14.05.2005


Theodor Ickler

Grünschnäbel

Die Grünen und die Rechtschreibreform (Neufassung 14.5.2005)

Im Sommer 2004 erhob Antje Vollmer als grüne Politikerin ihre Stimme gegen die Rechtschreibreform. Sie verlangte im September sogar, die Kultusminister müßten sich bei den Schülern für die Reform entschuldigen.

Das ist gewiß richtig, trifft aber auch auf die Grünen selbst zu. Sie haben sich seit 1996 immer und überall für die Durchsetzung der Rechtschreibreform ausgesprochen.

In der Bundestagsdebatte über die Rechtschreibreform vom 18.4.1997 ließ die Fraktion der Grünen – hauptsächlich auf Druck Joschka Fischers („Ich war schon immer für Reformen!“) – nicht ihr einziges sachkundiges Mitglied, Gerald Häfner, sprechen, sondern Helmut Lippelt, der sonst mit Bildungspolitik nicht viel zu tun hat. Lippelt stellte später im Bonner Presseclub auch die Kampfschrift des Reformers Zabel „Widerworte. 'Lieber Herr Grass, Ihre Aufregung ist unbegründet' – Antworten an Gegner und Kritiker der Rechtschreibreform“ vor, die der AOL-Verlag an alle Bundestagsabgeordneten verteilen ließ. (Häfner kam auf Antrag eines FDP(!)-Abgeordneten doch noch zu Wort und sagt in drei Minuten, was zu sagen war; vgl. Anhang.) Im gleichen Sommer meldete die Presse:
„Im Streit um die Rechtschreibung sprachen sich die Grünen im Bundestag gegen einen Reformstopp aus. Deutschland habe wichtigere Probleme als die Frage, ob Thunfisch künftig auch ohne 'h' geschrieben werden könne.“ (dpa 21.6.1997)
Während einer Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages erklärte der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, die Amtssprache müsse der Schulorthographie folgen. Ebenso äußerte sich Beck nochmals im Plenum des Bundestages: „Es darf nicht sein, daß der Bund eine andere Sprache als Amtssprache haben will als die, die wir an den Schulen haben. Deshalb muß das, was an den Schulen gilt, auch in die Amtssprache des Bundes umgesetzt werden.“ (26.3.1998) Das war ganz im Sinne des führenden Reformers Gerhard Augst: „Die Schule macht den Vorreiter.“ (Pressekonferenz am 12.9.1997 in Mannheim. Man vergleiche die schlichte Feststellung des liberalen Abgeordneten Stephani am 7.4.1880 im Deutschen Reichstag:„Die Schule soll den Schülern das, was in den gebildeten Kreisen des Volkes zur festen Gewohnheit in Bezug auf Rechtschreibung geworden ist, als Regel beibringen; nicht aber soll die Schule selbst vorangehen, indem die Schulen das Volk zwingen wollen, eine neue Gewohnheit der Rechtschreibung anzunehmen.“)

Als die FAZ zur bewährten Rechtschreibung zurückkehrte, „warf Grünen-Chef Kuhn den Kritikern 'Effekthascherei' vor.“
„Die neue Rechtschreibung habe sich in der Gesellschaft und 'besonders an den Schulen' schnell durchgesetzt. Die neuen Regeln seien für die Kinder leichter zu begründen und ließen sich in Zweifelsfällen einfacher ableiten. Es mache keinen Sinn, wegen einer 'fröhlichen Sommerloch-Diskussion' die gelungene Reform in Frage zu stellen, betonte Kuhn: 'Es ist nicht einzusehen, dass Kinder, Eltern und Lehrer jetzt durch eine Diskussion verunsichert werden sollen, die überflüssig ist wie ein Kropf.'“ (NRZ vom 29.7.2000)
Als der Landtag von Schleswig-Holstein den Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform annullierte, stimmte auch die Fraktion der Grünen zu, wenn auch mit Bedenken wegen des undemokratischen Verfahrens. Sie glaubte jedoch im Interesse der Schüler nicht anders handeln zu können. (Einzelheiten im Protokoll zur 93. Plenarsitzung vom 15.9.1999)

In Bayern vertraten die Grünen genau denselben Standpunkt wie Kultusminister Zehetmair. Die Abgeordnete Petra Münzel erklärte schon in der Landtagsdebatte am 27.10.1995:
„Mit dieser Rechtschreibreform werden viele Ungereimtheiten der deutschen Rechtschreibung, die den Schulkindern immense Schwierigkeiten bereiten und auch von Erwachsenen regelmäßig nicht beherrscht werden, ausgeräumt. Die Rechtschreibung soll also für die, die schreiben, leichter sein, ohne daß sich Nachteile für die Lesenden daraus ergeben. Ein lohnendes Ziel. Meiner Auffassung nach ist dies durchaus gelungen.“
Gleichzeitig verriet die bildungspolitische Sprecherin der Grünen tiefste Unwissenheit über den Gegenstand ihrer Rede. Am Schluß forderte sie den Minister unnötigerweise auf: „Sorgen Sie für eine baldige Umsetzung des Reförmchens.“ Kein Vertreter der Grünen außer Häfner ließ je eine genauere Kenntnis der Inhalte und Umstände der oktroyierten Sprachveränderung erkennen. Bei dieser Mischung von Ignoranz und obrigkeitlichem Durchsetzungswillen ist es bis heute geblieben. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß Joschka Fischers, der ohne Interesse am Inhalt der Reform deren Durchsetzung mit großer Bestimmtheit gesichert wissen will; für ihn ist es eine reine Machtfrage. Während der Frankfurter Buchmesse 2004 soll er auf den FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher losgegangen sein und ihn angefahren haben: „Wenn Sie und Herr Döpfner glauben, eine politisch nicht legitimierte Gegenmacht aufbauen zu können, haben Sie sich geschnitten!“ (Eine ähnliche Drohung brachte der hessische Regierungssprecher Dirk Metz im Februar 2005 in der ZEIT vor.)

Die Bremer taz meldete am 10.8.2004:
„Grüne: Weiter Delfin schreiben
Eine Kehrtwende bei der Rechtschreibreform würde Verwirrung und teure Folgekosten verursachen. Das sagte gestern die grüne Bildungspolitikerin Anja Stahmann. Allein für neue Schulbücher müsste Bremen einen zweistelligen Millionenbetrag ausgeben – Geld, das an anderer Stelle fehlen würde. 'Wir brauchen dringend mehr Mittel für besseren Unterricht, beispielsweise für mehr Ganztagsschulen und Förderunterricht. Ich bin gegen eine Reform der Reform.'“
Auf der Internetseite der Grünen in Hannover las man am 18.8.2004:
„Als gäbe es nichts wichtigeres (sic), wurde das Sommerloch zum Teil durch die neue Debatte um die Rechtschreibreform gefüllt. Über eine EU-Verfassung will man das Volk nicht abstimmen lassen, sehr wohl aber, ob es Portemonnaie oder Portmonee heißt. Wer nicht nur einfach mäkeln will, sondern auch sein eigenes Können testen will, findet einen kleinen Test unter ...“
Und die Grüne Jugend Niedersachsen meldete:
„Chaos in der Schultüte
19.08.2004: (...) Die Grüne Jugend Niedersachsen (GJN) bedauert die Schülerinnen und Schüler, die nach der Sommerdiskussion um die Rechtschreibreform nicht mehr wissen, in welcher Rechtschreibung sie in Zukunft schreiben sollen. 'Die Diskussion um die Rechtschreibreform muss möglichst schnell beigelegt werden.' Sagt Josefine Paul für den Landesvorstand der GJN.
Zwar könnten sinnvolle Rücknahmen und Änderungen auch jetzt noch vorgenommen werden, die Diskussion um für und wider der gesamten Diskussion müsse im Interesse der SchülerInnen aber möglichst schnell vom Tisch, betont Paul. Grundsätzlich plädiert die GJN aber für ein Beibehalten der neuen, vereinfachten Rechtschreibung.
'Es darf nicht so weit kommen, dass zum Schulbeginn nur noch Chaos in der Schultüte zu finden ist und der Spaß am Lernen schon in der Grundschule verlorengehe, weil sich Politik und Verlage nicht einigen können, wie 'Schifffahrt' geschrieben werden soll.'“
Wie die Bundespartei reduziert auch die Grüne Jugend das ganze Problem auf die immergleichen trivialen Beispiele (Tunfisch, Schifffahrt), die weit vom Kern der Reform und der Reformkritik entfernt sind.

Am 17.9.2004 befaßte sich der niedersächsische Landtag mit einem Antrag der Grünen: „Deutsche Rechtschreibung konsequent weiter vereinfachen“. Der Antrag erweckt den Eindruck, als seien mehrere Jahrzehnte der wissenschaftlichen Rechtschreibdiskussion spurlos an den Antragstellern vorbeigegangen. Sogar das regierungsamtliche Märchen von der Reduzierung der Regelzahl sprechen sie wortgetreu nach. Die Abgeordnete Ina Korter setzte sich vehement für „die konsequente Umsetzung der beschlossenen Reform zum August 2005“ ein, wobei sie offenbar die bereits beschlossene Revision vom Juni 2004 gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. Immerhin ließ sie auch die wirtschaftlichen Interessen der Schulbuchverlage nicht unerwähnt, die auch dem Kultusministerium am Herzen liegen. Auf weitere Sicht will sie die „gemäßigte Kleinschreibung“ einführen, um das Deutsche „an europäische Standards anzupassen“. Solche Ideen waren vor gut dreißig Jahren besonders in GEW-Kreisen beliebt (vgl. Frankfurter Kongreß „vernünftiger schreiben“ 1973). Die gesamte Einlassung ist zwar sehr polemisch, zugleich aber von größter Oberflächlichkeit; das gilt noch mehr für Korters witzelnden Redebeitrag am 23.2.2005.

Der Bundestag diskutierte am 2.12.2004 nochmals über die Rechtschreibreform. Ein Antrag der Union und ein Gruppenantrag wurden beraten, den zunächst auch die Grünen-Abgeordneten Uschi Eid und Josef Philip Winkler unterschrieben hatten. Der SPIEGEL berichtet am 6.12.2004: „Aber ihre Fraktionen pfiffen sie zurück.“ (Auch die anderen Parteien mit Ausnahme der FDP setzten den Fraktionszwang ein, um ein Scheitern der Rechtschreibreform zu verhindern. Die SPD war schon 1997 von Franz Müntefering auf die Reform verpflichtet worden, vgl. Die Welt 5.9.1997)

Man hat seitens der Grünen offenbar nicht die mindeste Lust, sich gründlicher mit dem Gegenstand des milliardenteuren, pädagogisch und kulturpolitisch desaströsen Unternehmens zu beschäftigen.



Anhang:

Bundestagssitzung 170 vom 18. April 1997 (Auszüge: Beiträge der Grünen)

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hartenstein, ich habe mich sehr über Ihre lebendige Sprache gefreut. Aber die Amtssprache in der Begründung des Antrags, den Sie unterstützt haben, können Sie wohl nicht vertreten. Lesen Sie das einmal richtig durch!
(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Also müssen wir das umschreiben!)
Ich habe in alten Familienbriefen geblättert. Wenn meine Urgroßeltern durch "Thüren" und "Thore" gingen, gingen sie durch ein "Thal" von "Thränen"; denn hinter jedes "t" mußten sie ein "h", das
berühmte Dehnungs-"h", setzen. Meine Großeltern durften darauf verzichten, mußten aber den Merkvers lernen:
Tränen weint man ohne "h",
der Thron steht unbeschädigt da.
Denn auf alle "h"s wollte Wilhelm II. gern verzichten, nur beim "Thron", da hörte der Spaß auf. Das kommt mir so ein bißchen vor wie diese Diskussion, in der man sich jetzt zum Souverän über die Sprache erklärt.
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
– Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]): Sie kriegen noch Ihr Fett weg.

Als sich der selige Konrad Duden 1872 daranmachte, eine einheitliche Rechtschreibung zu schaffen – der Einheit des Reiches sollte die Einheit der Rechtschreibung folgen –, ging er von einem löblichen Grundsatz aus: Man solle schreiben, wie man spricht. Auch das ging nicht ganz ohne Ausnahmen. In der Zeit des beweglichen Letternsatzes hatte man für das "st" nur eine schmale Letter. Deshalb mußten wir alle den Merkvers lernen:
Trenne niemals "s" vom "t", das tut weh.

Deshalb muß sich der bedauernswerte Kollege Heistermann bis heute Hei-stermann trennen, während sich der progressive Kollege Wiefels-pütz immer trennen durfte, wie er sich spricht.
Die jetzige Rechtschreibreform hatte ein hehres Ziel: Der letzte große Anachronismus, den es nur noch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, sollte im Zeitalter der Globalisierung aufgegeben werden: die Großschreibung zugunsten der gemäßigten Kleinschreibung. So ist es in England und überall in der Welt. Aber da kamen den Kultusministern wilhelminische Bedenken. So blieb nur ein kleines Reförmchen übrig. Aber auch das ist es wert, mit den Kultusministern – von Zehetmair, CSU, bis Holzapfel, SPD – verteidigt zu werden; denn es erspart den Lehrern immer noch viel rote Tinte und den Schülern Monate unnötiger Regelpaukerei, in denen sie ihre Intelligenz in einer sich dramatisch verändernden Welt wichtigeren Gegenständen des Lebens zuwenden dürfen. Das ist das Problem, Frau Hartenstein.
Wir alle lernen Rechtschreibung im Alter von fünf bis zehn Jahren. Dann denken wir: Das ist das einzig Richtige. Aber die Sprache – Sie sagten es doch – verändert sich, deshalb muß gelegentlich eine Regelvereinfachung her. Das ist das Mühsame.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist keine Vereinfachung!)
– Ja, das denken Sie, weil Sie sich nicht damit beschäftigt haben
(Walter Hirche [F.D.P.]: Natürlich, Herr Lippelt!)
Zwei Beispiele: Kollege Heis-termann darf sich endlich auch trennen, wie er sich spricht, und zweitens und viel wichtiger – jetzt komme ich auf Ihr Thema –: Unsere Schüler dürfen endlich das tun, was englische und amerikanische Schüler – ebenso wie Grass, Walser und andere Dichter, die jetzt ebenfalls wilhelminisch lärmen – schon immer taten: Sie dürfen die Kommata nach Sinnzusammenhängen setzen und die Regelpaukerei vom erweiterten und einfachen Infinitiv, vom Infinitiv mit "zu" und "um zu" vergessen. Wie nötig und sinnvoll dies ist, zeigt der vorgelegte Antrag. Ich zitiere aus der Begründung. Da findet sich der ganze Absatz 3 als ein sich über zwölf Zeilen erstreckender Bandwurmsatz. Und wie das dann bei solcher Art von Sätzen ist, ohne entsprechende Kommasetzung ist er kaum verständlich. Also konzentrieren sich die Verfasser so sehr auf die Kommata, daß ihnen der Sinnzusammenhang verlorengeht.
So – Herr Hirche, selbst Sie haben es nicht bemerkt – lesen wir dann – auf die tragende Konstruktion des Hauptsatzes verkürzt –: "Der geäußerten Ansicht wird dem Zusammenhang nicht gerecht".
Deutsche Sprach, schwere Sprach, Herr Kollege Kleinert.
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist eine Frage des Stils, nicht der Rechtschreibung!)
– Verzeihen Sie, Sie haben es immer noch nicht kapiert. Hier wird "Ansicht" mit einem maskulinen Artikel gebraucht.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Lippelt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
(Zurufe von der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist aber schade!)
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Okay.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Beantragen Sie doch, Ihre Redezeit zu verlängern! Wir stimmen zu! – Beifall bei der PDS)
Herr Präsident, ich beantrage noch eine Minute Redezeit.
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Minute.
Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig dagegen ist der Artikel des drittletzten Absatzes: Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts geht davon aus, daß die Benutzer zumindest zweier unterschiedlicher Rechtschreibungen ohne Störung des gesellschaftlichen Miteinanders auf mehrere Jahre miteinander leben könnten. Gemeint ist die Liberalität, zwei Rechtschreibungen nebeneinander existieren zu lassen. Aber da sagen die Verfasser: "Dieser Ansicht wird nicht gefolgt." Zu Deutsch: Die Gesellschaft bricht unter diesem kleinen Reförmchen zusammen. Nein, diesem Antrag, vor allem aber der verknöcherten Sprache der Begründung, wird in diesem Hause hoffentlich nicht gefolgt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich stelle den Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit zu diesem Punkt.
(Zuruf von der SPD: Er hat die Aussprache geschlossen!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Um wieviel Zeit?
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Zehn Minuten.
(Widerspruch bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gibt es weitere Anträge zur Geschäftsordnung? – Das ist nicht der Fall. Dann treten wir in die Abstimmung ein. Wer dem Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit um zehn Minuten zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Das erste war die Mehrheit. Dann ist das so beschlossen. Liegen Wortmeldungen vor? – Herr Kollege Häfner, bitte, Sie haben das Wort.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bedanke ich mich herzlich für die Möglichkeit, nun doch hier zu sprechen. Ich will mich deutlich kürzer fassen, als die jetzt beschlossene zusätzliche Debattenzeit erlauben würde. Ich möchte nur deutlich machen, daß ich in dieser Frage eine völlig andere Auffassung vertrete als mein geschätzter Fraktionskollege Helmut Lippelt,
(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Fraktion, Gerald; das mußt du schon sagen!)
dessen Beitrag ich nichtsdestotrotz gerade in sprachlicher, aber auch in gedanklicher Hinsicht sehr goutiert habe. Mir ist vor allen Dingen folgendes wichtig: Die deutsche Sprache hat sich bisher, wenn wir einmal von weit zurückliegenden sprachregulierenden Maßnahmen – etwas im Jahre 1901 – absehen, nicht deshalb entwickelt, weil Kommissionen, Minister, Regierungen irgend etwas vorgeschrieben haben. Sprache gehört ihrem Wesen nach nicht Kommissionen, gehört nicht Regierungen, sondern gehört den Menschen, und sie entwickelt sich ständig mit diesen und durch diese Menschen.
(Beifall bei der F.D.P.)
Sprache verändert sich. Daß ich heute Foto häufig mit "F" schreibe und es noch in meiner Schulzeit mit "Ph" geschrieben hätte, liegt nicht daran, daß mir ein Minister vorgeschrieben hätte, ich solle das künftig anders schreiben. Vielmehr liegt es daran, daß sich die Sprache und auch die Schreibweise verändert haben. Bisher hat der Duden solche Veränderungen beobachtend aufgezeichnet, und ihm war irgendwann zu entnehmen: Jetzt sind zwei Schreibweisen möglich. Irgendwann hieß es dann: Inzwischen ist diese oder jene Schreibweise üblich. Das war alles von einer ministeriellen Vorschrift weit entfernt. Jetzt haben wir den erstmaligen und, wie ich finde, bemerkenswerten Vorgang, daß die Exekutive der Länder glaubt, Sprache bzw. Schrift amtlich regulieren zu müssen. Dazu sage ich ganz deutlich: Das ist noch nicht einmal eine Reform, die irgend etwas verbessert; Beispiele dazu sind vielfach gebracht worden. Es ist vielmehr eine Reform, die vieles verschlimmert,
(Zustimmung bei der F.D.P.)
weil es doch keinem Menschen einleuchtet, warum ich in Zukunft zum Beispiel "hoch begabt" auseinander, "hochgebildet" aber zusammen, "hoch qualifiziert" wieder auseinander, dafür "hochgelehrt" wieder zusammenschreiben soll. All dies ist vollständig unsinnig und leuchtet keinem Menschen ein. Es leuchtet auch keinem Menschen ein, warum ich bisher "fließen", "floß" und "Fluß" jeweils mit scharfem S geschrieben habe, zukünftig aber – der Vereinfachung und der Erleichterung wegen, wie man uns erzählt – "fließen" nach wie vor mit scharfem S, dagegen "floss" mit Doppel-s und "Fluss" auch mit Doppel-s schreiben muß. Es fehlt die Logik, es fehlt die Klarheit. Auch beim sogenannten Stammwortprinzip sind die Vorschriften widersinnig. Sie alle kennen das Wort "einbleuen". Niemand wird mich vergewaltigen, dies künftig mit "ä" zu schreiben, wo das Wort doch von "bleuen", also schlagen, kommt, was zum Beispiel noch in dem Wort "Pleuel" als Wortstamm lebt und mit der Farbe blau, wie man uns vormachen will, überhaupt nichts zu tun hat – allenfalls im Ergebnis, aber keinesfalls im Prozeß. – Also, das sind vollständig unsinnige Pseudo-Reformen.
Es ärgert mich, daß hier nach einer Methode, die wir in der Politik leider oft haben, nämlich nach dem Motto "Augen zu und durch" oder "Kopf in den Sand", ignoriert wird, daß 90 Prozent der Menschen im Land sagen: "Wir wollen das nicht", daß auch die Österreicher sagen: "Wir haben das eigentlich nie wirklich gewollt; wenn Deutschland das nicht macht, machen wir das auch nicht", daß die Schweizer in ähnlicher Richtung diskutieren, daß in immer mehr Bundesländern gegen diese erklärende Reform Volksbegehren laufen und daß nur eine kleinere Kommission und die Minister den Kopf in den Sand stecken und sagen: Watt mut, dat mutt.
Ich sage: Das sollten wir nicht zulassen. Ich bin – nebenbei – auch nicht der Meinung, daß der Bundestag über die Rechtschreibung entscheiden sollte. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß es Bereiche gibt, bei denen sich die Politik zurückhalten muß; es gibt drei Bereiche, die die Politik nichts angehen. Dazu gehört unsere Sprache. Die wird sich weiterhin frei entwickeln und verändern, wenn wir Politiker nur die Finger davonlassen. Das setzt aber voraus, daß endlich auch die Kultusminister davon ablassen, und das setzt voraus, daß wir über den Antrag und über unsere Handlungsmöglichkeiten in vernünftiger Weise beraten, weshalb auch wir uns für dessen Überweisung aussprechen.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Niedersächsischer Landtag – 15. Wahlperiode
Drucksache 15/1253
Antrag
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Hannover, den 07.09.2004
Deutsche Rechtschreibung konsequent weiter vereinfachen
Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
1. Die Landesregierung wird aufgefordert, sich in der Kultusministerkonferenz und in der Ministerpräsidentenkonferenz dafür einzusetzen, dass die 1995 beschlossene Reform der deutschen Rechtschreibung nicht nur in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein zum 1. August 2005 für die Schulen und die Amtssprache verbindlich wird, sondern auch in Deutschland.
2. Die Landesregierung wird aufgefordert, sich im von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Rat für deutsche Rechtschreibung dafür einzusetzen, dass die deutsche Rechtschreibung konsequent weiter vereinfacht wird. Langfristig ist anzustreben, dass auch in der deutschen Rechtschreibung wie in allen anderen europäischen Sprachen die Kleinschreibung eingeführt wird und nur noch Satzanfänge und Eigennamen groß geschrieben werden.
Begründung
Mit der 1995 beschlossenen Rechtschreibreform wird den Schülerinnen und Schülern das Erlernen der deutschen Rechtschreibregeln erheblich erleichtert. So wird jetzt nach Sprechsilben getrennt. Die Schreibweisen orientieren sich am Wortstamm. Die S-Schreibung ist eindeutiger geworden.
Für die Schülerinnen und Schüler sind durch diese Rechtschreibreform, mit der die Zahl der Schreibregeln von 212 auf 112 und die der Kommaregeln von 52 auf 9 reduziert wurden, unnötige Hürden beseitigt worden. Nach PISA ist es in den Schulen auch dringlicher, das Leseverständnis zu fördern, statt komplizierte, wenig logische Rechtschreibregeln samt zahlloser Ausnahmen zu büffeln. Deshalb haben sich auch viele Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrerverbände für die Beibehaltung der Rechtschreibreform ausgesprochen.
Auch nach der 1995 beschlossenen Rechtschreibreform gibt es jedoch noch eine Reihe von Problemen insbesondere mit der Getrennt- und Zusammenschreibung sowie mit der Groß- und Kleinschreibung. Es ist deshalb notwendig und sinnvoll, die Rechtschreibung weiter zu vereinfachen. Hinsichtlich der Getrennt- und Zusammenschreibung wird vorgeschlagen, großzügiger verschiedene Schreibweisen zuzulassen. Die Probleme mit der Groß- und Kleinschreibung werden jedoch am besten gelöst werden können, indem auch für die deutsche Sprache wie in allen anderen europäischen Sprachen die Kleinschreibung eingeführt wird.
Stefen Wenzel
Fraktionsvorsitzender
(Ausgegeben am 08.09.2004)



Daß es bei den österreichischen Grünen nicht besser aussieht, beweist die folgende Äußerung ihrer schulpolitischen Sprecherin, Susanne Jerusalem:
„Angesichts der heurigen Sommerlochdebatte zum Thema Rechtschreibreform möchte ich klarstellen: Die Politik ist nicht dazu da, SchülerInnen zu sekkieren. Der Erste, der wirklich dafür ist, dass für die österreichischen SchülerInnen wieder die alte Schreibweise zu gelten hat, soll die Hand heben und dann einige triftige Argumente dafür anführen. Ansonsten plädiere ich für ein Ende der Debatte.

Eine gewisse Uneinheitlichkeit der Schreibweise stellt nicht den Untergang des Abendlandes dar. Was ist so schlimm daran, wenn zwei Schreibweisen für ein Wort zulässig sind oder nicht jede Schreibweise in Österreich, der Schweiz und Deutschland gleich ist? Der Wunsch nach Konformität scheint eher schlecht verhüllter Konformismus zu sein.

Ob die eine Rad fährt und die andere radfährt ist völlig gleichgültig, ein bisschen mehr Großzügigkeit ist ohnehin längst angesagt. Die Schweiz beweist uns seit Jahren, dass man ganz ohne Kopfschmerz auf das scharfe s (ß) verzichten kann, englische und französische Kinder lernen mühelos lesen und schreiben, ganz ohne Großschreibung von Hauptwörtern. Über das vielbemühte Beispiel 'der Gefangene floh' versus 'der gefangene Floh' kann man dort wahrscheinlich nur lachen, bei uns sind das aber alles ernstgenommene Argumente.

Übrigens ist auch in Deutschland die Mehrheit der Länder für die Beibehaltung der neuen Schreibweise. Wenn sich einige Zeitungen eine eigene Hausorthographie zulegen wollen, wird sie niemand daran hindern können. Vielleicht eröffnet das für SchülerInnen eine Chance auf neue Argumente beim Kampf um eine bessere Schularbeitsnote. Der Inhalt soll ohnehin mehr zählen als die Form."
(8.12.2004)


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