solchen Geschichten wäre das Tagblatt eigentlich im Vorteil: Mit seinen Lokalredaktionen ist es in der ganzen Ostschweiz viel besser vertreten als die kleinen Medien, die meist nur eine einzige Ostschweizer Redaktion haben. Die Tagblatt-Redaktoren müssen wieder öfters selbst recherchieren und mehr miteinander zusammenarbeiten – nur so kommen spannendere Geschichten ins Blatt.

Ein Durcheinander

Beim Tagblatt der Zukunft sollte auch die Seiteneinteilung überarbeitet werden. Zum Beispiel beim Sport. Heute finden sich nicht nur im «sport»-Bund Wettkampfberichte. Auch in den Lokalbünden tauchen immer wieder Sport-Seiten über das regionale Sportgeschehen auf. Diese Seiten gehören zum restlichen Sport!

Auch Kulturinteressierte haben's nicht leicht. Die Berichte zu Kultur-Themen verteilt das Tagblatt sogar auf drei Bünde: Im «wirtschaft & kultur»-Teil wird über grössere Kulturthemen geschrieben, im «region»-Bund gibt's jeweils eine Seite zum lokalen Kultur-Geschehen, und die neusten Kinofilme werden jeweils in der Wochenagenda im Bund «sport» vorgestellt. Wobei der Leser auch hier nicht immer sicher sein kann, alle Filme zu finden: Grössere Filme schaffen es manchmal auch, im «wirtschaft & kultur»-Teil erwähnt zu werden.

Informationen ins Netz

Um junge Leser abzuholen, muss das Tagblatt aber auch noch an einem ganz anderen Ort ansetzen. Die Zeitung muss besser mit dem Internet verknüpft werden. Bis anhin werden nur die Texte aus der Zeitung auf die Tagblatt-Homepage übernommen. Dabei könnte das Tagblatt mit einem besseren Internetauftritt viele Punkte holen: Es könnte Hintergrund- und Zusatzinformationen im Internet bereitstellen. Zum Beispiel könnten weitere Fotos zu einem Thema, die nicht gedruckt wurden, im Internet publiziert werden. Oder die Beiträge von Tele Ostschweiz und Radio aktuell könnten zu den jeweiligen Themen verlinkt werden. Ohne grossen Aufwand könnte das Tagblatt hier ein multimediales Internetportal aufbauen. Und das ist längst überfällig. Denn: Andere Zeitungen sind dem Tagblatt hier einen Schritt voraus.

Neue alte Rechtschreibung

Und noch etwas sollte sich beim Tagblatt der Zukunft dringend ändern: Nach dem jahrelangen Hin und Her um die neue Rechtschreibung hat das Tagblatt aus unserer Sicht einen Schritt zurück gemacht. Neuerdings hält sich das Tagblatt nämlich nicht mehr an die neue Rechtschreibung, sondern befolgt die Vorgaben der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK). So ist ein «Tipp» im Tagblatt beispielsweise plötzlich nur noch ein «Tip». Das verwirrt uns junge Leser, die in der Schule die neue Rechtschreibung lernen müssen. Falsch geschrieben wird sonst schon genug – da brauchen wir nicht auch noch eine eigene Tagblatt-Rechtschreibung!

Übersichtlicher und spannender

Für das Tagblatt gibt es viel zu tun, wenn es im immer härteren Lesermarkt bestehen will. Wir jungen Leser wollen eine übersichtliche, multimediale und vor allem spannendere Zeitung. Wenn es das Tagblatt dorthin schafft, wird hoffentlich auch der Leserschwund aufhören.

Das «klugscheisser.ch»-Team

redaktion@klugscheisser.ch

Link: http://www.tagblatt.ch/tagblatt-alt/tagblattheute/hb/eserbriefe/tb-fm/art823,220816

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