Reiner Kunze
Bleibt nur die eigene StirnAusgewählte RedenKurzbeschreibung: Den Lügen die Stirn bieten Der Lyriker Reiner Kunze erweist sich als begnadeter Redner Die Existenz Reiner Kunzes war während seiner DDR-Jahrzehnte (bis 1977) oft eine klandestine. Radius Verlag, Stuttgart 2005. 199 Seiten, 18 Euro. Zu diesem Buch: Seit seinem Austritt aus der SED wegen des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR (1968) konnten seine Bücher nicht mehr im »Arbeiter-und-Bauern-Staat« erscheinen, geschweige denn, daß er Preise erhalten und Preisreden hätte halten müssen. Lesungen halten konnte er damals nur noch im kirchlichen Bereich, unter fortwährender Bespitzelung der einladenden Pfarrer und, natürlich, des Vortragenden selbst. Mit der Veröffentlichung seiner »Wunderbaren Jahre« und der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 war seine Position drüben ganz unhaltbar geworden, und so übersiedelte er im darauffolgenden Frühjahr in die Bundesrepublik. Wer dem asthma- und hautallergiekranken, dem gehänselten Bergarbeiterjungen aus Oelsnitz prophezeit hätte, daß er ein vielgefragter Redner werden würde, hätte wahrhaft prophetische Gaben haben müssen. Seit dem Herbst 1977 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis, dem Weichmann-Preis, dem Hanns-Martin-Schleyer-Preis, mit dem Ehrendoktor der TU Dresden, mit der Ehrenbürgerschaft der Städte Greiz und Oelsnitz, dem Weilheimer Literaturpreis, dem Hölderlin-Preis, dem bayrischen Verdienstorden, dem Kulturpreis Ostbayern, dem Hans-Sahl-Preis, dem Kunst-Preis zur deutsch-tschechischen Verständigung und dem STAB-Stiftungspreis in Zürich ausgezeichnet, wobei er immer Dankreden zu halten hatte. Er sprach vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse, vor dem CDU-Parteitag 1997, zur Eröffnung der Europäischen Wochen in Passau und zum Tag der Deutschen Einheit 2004 in Erfurt – die Liste ist nicht vollständig. Da nicht wenige dieser Reden in »öffentlichen Gefilden« gehalten wurden, bezieht sich Kunze natürlich oft auf seine Existenz im sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat. Es entsteht eine Art Autobiographie in Bruchstücken, mit besonders eindrucksvollen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend und an die unwahrscheinlich harten Bedingungen, unter denen er aufwuchs, zu lesen, zu schreiben, zu zeichnen anfing. Kunze hat es der DDR nicht vergessen, daß sie ihm den Zugang zur Oberschule und zur Universität eröffnete, aber er nennt auch den ideologischen Preis, den er dafür zu zahlen hatte. Jahrelang lebte er wie viele seiner Generationsgenossen in geistiger Unmündigkeit, indoktriniert und fehlgeleitet, und er verdankt es der Begegnung mit seiner tschechisch-deutschen Frau Elisabeth, geborene Mifka, daß er die Poesie von Vancura, Zahradnicek, Holan, Jan Skacel kennenlernte. Diese Autoren eröffneten ihm, was große Prosa, große Lyrik ist, und soweit sie nicht übersetzt waren, brachte er sie großartig ins Deutsche. Immer wieder erweist er den tschechischen Autoren, den Freunden aus dem Nachbarland, zu denen auch Vaclav Havel, Milan Kundera und Jiri Grusa gehören, seine Reverenz. Und nicht minder Albert Camus, dessen »Mythos des Sisyphos« zu den Schlüsselwerken seiner geistigen Entwicklung zählt. Mit großer Souveränität bekennt sich Kunze zu seiner Lektüre, seinen intellektuellen und ästhetischen Schulden, und er versuchte sie, wo er konnte, abzutragen, indem er die Texte der großen Kollegen eben nachdichtete und bei seinen Auftritten so oft als möglich propagierte. Mit der Energie und Verbissenheit, mit der seine Bergarbeitervorfahren im Erzgebirge Kohle und Metall schürften, geht er den Silberadern der Poesie in fremden Sprachen nach und bringt ans Licht, was in der Tiefe schlummerte. Die Sorgfalt jedoch, die er dem Deutschen angedeihen läßt, ist nicht kleiner. Kein Wunder, daß er einer der schärfsten Kritiker der unglückseligen Rechtschreibreform wurde. Der Übermut der Ämter, der Kunze schon in der DDR zur Verzweiflung brachte, empört ihn – siehe den Oktroi der neuen Ortografie – im vereinigten Deutschland nicht minder. Kunze läßt keinen Zweifel daran, daß er die parlamentarisch-demokratische, sozial-marktwirtschaftliche Bundesrepublik, der die DDR 1990 beitrat, insgesamt für den weitaus besseren deutschen Staat hält. Den Theorien, daß sich die neuen Vorteile und Nachteile in der Waage hielten, gibt er keinen Kredit. Das genügt manchen Liebhabern des sozialen Damals, um ihn ins rechte, reaktionäre Lager abzuschieben. Nach Kräften sucht er sich dem Rechts-links-Schema zu entziehen. CDU-Anhänger, die ihn auf einem Parteitag begrüßen, werden verblüfft feststellen, daß Kunze radikal ökologisch denkt und die Schöpfung gegen blinde Wirtschaftsinteressen bewahren möchte. Er vollzieht den Kniefall Willy Brandts in Warschau mit, wendet sich aber dagegen, daß unser Volk für immer in dieser Haltung zu leben habe. Denn »auf Knien zu verharren würde nämlich bedeuten, der menschlichen Augenhöhe verlustig zu gehen und weder weit genug zurück noch weit genug nach vorn blicken zu können«. Karl Corino, Rheinischer Merkur 22/2005 Quelle: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=literatur&id=16 |