06.02.2006


Rat suchend

Eisenberg und Steinfeld in der SZ

Die Wochenendausgabe der SZ brachte zwei widersprüchliche Artikel von Peter Eisenberg und Thomas Steinfeld zur Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung.

Beigefügt war eine vergleichende Wörterliste mit Beispielen von Schreibungen vor der Reform, nach dem reformierten Regelwerk von 1996 und nach den Vorschlägen des Rechtschreibrates. Diese Wörterliste ließen Peter Eisenbergs lobende Worte für die Arbeit des Rechtschreibrates wenig überzeugend erscheinen. Eisenberg fand in ihr zwar offenbar keine Fehler, aber in der heutigen SZ durfte er dennoch erklären, sie erwecke einen „falschen Eindruck“.



SZ vom 4.2.2006, Seite 14
Kommt Zeit, kommt Rat
Das Ende des Streits um die Rechtschreibung ist in Sicht / Von Peter Eisenberg

Der Rat für deutsche Rechtschreibung arbeitet nun etwas länger als ein Jahr und hat die besonders kritische Phase seiner Arbeit mit der 8. Sitzung am gestrigen 3. Februar beendet. Acht Sitzungen des Plenums und mindestens noch einmal so viele der verschiedenen Arbeitsgruppen sind ein Indiz für die Intensität des Bemühens. Wesentliche Teile des amtlichen Regelwerks von 1996/2004 wurden reformuliert, ein bedeutender Teil der Neuschreibungen aufgegeben. Das Paket mit Änderungsvorschlägen geht nach Anhörung einer Reihe von Verbänden an die Kultusministerkonferenz und die entsprechenden Stellen der anderen deutschsprachigen Länder. Bei der KMK steht es am 6. März auf der Tagesordnung. Damit könnte das vorläufige Ende der Orthographiedebatte erreicht sein, die mit den Wiener Beschlüssen von 1996 begann.
Kernstück der Vorschläge des Rates ist die Neuformulierung von Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung. Was immer die Kritiker der Neuregelung unterscheidet, besteht doch Einigkeit, dass vor allem hier etwas geschehen muss. Aber was genau? War der Regelteil besonders schlecht formuliert? Das ist durchaus möglich, reicht als Erklärung für die jahrelange Zurückweisung aber nicht aus. Ein Grund ist, dass die Getrennt- und Zusammenschreibung früher weitgehend gar nicht und in diesem spezifischen Sinn besser geregelt war. Fast niemand kannte sich genau aus, ihr Anteil an den Rechtschreibfehlern war aber gering. Insofern steht sie als Menetekel für die gesamte Neuregelung. Man nahm etwas in Angriff, das niemand brauchte und fast niemand wollte.

Maßlos übertrieben
Mit ihrem rigiden Schematismus konnte die neue Getrennt- und Zusammenschreibung nur umgesetzt werden, indem künstlich Aufmerksamkeit für etwas an sich Beiläufiges, Selbstverständliches erzeugt wurde. Die Künstlichkeit wird in Regelformulierungen wie der folgenden unmittelbar sichtbar: "Bei der Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung wird davon ausgegangen, dass die getrennte Schreibung der Wörter der Normalfall und daher allein die Zusammenschreibung regelungsbedürftig ist. ... Soweit dies möglich ist, werden zu den Regeln formale Kriterien aufgeführt, mit deren Hilfe sich entscheiden lässt, ob man im betreffenden Fall getrennt oder ob man zusammenschreibt."
Die Maxime "im Zweifel getrennt" ist ebenso falsch wie sie folgenreich war, denn natürlich ist vom Wort aus gesehen die Zusammenschreibung das Normale, von der Wortgruppe aus gesehen die Getrenntschreibung. Es geht ja gerade um die Frage, ob etwas ein Wort oder eine Wortgruppe ist. Unausweichliche Folge war, dass man anfing getrennt zu schreiben, weit über das hinaus, was gemeint war. Weil kein Maß, sondern nur eine Maxime existierte, wurde maßlos übergeneralisiert.
Eine Bindung an "formale Kriterien" war der zweite Fehler. Nicht formal muss ein Kriterium sein, sondern es muss etwas darüber aussagen, ob eine gegebene Einheit ein Wort ist oder nicht. Wenn beim berühmten "eislaufen" die Abtrennbarkeit zum formalen Kriterium gemacht wird und man deshalb "läuft Eis" und als Folge davon auch "Eis laufen" erzwingt, verwischt man den Unterschied zu "Eis essen", aber auch zu "weglaufen", das ja ebenfalls trennbar ist und trotzdem zusammengeschrieben wird.
Der Rat stand hier vor einer schwierigen Aufgabe. Die Rückkehr zum status quo ante war aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht realistisch. Nur schwer lässt sich eine einmal geweckte Aufmerksamkeit sozusagen wieder einschläfern. Zweitens gibt es für die alte Rechtschreibung kein Regelwerk in Form eines fortlaufenden Textes. Schon vor längerer Zeit hatte die Dudenredaktion den Text in einzelne Stichwörter zerhackt und diese alphabetisch geordnet. Weil dann auch noch eine ganze Reihe von Stichwörtern geändert wurde, war es praktisch nur noch Spezialisten möglich, die Systematik des Regelwerks zu rekonstruieren.
In der Neuformulierung des Rates liest sich die entsprechende Passage so: "Einheiten derselben Form können manchmal sowohl eine Wortgruppe (wie schwer beschädigt) als auch eine Zusammensetzung (wie schwerbeschädigt) bilden. Die Verwendung einer Wortgruppe oder einer Zusammensetzung richtet sich danach, was jeweils gemeint ist, und was dem Sprachgebrauch und den Regularitäten des Sprachbaus entspricht." Wir streiten nicht über Schönheit der Formulierung. Bedeutung, Sprachgebrauch und Sprachbau bestimmen die Schreibung. Was soll ausgedrückt werden? Wie schreiben die Leute tatsächlich, wenn sie etwas Bestimmtes ausdrücken wollen? Welche Regularitäten liegen dem zugrunde? Überraschend ist vielleicht, dass man mit diesem komplexen Bedingungsgefüge selten in Schwierigkeiten kommt: Der funktionalen Verwendung von Formen liegen Regularitäten zugrunde, die man herausfinden und formulieren kann. Kennt man die Regularitäten, dann besteht die Kunst darin, sie verständlich hinzuschreiben. Formale Kriterien ergeben sich von selbst, wenn es welche gibt. Gibt es sie nicht, soll man keine erfinden.
Der jetzt vorgeschlagene Text beruht auf einem Entwurf der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. An ihm wurde hart gearbeitet, bis ein akzeptables Verhältnis von Präzision einerseits und Allgemeingültigkeit andererseits erreicht war. Nach den Vorschlägen des Rates gibt es in Zukunft beispielsweise folgende Verben, die es auch vor 1996 gegeben hat. Wir nennen jeweils ein Beispiel für einen Typus: "auseinanderfallen", "anheimstellen", "überhandnehmen", "geheimhalten", "kleinhacken", "krankmelden", "kopfstehen", "achtgeben", "sitzenbleiben", "kennenlernen". Der Versuch einer sprachwissenschaftlichen Rechtfertigung würde an dieser Stelle zu weit führen. Es gibt sie, aber es gibt auch die Intuition, dass dies Wörter sind. Die Revision sollte nicht auf dem Wege erneuter Belehrungskampagnen 'durchgesetzt‘ werden, die Sache ist einfacher: wenn du denkst, etwas ist ein Wort, dann ist es in der Regel eins.
Die Silbentrennung ist vergleichsweise einfach; im Zeitalter von Proportionalschriften, Trennprogrammen und Flattersatz ist sie für den einzelnen Schreiber auch nicht so wichtig. Angaben zur Silbentrennung bleiben aber als Indiz für die Qualität von Wörterbucharbeit und für vorhandenes oder nichtvorhandenes Bildungswissen ein Lieblingskind mancher Sprachfreunde. Auch hier sind schlafende Hunde geweckt worden. Der Rat schlägt lediglich eine substantielle Änderung vor. Die Pedanterie, einen einzelnen Buchstaben abzutrennen, hat zu unterbleiben.
Einen wirklichen Eingriff in das traditionelle System der Zeichensetzung hat die Neuregelung vorgenommen, indem sie das Komma bei Infinitivkonstruktionen fast durchgängig freigestellt und damit als Thema im Schulunterricht weitgehend abgeschafft hat. Die alten Kommaregeln waren unübersichtlich, weil sie mehrmals verfeinert worden waren und so die Form von vielfach verzweigenden Regelkaskaden angenommen hatten. Der Schreibusus selbst war keineswegs unsinnig, das Komma erfüllte auf einsichtige Weise eine Gliederungsfunktion bei sonst unübersichtlichen Konstruktionen. Die Grundregel "Erweiterte Infinitive werden durch Komma abgetrennt" gilt inzwischen als gar nicht mehr so willkürlich und strukturfremd, wie lange angenommen wurde. Der Rat schlägt vor, einen übersichtlichen Teil der erweiterten Infinitive wieder durch Komma abzutrennen, nämlich die Infinitive in Sätzen wie "Sie schreibt Bücher, um/ohne/anstatt sich in die Sonne zu legen."

In ruhiges Wasser
Der alte Schreibusus wird damit bei weitem nicht erreicht, man kann aber zweierlei feststellen. Systematisch sind die Kommas bei den genannten adverbialen Infinitiven eher als in allen anderen Fällen gefordert, denn sie stehen außerhalb des engeren Satzverbandes. Zweitens wird der Schritt dazu führen, dass man sich im Deutschunterricht wieder mehr und hoffentlich überall mit dem Komma beim Infinitiv befasst. Das wird seinerseits dazu beitragen, die Kommasetzung bei den Nebensätzen zu sichern. Denn seit Einführung der Neuregelung kam nach dem Infinitiv- auch das Nebensatzkomma mehr und mehr ins Wanken. Der kleine Schritt, den der Rat macht, kann als systematisch richtig und didaktisch erheblich bezeichnet werden.
Bleibt die Groß- und Kleinschreibung. Der Rat schlägt offensichtlich notwendige und in der Wirkung begrenzte Korrekturen vor. Die Pronomina "Du" und "Dein" können in Briefen wieder großgeschrieben werden, dazu kommen überfällige Einzelkorrekturen (feind sein, Erste Hilfe) und Anpassungen an die Getrennt- und Zusammenschreibung (leidtun, tut ihr leid). Das reicht nicht aus, denn beispielsweise sind Schreibungen wie "des Öfteren" oder "seit Langem" nicht akzeptabel. Das Thema Groß- und Kleinschreibung ist nicht vom Tisch.
Wer die Neuregelung für revisionsbedürftig hält, wird dem Rat bescheinigen können, dass er teils große, teils weniger bedeutsame Schritte macht, die analytisch und empirisch begründet sind. Fast alle dienen der Wiederherstellung bewährter Schreibungen. Weitere Schritte werden folgen müssen, aber niemand sollte daraus einen grundsätzlichen Einwand machen oder dem Rat unterstellen, er sehe seine Notreparatur als Neubau an. Und vieles wird sich durch Einzelfallregelung erreichen lassen, ganz so, wie es immer Praxis bei der Fortschreibung von Wörterbüchern gewesen ist.
Die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen für die Arbeit des Rates sahen am Anfang schlecht bis hoffnungslos aus. Einerseits trat er an die Stelle einer Rechtschreibkommission, die ihre politischen Auftraggeber desavouiert hatte und aufgelöst werden musste. Andererseits sollte der Gremienwechsel nach dem Willen der KMK nicht zu einer inhaltlichen Revision der Neuregelung führen. Trotz seiner Größe (jetzt 39 Mitglieder), trotz seiner Heterogenität, trotz eines starken Flügels von Verfechtern der Neuregelung und trotz einer schwierigen Geschäftsordnung (Beschlüsse müssen mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden) hat der Rat einen substantiellen Kompromiss gefunden. Sein Vorsitzender Hans Zehetmair sagt gern, man werde nach der ersten, stürmischen Strecke nun in ruhigeres Fahrwasser gelangen. In der Tat ging es teilweise stürmisch zu. Aber im ruhigen Fahrwasser der Entwicklung und sinnvollen Normierung einer Orthographie für hundert Millionen Menschen wird man etwas anderes benötigen als engagierte, kurzfristig laborierende Arbeitsgruppen.
Der Autor ist emeritierter Professor für deutsche Sprache an der Universität Potsdam und Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung.


SZ vom 4.2.2006, Seite 14
Dem Unfug die Spitzen genommen
Auch mit der Reform der Reform wird der Streit um die Rechtschreibung nicht abgeschlossen

Eine seltsame Hoffnung richtete sich auf den gestrigen Freitag. Zum letzten Mal tagte der Rat für deutsche Rechtschreibung, bevor die Konferenz der Kultusminister Anfang März aller Voraussicht nach entscheiden wird, den Vorschlägen des Rates zu einer weiteren kleinen Reform der Reform der deutschen Rechtschreibung zu folgen. Endlich soll der jetzt schon mehr als zehn Jahre währende Streit um die Orthographie beigelegt sein, endlich soll man wieder wissen, wie geschrieben werden soll, endlich soll Gewissheit herrschen. Das Bedürfnis nach Ruhe ist groß, und zufrieden wird allerorten vermerkt, dass alle Bundesländer nun bereit zu sein scheinen, die Änderungsvorschläge - wie vom Rat vorgegeben - anzunehmen.
Angesichts von so viel Willen zur Verständigung stößt der Widerspruch auf wenig Sympathie. Und doch: er muss sein. Es ist ein Irrtum zu glauben, die nun verabschiedeten Regeln und Schreibungen würden den Frieden des Normativen wiederherstellen, der vor der Reform bestand. So etwas kann nicht geschehen, zum einen, weil zehn Jahre staatlich geförderter, ja sanktionierter Unfug einen solchen Frieden auf Dauer zerrüttet haben, zum anderen, weil die Reform der Reform auch in ihrer jetzigen Fassung noch so viele Mängel, ja sogar Widersprüche enthält, dass neuerliche Änderungen der Orthographie auf Dauer unausweichlich sein werden. Und das gilt auch, wenn, wie zu erwarten ist, die Reform der Reform in ihrer jetzigen Form für die Schulen verbindlich sein und bis auf weiteres kein Kultusminister zu weiteren Verhandlungen bereit sein wird. So rächt sich, dass der Rat von den Kultusministern unter großen Zeitdruck gesetzt wurde und sich unter diesen Druck setzen ließ.

Unter Barbaren
Gewiss, der größte Aberwitz der Reform, die sinn- und gebrauchswidrige Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung ist nun weitgehend zurückgenommen - aber das war schon geschehen, bevor der Rat vor gut einem Jahr seine Arbeit aufnahm. Im jüngsten Duden sind diese Änderungen schon vielfach berücksichtigt worden, heimlich gleichsam, also ohne dass dafür ein Rat empfohlen oder ein Kultusminister entschieden hätte. Und noch etwas anderes hat der Rat bewältigt: Es soll in Zukunft nicht mehr möglich sein, einzelne Buchstaben als Silben zu behandeln und vom Rest des Wortes zu trennen. Der "A-bend" und die "Dusche-cke" bleiben einem in Zukunft erspart.
Aber wie viele Ungereimtheiten stehen dagegen! Das beginnt schon in dem angeblich nun so unstrittigen Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung. So soll es immer noch nicht möglich sein, wie früher richtig und angemessen, "leid tun" zu schreiben, weil "leid" irrtümlicherweise noch immer ein Substantiv sein soll. An die Stelle des falschen "Leid tun" tritt nun das zusammengeschrieben, aber ebenso falsche "leidtun". Ferner wird verfügt, "beisammengewesen" sei auseinander zu schreiben, obwohl sich doch die Zusammenschreibung mit gutem Grund durchgesetzt hatte. Und zur Neuregelung des Apostrophs - dem angelsächselnden "Mike's Kurierdienst" - hat die Reform der Reform gleich gar nichts zu sagen.
Auch über die jüngste Neuregelung der Trennungen kann man sich nicht beruhigen. Die oft barbarischen Trennungen fremdsprachiger Zusammensetzungen sollen offenbar beibehalten werden, und es wird auch in Zukunft "Res-pekt" und "Inte-resse" heißen dürfen. Dieses Elend setzt sich fort bei der sogenannten "Laut-Buchstaben-Zuordnung": Auch in Zukunft soll "aufwändig" nicht von "aufwenden", sondern von "Wand" abgeleitet sein, soll man "behände" zu Fuß gehen können, soll es "rauh" heißen, obwohl man nicht "blauh" schreibt, "Tipp", obwohl es nach wie vor nur den "Pop" gibt, "Fritteuse und "Nessessär", aber "Glacéehandschuhe". Die Reform der Reform hat dem Unfug einige seiner wüstesten Spitzen genommen, ihn aber nicht vernünftiger werden lassen. Und so ist, was jetzt wohl in den Schulen ganz Deutschlands eingeführt werden wird, nur eine halbe Sache. Dass die andere Hälfte fehlt, wird sich bald bemerkbar machen - in neuerlichem Wunsch nach Reformen.
THOMAS STEINFELD




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