22.06.2005


Torsten Harmsen

Wier schraiben jetz frei nahch Schnautze

Tagebuch

Mehrere deutsche Akademien verlangen in einer Erklärung, die geplante Einführung der neuen Rechtschreibung zu stoppen. Zu ihnen gehören die Akademien der Künste in Berlin, Bayern und Sachsen. Dasselbe fordern etwa sechzig deutsche Rechtswissenschaftler.

Sie tun recht daran, ihre Stimme zu erheben. Denn die Kultusminister bringen mit ihrem Beschluss, Teile der Reform vom 1. August an notenwirksam werden zu lassen, Schüler und Lehrer in eine unerträgliche Lage. Die neue Rechtschreibung, so erklären die Akademien, liege in zwei Fassungen vor – von 1996 und 2004. Die letzte sei in noch keinem Schulbuch vollständig dargestellt. Und jene Bereiche, die die Kultusminister eigenmächtig für unstrittig erklärt hätten, seien nie wirklich unstrittig gewesen.

Die Juristen wiederum sehen es als rechtlich äußerst problematisch an, dass Schüler verpflichtet werden, „grammatikalisch und sprachlogisch falsche Schreibweisen“ zu erlernen (Beispiele: gestern Abend, Pleite gehen, zu Eigen machen), während korrekte Schreibweisen als Fehler gewertet werden. „Rechtsstaatlich höchst bedenklich“ finden sie, dass Schüler und Lehrer häufig unklar bleibt, was als richtig oder falsch gilt.

Die Adressaten der Erklärungen sind die Ministerpräsidenten, die am Donnerstag tagen. Sie sollen die Einführung der Reform stoppen. Bereits in der vergangenen Woche hatte sich Hans Zehetmair, der Chef des Ende 2004 ins Leben gerufenen Rechtschreibrates, für ein Moratorium ausgesprochen. Solange der Rat nicht die gesamte neue Rechtschreibung überprüft und einen Konsens gefunden hat, sollte kein Teil in Kraft treten. Die Politik schreibt sonst die Zersplitterung der Sprachgemeinschaft fest und tut damit genau das Gegenteil von dem, was mit der Einsetzung des Rates erreicht werden sollte: die Wiederherstellung des „Rechtschreibfriedens“.

Was soll man nun angesichts des politischen Versagens tun? Was soll man machen als Erziehungsberechtigter zweier Schulkinder, wenn diese künftig miese Noten erhalten für das, was man selber schreibt? Muss man den Mund halten, um den Schulfrieden nicht zu gefährden, auch wenn man sich immer noch „schneuzt, wenn es not tut“, während sie sich „schnäuzen, wenn es Not tut“? Obwohl man noch immer Stengel schreibt statt Stängel, Tip statt Tipp, bankrott gehen statt Bankrott gehen? Wie soll man schreiben, wenn keine allgemeinen Regeln mehr gelten?

Ach, lassen wir doch einfach alles sausen und schreiben einfach wieder wie Goethes Mutter – frei nach Schnauze: Ich trage ales mit Gedult und warte auf beßre Zeyten.

(Berliner Zeitung, 22. 6. 2005)



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