24.07.2005 DER SPIEGEL Im Land der WörtermörderDie Materie selbst und die politischen Implikationen sind offenbar selbst für das deutsche Flaggschiff des investigativen Journalismus zu schwierig – oder zu heikel.Wider besseres Wissen und als ob die Zeit seit Ende der 90er Jahre stehengeblieben wäre, schreibt der SPIEGEL anläßlich der fragwürdigen Teileinführung der Rechtschreibreform zum 1. August 2005, es ginge bei der Diskussion darüber hauptsächlich um eine Art »Glaubenskampf«, einen Disput zwischen mehr oder weniger liebenswürdigen aber schließlich doch weltfremden Gelehrten über »Kommata, Apostrophe und Silbentrennung«. Kein Wort darüber, daß auf staatliche Anordnung hin richtiges Deutsch nun falsch werden soll und falsches richtig. Ist ja irgendwie auch egal – oder? Der Spiegel, Heft 30/2005, Seite 62 – 68 RECHTSCHREIBREFORM Im Land der Wörtermörder Seit mehr als 30 Jahren mühen und streiten sich drei Germanistikprofessoren um Kommata, Apostrophe und Silbentrennung. Aus der Fachdebatte ist längst ein Glaubenskampf geworden. Jetzt tritt die Jahrhundertreform zur Rechtschreibung in Kraft - teilweise. Von Alexander Smoltczyk Theodor Ickler hat keinen Fernseher, kein Auto aus Prinzip, und bis vor kurzem hatte er auch keinen Duden. Das 579-Seiten dicke Wörterbuch samt Regelwerk, das vor ihm liegt, hat er sich selbst geschrieben: "Tausend Stunden Arbeit", sagt Theodor Ickler. Fehlerfreie Arbeit. Deutschland sähe anders aus ohne Menschen wie Theodor Ickler. Gerhard Augst ist emeritierter Germanistikprofessor aus Siegen. Ihm hat das Land zu verdanken, dass es in manchen Gegenden vom 1. August an "Quäntchen" schreibt und "nummerieren" mit zwei m. Gerhard Augst war der Anführer der Rechtschreibreformer. Er hätte, hieß es in einem Brief, Deutschland einem "menschenverachtenden Massenexperiment" unterworfen. Es war die schlimmste Beleidigung, die Augst in 30 Jahren Germanistik entgegennehmen musste. Einen halben Tag lang lief er sprachlos durch sein Institut. Der Brief war unterzeichnet von Theodor Ickler. "Für Herrn Ickler ist die ganze Reform das Machwerk eines Alt-68ers und eines Altkommunisten", sagt Professor Dieter Nerius aus Rostock, ebenfalls emeritiert. "Kollege Augst ist der 68er, und der SED-Apparatschik, das bin ich." Nerius hat gefragt, wer noch in dieser Geschichte auftauchen würde. Allein mit Ickler möchte er noch nicht mal in einem Artikel gesehen werden. Die drei älteren und hochgebildeten Herren sind Kombattanten. Wortführer in der leidenschaftlichsten Debatte des deutschen Geisteslebens seit dem Historikerstreit Mitte der Achtziger: dem Disput um die richtige Rechtschreibung. Seit den Uni-Besetzungen 1968, den Sitins, ist an deutschen Fakultäten nicht mehr so wutentbrannt und nachtragend gestritten worden. Für die Rechtfertigung einer Trennfuge wurden gewöhnlich die Werte des Abendlandes beschworen, und wenn Websites töten könnten, wäre die Linguistik in Deutschland großteils ausgestorben. C3-Professoren gingen mit dem Vokabular von Lebensschützern aufeinander los. Der drohende Untergang der Kultur war dabei noch die kleinste Münze. Der Dichter Durs Grünbein verglich die Reform mit Inzest: "Man vergreift sich nicht an der Mutter. Man spielt nicht mit dem Körper, der einen gezeugt hat." Denn wer "Stängel" schreibt, der geht auch Mama an die Wäsche. Es war alles angerichtet. Es fehlten nur noch Mahnwachen vor dem Germanistikseminar und öffentliche Duden-Verbrennungen auf dem Republikplatz. Das Reihenhaus, in dem Theodor Ickler lebt, liegt in Spardorf, einer Gemeinde am Rande Erlangens. Der Garten ist verwildert. Das mag an den tausend Stunden Arbeit fürs Wörterbuch liegen - oder am Prinzip: Ickler war eine Zeit lang Kreisvorsitzender der Ökologisch-Demokratischen Partei. Er ist ein gastfreundlicher Mann, mit seinem grauen Schnauzer und den Suhrkamp-Bänden im Kiefernregal fast der Prototyp des GEW-Lehrers. Nur seine Sätze erinnern bisweilen an das Deutsch des gehobenen Leserbriefs. Ausgefeilt, gnadenlos genau. Manchmal so scharf, dass es zunächst scheint, als habe man sich verhört. Neben Griechisch und Latein spricht Ickler fließend Sanskrit und recht passabel Chinesisch. Sein Kisuaheli sei lückenhaft, sagt er. Es klingt nicht eitel, eher entschuldigend. Es kommt vor, dass Ickler Sätze sagt wie: "Die Syllabierung in der Bantu-Sprache muss natürlich anders dargestellt werden." Dann wirkt er für einen Moment abwesend, als ginge er in Gedanken eine Liste durch. Für die Anhänger der alten Rechtschreibung ist dieser Mann ein Genie. Die Reformer sähen ihn gern in Ketten. Ickler weiß alles über das Regelwerk, und vieles weiß er besser als alle anderen. Theodor Ickler ist der Ein-Mann-Thinktank der Reformgegner. Die deutsche Sprache, mit allen ihren Widerspenstigkeiten, ist für Ickler ein Geschenk. Man eignet sie sich an und versimpelt sie nicht, unter dem Vorwand, den Schülern zu helfen: "Ich war selbst ein unterprivilegiertes Kind. Mein Vater war Koch in Witzenhausen." Als Student in Marburg erfand Ickler als Fingerübung einmal eine komplett neue Sprache, nach den Prinzipien von Rudolf Carnap, logisch und systematisch. Das war 1968: "Ein Rebell war ich schon immer. Wenn auch mehr gegen falsche Lehrmeinungen als gegen die Verhältnisse." Immer wieder springt er auf, um ein Wort, einen Satz aus den Regalen zu holen oder aus den Ordnern und Pappkartons, die den Boden seiner Dachstube bedecken. Von unten ist die Klavierstunde der Tochter zu hören. Es geht ihm darum, die gewordene Sprache ernst zu nehmen und sie zu bewahren. Je weiter er sich in die Geschichte eines Worts vertieft, je weiter er die gewachsenen Strukturen Schicht für Schicht freilegt, desto stärker werde, wie er sagt, "die Demut gegenüber der Sprache". Eines Nachts machte er eine Entdeckung: "Sinntragende Wörter haben oft Oberlängen in ihrem Schriftbild, wie kleine Aufmerksamkeitsfähnchen. Deswegen braucht ,rauh' auch sein ,h' am Ende." Wie könnte er sich mit dem "rau" der Reformer je abfinden? Seit 1955 ist der Duden das staatlich privilegierte Zentralorgan für Rechtschreibung. In Zweifelsfällen gilt der Duden ..., so stand es in den Erlassen der Kultusminister. Was Frankreich seine Académie française, das war Deutschland die Duden-Redaktion. 40 Unsterbliche in Paris, 20 Verlagsredakteure in Mannheim. Mit jeder Auflage wuchs der Duden. Denn jährlich fragen etwa 20 000 Bundesbürger, wie "Balletttheater" oder "E-Mail" geschrieben werden. Der Duden wucherte, weil seine Redakteure den Ehrgeiz hatten, jeden Kasus zu klären, und sei es durch Ausnahmeregeln. Ganze Bereiche der Orthografie waren von Konrad Duden überhaupt nicht geregelt worden. Es musste etwas geschehen. Davon ist auch Ickler noch überzeugt: "Das Duden-Privileg musste fallen. Aber anstatt den Staat als oberste Normierungsbehörde einzusetzen, hätte man die Rechtschreibung den Wörterbuchredaktionen der angesehenen Verlage überlassen können - wie in Großbritannien." Niemand schreibt nach Regeln. Regeln sind die Theorie zu den Tatsachen der Orthografie. Wäre es nach Ickler gegangen, dann wäre auf staatliche Regulierung verzichtet, die allgemein übliche Rechtschreibung erfasst und in Wörterbüchern festgehalten worden. Dazu ein Minimum an Hauptregeln, maximal acht DIN-A4-Seiten, wie er selbst es in seinem Gegen-Duden vorgemacht hat. Der Feind saß in Mannheim. Im Kleinen Sitzungssaal A 1.28 des "Instituts für Deutsche Sprache", wo sich alle Jahre wieder eine internationale "Kommission für Rechtschreibfragen" traf - seit 1987 im Auftrag des Bundesinnenministers, um ein neues "Regelwerk" der deutschen Sprache zu entwerfen. Für Theodor Ickler ist das ganze Institut für Deutsche Sprache lediglich eine "Gründung gescheiterter Rechtschreibreformer aus den Sechzigern". Die Kommission ein Kaderunternehmen, angeführt von einem Germanistikprofessor aus Siegen: "Augst wollte der neue Konrad Duden werden. Daraus ist nun nichts geworden." Ickler betrat die Arena mit einem Leserbrief im Spätherbst 1994. "Bis dahin hatte ich den Reformklüngel nicht ernst genommen." Immer wieder waren Versuche gescheitert, dem Deutschen die Widersinnigkeiten auszutreiben. Mal an Adolf Hitler, der Vorschläge zur vereinfachten Schreibung im letzten Moment als "nicht kriegswichtig" verwarf. Danach gewöhnlich am Aufschrei einer Öffentlichkeit, die sich an einen "keiser" einfach nicht gewöhnen wollte. Doch auf den "3. Wiener Gesprächen" im November 1994 hatten sich die Beamten und Experten aus elf Staaten geeinigt, darunter Liechtenstein und - ihrer deutschen Minderheiten wegen - Italien und Ungarn. Das Regelwerk war beschlossen. Das "daß" war schon gefallen. Es drohten "Panter", "Spagetti", "Newage", "platzieren". Das tat weh. Ickler nahm den Kampf auf. Aus der Stille seines Reihenhauses hinaus begann er von Wörtermord, Regelungsgewalt und Sprachvernichtung zu schreiben. Vom "Weg in die Barbarei", den der neue Duden ebne und von den "Etymogeleien" des Gerhard Augst. Er war nicht allein. Da gab es schon den Weilheimer Studiendirektor Friedrich Denk. Ickler wusste die Dichter an seiner Seite. Grass, Enzensberger, Grünbein. Da waren die Abtrünnigen, ehemalige Kommissionsmitglieder, denen die Reform zu weit (oder nicht weit genug) ging. Der Potsdamer Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg und Horst Haider Munske aus Erlangen, gleich in der Nachbarschaft. Ickler wird der Michael Kohlhaas der Orthografie. Stachel in seinem Fleische ist eine auf Recyclingpapier gedruckte Bekanntmachung "223011.114-K" vom 31. Juli 1996 und unterzeichnet "i. A. J. Hoderlein, Ministerialdirektor": das "Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung". Jeden einzelnen der 112 Paragrafen empfindet Ickler als Angriff. An diesen Paragrafen samt Wörterliste arbeitet er sich seit Jahren ab. Lässt seinen PC Textmassen umwälzen, wieder und wieder, siebt Unmengen von Wörtern, wendet die neuen Regeln an, siebt, sichtet, filtert, bis er einen neuen Widersinn in Händen hält, eine kleine Unverschämtheit, eine winzige Monstrosität: "Behände gehen ... Das haben wir Augst zu verdanken." Kein Gegenreformer ist fleißiger. Allein 2500 Beiträge hat Ickler inzwischen für sein "Rechtschreibtagebuch" ins Internet gestellt. "Ich brauche wenig Schlaf. Meine Frau warnt unsere Freunde immer, mir Wörterbücher zu schenken. Weil sie mich dann eine Weile nicht mehr sieht." Ickler liest Wörterbücher wie Krimis. Für die Rezension des neuesten Dudens, (23., völlig neu bearbeitete Auflage, 1152 Seiten), brauchte er knapp zwei Tage. Er weiß genau, wo die heiklen Stellen sind. Er riecht die Lücken förmlich, die verdächtigen Auslassungen. "Gebauchpinselt", "Holster" und "ewiggestrig" fehlten in dem neuen Wahrig-Wörterbuch, mahnt er an. Weshalb? Wird Ludwig Erhard unterschlagen, weil sein Name "orthografisch durchaus nicht unproblematisch ist"? Am 26. Juli 2000 verkündete die "Frankfurter Allgemeine", zur alten Rechtschreibung zurückzukehren. Einen Tag zuvor war in der "Welt" eine reformkritische Rezension des Dudens erschienen, verfasst von Theodor Ickler. "Das war mein größter Erfolg", sagt er. Inzwischen haben sich Springer-Verlag, teilweise auch "Süddeutsche Zeitung" und SPIEGEL der Gegenreformation angeschlossen. Etliche Zeitungen - von "Junger Freiheit" bis zur "Jungen Welt", von der "Altbayerischen Heimatpost" bis zur "Karpatenrundschau" - verweigern sich dem Regelwerk. Und alle verwendeten in ihren Begründungen die Wortbeispiele von Theodor Ickler aus Spardorf bei Erlangen. Er könnte zufrieden sein. Er ist es nicht. Immer wieder hat er sich gefragt, weshalb es eigentlich so weit kommen konnte. Wie war es möglich, dass eine so überflüssige, aufwendige, unpopuläre Reform ihren Weg durch die Instanzen mehrerer Staaten gehen konnte? Letztlich sei, sagt Theodor Ickler, daran wohl ein Mann schuld, seine Hartnäckigkeit, seine Wühlarbeit und seine erstaunliche Gabe, die Ministerialbeamten von sich einzunehmen. Gerhard Augst betritt die germanistische Bibliothek genau so, wie er sich am Telefon beschrieben hat: "66-jährig mit grauen Haaren und einem Duden unterm Arm". Diesem Mann verdankt Deutschland vieles, vor allem viele neue Wörter: Einbläuen, belämmert, Zierrat, Tollpatsch, schnäuzen, gräulich. Das war Augst. Der Professor wirkt nicht unbedingt wie ein Fanatiker des Bindestrichs oder ein Kommakiller. Er trägt fingerstarke Augengläser, hat eine einnehmende Stimme und ist von strapazierfähiger Heiterkeit. Er wäre ein guter Lehrer geworden. Augst hielt sein Rechtschreibkönnen der Schüler" und der Befund erschütternd. Seither ist Gerhard Augst Systemveränderer. Einer der erfolgreichsten - wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Lesen und Schreiben lernte Augst in einer Zwergschule im Westerwald. Als einziges Kind aus seinem Dorf durfte er aufs Gymnasium. Lange Jahre habe er nur Arbeiter und Bauern gekannt, sagt er, jene Klassen, in denen die Orthografie wütet wie die Pest. Warum "irgend etwas", aber "irgendwas"? Weshalb "krank schreiben" auseinander schreiben und "gefangennehmen" zusammen? Augst sagt: "Natürlich hätte man sagen können, wir nehmen die Orthografie in der Schule nicht mehr so wichtig. Aber machen Sie mal drei Schreibfehler in der Bewerbung. Dann haben Sie keine Chance mehr." Rechtschreibung ist die Barriere zwischen oben und unten. Ausdrücken kann sich jeder, wie er will. Aber wie er's schreibt, das ist amtlich vorgeschrieben. "Es gibt ein Bedürfnis der Leute nach Regelung. Aber dann muss die Regel so einfach wie möglich sein. Wer ein Wort trennen will, soll nicht das große Graecum haben müssen." Deswegen beschlossen die Reformer: Psy-chi-ater, nicht Psych-iater. Er hätte persönlich nichts dagegen, es zu machen wie die Engländer. Mit ihrer von der gesprochenen Sprache weitgehend unabhängigen Orthografie, in der ein Laut "u" als oo, ough, ui, ugh, oe oder wie auch immer geschrieben wird, ohne dass eine Kommission darüber ins Grübeln geraten wäre. Auf der Insel herrscht fröhliches Chaos, und im Zweifel gibt es dicke Wörterbücher. In Deutschland gehe das nicht, nicht mehr, sagt Augst: "Die deutschen Lehrer haben im 19. Jahrhundert vom Staat eine einheitliche Rechtschreibung erbeten. Das war der Sündenfall. Aus dem kommen wir jetzt nicht mehr heraus. Die Bürger wollen Regeln, der Duden antwortet mit Kasuistik und wird dick und dicker. Bis irgendwann die Ausnahmefälle auch in den Diktaten auftauchen. Es ist wie bei den Steuergesetzen: Irgendwann kommt der Punkt, wo man radikal durchformulieren muss. Und vereinfachen, wo es geht." Augst mag das Volk. Er hat das Standardwerk zur "Volksetymologie" geschrieben, also zur Art und Weise, wie Lieschen Müller sich Wörter herleitet. Das Volk habe recht, auf seine Weise: "Jeder bringt belemmert mit Lamm zusammen. Woher nehmen wir das Recht, dem normalen Deutschen zu sagen, du bist blöd, schau mal ins etymologische Wörterbuch?" Als Vorsitzender der Rechtschreibkommission lieferte Augst den Ministerialdirektoren Argumentationshilfen, fünf Seiten lang, oder zehn, je nach Bedarf. Er saß in den Ministerbüros, ließ die ersten Beschimpfungen über sich ergehen - manchmal konnte er die Icklerschen Formulierungen wortwörtlich heraushören -, und dann fing er an zu erklären. Er hat sich Mühe gegeben. Manchmal dachte er an seine Zwergschule im Westerwald. Augst korrespondierte mit Sprachpsychologen und Psycholinguisten über die dreifache Konsonantenfolge, "Schifffahrt" usw., um sich Klarheit zu verschaffen. Vergebens. Vieles ist Willkür. Wie soll Zucker getrennt werden? Zucker, Zuc-ker, Zuck-er? Darüber habe es Kampfabstimmungen gegeben, sagt Augst. Was bei Zu-cker noch klappt, geht bei Nusse-cke daneben. Einmal wurde geheime Abstimmung verlangt. Ganz zu schweigen von der Debatte um "Uschi's Shop", dem belachten Genitiv der Doofen. Das Regelwerk versteht Uschi. In Paragraf 97 wird der Apostroph zugelassen, "zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens". Denn auch Uschi hat das Recht, ihren Namen kenntlich zu machen. Im Regelwerk steht ihr Fall gleich neben der "Einstein'schen Relativitätstheorie". Da "haben sich Didaktiker und Agenten des Duden-Monopols in irgendwelchen Hinterzimmern zusammengerottet, um mit der deutschen Sprache gründlich aufzuräumen". So schreibt es Andreas Thalmayr, das Alias von Hans Magnus Enzensberger. Er meint Gerhard Augst. Als hätte im Kleinen Sitzungssaal A 1.28 des Sprachinstituts in Mannheim ein Wohlfahrtsausschuss getagt, ein Jakobinerrat, der den Dichtern ihre Phantasie austreiben wollte. Unter solchen Sätzen leidet Augst. Er erinnert sich noch, wie die Schriftsteller damals, 1973, mit der Großschreibung auch das Großkapital stürzen wollten. Die Zeiten haben sich geändert "Unser Unternehmen war bis Mitte der achtziger Jahre anschlussfähig. Barrieren einreißen, Gleichheit und Teilnahme aller Bevölkerungsschichten - das war der Geist der Zeit. Heute geht es nicht mehr um Förderkurse, sondern um Elitebildung. Und die Elite hat nie ein Problem mit der Rechtschreibung gehabt. Heute kann man sich nur noch wundern, dass die Kultusminister 1996 das Regelwerk überhaupt noch beschlossen haben." Denn das Volk wollte nicht. In Schleswig-Holstein wurde die Reform über eine Volksbefragung abgelehnt. Der Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk fuhr zur Buchmesse und sammelte Schriftstellerunterschriften für seine "Frankfurter Erklärung". Etwa 30 Gerichte beschäftigten sich mit Klagen von Eltern gegen das Regelwerk. Es waren letzten Endes auch Klagen gegen Gerhard Augst. "Das war eine harte Zeit", sagt er. "Ehre und Anerkennung sind mit der Reform nicht zu gewinnen. Man kommt sich wie ein Judas vor." Es gab in der Mannheimer Kommission manche, die im Bekanntenkreis nicht sagen mochten, woran sie arbeiteten. Es war ein wenig so wie bei den Atomforschern von Los Alamos. Dabei hatten die Kultusminister schon vieles zurückgenommen. Der "keiser" war längst gestürzt, die Kleinschreibung zum Tabu erklärt, und "Panter" lebte nur noch als Variante fort. "Als die Kleinschreibung vom Tisch war, bei der ja die meisten Diktatfehler gemacht werden, wollten viele von uns aufgeben", erinnert sich Augst. "Aber ich dachte, es muss doch zumindest einmal versucht werden. Damit man sieht, dass die Sprache nicht zusammenbricht, wenn man auf ein paar Schreibweisen verzichtet." Heute macht er sich den Vorwurf, seine Kommission nicht früh genug erweitert zu haben: "Wir hätten unsere Trennregeln vorher mit den Wörterbuchverlagen durchprobieren müssen", sagt Augst. "Es reicht nicht, zehn Beispiele zu nehmen. Dann wären wir früher auf die Schwierigkeiten gestoßen." Und, fügt er hinzu, sie hätten von vornherein mit den großen Agenturen und Zeitungen zusammenarbeiten müssen. Der "Frankfurter Allgemeinen" könne man ihren Sonderweg noch verzeihen. Aber es geht um das Volk. Und das Volk liest etwas anderes. "Wenn ,Bild' nicht mitmacht, dann haben wir keine Chance", sagt Augst. Das arme Volk. Am 1. August wird das Regelwerk in einem Teil Deutschlands teilweise in Kraft treten. In allen Bundesländern außer Nordrhein-Westfalen und Bayern wird die neue Rechtschreibung für Schulen und Behörden vorgeschrieben. Mit Ausnahme der Paragrafen für Zeichensetzung, Silbentrennung, Getrennt- und Zusammenschreibung. Da bestehe noch Diskussionsbedarf. Es sind genau die Felder, weswegen die Reform einmal begonnen worden ist. Deswegen haben Bayern und Nordrhein-Westfalen vorvergangene Woche erklärt, bis auf Weiteres die Neuschreibung nicht einzuführen. Das Land ist wieder geteilt. An Icklers Universität in Erlangen und an Augsts Uni in Siegen wird alt geschrieben, in Rostock jedoch, wo Dieter Nerius gelehrt hat, herrscht Reformation. Aber das tröstet ihn nicht. Dieter Nerius sitzt in einem Hochhaus, das früher der Stasi gehörte und heute der Hochschule, und er will nicht glauben, dass alles umsonst gewesen sein könnte. Dieser Mann im Jeanshemd hat die deutsche Orthografie vom Kreidestaub befreit und sie zum Bestandteil der Linguistik erhoben. Zu DDR-Zeiten war Nerius in der Partei. Er hatte nichts gegen den Aufbau des Sozialismus, solange der ihm nicht beim Aufbau einer linguistisch sauberen Rechtschreibung in die Quere kam. Er war Reisekader. Er durfte ausreisen, um sich in Mannheim mit dem Wiener Hofrat Karl Blüml über das Getrenntschreiben von "leidtun" zu unterhalten und über die Bedeutung von Morphemen bei der Worttrennung. Für Nerius begann die deutsche Einheit bereits, als Helmut Kohl nur von ihr träumte: "Wir waren alle für die gemäßigte Kleinschreibung und alle für die Silbentrennung." Die Kommission leiteten Professor Gerhard Augst (West) als Vorsitzender und Professor Dieter Nerius (Ost) als Stellvertreter. In den Sitzungen herrschte Pioniergeist. Es gab keine Österreicher, Luxemburger, Südtiroler mehr, keine Ost- und Westdeutschen - "Wir waren alle funktionale Strukturalisten", sagt Nerius. Die Schweizer Delegation kam von der "Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren". Die österreichische von der "Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe des Koordinationskomitees für Orthografie beim Bundesministerium für Unterricht und Kunst in Wien". Aber alles sollte vereinfacht werden. "Wir haben die Regelwerke der einzelnen Länder quasi aufeinander gelegt. Nicht immer waren wir einer Meinung. Die DDR-Gruppe hatte zum Beispiel die Position einer stärkeren Zusammenschreibung. Aber wir haben uns nicht durchgesetzt." Für Nerius war es eine Chance, etwas Vernunft in die Welt zu bringen. Endlich eine kohärente und konsistente deutsche Orthografie. Es muss eine gute Zeit gewesen sein. Es ist zu spüren, wenn Nerius von ihr erzählt - unterbrochen immer wieder von dem Satz: "Das können Sie auch in meinem Buch nachlesen." Die DDR-Wissenschaftler waren hochangesehen. Aus Rostock und Berlin kamen die Spezialisten für Silbentrennung und für Groß und Klein. Die SED war stolz, dass ihre Orthografen auch dem Westen etwas vorschreiben durften. Doch publizieren, was er in Mannheim regelte, durfte Nerius nicht: "Das war den Bonzen zu deutsch-deutsch." Es ging um Vereinheitlichung, um Gerechtigkeit, um Modernisierung. Die gleichen Begriffe, unter denen die Bundesagentur für Arbeit reformiert werden würde. Als die Kommission 1992 ihren Entwurf vorlegte, schien alles möglich. Die Einheit Deutschlands, Europas, der Wörterbücher. Es war damals schön, Linguist zu sein. Dann kamen Theodor Ickler und die anderen. Der Widerstand. Die Wütenden. Die Unsachlichen. Plötzlich war es mit der Ruhe vorbei. Dieter Nerius aus Rostock musste zusehen, wie mit jedem Treffen der Kultusminister, mit jedem neuen Protest die Schönheit des Ur-Entwurfs verblasste. Es war ein wenig wie mit dem Sozialismus. Nach einem SPIEGEL-Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister Zehetmair wurde die Reform ein erstes Mal durcheinander gebracht. Ohne jede Systematik wurden 45 Wörter als sakrosankt erklärt. Darunter "Heiliger Vater", "Letzte Ölung". Und "Paket" (statt "Packet"). Nerius begann zu verzweifeln. Das stolze Schiff "Regelwerk" wurde gekapert, geplündert, seiner Zierate beraubt, notdürftig wieder zusammengeflickt. Bald ging es nicht mehr um die Schönheit, nicht mehr um die Diktate des Proletariats, sondern nur noch darum, den Kahn, leck und mit zerfetzten Segeln, an Land zu bekommen, irgendwie. Die Mannheimer warfen Ballast ab. Im Januar 1998 empfahlen sie, mehr Varianten zuzulassen. Aber jetzt lehnten die Kultusminister ab. Vielleicht aus Furcht, jedes Zugeständnis könnte den Fundamentalisten Anlass zu neuen Angriffen geben. "Das Auftreten von gewissen Kritikern gefällt mir nicht, ihre Besserwisserei, ihre Intoleranz, ihre Rechthaberei. Nicht alle sind so, aber Ickler gewiss. Man kann ja verschiedener Meinung sein", sagt Nerius. An der Wand seines Arbeitszimmers hängt ein Bild der Gebrüder Grimm, ebenfalls Sprachreformer. "Aber ich kann nicht mit jemandem diskutieren, der das Ganze als Schwachsinn ansieht, wie es Herr Rüttgers bei ,Christiansen‘ getan hat." Manchmal denkt Nerius, dass es bei dem Widerstand gar nicht ums Schreiben geht. Den Menschen ist zu viel Vertrautes weggebrochen. Erst die Postleitzahlen, dann die D-Mark, dann die Schreibweise. Ganz zu schweigen von der DDR. Nerius hofft jetzt nur noch auf die Schule. In manchen Schulen wird seit neun Jahren die neue Schreibweise unterrichtet. Das heißt, die ersten Reformschüler werden die Haupt- und Realschulen genau zu dem Zeitpunkt verlassen, wenn das Regelwerk verbindlich wird. "Ich möchte aus diesem Streit nicht lernen, dass Sprache ein für alle Mal in ihrer grafischen Form eingemauert bleiben soll. Orthografie ist eine gesetzte Norm. Sie wird von Menschen gemacht. Ich weigere mich zu glauben, dass wir Deutschen nicht imstande sein sollten, eine derart kleine Veränderung zu bewerkstelligen." Der größte Teil der ursprünglichen Reform ist inzwischen zurückgenommen. Der Duden ist über die Jahre noch dicker geworden. Die Pisa-Ergebnisse katastrophal. Und niemand weiß genau, wie er schreiben soll. Ein Desaster, von niemandem gewollt. Mit guten Vorsätzen und unendlicher Mühe ist etwas in Gang gesetzt worden, ein großer Plan, und an den Verhältnissen gescheitert. Die Rechtschreibreform ist das Dosenpfand der Germanistik, eine Hartz-Utopie für die Arbeiter der Stirn und die Schüler in den Klassen. Im Juni 2004 akzeptierte die Kultusministerkonferenz schließlich die Kompromissvorschläge der Mannheimer Kommission und berief einen "Rat für deutsche Rechtschreibung" unter dem Vorsitz des ehemaligen Kultusministers von Bayern, Zehetmair. Der Rat soll "die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum bewahren" und auf Grundlage des Regelwerks von 1996 weiterentwickeln. 39 Schriftgelehrte diverser, auch reformkritischer Institutionen sollen per Zweidrittelmehrheit über Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- oder Zusammenschreibung entscheiden und bis Sommer 2006 damit fertig sein. Die Wörterbuchverlage sind beteiligt und stellen ihre Datenbanken zum Regel-Testen zur Verfügung. Anders als seine Vorgänger ist der neue Rat unabhängig von der Kultusministerkonferenz. Der PEN-Klub delegiert Theodor Ickler in das Gremium. Als Erstes empfiehlt der Rat die teilweise Rückgängigmachung der Reform. Im Rat ist Theodor Ickler Mitglied der "Arbeitsgruppe Silbentrennung und Zeichensetzung" und schreibt rastlos neue Vorlagen. Er sagt: "Darum kämpfen wir: Bio-tonne. Nicht Bi-otonne." Ickler könnte sich als Sieger fühlen. Seine Tochter wird nicht mehr durchs Diktat fallen, weil sie auf den Duden ihres Vaters hört. Doch Theodor Ickler ist vorsichtig. Bei jedem Treffen der Kultusminister rechnet er noch auf eine Schurkerei in letzter Minute. Nein, er sei enttäuscht von diesem Land. An der Bundestagswahl wird sich Theodor Ickler nicht beteiligen. Gerhard Augst seinerseits hat lange schon aufgehört, sich als Gewinner zu fühlen. Er sagt, es sei gut gewesen, es einmal versucht zu haben, vielleicht ein letztes Mal. "Alle Beteiligten gehen da geschädigt hinaus." Er sagt, er könne sich diesen deutschen Recht-Streit nur mit einem erklären, mit Angst: "Wir sprechen, ohne zu wissen, weshalb wir es tun. Und plötzlich kommt jemand und will etwas ändern. Das wird empfunden als ein Frontalangriff auf die natürliche Sicherheit, die wir in der Sprache haben. Intuitiv wird alles Fremde abgewehrt. Natürlich werden linguistische Argumentationen aufgebaut, aber im Grunde steckt dahinter diese Angst." Augst hat sich inzwischen aus dem Streit herausgezogen. Er arbeitet jetzt an einem vollständigen Dialektwörterbuch seines Heimatdorfs im Westerwald. Dieter Nerius fährt zum Urlaub in den Harz und arbeitet an einer Neuedition der Schriften Konrad Dudens. In eine Partei ist er nie wieder eingetraten. Wie der Disput um Komma und Bi-otonne auch ausgehen wird. Bleiben wird ein guter Rest vom Regelwerk, der Beschluss zum Doppel-s. Ein paar Kommata werden verschwinden (können), und der Dichter Durs Grünbein wird schreiben dürfen, wie er mag, sofern er nicht Amtsblätter verfasst. Doch ganz egal, was die Kultusminister schließlich beschließen. Irgendwann wird jemand auf den Bad Hersfelder Friedhof treten und an Dudens Grab mit erhobenem Zeigefinger schwören: Konrad, der Kampf geht weiter!
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