26.02.2006


Jürgen Kaube

Orthographie nach Zehetmair

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat seine Reformreform beendet. Es war alles umsonst. Das Ergebnis ist „gräulich“.

Berlin. Er wäscht seine Hände in Ohnmacht. Was ist Orthographie? Man kann Hans Zehetmair einen äußerst achselzuckenden Menschen nennen. Jede seiner Äußerungen zur Rechtschreibreform teilt nämlich mit, er sei es jedenfalls nicht gewesen. Hans Zehetmair (CSU) ist Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es dieses Rates gar nicht bedurft. Denn wenn es nach dem ehemaligen bayerischen Kultusminister gegangen wäre, dann würde die Politik gar nicht "glauben, sie könne oder müsse die Sprachpflege und die Schreibfähigkeit der Menschen reglementieren". So Zehetmair kürzlich im "Rheinischen Merkur". Aber es geht ja nicht nach ihm, und dennoch hat sich Zehetmair zum Vorsitzenden einer Institution bestellen lassen, die nachbessern sollte, was die Reglementierer in der ersten Runde der Rechtschreibreform verpfuscht haben.

Auch damals, als mit dem Reformieren begonnen wurde, ging es nicht nach Zehetmair. Als er 1986 Minister wurde, sei alles schon im Gange gewesen. Man habe mitgemacht, obwohl man eigentlich nicht mochte. Vom Tisch haben wollte man die Rechtschreibreform, das Kapitel abschließen. Er habe sich "mittreiben lassen", und dafür fühle er sich jetzt schuldig. Was Zehetmair aber nicht hindert, diejenigen, die sich nicht haben mittreiben lassen – beispielsweise einige "Gazetten", die an der "alten Schreibe" festhalten, wie er formuliert –, zu bezichtigen, sie verwirrten die Bevölkerung. Verwirrung durch jene Beharrlichkeit, die nicht gehabt zu haben Zehetmair sich selber schuldig fühlt? Es ist dieselbe Bevölkerung, von der er andererseits sagt, die Rechtschreibreform habe sich "zu stark von ihrem Sprachgebrauch" entfernt. Man muß sich Hans Zehetmair als einen um Folgerichtigkeit unbekümmerten Menschen vorstellen.

Darum wohl macht es ihm auch nichts, daß es jetzt erneut nicht nach ihm geht. Am kommenden Montag wird Zehetmair den deutschen Kultusministern eine Liste überreichen mit Vorschlägen zur richtigen Wortschreibung in Streit- und Zweifelsfällen, die durch die gegenwärtig geltende Fassung der deutschen Orthographie von 2004 aufgeworfen wurden. Diese Wörterliste wird die Kultusministerkonferenz (KMK) am 3. März womöglich für deutsche Schulen verpflichtend machen. Erstellt haben wird die Liste aber nicht der Rechtschreibe-Rat, sondern seine Geschäftsführerin in Zusammenarbeit mit zwei Wörterbuchverlagen. Zehetmair glaubt, daß sie es so machen werden, "daß man damit leben kann". Für sich selbst dürfte er damit recht behalten, denn Zehetmair ist jemand, der bewiesen hat, in sprachlicher Hinsicht mit fast allem leben zu können, außer damit, daß "Philosophie" mit "f" geschrieben wird und der "Heilige Vater" klein.

Die Absurditäten des Vorgangs, an dem er sich beteiligt, ohne etwas dafür können zu wollen, lassen sich inzwischen nicht mehr an einer Hand abzählen. Es handelt sich um die seit 1996 fünfte als endgültig bezeichnete Regelung der deutschen Orthographie. Eine "Kommission" aus zwölf Schriftrichtern, denen eine stalinistische Zärtlichkeit beim Umgang mit widerborstigen Schreibweisen, überzähligen Kommata und unbotmäßigen Worten nicht abzusprechen war, wurde durch jenen "Rat" aus 36 Nachbesserern ersetzt, in dem sich nur ein einziger Verteidiger der herkömmlichen Orthographie befand, dafür aber sieben von jenen zwölf Sprachregulierern, die das Problem geschaffen hatten. Daneben vor allem wirtschaftliche Interessenvertreter und Bildungslobbyisten sowie einzelne Wissenschaftler, die uns auch nicht werden erklären können, wem gedient ist, wenn "hier zu Lande" geschrieben werden kann.

Erinnert sich noch jemand an die Jahre vor 1996? Es war jene Zeit, als man hierzulande und auch zur See unfaßbarerweise damit leben mußte, daß es "radfahren" hieß, aber "Auto fahren", was nun wirklich empörend war. Es war die Zeit, als das "ß" die Deutschzensuren ganzer Schülergenerationen gefährdete, einfach nur durch seine zufällige, überflüssige und eigentlich durch einen gesetzgeberischen Federstrich leicht zu beseitigende Existenz! Die Zeit auch, als die Bezeichnung "Spagetti mit Tunfisch" auf der Speisekarte noch Anlaß zu völlig entbehrlichen, weil arroganten Witzen über die Deutschkenntnisse des Kochs bot. Es war mithin jene schreckliche Epoche, in der die Deutschen amtlich dazu gezwungen wurden, auf eine Weise zu schreiben, die weder logisch noch linguistisch einwandfrei war, dafür aber voller Bildungshürden. Jeder, der diese Zeit erlebt hat, weiß, wie unerträglich es damals in Deutschland empfunden wurde, zu schreiben und zu lesen. (Für Sprachreformer: Hier endet der ironische Abschnitt.)

Und heute? Daß die Fähigkeiten der Schüler zur richtigen Schreibung mit der Reform zugenommen haben, behaupten nur noch ihre blindesten Anhänger. Die Zahl der Zweifelsfälle hat zugenommen. "Rad fahren", "Auto fahren", aber "seiltanzen", "umherfahren", aber "spazieren fahren" – die Kinder werden es kaum als Zugewinn an Transparenz empfinden. Auch daß sie demnächst wieder "maßhalten" schreiben dürfen, dabei aber die große Errungenschaft von 1995, "Maß halten", ebenfalls gültig bleibt, wohingegen "maßregeln" Pflicht ist, wird ihre Lehrer in Erklärungsnotstand bringen. Doch derlei Fortschritte für greulich zu halten ist ihnen versagt, es gibt nur noch gräuliche. Zu ihnen gehört, daß viele Schüler inzwischen schreiben, "heut zu Tage ist hervor getreten", weil, anders als versprochen, eben nicht einmal eine Vereinfachung der Orthographie, geschweige denn eine verständige Fassung von ihr herausgekommen ist.

Mit einem Wort: Es war alles umsonst. Zehetmair und die Seinen haben unter Tatbeihilfe der KMK, die beispielsweise die Laut-Buchstaben-Zuordnung (nunmehr: Kenntnisstand, aber Missstand, Gämse, aber Bremse) ganz der Überarbeitung entzog, auf beispiellose Weise unprofessionell gearbeitet. Im Zeichen der Beschwichtigung wurde gegen jedes denkbare Kriterium – von linguistischer Plausibilität über die Wortherkunft bis zu den Bedürfnissen des Unterrichts – verstoßen. Als im Januar 25 Institutionen der Sprachpflege die Vorlage des Rats beurteilen sollten, hat nur die Hälfte zugestimmt – und das, obwohl viele von ihnen selbst im Rat vertreten waren. Zehetmair erklärte zu diesem von der KMK erdachten Verfahren der Maximierung von Selbstlob, es habe die Arbeit nicht erleichtert. Will vermutlich sagen: Wenn es nach ihm gegangen wäre …

Was aber wäre, wenn es einmal nach ihm ginge? Dem "Rheinischen Merkur" hat Zehetmair anvertraut, er wäre für "eine gewisse Subjektivierung" der Rechtschreibung. Nur dürften Schriftsteller eben nicht "provokativ" darauf bestehen, "daß" und "leid tun" zu schreiben, also "bewußt anders" als es – ergänze: seit kurzem überall dort, wo staatlicher Durchgriff beabsichtigt ist – "gängig" sei. Wenn es nach Zehetmair ginge, heißt das, regierten die Redensarten, je nach Frage mal das eine, mal das andere behauptend, unbekümmert um Klarheit und um Folgen. Insofern könnte man dann aber auch sagen: Es droht, daß es ab dem 3. März tatsächlich nach Zehetmair geht.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. 2. 2006, S. 4



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