26.01.2005 Hans Krieger Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern ChanceEine Antwort auf Prof. Helmut JochemsZum Beitrag vom 18.01.2005 von Wolfgang Steinbrecht, „Diese Auffassung kann nicht auf Recht erhalten werden.“ Rechtschreibreform und Lehrerschaft gibt es einen bemerkenswerten Kommentar von Prof. Helmut Jochems vom 26.1.05. Von Hans Krieger erreichte uns hierzu folgende Entgegnung:Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern Chance Eine Antwort auf Prof. Helmut Jochems Daß Schreibung und Rechtschreibung nicht einfach identisch sind, ist keine neue Erkenntnis. Wichtiger ist eine andere Einsicht: daß Schreibung ihrem Wesen nach zur Rechtschreibung drängt. Der Sinn des Schreibens ist das Gelesenwerden und Verstandenwerden, und nur verläßliche Einheitlichkeit der Schreibung kann müheloses, mißverständnisfreies und vollständiges Verstehen einigermaßen garantieren. Noch die orthographischen Eigenwilligkeiten des geübten Kreativschreibers, der mit bewußten Normabweichungen Ausdruckakzente oder Denk-Impulse setzen will, setzen die unangefochtene Gültigkeit der Norm voraus und könnten ohne sie nicht zur Wirkung kommen. Die Geschichte der Vereinheitlichung der Rechtschreibung, die im wesentlichen spontan erfolgte, lehrt, daß in aller Regel Zweckmäßiges sich durchsetzte – zweckmäßig im Sinne einer Differenzierung und Verfeinerung des Ausdrucks, eines Zugewinns an Nuancen. Daraus folgt: das orthographisch „Richtige“ ist nicht einfach darum „richtig“, weil es logisch gut begründbar wäre oder gar Gesetzescharakter hätte; es ist „richtig“, weil es das Übliche ist und damit den Zweck der Verstehbarkeit erfüllt. Es folgt weiter: da angesichts der Langlebigkeit von Texten „Einheitlichkeit“ nicht nur geographisch und sozial, sondern auch zeitlich, also generationenübergreifend verstanden werden muß, ist jede Rechtschreibreform (soweit sie über behutsame Anpassungen an den Sprachwandel hinausgeht) nicht nur unzweckmäßig, sondern im strikten Wortsinne widersinnig: sie verleugnet den Sinn der Rechtschreibung. Aber es folgt auch dies: wer sich an die übliche Rechtschreibung hält, beugt sich keinem Zwang, sondern nutzt eine Chance, und wer, aus Unvermögen oder Achtlosigkeit, die Chance nur unvollkommen nutzt, begeht keinen sanktionswürdigen Verstoß, denn das „Richtige“, das er verfehlt, ist ja nur das Übliche und darum Zweckmäßige, dessen generelle Gültigkeit freilich auch in seinem Interesse liegt. Ein Sprachunterricht ohne Angst vor dem Fehlermachen wäre also zu entwickeln, der von der Schule her jeden Ruf nach einer Simplifizierung der Rechtschreibregeln überflüssig macht. Daß auch professionelle Schreiber die Rechtschreibung selten lückenlos beherrschen, besagt nichts gegen ihre Brauchbarkeit. Viele Profi-Schreiber kommen auch mit der Kommasetzung nicht zurecht, obwohl sie außerordentlich logisch geregelt ist, und haben Probleme mit der Grammatik; zu fragen wäre eher, warum ausgerechnet beim Schreiben der Anspruch an Professionalität so niedrig ist wie fast nirgendwo sonst. Die Forderung nach einer Zweiteilung der Orthographie in eine einfache für den Allgemeingebrauch und eine differenziertere für den Profi erledigt sich damit von selbst; sie erledigt sich aber auch wegen der Unlösbarkeit der Abgrenzungsprobleme. Auch der Hobby-Klavierspieler benützt die gleichen Noten und ein Instrument von prinzipiell gleicher Bauart wie der Konzertvirtuose. Wir brauchen eine einheitliche Orthographie, die den höchsten Differenzierungsansprüchen genügt und von der Schulbank an niemandem den Zugang zu den höheren Etagen der Sprachkultur verwehrt. Ein Niveaugefälle in der Nutzung der Chance kann und muß hingenommen werden. Die Empfehlung von Professor Jochems, sich auf „die Vorbildwirkung richtig geschriebener Texte“ zu beschränken, ist zirkelschlüssig. Denn woran erkennt man, daß ein Text „richtig geschrieben“ ist? Auf der „Vorbildwirkung richtig geschriebener Texte“ basierte die klassische, bis zur Reform von 1996 allgemein übliche Rechtschreibung. Wer aber im konkreten Zweifelsfall Orientierung sucht, greift nicht zu „richtig geschriebenen Texten“, sondern zum Rechtschreibwörterbuch. Die Problematik der Varianten ist eine doppelte. Unterschiedliche Schreibungen sind nahezu immer mit minimalen Bedeutungsunterschieden verbunden; wer zwischen zwei zulässigen Varianten wählen kann, hat also zu fragen, welche seinem Ausdrucksbedürfnis oder seiner stilistischen Absicht besser entspricht und darum die zweckmäßigere ist, und darf erwarten, vom Wörterbuch hierzu einen Fingerzeig zu erhalten. Wo keinerlei Bedeutungsnuance wahrnehmbar ist, sind Varianten kontraproduktiv und sollten grundsätzlich vermieden werden. Die durch die Reform beseitigte Unterscheidung von „alles mögliche“ (= vielerlei) und „alles Mögliche“ (= alles, was möglich ist) ist ein gutes Beispiel für (Schein-)Varianten, die der Genauigkeit dienen und nicht beliebig austauschbar sind. Anders verhält es sich bei „radfahren“ versus „Auto fahren“: die alte Duden-Regel (R 207) hätte auch „Rad fahren“ und „autofahren“ zugelassen und war im Wörterverzeichnis zu rigide ausgelegt. Die semantische Nuance (einmal mehr Akzent auf die Tätigkeit, einmal mehr auf das Fortbewegungsmittel) ist wohl zu minimal, um unentbehrlich zu sein, doch die unverkennbare Tendenz der deutschen Sprache zur Bildung von immer mehr Univerbierungen sollte nicht regulatorisch unterbunden werden. Bei den wirklich unentscheidbaren Zweifelsfällen aber wie etwa dem Widerspruch zwischen „in bezug“ und „mit Bezug“ wäre entweder Angleichung oder Freigabe seit Jahrzehnten überfällig gewesen; einer Reform hätte es dazu nicht bedurft.
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