09.12.2005


„Die kulturelle Wirklichkeit fortbestehender paralleler Schreibweisen“

Zwei Juristen zur Rechtschreibreform

In zwei Beiträgen bilanziert das führende Fachorgan Neue Juristische Wochenschrift (49/2005) die Rechtsprechung zur Rechtschreibreform.

Dr. Wolfgang Kopke, Arbeitsrichter und Autor der Arbeit Rechtschreibreform und Verfassungsrecht (1995), kommentiert die jüngsten Beschlüsse des OVG Lüneburg. Er ergreift die Gelegenheit, »die dürftige Argumentation«, welche dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1998 zugrunde lag, noch einmal zu resümieren. Mit Blick auf die auffällige Eile, mit der die Karlsruher Richter seinerzeit eine eigene Entscheidung verkündeten, urteilt Kopke, es sei ihnen ersichtlich »nicht um unbefangene Rechtsfindung« gegangen, sondern darum, »der KMK beizuspringen«:

»Während das BVerfG ansonsten nicht müde wird, unter Hinweis auf seine Überlastung die Rechtsuchenden aufzufordern, zuerst die Fachgerichtsbarkeit zu bemühen, hatte man es hier ganz eilig, dem BVerwG zuvorzukommen. Denn hätte dieses in Fortsetzung seiner bisherigen Schulrechtsprechung das wohlbegründete Urteil des VG Berlin bestätigt, wäre die Reform erledigt gewesen, da die Senatsverwaltung hiergegen nicht vor das BVerfG hätte ziehen können und die Verfassungsbeschwerde dann schon vor einer mündlichen Verhandlung des BVerfG zurückgenommen worden wäre.«

Unabhängig von diesen Vorgängen habe das Karlsruher Urteil »nur eine begrenzte Reichweite«. Die Lüneburger Richter hätten richtig erkannt, daß ihm »keine Bindungswirkung hinsichtlich der Auslegung von Landesrecht zukommt«. Außerdem beruhe das Urteil von 1998 auf Annahmen, »die zwischenzeitlich widerlegt sind, nämlich den jeweiligen Prognosen der Kultusminister, die Reform erleichtere den Rechtschreibunterricht und werde sich auch außerhalb der Schule allgemein durchsetzen«. Die Akzeptanz der Reform sei weiterhin zweifelhaft, wie Repräsentativumfragen ebenso wie der fortwährende Widerstand namhafter Schriftsteller und bedeutender Pressehäuser zeigten. Kopke verweist zudem auf die Zwangsmittel, mit denen seit 1998 die Verwendung der amtlichen Schreibung vorangetrieben wurde: »[W]o die neue Schreibung verwendet wird, ist dies häufig auf eine Lektoratsentscheidung zurückzuführen, welcher sich der Autor (so auch hier) beugen muss«.

Von politischer Seite gehe es inzwischen »offensichtlich nur noch darum, aus falsch verstandener Staatsraison das Eingeständnis eines Fehlers zu vermeiden«. Von den Kultusministern werde kaum mehr zur Sache argumentiert, sondern nur darauf abgehoben, daß ein Aufgeben der Reform »untragbare Kosten verursache und den Schülern nicht zuzumuten sei«. Eine fortgesetzte »Verunsicherung« sei aber auch mit den Revisionsbemühungen verbunden, die von der Zwischenstaatlichen Kommission begonnen wurden und gegenwärtig vom Rat für deutsche Rechtschreibung fortgesetzt werden.

Das Lüneburger Gericht habe zwar »einen Anspruch der Schüler bejaht, (auch) in der herkömmlichen Schreibung unterwiesen zu werden«, andererseits aber keinen »vollstreckbare[n] Titel geschaffen«, indem es einen Antrag der Klägerin auf einstweilige Anordnung abwies. Dennoch, so Kopke, sei das Land Niedersachsen »gehalten, den vom höchsten für die Auslegung des Schulgesetzes zuständigen Gericht festgestellten Anspruch der Schülerin zu erfüllen«. Dies auch im eigenen Interesse, da es andernfalls »zu unnötigen weiteren und (zumindest im Hauptsacheverfahren) für das Land kostenträchtigen Klagen« kommen könne. In jedem Fall seien die Länder »dauerhaft verpflichtet, beide Schreibweisen zu lehren«, wenn auch die herkömmliche weiterhin außerhalb der Schulen üblich bleibe. Für den Fall einer Rücknahme der Reform gelte weiterhin der Leitsatz eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes vom 20. 7. 1999: »Es besteht kein Anspruch auf Unterrichtung nach den Regeln der Rechtschreibreform« (NJW 1999, 3477).

Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Assistent an der Universität Bayreuth, zieht eine Bilanz nach »Zehn Jahren Rechtschreibreform«. Er erinnert an den Beschluß der KMK zur Durchführung der Reform vom 1. 12. 1995, welcher der Wiener Absichtserklärung vom 1. 7. 1996 voranging.

Gärditz wagt einen Ausflug in die Geschichte der Rechtschreibnormierung und kommt dabei zu dem Schluß, die Rechtschreibung sei im Unterschied zur gesprochenen Sprache »zu einem maßgeblichen Teil Derivat des schulisch vermittelten Bildungsauftrags des Staates«. »Bereits die vom preußischen Kultusministerium einberufene I. Orthographische Konferenz in Berlin 1876 und ihre Folgekonferenzen [!]« hätten »das Ziel einer einheitlichen Schulorthografie« verfolgt. (Für diesen Teil seiner Ausführungen gibt Gärditz keine Quellen an.)

Gärditz stellt fest, daß die von der Reform und ihrer sanktionsbewehrten Einführung betroffenen Schüler durchaus in ihren Grundrechten berührt seien: »Die Schreibfreiheit ist ein Ausdruck der auch sprachgeprägten Persönlichkeit des Schreibenden und wird daher dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts [...] zugeordnet.« Zugleich werde »mittelbar-faktisch« auch in das grundgesetzlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern eingegriffen.

Hingegen verneint Gärditz einen aus der sog. Wesentlichkeitstheorie abgeleiteten Gesetzesvorbehalt. Die Reform gehöre in den »Bereich »technischer« Fragen der Lehrplangestaltung und wertfreier Wissensvermittlung«. Ihre »objektiv geringe Intensität« spreche »gegen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung von verfassungsrechtlicher Relevanz«. Der Wortlaut des 1998 per Volksentscheid erwirkten Zusatzes zum schleswig-holsteinschen Schulgesetz ist Gärditz offenbar unbekannt, da er argumentiert, ein »fiktives »Rechtschreibgesetz«« würde den »eher befremdlichen Eindruck erwecken [...], Rechtschreibfehler seien nunmehr mit dem Makel der Gesetzeswidrigkeit behaftet«. »Die Pflege der Rechtschreibung durch die Exekutive« sei daher »Ausdruck rationaler Entscheidungszuordnung«.

Gärditz konzediert dennoch, daß »Sprache etwas Lebendiges« sei, das nicht beliebig dem staatlichen Zugriff unterliege: »Sprachformung [!] bedarf als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen auch eines Mindestmaßes [!] an Akzeptanz in der Bevölkerung.« Daß die herkömmliche Rechtschreibung voraussichtlich »zumindest für längere Zeit als bedeutendes kulturelles Phänomen erhalten bleiben« werde, bedeute für die Schule, daß sie sich der herrschenden »orthografischen Pluralität nicht vollständig entziehen« könne. In diesem Sinne deckt sich sein Résumé mit den Forderungen Kopkes:

»Es besteht ein Anspruch auf eine schulische Ausbildung, deren Inhalte nicht in einer bloßen Selbstbeschreibung verharren oder auf die »Amtlichkeit« des vermittelten Wissens verweisen, sondern im Interesse eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Freiheit gerade diese gesellschaftlichen und kulturellen Kompetenzen vermitteln. [...] Auf das Phänomen Rechtschreibung bezogen bedeutet dies, dass sich das staatliche Schulwesen nicht auf eine reine Unterrichtung der neuen Schreibregeln zurückziehen darf, sondern zugleich flankierend auf die kulturelle Wirklichkeit fortbestehender paralleler Schreibweisen angemessen hinweisen muss.«



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