27.07.2005 Geteiltes UlmDie Donau als orthographischer WassergrabenUlm in Baden-Württemberg und Neu-Ulm in Bayern. Die beiden Städte trennt nicht nur die Donau, sondern bald auch die deutsche Rechtschreibung, glaubt dpa.Nicht alle machen verbindlich mit Zweigleisigkeit verwirrt Schulen Die Übergangsphase ist vorbei - zumindest in 14 von 16 Bundesländern. Am ersten August werden die unstrittigen Teile der Rechtschreibreform in Schulen und Behörden verbindlich eingeführt. Für die Schüler heißt das: Ab August werden frühere Schreibweisen als Fehler gewertet. Anders sieht es in Bayern und Nordrhein-Westfalen aus, was schon jetzt für Konfusionen sorgt. Allein in Bayern und Nordrhein-Westfalen wird vorerst an der bestehenden Übergangsfrist festgehalten. Dort lernen die Schüler das Schreiben zwar auch nur noch nach den 1998 eingeführten neuen Regeln, veraltete Schreibweisen gelten aber noch nicht als falsch und wirken sich nicht nachteilig auf die Schulnoten aus. Der Grund für das Ausscheren der zwei Bundesländer: Teile der Rechtschreibreform sind umstritten. Derzeit prüft der Rat für deutsche Rechtschreibung einige strittige Fälle. Das Expertengremium will bei seinen Änderungsvorschlägen den Sprachgebrauch in den Mittelpunkt stellen. Etwa bei der Getrennt- und Zusammenschreibung sprach sich der Rat dafür aus, wieder mehr Wörter zusammenzuschreiben. Für all diese Teile der Rechtschreibreform, die derzeit diskutiert werden, gilt in allen Bundesländern weiter eine Übergangsfrist und damit eine Toleranzgrenze bei der Fehlerkorrektur in den Schulen. Der Rat für deutsche Rechtschreibung will bis zum Sommer nächsten Jahres Vorschläge vorlegen, damit diese Teile der Reform zum Schuljahr 2006/07 ebenfalls verbindlich werden. Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen nun aber die gesamte Reform erst bindend einführen, wenn der Rechtschreibrat zu den noch fehlenden Teilbereichen der Rechtschreibung seine Vorschläge vorgelegt hat und diese von der Kultusministerkonferenz übernommen worden sind. Im konkreten Schulalltag dürfte diese Zweigleisigkeit zu einigen Problemen führen. Beispiel: Ulm in Baden-Württemberg und Neu-Ulm in Bayern. Die beiden Städte trennt nicht nur die Donau, sondern bald auch die deutsche Rechtschreibung. Wenn der Elftklässler Andreas Kummert zu Hause in Ulm ist, darf er „Fluß“ statt „Fluss“ schreiben. Ist er in seinem Gymnasium in Neu-Ulm, bekommt er dafür einen Fehler angestrichen. Den Überblick über neue und alte Rechtschreibung hat der Schüler längst verloren: "Hier hat doch keiner mehr eine Ahnung." Eine Schulkameradin fragt: "Was ist, wenn sich die Bayern jetzt in Baden-Württemberg bewerben und lauter Fehler machen?" Im Lehrerzimmer sitzen unterdessen die Deutschlehrer und rätseln, wie es nun weiter geht. "Es ist ein höllisches Durcheinander", sagt Barbara Jeremias. Ihre Kollegin Martina Lutz nickt: "Bildungshoheit der Länder hin oder her, mir kommt das vor wie ein Schildbürgerstreich.“ Die Reform nehme auf diese Weise keiner ihrer Kollegen mehr ernst. Vom Ministerium gebe es zudem keine Anleitung, was wohl mit "unstrittigen Teilen" gemeint ist. "Wir erfahren eigentlich alles erst aus der Presse." Und die, die den Schülern das Regelwerk beibringen müssen, sind selbst nicht immer firm in der Sache. „Bei mir sind die alten Regeln drin, die bekomme ich gar nicht mehr raus“, gesteht Lehrerin Lutz. Mit mehreren Ausgaben des Duden sitze sie beim Korrigieren. Der Direktor der Schule, Klaus-Michael Zinnecker, beruhigt: „Es wird auch weiter eine Toleranzphase geben. Einzelne Fehler führen noch nicht zu Abwertungen, unsere Abiturienten werden nicht benachteiligt.“ Man müsse schließlich die besondere Situation des Gymnasiums am "Grenzzaun" beachten. Eine Flucht der Baden-Württemberger nach Bayern befürchtet Zinnecker nicht. Ein gebürtiger Ulmer Schüler kommentiert die Frage entgeistert: „Wer will denn schon nach Bayern?“ Rat soll neuer Sprachwächter werden Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird um die neue deutsche Rechtschreibung gerungen. Zukünftig könnte ein amtlicher Sprachwächter über neue Schreibweisen oder Rechtschreibregeln beraten und diese verbindlich einführen. Doch das Vorhaben wird mehr und mehr zum Politikum. Einst oblag es dem privat-wirtschaftlich organisierten Duden-Verlag, neue Schreibweisen peu à peu in den regulären Sprachgebrauch einzuführen. Mit dieser Praxis hat die Rechtschreibreform gebrochen. Doch wer soll nun künftig über Neuerungen der Rechtschreibung entscheiden, wenn sich nach offizieller Einführung der Reform in allen Bundesländern der allgemeine deutsche Sprachgebrauch weiterentwickelt? Nach dem Wunsch der Kultusminister soll der Rat für deutsche Rechtschreibung "den Schriftgebrauch der deutschen Sprache beobachten und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Rechtschreibung erarbeiten." Der Rat war nach heftiger Kritik an der Rechtschreibreform von der Kultusministerkonferenz ins Leben gerufen worden. Das Gremium hatte im Dezember 2004 seine Arbeit aufgenommen und die bisherige "Zwischenstaatliche Kommission" abgelöst. Dieser gehörten auf deutscher Seite ausschließlich Sprachwissenschaftler an, die die Reform befürworteten. Künftig würde also nicht mehr die Kultusministerkonferenz (KMK) das letzte Sagen haben, sondern der von ihr eingesetzte Rat könnte das Recht erhalten, verbindliche Änderungen vorzuschagen und zu beschließen. Die Kultusminister selbst möchten angesichts des jahrelangen Theaters um ihre missglückte Reform offenbar weiteren Gesichtsverlust vermeiden und suchen nach einem glücklichen Ausstieg aus dem Desaster. Das Expertengremium, geleitet vom früheren bayerischen Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) und inzwischen bestückt mit Gegnern wie Befürwortern der Reform, könnte dabei die Rolle eines neuen deutschen amtlichen Sprachwächters einnehmen. Der Rat könnte aber auch eine vollständige Reform der Reform einleiten, was sich immer noch viele Reformgegner wünschen dürften. Dem Rat gehören Sprachwissenschaftler, Vertreter von Verlagen, von Schriftsteller- und Journalistenverbänden, Lehrerorganisationen sowie des Bundeselternrats an. Die Mitglieder kommen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie aus Liechtenstein und Bozen-Südtirol. Von deutscher Seite gehören ihm 18 Mitglieder an. Doch der mögliche neue Sprachwächter wird mehr und mehr zum Politikum. Hinter den Kulissen ziehen Niedersachsen Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) und dessen bayerischer Amtskollege Edmund Stoiber (CSU) ihre Fäden. Zwar weigerte sich Wulff, die endgültige Einführung der Rechtschreibreform auch in seinem Bundesland noch einmal um ein weiteres Jahr zu verschieben. Doch unverdrossen strebt er jetzt nach dem Langziel, die KMK bei der Rechtschreibreform künftig gänzlich auszuhebeln. Zugleich möchte er den Reformgegnern im Rechtschreibrat die Türen ganz weit öffnen. Doch mit ihrem forschem Vorgehen dürften Wulff und Stoiber nicht nur die Kultusminister der SPD sondern auch die eigenen Mannen verschrecken. Gesucht wird ein Mittelweg, der dem Rechtschreibrat zwar genügend Freiraum bei der Sprachgestaltung gibt, den Kultusministern aber auch weiterhin die Verantwortung für die Gestaltung des Schulunterrichts belässt. Bei einer Sitzung des Rates im Juni in Mannheim erzielten Reformbefürworter wie Gegner Einvernehmen über die besonders umstrittene Getrennt- und Zusammenschreibung. Die Schriftsprache soll sich künftig wieder mehr nach dem Sprachgebrauch der Menschen richten. Das bedeutet erneute Änderungen an der sieben Jahre alten Reform. Der Rat soll die strittigsten Fälle der Reform überdenken und bei Einvernehmen Änderungen beschließen. Später soll der Rat alle fünf Jahre einen Bericht vorlegen. Dem Rechtschreibrat sei es unmöglich, bis zum Schuljahresbeginn in diesem Sommer die nötigen Korrekturen zu erarbeiten, betonte sein Vorsitzender Zehetmair im Juli. Er zeigte sich aber optimistisch, dass der Rat die Korrekturen bis Jahresende erarbeitet haben werde. Diese sollen dann voraussichtlich bis zum Schuljahr 2006/2007 eingeführt werden. Vor 50 Jahren war alles noch ganz einfach: Die "Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder" teilte unter der Rubrik "Sonstiges" im Bundesanzeiger vom 15. Dezember 1955 mit, dass fortan in Zweifelsfällen der Sprache "die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich sind." Mit dieser kleinen amtlichen Mitteilung wurde zugleich ein Verlags-Monopol begründet, dass gut 40 Jahre halten sollte, nämlich bis zur Verabschiedung der Zwischenstaatlichen Vereinbarung über die Rechtschreibreform von Deutschland, Österreich und der Schweiz vom Juli 1996. Dabei funktionierte das Duden-Verfahren in der Praxis recht simpel: Tauchten in Medien oder im öffentlichen Sprachgebrauch extrem oft abweichende Schreibweisen auf, wurde dies im wissenschaftlichen Beirat des Verlages eingehend geprüft. In vielen Fällen erschienen dann die abweichende Schreibweisen in der nächsten oder übernächsten Duden-Ausgabe als neue, zulässige Variante. Auf diese Weise wurden Wörter peu à peu auch in den regulären Sprachgebrauch eingeführt.
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