22.07.2006


Dankwart Guratzsch

Dudens verblichenes Erbe

Heute erscheint der neue Duden. Von seiner früheren Autorität ist nicht viel geblieben. Das traditionsreiche Wörterbuch ist heute nur noch ein Periodikum.

Blickt man in Zeitungen, E-Mails, Briefe und Bücher, so scheint er so nötig wie noch nie. Millionen Mitteleuropäer müßten ihn herbeisehnen wie ein Glas Wasser in der Wüste: den neuen Duden. Heute legt ihn das Bibliographische Institut & F.A. Brockhaus in Mannheim vor. Die neue, 24. Auflage des Dudens soll uns endgültig von allen Gewissensqualen befreien und lehren, wie wir tunlichst zu schreiben haben.

Tatsache ist aber: Von seiner einstigen Autorität ist der Duden von heute weit entfernt. Seit Einführung der neuen Rechtschreibung vor zehn Jahren ist es bereits der vierte, der das Licht der Welt erblickt. Das traditionsreiche Wörterbuch der deutschen Sprache ist zu einem Periodikum, zu einer Art Zeitschrift geworden. Und das zeigt besser als alles andere an, was aus dem hohen Kulturgut der Schriftsprache geworden ist. Eine "Reform der Reform" jagt die nächste, weil mit immer neuen, zum Teil alten Schreibweisen nachgebessert werden muß, was Kommissionen und Kultusminister, deren Namen schon niemand mehr kennt, mit der Rechtschreibreform angerichtet haben.

Nach dem Spruch der Bundesrichter in Karlsruhe von 1997 gilt die neue Rechtschreibung ohnehin nur für Schüler und Behörden. Deshalb behalten zum Ärgernis der Duden-Redaktion auch frühere Ausgaben dieses Buches mit älteren oder inzwischen wieder abgeschafften neuen Schreibweisen ihre uneingeschränkte Gültigkeit. Neben dem Duden geben gleich mehrere andere Verlage ebenfalls ständig eigene Wörterbücher des Deutschen heraus, die in Einzelheiten voneinander abweichen, zuletzt der Wissen Media Verlag Gütersloh/München, der dem neuen Duden mit dem nicht minder neuen Wahrig (1216 Seiten, 14,95 Euro) noch rasch zuvorgekommen ist. Neben all diesen untereinander variierenden Wörterbüchern der neuen Rechtschreibung liegen seit 2000 mit dem "Ickler" auch wieder Neuausgaben der alten Rechtschreibung vor, die - wie es auf dem Titeleinband heißt - "die normale deutsche Rechtschreibung" anbieten (Reichl; Leibniz-Verlag, 18 Euro).

Was unterscheidet nun den "neuen" Duden von seinen Konkurrenten? Die Duden-Redaktion selbst erklärt dazu: "In allen Fällen, in denen die neue deutsche Rechtschreibung für ein Wort mehrere Schreibweisen zuläßt, gibt der Duden erstmals eine Empfehlung." Ein Satz, der so verblüffend wie falsch ist. Ist denn der Duden nicht von A-Z nur Empfehlung? Und hatte der Verlag nicht schon einmal, vor exakt 103 Jahren, mit dem "Buchdruckerduden" ein Rechtschreibwörterbuch vorgelegt, "in dem die Varianten auf je eine Schreibweise reduziert" worden waren?

Das jetzt als neue Errungenschaft gepriesene neueste Empfehlungswesen zeigt auf niederschmetternde Weise, was das Resultat der Rechtschreibreform ist: Die Bemühungen um eine "Vereinheitlichung der deutschen Schreibung" sind um mehr als hundert Jahre zurückgeworfen. Schuld daran ist der neue deutsche Rechtschreibrat, ein 36köpfiges Mammutgremium unter Leitung des früheren bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair, der eine unübersehbare Menge neuer Varianten in die Rechtschreibung eingeführt hat. Dafür gibt es einen einzigen banalen Grund: Er konnte sich nicht dazu durchringen, in Zweifelsfällen der neuen Rechtschreibung ohne Wenn und Aber zu bewährten alten Schreibweisen zurückzukehren.

Blickt man auf die Geschichte des Dudens zurück, so ragt die Gestalt seines Schöpfers heute wie ein Monument empor, dem unsere Zeit nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen vermag. 1880 brachte der in Wesel geborene Hersfelder Gymnasiallehrer mit dem Rauschebart sein Werk unter dem Titel "Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" beim Verlag Bibliographisches Institut in Leipzig heraus. Das Verdienst ist bis heute beispiellos. Einem einzelnen Mann gelang es, das Ergebnis mehrerer Rechtschreibkonferenzen auf allgemeinverständliche Formeln zu bringen. Dabei orientierte er sich an Adalbert Falk, Preußens Kultusminister unter Bismarck, der es abgelehnt hatte, eine neue Orthographie am grünen Tisch zu ersinnen und über die Schulen durchzusetzen. Maßgebend sollte der "Schreib- und Druckgebrauch außerhalb der Schule" sein - also das, was die Linguisten heute den "Sprachusus" nennen.

Bis zur Einführung der Rechtschreibreform in unserer Zeit wurde dies zum Erfolgsprinzip des Dudens. Nachdem mit dem "Buchdruckerduden" der Variantenwildwuchs ausgemerzt war, glich die Redaktion ihr Wörterbuch in immer neuen Auflagen dem sich ständig entwickelnden "Schreibusus" an. In 116 Jahren erschienen 20 aktualisierte Auflagen - seit der Rechtschreibreform haben sich die Abstände halbiert. Und die Sprach- und Schriftgemeinschaft der Deutschen, welche die Einheitlichkeit der Schreibungen selbst über 40 Jahre deutsche Teilung hinübergerettet hatte, ist auf den Stand von vor 1903 zurückgefallen.

Welche Abweichungen und Korrekturen sich gegenüber dem Vorgängerduden auftun, ist bis zum Erscheinen des Neulings geheim. An einigen von Duden-Chef Matthias Wermke vorab mitgeteilten Beispielen aber wird deutlich, daß die Redaktion dabei offenbar mehr Mut bewiesen hat als Zehetmairs Quasselbude. Bei "Spaghetti" und der Großschreibung von "Du" und "Dein" in Briefen kehrt sie ostentativ zur früheren Schreibweise zurück. Zur Begründung führt Wermke an erster Stelle den Sprachgebrauch an, "wie ihn die Duden-Redaktion beobachtet". Nähme er diesen Gesichtspunkt freilich so ernst wie sein großer Vorgänger Konrad Duden, müßte er den Spuk der neuen Rechtschreibung augenblicklich beenden. Die Mehrheit der Deutschen schreibt unverändert nach bewährtem "Usus", wie ihn der weiland so zuverlässige Duden noch vor zehn Jahren ganz ohne 36 neunmalkluge Köpfe in preußischer Pflichttreue und Exaktheit zu ermitteln und zur Anwendung zu empfehlen wußte.

Die Welt, 22. 7. 2006



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