03.12.2004


Nachtgespräche

Die Bundestagsdebatte zur Rechtschreibreform

Die Politik soll sich mit der Rechtschreibung nicht befassen, deshalb mußte sie es gestern tun.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit taumelnd zwischen Alb- und Alptraum entledigte sich der dünn besetzte und in der Sache nur mäßig informierte Bundestag einer Aufgabe, die er so wenig wie andere politische Instanzen regeln kann. Auszüge:

»GÜNTER NOOKE (CDU/CSU):

Unser Antrag fordert daher genau das, was der Titel verspricht: Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung; nicht mehr, aber auch nicht weniger. (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir doch!)

Man interpretiert unseren Antrag nicht falsch, wenn man die Erwartung herausliest, (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Da steht doch gar nichts drin!) – hör doch mal zu! – dass der Rat für deutsche Rechtschreibung Kompetenz und Möglichkeit haben muss, das Dilemma zu beenden.

Nicht mehr die Politik, sondern der Rat wird die Reform begleiten. Das Gremium soll die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum bewahren

Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass sich die Weiterentwicklung der Orthographie an der guten Lesbarkeit der deutsch geschriebenen Texte orientieren muss und nicht etwa daran, wie es gelingen könnte, dass Schüler weniger Fehler beim Schreiben machen. Dieses falsche Denken, dieses Missverständnis ist mit dafür verantwortlich, dass man die Kultusminister für die Rechtschreibreform zuständig hielt.

Mit derselben Klarheit, mit der ich diese Frage damals beantwortet hätte, muss ich aber heute sagen: Es ist geradezu absurd, zu denken, der Rechtschreibung in Deutschland und im deutschen Sprachraum sei am besten gedient, wenn es jetzt das Kommando "Zurück zur alten Rechtschreibung!" gäbe.

Politik hat die Aufgabe – immer dann, wenn sie am erfolgreichsten ist, macht sie das und nimmt sich die Freiheit –, in jeder neuen Situation neu nachzudenken. Dabei müssen wir uns, ob wir nun betroffen sind oder nicht, ob wir beteiligt waren oder nicht, die Entscheidung der letzten Jahre bewusst machen und diese berücksichtigen.

Wir wollen mit unserem Antrag einfach Druck machen und eine schnelle und tragfähige Lösung einfordern. Wir halten es für unverantwortlich, dass Schüler in Deutschland im Deutschunterricht über Kommentare aus Zeitungen sprechen, für die es seit dem Sommer bezogen auf die Rechtschreibung die Note "ungenügend" geben würde.

ECKHARDT BARTHEL (SPD):

Der Rechtschreibreform einige Zähne zu ziehen – in der Tat gibt es mehrere Stellen, an denen man sich fragt, wie das zustande gekommen ist – wird die Aufgabe des Rates für deutsche Rechtschreibung sein; das ist die einzige Chance. Wenn er es nicht schafft, ist der Zug abgefahren.

HANS-JOACHIM OTTO (FDP):

An dem jahrhundertelang in Deutschland, aber auch in den allermeisten anderen europäischen Kulturnationen bewährten Gebot einer behutsamen und organischen Sprach- und Rechtschreibentwicklung durch das Volk haben sich die Bürokraten der zwischenstaatlichen Kommission versündigt.

Sie folgten bewusst oder unbewusst der Ideologie eines Initiators der Reform, des SED- und PDS-Mitglieds Dieter Nerius, der die Rechtschreibreform wörtlich bezeichnete als "eine Maßnahme der Sprachlenkung, die nur vom Staat durchgesetzt werden kann". (Jörg Tauss [SPD]: Quark!)

Der Bundestag ist – Herr Schmidt, das sagen Sie doch immer – unzuständig. Ich frage Sie, warum die Bundesregierung das entscheidende Dokument, nämlich die "Wiener Absichtserklärung", mit unterzeichnet hat. Die Bundesregierung hat mit verhandelt und mit unterzeichnet. Wir Bundestagsabgeordneten sind in jedem Fall berechtigt, einen Appell an die KMK zu richten.

Unsere Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen und sie für die Zukunft zu korrigieren, hat im Übrigen Vorbildfunktion, vor allem für Kinder.

[PHILIPP WINKLER (Bündnis 90/Die Grünen): Zum anderen sagen die Befürworter, man dürfe es den Kindern nicht antun, die Reform jetzt wieder zurückzunehmen. Das ist, finde ich, eine perfide Argumentation; denn die, die von Anfang dagegen waren, haben gerade der Kinder wegen davor gewarnt, diese komplette Umstellung vorzunehmen. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen.

Der Herr Zehetmair gehört auch zu denen, die die Reform gegen die breite Öffentlichkeit in Deutschland durchgepeitscht haben. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn der, der das gegen den Widerstand der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, jetzt den Vorsitz übernimmt und sagt, es sei ein Irrweg, wenn sich der Bundestag damit befasse.]

GRIETJE BETTIN (Bündnis 90/Die Grünen):

Ehrlicherweise muss ich wohl sagen, dass ich an der Rechtschreibreform ebenso wenig Freude hatte, wie ich Freude an der Diskussion habe, die wir heute führen, nämlich an der Diskussion darüber, sie wieder rückgängig zu machen.

In meinem Heimatland Schleswig-Holstein wurde die Reform der Rechtschreibung durch einen Volksentscheid gestoppt, (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Richtig! Stimmt!) aber nur für ein Jahr; denn im Sinne der gesamtstaatlichen Verantwortung und der nationalen Identität, die in den heute vorliegenden Anträgen vielfach beschworen werden, musste die Landesregierung ein Jahr später – gemeinsam übrigens mit der CDU/CSU-Opposition – diesen Entscheid missachten.

[HANS-JOACHIM OTTO (FDP): Liebe Frau Kollegin Bettin, nachdem Sie eben gewarnt haben, dass die Schüler noch einmal umlernen müssten, möchte ich Sie fragen, welche Funktion der Rat für deutsche Rechtschreibung überhaupt haben soll, wenn er nicht neue Änderungen einführen soll? (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist ein Prozess, Herr Kollege!) Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass die Schüler und auch die deutsche Öffentlichkeit ohnedies erneut gezwungen werden sollen, zum fünften Mal mit neuen Änderungen an der Reform, mit einer Reform der Reform umzugehen? Müssen die Schüler nach dieser Murksreform nicht sowieso erneut umlernen?]

Der Ehrlichkeit halber sollten wir uns schon eingestehen, dass es nicht zu substanziellen Veränderungen durch Vorschläge dieses Rates kommen wird. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ob das Herrn Zehetmair gefällt?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meiner Meinung nach steht die KMK hier in der Verantwortung und muss im Interesse der Schülerinnen und Schüler handeln. Ich hoffe, alle Beteiligten und insbesondere die Medien nehmen ihre Verantwortung für die nachfolgende Generation wahr, indem sie zu einer konstruktiven Lösung des Problems beitragen.

[ERIKA STEINBACH (CDU/CSU): Liebe Kollegin, man muss schon sagen, Ihre Argumente hinken auf beiden Beinen. Sie haben aus Schleswig- Holstein berichtet und wollten damit plausibel machen, warum man eine Rechtschreibreform, die erst einmal probeweise eingeführt worden ist, nach Ende der Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen könnte. Sie sagten, das Ganze würde keinen Sinn machen. Dann darf man die Reform nicht probeweise einführen, sondern muss sie von Anfang an endgültig einführen.]

HEINRICH-WILHELM RONSÖHR (CDU/CSU):

Wir können die Reform nur dann noch erfolgreich gestalten, wenn wir Herrn Zehetmair und seine Kommission befähigen, das Reformwerk so auszugestalten, dass es zu einer größeren Akzeptanz der Regeln kommt.

Dass es Sinnloses gibt, geben doch inzwischen alle zu. Tun wir doch nicht so, als wenn wir das noch bestreiten müssten! Dass es manches Sinnlose zu beseitigen gibt, ist auch in der Rede von Herrn Barthel deutlich geworden. Das hier zu bestreiten ist doch falsch. Wenn wir das kritisch hinterfragen, stellen wir fest, dass wir da gar nicht so weit voneinander entfernt sind. (Jörg Tauss [SPD]: Doch, ziemlich!) Betonen wir auch einmal die Gemeinsamkeiten!«


( das vollständige Protokoll als sich selbst entpackende exe-Datei gibt es hier ).



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=154