01.03.2006


Horst Haider Munske

Variantensalat: Warum die Reform der Rechtschreibreform scheitert

Am morgigen Donnerstag werden unsere Kultusminister wohl ihr Plazet geben zu einer ersten Revision der Rechtschreibreform.

Fast zehn Jahre nach deren Einführung wird sie in vielen Punkten korrigiert, gleichzeitig aber, nun ein Reformtorso mit abgeschlagener Nase, endgültig an allen deutschen Schulen als die einzig richtige Schreibung angeordnet.

Darüber kommt keine Freude auf, keine Genugtuung bei den Kritikern, denen der Rat für Rechtschreibung schließlich in vielen Punkten recht gegeben hat, und kein Triumph bei den Reformvertretern, die ihr Werk nur mit Hängen und Würgen über die Runden gebracht haben. Nur eines teilen alle: die Ermattung über die lange Debatte und die Frustration über die Schreibverwirrung in den Schulen und in vielen Publikationen. Denn auch das ist schon gewiß: die lange Nachwirkung uneinheitlicher Schreibungen in Schul- und Jugendbüchern, in belletristischer und in Sachliteratur, vor allem aber in den langlebigen Wörterbüchern und Lexika deutscher Sprache. Dieser Schaden ist nicht mehr gutzumachen.

Viele fragen sich heute: Wie konnte es bloß zu einer derartigen Beschädigung einer bewährten Norm kommen? Wer hat diese Reform eigentlich gewollt, wer hat sie so gewollt? Und mancher wird heute sagen: Was schert mich überhaupt die Rechtschreibung, das macht mein Computer. Hat am Ende die Digitalisierung unserer Kommunikation die hehren Motive der Rechtschreibreformer obsolet gemacht?

Ein Rückblick ist nötig, um einen Ausblick auf die zukünftigen Aufgaben zu ermöglichen. Zwei Fragen drängen sich dabei auf: Warum fand und findet diese Reform so wenig Zustimmung bei den Betroffenen? Warum wurde sie deshalb nicht schon in den Anfängen korrigiert oder besser noch gänzlich aufgegeben? Liegt es an einer generellen Reformunfähigkeit unserer Gesellschaft? Sind die Fachleute schuld, oder wurden die Falschen gefragt? Ist es ideologische Verbohrtheit oder politische Unfähigkeit? Oder liegt es einfach am Phänomen Sprache? Einfache Antworten können hier nicht befriedigen. Denn weder kann man den beteiligten Kultusbeamten und ihren vorarbeitenden Sprachwissenschaftlern bösartige Absichten unterstellen noch ihre zahlreichen Kritiker als Oppositionsrabauken verteufeln.

Zunächst muß man den Konflikt in der Sache und im Verfahren auseinanderhalten. In der Sache gelten folgende Erfahrungen: In den großen und traditionsreichen Sprachen Europas, im Englischen, Französischen und Deutschen, sind bisher alle Rechtschreibreformversuche am Widerstand der Betroffenen gescheitert. Mit der tradierten Orthographie verbindet sich das Bewußtsein kultureller Identität, deren Verletzung heftigste Reaktionen auslöst. Das hat auch die deutsche Debatte seit 1996 bestätigt.

Auf einem anderen Blatt steht das Verfahren einer solchen Reform. Es ist langwierig und kompliziert - wegen der Vielzahl Beteiligter, Betroffener und wirtschaftlich Interessierter. Hinzu kommt, daß häufig mehrere Staaten mit ihren Nationalsprachen betroffen sind. Für das Deutsche haben erst jüngst Liechtenstein, Luxemburg, Belgien und Italien Anspruch auf Mitwirkung gestellt. Kernstück der hiesigen Reform war ein Nebeneinander vorbereitender Fachkommissionen und eigens eingerichteter Arbeitsgruppen aus Beamten der Kultusministerien. Diese stellten das Scharnier zur praktischen Durchsetzung dar. Zwei elementare Fehler haften ihrer Arbeit an: In den Fachkommissionen waren ausschließlich selbsternannte Reformer vertreten, kein einziger Kritiker, auch keine Mitglieder von Akademien und Verlagen, kein Lehrer, kein Schriftsteller, kein Journalist. Diesen Kommissionen fehlte von Anfang an die fachliche und im weiteren Sinne kulturelle Legitimation. Auch nachträgliche Anhörungen von Verbänden und Beiräten konnten diesen grundlegenden Mangel nicht heilen.

Der zweite Punkt betrifft die politische Seite, den Herrschaftsanspruch der "Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder" (KMK) über die deutsche Orthographie, getarnt als Fürsorge für die Schüler und den Rechtschreibunterricht, aber ohne jede parlamentarische Legitimation. Die KMK hat in allen Phasen der Vorbereitung und Durchführung die Richtung vorgegeben, den Zeitplan bestimmt, Ergebnisse akzeptiert oder verworfen. Und dies ohne Fachkompetenz, allein um einer schnellen Reform willen. Sie hat eine rechtzeitige Besinnung nach den ersten großen Protesten in den Jahren 1996 und 1997 verhindert, statt dessen die neuen Regeln überstürzt in den Schulen eingeführt. Sie hat noch zuletzt die einseitige Zusammensetzung des neuen Rates bestimmt, dessen Satzung erlassen, den Vorsitzenden ausgesucht - die Ratsmitglieder durften bloß zustimmen - und schließlich verordnet, welche Bereiche der neuen Regeln überprüft werden dürfen. Frech erklärten sie den schwierigsten und umstrittensten Bereich der Groß- und Kleinschreibung für "unstrittig". Solche Herrschaftsposen sind für vordemokratische Gesellschaften charakteristisch.

Dies ist der eigentliche Skandal: daß eine so einschneidende Maßnahme wie die Rechtschreibreform als reiner Verwaltungsakt einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Behörde möglich war, daß sich die beteiligten Kultusbeamten und Kultusminister jeglicher öffentlicher Debatte entzogen, nirgends Rechenschaft abgelegt haben. Nur eines hat ihnen schließlich Einhalt geboten: die Verweigerung der Presse, ihre Rückkehr zur bewährten Schreibung.

Was ist jetzt zu tun? Kann endlich die große Friedenspfeife herumgereicht werden? Keineswegs. Denn der Rechtschreibrat hat gerade erst beginnen können, die übelsten Mängel auszubügeln. Er hat die richtige Richtung eingeschlagen: Beachtung des tatsächlichen Schreibgebrauchs, Rücksicht auf die Leser, Rücksicht auf die Sprachgemeinschaft. Wiederum geht es nun um die Sache und um das Verfahren. Bevor weitergebastelt wird an Details der Regeln, sollte eine gründliche Evaluierung der Rechtschreibreform erfolgen, und zwar durch externe Fachleute. Sicher werden die Kultusminister nicht verweigern, was sie den Schulen und Hochschulen laufend abverlangen. Solche Bewertung hat mehrere Dimensionen: zu begutachten wären Erfolg und Mißerfolg an den Schulen, das Verhalten der Printmedien, die zwischen Altschreibung, Neuschreibung und Hausorthographien schwanken, die Qualität und Konsequenz der Regeldarstellung und ihre Umsetzbarkeit in Wörterbüchern.

Schließlich muß jetzt das ganze Reformverfahren der KMK offengelegt werden, damit die Fehler von gestern nicht morgen wiederholt werden. Man darf jetzt die KMK von der Aufgabe Rechtschreibreform entbinden. Sie ist kein legitimes Organ nationaler Sprachpolitik. Der Rat muß endlich unter der Führung von Hans Zehetmair selbständig handeln können. Erste und dringendste Aufgabe in der Sache ist die Lichtung des Variantensalats in der Rechtschreibung. Warum werden verkehrte Reformschreibungen wie ,Zeit raubend', ,nichts sagend', ,Schluss-Stand', ,Hand voll' weiter fortgeschleppt? Damit die Reformschreiber der ersten Stunde ihre verhunzten Bücher nicht makulieren müssen? Das ist ohnehin unvermeidlich. Wer vor zehn Jahren den schnellen Erfolg "in neuer Rechtschreibung" gesucht hat, muß jetzt für verfehlte Geschäftspolitik zahlen. Dies ist heute wiederum zu bedenken, denn die Einheit der deutschen Rechtschreibung ist noch längst nicht wiederhergestellt.

Der Verfasser lehrte Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg.

(F.A.Z., 1. 3. 2006, S. 37)




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