02.08.2004


Albert von Schirnding

Beitrag zu: Gehversuche im Labyrinth der Vorschriften und Ausnahmen

Aus einer Umfrage der SZ-Regionalausgabe

Die »Holzkirchner SZ«, die Regionalausgabe der Süddeutschen Zeitung für das Oberland, widmete am Wochenende 31.7./1.8.2004 eine ganze Seite dem »Thema des Tages«. Hier die Äußerung von Albert von Schirnding:
Die sogenannte Rechtschreibreform wurde 1996 auf dem Verordnungsweg eingeführt und gehört als obrigkeitsstaatliche Maßnahme nicht in eine Demokratie. In acht Jahren wurde sie von der Bevölkerung nicht akzeptiert; nur die Lehrer haben sich nach dem Motto: „Wer kriecht, kann nicht fallen“ wieder einmal als willige Vollstrecker administrativer Vorschriften bewährt. (Es gab und gibt rühmliche Ausnahmen!). Und natürlich waren diejenigen „dafür", die von der veränderten Schreib-Lage finanziell profitierten: die Wörterbuch-Macher, die Schulbuch-Verleger.
Das Werk der Kommission, die über unsere Schreibweise verfügt, ist Murks. Es strotzt von Widersprüchen und Widersinnigkeiten; unzählige „Nachbesserungen“ haben die Sache nur noch schlimmer gemacht. Das orthographische Chaos ist mittlerweile perfekt. Es handelt sich um keine Nebensächlichkeit. Was mit der Sprache zutun hat, ist niemals Nebensache. Die neuen Regem über Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, greifen in die Substanz der Sprache ein. Lehrer müssen, auch wenn es ihnen befehlsgemäß noch so Leid tut und sie noch so sehr Recht haben, als Fehler anstreichen, was grammatikalisch falsch ist. Vom übernächsten Schuljahr an werden Schüler dafür bestraft, daß sie so schreiben wie die meisten deutschen Schriftsteller, die sich auch nach2005 an die überlieferte Orthographie halten. Die versprochenen Erleichterungen beim Lernen der Rechtschrift sind. ausgeblieben. :Statistiken beweisen, daß die Schüler eher mehr als weniger )Fehler machen.
Die „neue Schreibweise" ist !trotz ihres Beiwortes keineswegs progressiv, sondern im Gegenteil stockreaktionär. Sie stellt einen längst vergangenen Zustand wieder her, in dem es keine einheitliche Orthographie gab. Inzwischen (wurde nachgewiesen, daß die Reform im Gleichschaltungs- und Sprachreinigungsfuror des Nationalsozialismus ihr (verdrängtes) Vorbild hat. Alle seit acht Jahren vorgebrachten Einwände, Argumente, Proteste, Appelle stießen auf die tauben Ohren der Kultusminister. Das, was sie unter Kultur verstehen, hat offenbar mit Literatur und Schule nichts zu tun.
Sie haben jede Chance, eine falsche Entscheidung rückgängig zu machen, vertan. Es ist höchste Zeit, ihnen die Befugnis über unsere Schreib- und damit auch Sprech- und Denkweise zu entziehen. Keine Reform der Reform kann das Flickwerk noch retten. Es gibt nur einen Ausweg aus der Misere: die Rückkehr zur Vernunft der zuletzt im Duden von 1991 kodifizierten Schreibung.

Albert von Schirnding, Harmating (Gemeinde Egling), Lehrer,Autor, Herausgeber, Literaturkritiker, Träger, des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essay, sowie des vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft gestifteten Kritikerpreises; ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste seit 1983, seit 1991 leitet er deren literarische Abteilung. Er ist Mitglied des P.E.N.


Quelle: Holzkirchner SZ
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