03.01.2007 Theodor Ickler Der Fall UnterstögerErweiterte DokumentationDie Süddeutsche Zeitung hat zwar manche Verdienste (z. B. die Veranstaltung jener Podiumsdiskussion 1997), aber ein Hauptfehler war es, das Thema Rechtschreibung dem Journalisten Unterstöger anzuvertrauen.Er vertrat die Zeitung auch noch bei einer Besprechung der großen Zeitungen in Hamburg (2005), als eine gemeinsame Strategie besprochen wurde. Die folgende Dokumentation enthält nur ausgewählte Artikel, zeigt aber zur Genüge, wie schädlich Unterstögers Wirken insgesamt war. Der Fall Unterstöger SZ 11.9.1995 Sprachuntergang findet nicht statt Die deutsche Rechtschreibreform als 'Reförmchen' – wieder einmal verschoben Im Februar 1868 verhaftete die Frankfurter Polizei einen taubstummen Bettler, an dessen Gebrechen indessen Zweifel bestanden. Man ließ ihn den Ortsnamen Sachsenhausen schreiben, und siehe da, er schrieb Saxenhaußen. Damit war bewiesen, daß er ein Schwindler war, denn als echter Taubstummer hätte er den lässig ausgesprochenen Namen nie phonetisch genau wiedergeben können. 'Das betreffende Individuum', hieß es in der Zeitung, 'wird einer wohlverdienten Züchtigung nicht entgehen.' Selten waren Fluch und Segen der Orthographie auf engerem Raum versammelt, und jedenfalls ist dieser Anekdote besser als weitschweifigen Abhandlungen zu entnehmen, daß es keineswegs gleichgültig ist, wie man etwas niederschreibt. Zu Zeiten jenes Bettlers war die Rechtschreibung regional zwar schon ziemlich koordiniert, aber 'reichsweit' noch keineswegs vereinheitlicht. Den großen Meilenstein bildet die Berliner Orthographische Konferenz von 1901, in deren Folge sich Deutschland, Österreich und die Schweiz auf eine gemeinsame Rechtschreibung einigten. Das Anliegen, sie zudem einfacher zu gestalten, wurde damals nicht weiter verfolgt; seitdem lag es in der kulturellen Landschaft - Vorwurf und Anreiz zugleich. Es gab etliche Anläufe, die glorios begannen und sich klanglos verloren. Vor zwanzig Jahren raffte man sich zu jener neuerlichen Reform auf, die nun zur definitiven Verabschiedung ansteht. Klaus Heller war von Anfang an dabei, sitzt aber etwas frustriert in seinem Büro beim Institut für deutsche Sprache (IdS) in Mannheim. Er habe das Gefühl, sagt er, wie wenn die Gegner der Reform, die lange Ruhe gehalten, sich mit dem ohnedies sehr gestutzten Ergebnis also offensichtlich abgefunden hatten, jetzt wieder in ihre Stellungen einzurücken begännen. In der Tat war ein erster Kanonenschlag bereits erfolgt, unüberhörbar. Die FAZ, die vor Jahr und Tag auch das Keiser/Bot/Al-Scharmützel durch hitziges Vorpreschen angezettelt hatte, ließ unlängst auf einer ganzen Feuilletonseite den Germanisten Jean-Marie Zemb vom Collège de France Attacke reiten. Zemb kam schon nach etwa vierzig Zeilen zum Fazit: 'Diese Rechtschreibreform ist zu einem großen Teil Unfug.' Damit spricht Zemb, auf hohem Niveau freilich, nichts aus, was nicht auch von subalterneren Geistern schon gesagt worden wäre: Daß die Reform in Grunde keine Reform sei und nur Verwirrung stiften werde. Der Spott war ja groß, als im November 1994 in Wien das Paket (neu: Packet) der Änderungen vorgestellt wurde. Ähnlich groß war bei manchen der Zorn. Ein Mainzer Schriftsteller, der unter dem Motto Pro mundi unitate et humanitate Aufrufe erläßt, fand 'solche Referenzen (sic!) vor Lernbehinderten . . . deplaziert' und sah die Deutschen 'nicht bereit, unsere Sprachschreibung auf die Stufe von Geistesschwachen hinabziehen zu lassen'. Was die Spötter übergingen, war dies: daß vornehmlich sie selbst es gewesen waren, die ein ursprünglich umfassender und radikaler angelegtes Reformkonzept zu dem heutigen 'Reförmchen' zurückgebissen hatten. Wie wenig der Untergang der 'Sprachschreibung' im Ernst zu befürchten ist, zeigt sich an reformiert geschriebenen Texten, sobald in ihnen die sonst gern zusammengetragenen Reizbeispiele und Scherzkonstrukte fehlen. Der Dortmunder Professor Hermann Zabel, ebenfalls Mitglied des Reform-Konsortiums, veröffentlichte im Sprachdienst einen längeren Aufsatz, in dem erst eine relativ späte Fußnote darauf aufmerksam machte, daß bis dahin die neue Rechtschreibung eingesetzt worden war. Es gab mehrere Tests dieser Art, und man kann aus ihnen schließen, daß die vielerorts herbeigeredeten Schrecknisse im Schriftbild ausbleiben werden. Wozu dann überhaupt eine Reform? Klaus Heller wird nicht müde zu erläutern, was er in ungezählten Vorträgen und Interviews schon vorgebracht hat. Seiner Ansicht nach ist dieses vermeintlich dürftige 'Reförmchen' sehr wohl im Stande, eine fast hundertjährige Erstarrung aufzubrechen. 'Wenn das Wenige jetzt nicht geschieht', meint er, 'kommt später auch das Mehrere nicht'; ein Neuansatz sei dann nur noch schwer zu finden, und irgendwann wären Laut und Schreibung so weit auseinandergedriftet wie im Englischen und Französischen. Bis zum Freitag hatte jedermann geglaubt, die Kultusministerkonferenz (KMK) werde bei ihrer nächsten Tagung am 28. September in Halle der Reform grünes Licht geben; ein Beamter der KMK sagte unter der Hand, die Herrschaften müßten 'das doch nur noch abnicken'. Die Zuversicht gründete sich auf die Vermutung, daß, wo so viele Fachleute aus der Kultusbürokratie maßgeblich beteiligt waren, auch ihre Dienstherren von der Reform wissen und sie gutheißen müßten. Wie sehr man sich darin getäuscht hatte, zeigt der Vorstoß des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair, der sich plötzlich mit einigen längst bekannten Details nicht abfinden will und deshalb das Thema auf die KMK-Sitzung im Dezember hat schieben lassen. Es ist nicht auszuschließen, daß Zehetmairs Beispiel Schule macht und daß demnächst auch seine Kollegen in den übrigen Bundesländern ein Haar in der Suppe finden und auf diese Weise als Retter des Abendlandes groß herauskommen. Bei 16 Kultusministern läßt es sich leicht ausrechnen, wann diese Bedenkenrunde zu Ende ist und ein Beschluß gefaßt werden kann. Auch daß Österreich und die Schweiz - beide Länder haben das Konzept angenommen und warten nur auf den Beitritt des großen dicken Bruders - verschnupft sind, scheint da wenig zu irritieren. Problemfall 'Duden' Nun könnte ja auch der Fall eintreten, daß nach Zehetmair kein Kultusminister mehr dagegenhält und auch die Innenminister der Länder ihr Plazet geben. Dann wäre auch die Stunde gekommen, jene Kommission zu berufen, die den Prozeß der Realisierung sowie die weitere Entwicklung überwachen und gegebenenfalls die nötigen Weiterungen initiieren soll. Ihre Kompetenz würde so aussehen, daß sie Einzelfälle, etwa die Schreibungsvariante eines Fremdworts, in eigener Machtvollkommenheit entscheiden kann, Regeländerungen jedoch nicht. Sie wird, so wie sich's derzeit darstellt, beim IdS angesiedelt und aus dessen laufenden Mitteln alimentiert. Das Thema Kommission hat übrigens Hermann Zabel in einem Maß umgetrieben, das Außenstehende verwundern könnte. Der Grund: Zabel hat die, wie er sagt, belegte Vermutung, daß der Duden- Verlag in gut Mannheimerscher Nachbarschaftshilfe dem IdS die Last so einer Kommission gern abnähme, um diese bei sich unterzubringen. Dem Leiter der Dudenredaktion, Matthias Wermke, fehlen beinahe die Worte. Gottlob ist er beredt wie sonst nur einer, sodaß er Zabels Einlassung nach kurzem Stutzen ins Reich der Unterstellungen verweisen kann: 'Das ist nicht die Absicht des Hauses. Wir machen Wörterbücher.' Sollte der Duden jedoch eingeladen werden, bei dieser Kommission mitzumachen, werde man ihn natürlich bereit finden. Der Duden! Kein anderes Wörterbuch ist derart zum Synonym für die ganze Gattung geworden; selbst wer zum Wahrig greift oder zum Mackensen, sagt in Gedanken bisweilen: 'Ich schau mal im Duden nach.' Für 'den Duden', also das Bibliographische Institut samt Brockhaus-Verlag, ist das schön, für andere ein Trauma. Man hält dem Duden nicht erst seit heute vor, daß er es sich anmaße, an Stelle des eigentlich dafür zuständigen Staates die Rechtschreibung zu hüten und weiterzuentwickeln. Gewissermaßen den Auftrag dazu erhielt er 1955. Damals machte Bertelsmann mit Lutz Mackensens 'Deutscher Rechtschreibung' ein blendendes Geschäft, woraufhin sich der Duden-Verlag an die Kultusministerkonferenz wandte und darüber klagte, daß die Konkurrenz eine 'wilde Reform' durchgehen lasse. Der Lohn war das Attest, daß bis zu einer Orthographie-Reform in Zweifelsfällen der Duden als verbindlich zu gelten habe. Zabel hält diese Halbamtlichkeit für ähnlich verfänglich, wie wenn der Staat die Fortschreibung etwa der Straßenverkehrsordnung an BMW oder Mercedes gäbe. In seinen Augen wäre es angemessen, orthographische Regelwerke im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Die Rechtschreibreform, darin sind sich Zabel, Heller und andere einig, ist die historisch geeignete Stunde, dem Duden die Legitimation von 1955 zu entziehen und ihn den übrigen Wörterbüchern gleichzustellen. Matthias Wermke hält das (auch wenn er's viel schöner ausdrückt) für Neidhammelei, denn seine einzigartige Position habe sich der Duden nicht durch Hilfe von oben erworben, sondern durch Kompetenz. Im übrigen und außerdem: Fahre der Staat nicht oft gerade dort am besten, wo er es über sich bringt und sich seiner Hohheit ein Stückchen begibt, sprich: wo er privatisiert? Am 6. Oktober wollte der Dudenverlag in Berlin den ganz neuen Rechtschreib- Duden vorstellen, als Buch wie als CD- Rom sowie mit kabarettistischer Unterstützung durch die 'Stachelschweine'. Daraus wird, dank Zehetmair, nun wohl nichts werden. Will man Details wissen, verliert Wermke auf den Schlag an Eloquenz. So viel jedoch verrät er gerne: Der Duden gedenkt sein volksbildendes Mandat weiterhin auszuüben, zum Beispiel indem er eben nicht nur dokumentiert, was der Gesetzgeber festlegt, sondern auch für den Leser vorentscheidet, ihm eine von mehreren Varianten empfiehlt. 'Wie ich's bringe - das ist schon eine erste Interpretation', doziert Wermke, 'und wer sagt, das darf man nicht, spricht Wörterbüchern die Existenzberechtigung ab.' HERMANN UNTERSTÖGER — SZ 3.7.1996: Am Anfang auch radikale Änderungen der Rechtschreibung erwogen Von der großen Reform bleibt das Gerippe Dennoch ist das Ergebnis gutzuheißen Von Hermann Unterstöger Sehr fromme Leute erachten es für nützlich, in Lebenskrisen die Bibel blind aufzuschlagen und auf eine beliebige Stelle zu deuten. Sie glauben, daß Gott ihnen die Hand geführt habe, und fahren mit dem dergestalt eruierten Schriftwort oft in der Tat nicht schlecht. Bei einem kurzen Test, anläßlich der eben beschlossenen Orthographie-Reform mit Bertelsmanns 'Neuer deutscher Rechtschreibung' angestellt, öffnete sich das auf den Rücken gestellte Buch auf den Seiten 390/391. Folgende Neuerungen seien referiert: Fistel darf künftig in Fis-tel getrennt werden; aus Fitneß wird Fitness; flackern wird bei der Trennung nicht mehr zu flak-kern, sondern zu fla-ckern; der Flageoletton bekommt drei t und wird zum Flageolettton; das Flamboyant kann man in Flam-boy-ant oder Flam-bo-yant zerlegen. Nimmt man dieses Teilergebnis fürs Ganze, so wird man kaum umhinkommen, die Reform gutzuheißen. Waren uns die behauptete Untrennbarkeit des st oder die Metamorphose des ck in k-k nicht immer schon ein Dorn im Auge? Ist das Doppel-s bei Fitness nicht ebenso vernünftig wie etwa bei Gebrumm das Doppel-m? Und juckte es uns beim fast täglichen Gebrauch des Wortes Flamboyant nicht seit eh und je in den Fingern, den Trennungsstrich vors y zu setzen? Der Flageolettton freilich ist so gewöhnungsbedürftig wie die Stammmutter oder allenfalls stattfindende Pufffeste. Die Geschichte der Rechtschreibung und ihrer Fortentwicklung ähnelt einer Reise zwischen zwei Polen, nämlich zwischen der Sprachwissenschaft und der Pädagogik, wobei es keinem der beiden je gelang, den Karren auf Dauer nach seiner Seite zu ziehen. So schlingert er denn seit Jahrhunderten recht und schlecht dahin, zur Linken die Etymologen mit ihren Wortstämmen und sonstigen sprachgeschichtlichen Tatsachen, zur Rechten die Menschenfreunde mit ihrer Forderung, man möge die geschriebene Sprache - als ein Instrument vornehmlich der Verständigung - doch bitte den Ansprüchen und Fähigkeiten ihrer Benutzer anpassen. Zu einem praktikablen und weiträumig gültigen Kompromiß kam es erst 1902, als die von Konrad Duden überarbeitete preußische Orthographie für alle deutschen Länder verbindlich wurde. In den fünfziger Jahren hoben die Reformwilligen wieder deutlich ihr Haupt. Zu umstrittener Berühmtheit brachten es insbesondere die 'Wiesbadener Empfehlungen' von 1958, die dann aber doch zu den Akten gelegt wurden, nicht zuletzt deswegen, weil sie unter ihren Neuerungen auch das Schreckgespenst der 'gemäßigten Kleinschreibung' führten. Die einstige IG Druck führte sie über Jahre hinweg ihren Mitgliedern gedruckt vor Augen; heute ist die Zeitschrift der neuen IG Medien wieder traditionell groß und klein gesetzt. 1987 wurde der Faden erneut aufgenommen. Im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesinnenministeriums sollte das Mannheimer Institut für deutsche Sprache Reformvorschläge ausarbeiten. An fünf Punkten war anzugreifen: Zeichensetzung, Silbentrennung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Laut- Buchstaben-Beziehung, Fremdwortschreibung; den diffizilen Komplex der Groß- und Kleinschreibung hielt man vorderhand unter Verschluß. Vom Keiser verschont Wer ein Prophet war, hätte schon 1988 vorhersagen können, wie die Sache enden würde. Damals legte das Institut jenen Entwurf vor, aus dem, wie aus einer Büchse der Pandora, der Keiser und der Al und das Bot entwichen. Sie richteten, vornehmlich in der auf Werte-Erhalt bedachten Publizistik, unendlichen Flurschaden an. Die internationale Reformkommission macht dessenungeachtet weiter, brachte sogar die Kleinschreibung der Hauptwörter abermals ins Gespräch. Im Lauf der Jahre und diverser 'Wiener Gespräche' blieb von einem relativ umfassenden Reformkonzept ein Reförmchen - ein Regelwerk, von dem man sich vorstellen kann, daß es auch unter der Hand und ohne großes Revolutionsgetöse, auf dem kalten Wege gewissermaßen, in den laufenden Sprachbetrieb hätte eingearbeitet werden können. In Ernest Hemingways bekanntester Erzählung versucht der Fischer Santiago einen stattlichen Fisch heil in den Hafen zu bringen; der wird ihm jedoch von Haien so zugerichtet, daß er nur das Gerippe heimbringt. Kindlers Literaturlexikon attestiert dem alten Mann christusähnliche Züge. Vielleicht ist das den Orthographie-Reformern, die auch nur ein Skelett retten konnten, ein kleiner Trost. — SZ 31.8.1996 Nebenbei Wer ist der Beste im ganzen Land? Duden contra Bertelsmann: Der Kampf im Rechtschreibdschungel Wenn es auch übertrieben wäre zu sagen, wir beträten mit der Rechtschreibreform ein neues Zeitalter, so bietet es sich doch an, beim Vergleich zweier neuer Wörterbücher das Lemma New Age heranzuziehen. Der kürzlich erschienene Duden führt das Stichwort, rot geschrieben, in der reformierten Fassung Newage ein, gefolgt von der Belehrung auch New Age und einem Hinweis auf die Richtlinie R 33, der zufolge häufig gebrauchte Fremdwörter, sofern sie keine fremden Laute enthalten, nach und nach der deutschen Schreibweise angeglichen werden können (was bei Newage kaum je der Fall sein dürfte: 'Njuäidsch' geht nicht). Der Konkurrent Bertelsmann bringt den Begriff in der Reihenfolge New Age, Newage. Ersteres wird als Nebenvariante ('Nv.') gekennzeichnet, letzteres als Hauptvariante ('Hv.'); zwischen beiden steht ein roter Pfeil, der uns sagt, daß die Haupt- aus der Nebenvariante hervorging. Die Regel über Zusammen- oder Getrenntschreibung solcher Wörter folgt anschließend in einem ebenfalls rot gerahmten Kästchen. Beide Werke merken an, daß Newage sächlich ist und im Genitiv kein -s bekommt. Zusatz bei Bertelsmann: kein Plural möglich. Zur Definition des Stichworts schreibt der Duden: 'Neues Zeitalter als Inbegriff eines neuen integralen Weltbildes'; Bertelsmann: 'Neues Zeitalter, das von einer spirituellen, ganzheitlichen Weltsicht geprägt ist.' Das mag wohl stimmen. Was aber das schöne Wort integral angeht, so wird man es in Zukunft zweifach trennen können: in-teg-ral und in-te-gral. Beide Bücher drucken die Regel ab, optieren im Wörterverzeichnis jedoch unterschiedlich: für in-teg-ral der Duden, allerdings mit Hinweis auf die Regel, für in-te-gral Bertelsmann, ohne Hinweis. Man könnte das als kleines Beispiel dafür nehmen, daß die vielgeschmähte Orthographiereform durchaus auch Segen übers Land bringen könnte, zum Beispiel indem sie dem schreibenden Bürger die Wahl zwischen zwei gleichberechtigten Varianten läßt. Wenn damit zudem die alte Vermutung bestätigt wird, wonach es im Grunde immer schon unerheblich war, ob die Buchstabengruppe gr bei Fremdwörtern getrennt werden darf oder nicht, so muß das auch kein Schaden sein. Freilich ist es nicht auszuschließen, daß die neue Mündigkeit mancherorts mehr Verwirrung stiftet als Klarheit: Wenn sich das Gängelband lockert, stolpert man eben die erste Zeit. Daß die Reform auf dem Markt der Rechtschreib-Ratgeber für Unruhe sorgen würde, war abzusehen. Es ereignete sich etwas Seltsames: Der absolute Marktführer, also der Duden-Verlag, wurde vom Bertelsmann-Lexikon-Verlag zeitlich überrundet. Bertelsmann warf eine Weiterführung von Knaurs Rechtschreibung ins Gefecht, 'über 600.000 Eintragungen' für 19,90 Mark - und das dem Duden-Verlag, der im Herbst vorigen Jahres, als die Kultusminister plötzlich kalte Füße bekamen und die Reform verzögerten, schon auf einem stattlichen Berg neuer Rechtschreibbücher sitzengeblieben war. Letzte Woche trug nun der Duden seine Gegenoffensive vor, nämlich den Rechtschreib-Duden mit 'mehr als 115 000 Stichwörtern und über 500 000 Bedeutungserklärungen' für 38 Mark. Das Haus Bertelsmann hatte sich, wiewohl sein Buch um 130 Seiten dicker ist als der Duden, eine kuriose, allenthalben mit Lust weiterverbreitete Blöße gegeben: Es hatte den Shootingstar als 'schießenden Medienhelden' ausgegeben, obwohl man darunter doch, jetzt laut Duden, einen 'neuen, sehr schnell erfolgreichen Schlager(sänger)' versteht. Dem Absatz tat das keinen Abbruch; wie man hört, hat Bertelsmann bereits über 600 000 Exemplare verkaufen können (Erstauflage 700 000). Der Duden-Verlag, dessen Buch nach ersten Agenturmeldungen ebenfalls reißend weggeht, war freilich vornehm genug, den Lapsus nicht über Gebühr auszuschlachten. Man verwendete ihn lediglich in einer Pressemitteilung: 'Wenn Sie wissen wollen, warum der neue Duden zum ,Shootingstar' dieses Herbstes werden wird, dann vergleichen Sie ihn mal mit anderen!' Man wird nicht fehlgehen, wenn man beiden Büchern die Tauglichkeit zu kompetenter Führung durch den Rechtschreibdschungel attestiert. Indessen bietet sich ein anderer Vergleich an: der zwischen dem neuen Duden und seinem Vorgänger von 1991. Auf diesem stand außen noch der selbstbewußte Vermerk 'Maßgebend in allen Zweifelsfällen'. Das Prädikat war dem Duden im Jahr 1955 von der Kultusministerkonferenz verliehen worden, nach einem die Öffentlichkeit verstörenden Rechtschreibreformversuch, in dessen Folge sich die damalige Duden-Leitung sehr geschickt als Organ der Sprachhütung anzubieten wußte. Daß der Duden mit seinem Lehen wucherte, ist ebenso verständlich wie der Umstand, daß die Kritik an dieser marktwidrigen Bevorzugung nie verstummte. Da die neue Rechtschreibung künftig von einer unabhängigen Kommission überwacht wird, hat sich das Privileg erledigt. Der jetzt erschienene Duden preist sich nicht mehr als maßgebend in allen Zweifelsfällen an, dafür aber als 'das Standardwerk zu allen Fragen der Rechtschreibung'. Als solcher wird er offenkundig auch von den Medien gesehen: Über sein Erscheinen wurde wie über ein nationales Ereignis berichtet - eine Aufmerksamkeit, die dem Bertelsmannschen Vorläufer nicht zuteil geworden war. HERMANN UNTERSTÖGER — SZ vom 12.10.1996: Wo waren die Dichter in den letzten Jahren? 'Frankfurter Erklärung' wider die Rechtschreibreform weist einige Absonderlichkeiten auf Von Hermann Unterstöger München, 11. Oktober - 'Da Sie meine Stimme hören wollen, beeile ich mich, zu erklären, daß ich mich auf die Seite der Opponenten gegen die geplante Verarmung, Verhäßlichung und Verundeutlichung des deutschen Schriftbildes stelle.' Wer spricht da? Siegfried Lenz? Walter Kempowski? Roger Willemsen? Nein, es ist Thomas Mann, der da spricht. Sein Text erschien am 25. Juni 1954 in der Züricher Weltwoche, und zwar als schnelle Reaktion auf eine damals zu gewärtigende Rechtschreibreform, die unter dem Titel 'Stuttgarter Empfehlungen' in die Geschichte der nicht verwirklichten Vorhaben einging. Manns Statement trug zum Scheitern des Unternehmens nicht unwesentlich bei, und manch einer wird das Geschehen so interpretiert haben, daß das Deutsche bei unseren Dichtern gottlob in besten Händen ist. Nun wollte wieder jemand die Stimme der Dichter hören, nämlich der Weilheimer Gymnasiallehrer Wilhelm Denk, der in der aktuellen Rechtschreibreform 'Terrorismus durch Orthographie' sieht. Er gewann an die hundert Publizisten für eine Erklärung, die auf das Ende der Frankfurter Buchmesse plaziert wurde und deswegen mit Fug 'Frankfurter Erklärung' heißt. Darin wird der sofortige Abbruch der 'von einer kleinen, weitgehend anonymen Expertengruppe vorgeschlagenen' Reform gefordert, weil diese 'Millionen von Arbeitsstunden vergeuden, jahrzehntelange Verwirrung stiften, dem Ansehen der deutschen Sprache und Literatur in In- und Ausland schaden und mehrere Milliarden DM kosten würde, die wenigen zugute kommen würden und von uns allen zu tragen wären'. Darüber hinaus wird behauptet, man sei erst jetzt in der Lage, das Projekt zu analysieren und dessen Folgen zu ermessen. An der Erklärung ist einiges bemerkenswert, so zum Beispiel die als Herabsetzung gedachte Formulierung von einer kleinen und weitgehend anonymen Expertengruppe. Tatsächlich war die Expertengruppe klein, was indessen in der Natur von Expertengruppen liegt und letztlich ihrer Effektivität dient, indem viele Köche bekanntlich den Brei verderben. 'Weitgehend anonym' kann man jedoch nicht sein: Man ist entweder ganz anonym oder gar nicht, und die Experten hatten, das darf doch wohl festgehalten werden, allesamt Namen, sogar ziemlich gute. Der Verfasser der Erklärung wollte aber etwas ganz anderes andeuten, nämlich, daß die Experten in der Fachwelt nichts gälten. Dies bei Namen wie Augst oder Munske oder Zabel zu belegen, ist seine Sache. Daß er, und mit ihm die Blüte deutscher Dichtung, indessen an dem Fremdwort 'anonym' scheiterte, sollte der allgemeinen Aufmerksamkeit nicht vorenthalten bleiben. Wie verhält es sich mit dem Vorwurf, man könne erst jetzt die Reform in ihren Auswirkungen abschätzen? Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair war darüber so erstaunt, daß er richtiggehend sarkastisch wurde und der Vermutung Ausdruck verlieh, die Unterzeichner kämen womöglich gerade von einem längeren Auslandsaufenthalt zurück. Schön gesagt. Sollten die guten Leute aber nicht im Ausland gewesen sein, so ist ihnen hier einiges entgangen, etwa der 'Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung' (1988) oder Wolfgang Mentrups feines Handbuch 'Wo liegt eigentlich der Fehler?' (1993), zu schweigen von der Flut von Zeitungsartikeln, an denen ein Informationswilliger sich bis zum Überdruß hätte anfüttern können. Es ist die Vermutung zulässig, daß vielen von denen, die jetzt protestieren, die Sache in den Anfangsjahren zu popelig war, um darauf ernsthaft einzugehen, daß sie im stillen hofften, das Projekt werde sich ohnedies totlaufen. Nun, da sie den Karren plötzlich mit Gepolter rollen sehen, versuchen sie, schnell noch ein paar Stäbe in die Speichen zu stecken. Was die Kosten der Reform angeht, so wird sich kein Vernünftiger auf Zahlen festlegen lassen, so daß das Munkeln mit Millionen von Arbeitsstunden und Milliarden von DM zwar publikumswirksam, aber auch unverantwortlich ist. Aus der Praxis weiß man, daß die Umlaufzeit von Schulbüchern - bei eifriger Nutzung - relativ kurz ist, woraus folgt, daß deren sukzessive Umstellung auf eine andere Orthographie keine allzu dramatische Angelegenheit sein dürfte. Herbert Heckmann, bisher Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, hat das Gespenst von der Notwendigkeit, die gesamte schöne Literatur neu auflegen zu müssen, aus dem Keller geholt. Ganz so böse wird's nicht kommen, weil die Reform für das belletristische Verlagswesen ja in keiner Weise bindend ist. Wer Goethe im Sortiment hat, kann ihn getrost noch hundert Jahre im gewohnten Rock laufen lassen: Das dann veraltete 'daß' statt des neuen 'dass' werden die paar Goetheaner schon richtig zu lesen wissen, und Reizwörter wie das 'Zooorchester' kommen beim Olympier am Ende auch eher selten vor. Bleibt der Ansehensverlust der deutschen Sprache und Literatur im In- und Ausland. Dem wäre zu entgegnen, daß die echten Freunde dieser zwei Gegenstände nicht so sehr auf den Unterschied zwischen 'Gemse' und 'Gämse' sehen, sondern darauf, ob die hiesigen Helden des Worts, die Unterzeichner der Erklärung eingeschlossen, eine anständige und, wenn's hoch geht, glückhafte Produktion vorzuweisen haben. Das, und nicht vermuteter Terrorismus durch Rechtschreibung, sollte ihre vornehmste Sorge sein. — SZ vom 26.01.1998 Reform stürzen, Ruine retten VON HERMANN UNTERSTÖGER Die Deutsche Presse-Agentur verbreitete am 19. Januar eine Aussage der Interessensgemeinschaft österreichischer Autorinnen und Autoren. Es sei klar, hieß es darin, „daß die Rechtschreibreform das dilettantisch geplanteste Reformunternehmen der letzten Jahre verkörpert“. Richtig wäre gewesen: „das am dilettantischsten geplante“. Außerdem ist die Rechtschreibreform ein Reformunternehmen; „verkörpern“ kann man nur etwas Körperloses, Abstraktes. Wenn der zitierte Satz so stimmt, wenn also ein Verband der angeblich wichtigsten österreichischen Schriftsteller sich nicht anders als in solch quälender Mißform zu äußern vermag, dann hätte ein altes Argument neue Nahrung: daß es manchen, die gegen die Rechtschreibreform wettern, angesichts ihrer Äußerungen besser anstünde, nach ihren Wörtern statt nach deren Schreibung zu sehen. Nun sollte man den Spott freilich zeitig zügeln. Auch sollte man der Versuchung widerstehen, einen Verfall der Sprachsitten herauszustreichen, um daneben die diffizile Ordnung der Rechtschreibung als kleinkariertes System erscheinen zu lassen. Man sollte dies alles um so dringlicher tun, als die am Freitag in Mannheim von der zwischenstaatlichen Kommission veranstaltete Anhörung zur Reform keinen Anlaß gibt, allerlei Jokus zu betreiben. Die Kommission, der die weitere Betreuung des Unternehmens obliegt, hat sich von vielfältiger Kritik dazu animieren lassen, nunmehr neben diversen neuen Schreibvarianten auch wieder die alten gelten zu lassen: einbläuen und einbleuen, Quäntchen und Quentchen, Energie sparend und energiesparend, Tollpatsch und Tolpatsch. Dabei eignet gerade dieses Wort sich am wenigsten für die Debatte: Es soll vom ungarischen talpas (breitfüßig) kommen, und wenn das volksetymologisch begründete toll- jetzt falsch ist, so war es das -patsch nicht minder. Wer von der semantischen Relevanz dieser und ähnlicher unterschiedlicher Schreibungen nie ganz überzeugt war, wird das Ergebnis der Anhörung mit einem billigenden Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Die Gegner der Reform sind da um einiges strenger. Sie bewerten den Schritt, den die Kommission nach vorn zu tun wähnte, als Rückschritt und Zurückrudern. Sie sprechen, ohne die geringste Scheu übrigens vor dem grausigen verbalen Wechselbalg, von einer „Verschlimmbesserung“ in der Sache – einer Sache, die sie jetzt für endgültig gescheitert erachten. Was hat es mit dem Rang einer Institution auf sich, deren vermeintliche Schändung die Bundesbürger in Protestbewegungen und vor die Gerichte treibt? Der Germanist Horst Haider Munske (Erlangen), einst selbst Reformer und nun Kritiker des Projekts, vertritt den Standpunkt, daß unsere Sprache „erst durch eine differenzierte Verschriftungsnorm“ tauglich für kulturelle Reflexion im weitesten Sinn geworden ist; in vielen Regeln stecke „mehr Weisheit, als mancher Linguist auf Anhieb bemerkt“. Jean Marie Zemb (Paris) wertet Differenzierungen à la frei sprechen/freisprechen als Zeugnisse „einer zur Gewohnheit gewordenen Rationalität des Schreibens, das auf Bedeutungsunterschiede Rücksicht nimmt“. Das ist schön gesagt und ehrenvoll für die Schreibenden. Andererseits herrscht am Collège de France, an dem Zemb lehrt, möglicherweise ein höherer Alltag als hier, wo man selbst unter den bedachtesten Schreibern öfter als eigentlich schicklich die Frage hören kann: „Du, sag mal, schreibt man übelnehmen nun zusammen oder nicht?“ Daraus läßt sich schließen, daß ziemlich viele weder die betreffenden Regeln kennen noch sie für wichtig genug halten, um eine gründlichere Beschäftigung mit ihnen in Betracht zu ziehen. Sie akzeptieren gemeinhin jeden der zwei möglichen Tips und kämen nie in Gefahr, Sätze wie „Hillary hat Bill nichts übel genommen“ in irgendeiner Weise mißzuverstehen. Wie die Dinge im Augenblick stehen, scheint Gelassenheit die unpassendste Haltung zu sein, die man zur Reform einnehmen kann. Dafür ist die Chose schon zu hoch in die Sphäre der national bedeutsamen Gegenstände aufgestiegen. Parlamentarier äußern sich in Beiträgen von sehr unterschiedlicher Kundigkeit zum Thema, ansonsten wartet das Volk auf ein Votum aus Karlsruhe, wobei das Bundesverfassungsgericht natürlich nur zur Prozedur der Reform Gültiges sagen kann, nicht zu deren Kern. Als der Kritiker Friedrich Denk von den Bergen gestiegen war, um sich der Enttäuschten anzunehmen, gewärtigte mancher nur eine kulturpolitisch spannende Posse. Bald jedoch zeigte es sich, daß Denks Initiative für weitaus mehr gut war. Insbesondere war sie es dafür, der breiten Masse wieder bewußt zu machen, wieviel an Heimat ihr das dürre Orthographie-Gestrüpp bedeutet. Auch die Kultusminister dürften mit diesem Effekt kaum gerechnet haben, sonst hätten sie ihre Strategie damals vielleicht geändert. Es wäre nämlich durchaus denkbar gewesen, das Unternehmen als solches abzublasen, dessen brauchbare Hinterlassenschaft dem Volk aber peu á peu gewissermaßen unterzuschieben. Angenommen, die Kommission wäre die ewige Flickschusterei leid; angenommen ferner, die Reformgegner könnten ihrem fast fundamentalistischen Ingrimm Einhalt gebieten: Für eine solche konstruktive Demontage wäre es auch jetzt noch nicht zu spät. — SZ 13.5.1998 Im Dickicht der Sprache Die Verfassungsrichter sollen über die neue Orthographie entscheiden, doch wollen sie auf keinen Fall die letzte Instanz für gutes Deutsch sein Von Hermann Unterstöger Karlsruhe, 12. Mai – Wo es um die Rechtschreibung geht, darf die Schule nicht fehlen, und so war es nur recht, daß einige Klassen der Anhörung beiwohnten, mit deren Hilfe das Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe nun hinter die juristische Seite der Rechtschreibreform zu kommen sucht. Sollte das Erlebnis im Unterricht nachbereitet werden, könnte es durchaus sein, daß als erste Frage die auftaucht, was zum Teufel die Rechtschreibung im Regal verloren hat. Und das nur, weil vor dem Ersten Senat gleich zweimal die Rede davon war, daß der Staat zwar ein Münz-Regal habe, nicht aber ein Sprach- oder Orthographie-Regal. Unabhängig davon, ob die Schüler das Regal, das Recht hoheitlicher Regelung, in dieser Bedeutung kennen: Das Lübecker Anwaltspaar Thomas Elsner und Gunda Diercks-Elsner fand jedenfalls, daß sich der Staat – in Form seiner Kultusbürokratie – bei der Anordnung der Rechtschreibreform auf ein Terrain begeben habe, auf dem er entweder nichts verloren hat oder sich für seine Präsenz legitimieren muß. Sie sahen sich dadurch in den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und eigenverantwortliche Kindererziehung beeinträchtigt und führten Klage. Daraus resultiert die nicht alltägliche Situation, daß sich das oberste deutsche Gericht mit einem spannenden Thema, aber innerhalb dieses Themas mit einer doch eher anödenden Materie zu beschäftigen hat. Die Frage nach dem Sinn Wer glaubte, aus der Anhörung könnte vielleicht ein Spektakel mit Sprechchören, Schriftenständen und Ähnlichem werden, der hatte die sittigende Wirkung des Rechtsstandortes Karlsruhe unterschätzt. Die Umgebung des Bundesverfassungsgerichts strahlte an diesem prächtigen Morgen vor bürgerlicher Friedfertigkeit. Radler zogen gemächlich vorbei, die Fernsehjournalisten entfalteten gemächlich die Dreibeine für ihre Kameras; das bei weitem Martialischste waren die uniformierten Wachen, die Revolutionsausstellung im benachbarten Schloß und der Motormäher auf dem ohnedies ziemlich kurzen Rasen des Schloßparks. Das Gericht hatte die Creme der Experten geladen, wobei ein Großteil von ihnen auch beim Streit um die Rechtschreibreform seit Jahren an vorderster Front steht. In dieser Arena war ihnen das gewohnte Hauen und Stechen naturgemäß untersagt, so daß man sehen konnte, welch zierlicher Umgangsformen die Kämpen bei Bedarf fähig sind. Freilich war ihnen ja auch der Wind weitestgehend aus den Segeln genommen, indem der Senatsvorsitzende Hans-Jürgen Papier gleich zu Beginn der Anhörung klarmachte, daß das Karlsruher Gericht weder über die „Sinnhaftigkeit“ der Reform befinden noch sich als „sprachwissenschaftlicher Obergutachter“ aufspielen wolle. Was die Sinnhaftigkeit – andere sagen: die Sinnlosigkeit – der Rechtschreibreform angeht, so müssen dem Gericht etliche Kilo Stellungnahmen dazu vorliegen. Außerdem haben sich bisher dreißig Gerichte dazu geäußert, wobei es allerdings, wie die Neue Juristische Wochenschrift mokant anmerkte, zu einer verblüffenden „Heterogenität im justiziellen Zugriff“ kam. Angesichts so einer gewaltigen Vorarbeit hatte die Geduld, mit der sich der Senat über die Feinheiten des strittigen Projekts belehren ließ, etwas von dem väterlich-listigen „Da stellen wir uns mal ganz dumm“ des Paukers in dem Film „Die Feuerzangenbowle“ an sich. Kein Wunder also, daß, bis zur Mittagspause wenigstens, weder etwas Neues in der Sache zur Sprache kam noch gar Aufregendes sich ereignete. Der Jenaer Rechtsgelehrte Rolf Gröschner, Bevollmächtigter der Kläger und als Kämpfer gegen die Reform wohlbekannt, trug mit der ihm eigenen Eleganz vor, was ihm und vielen anderen daran so mißfällt: daß die Kultusminister keine Befugnis gehabt hätten, die Neuerungen an den Schulen zu installieren, und daß die orthographische Einheitlichkeit zerstört werde, wenn die Reform nicht von allen so deutlich abgelehnt werde, wie prominente „Träger der Schriftkultur“ dies bereits täten. Die Akzeptanz sei jetzt schon derart dürftig, daß man eigentlich nicht mehr versuchen dürfe, die Sache durchzudrücken, auch nicht unter dem euphemistischen Hinweis, es handele sich ja nur um ein „Reförmchen“. Bildungsministerin Gisela Böhrk aus Schleswig-Holstein, wo der Fall Elsner spielt, erntete erste Heiterkeit mit dem Hinweis, daß auch der klägerische Schriftsatz voller Rechtschreibfehler stecke. Im übrigen plädierte sie dafür, daß man das Erlernen einer Kulturtechnik von der Bedeutung des Schreibens tunlichst erleichtern solle, auch um für die Bewältigung anderer und vielleicht wichtigerer Aufgaben Luft zu bekommen. Über die Akzeptanz der Reform an den Schulen konnte sie zwar nichts wissenschaftlich Fundiertes vorbringen, wohl aber die Mitteilung, daß sich in nur zehn von 2900 Klassen Mißfallen geregt habe. Für die Kultusministerkonferenz trat deren Präsidentin Anke Brunn, die nordrhein-westfälische Wissenschafts- und Forschungsministerin, in den Ring. Sie verwies darauf, daß die Reform in einem offenen, demokratischen Verfahren auf den Weg gebracht worden sei. Es sei, bildlich gesprochen, darum gegangen, eine Hecke, an der sich im Lauf der Jahrzehnte allerlei Wildwuchs gebildet habe, mit Augenmaß zu beschneiden, ohne der Hecke selbst, also der Sprache, Schaden zuzufügen. Es zeigte sich gerade an dieser Aussage, wie man auch mit Metaphern unsanft aufprallen kann. Christian Meier, der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, nahm nämlich den Ball mit einiger Süffisanz auf und behauptete seinerseits, die geplante Reform bedeute solche Einschnitte in die Hecke, daß man sehr wohl den Eindruck gewinnen könne, hier seien „Deppen am Werk“ gewesen. Christian Meier schien überhaupt für eine kleine Weile nicht ganz Herr seines ansonsten gerühmten Feinsinns zu sein. Wie sonst hätte es ihm unterlaufen können, die gegen Ende der Nazizeit angeleierte Rechtschreibreform, den „Rustschen Erlaß“ von 1944, mit der nunmehrigen Orthographiereform in Verbindung zu bringen. Frau Brunn sah sich zu einer Intervention genötigt, die ihr vom Senat denn auch nicht verwehrt wurde. Und was sagt der Duden? Am meisten das Interesse des Gerichts geweckt zu haben, dessen kann sich Duden-Chef Matthias Wermke rühmen. Er hatte vorgetragen, was aus dem Hause Duden immer schon vorgetragen wurde: daß man nie eine Regelungskompetenz für sich in Anspruch genommen habe, sondern allenfalls eine Kompetenz im lexikalischen Darstellen dessen, was sich aus der Sprach- beziehungsweise Schreibwirklichkeit ablesen läßt. Man gehe nie von einem Ideal aus, sondern von der jedermann zugänglichen Gebrauchssprache; neue Wörter oder Schreibvarianten würden erst dann wörterbuchwürdig, wenn sie sich über das ganze „Textsortenspektrum“ hinweg nachweisen ließen. Daran knüpften die Richter in den roten Roben allerlei Fragen, insbesondere die, ob der Duden etwas als richtig oder falsch einstufe. Wermke blieb gelassen: Für sein Haus gelte nur, ob etwas vorkommt oder nicht. In dieser Gelassenheit ging das den Vormittag über; selbst Theodor Ickler, der streitbare Germanist aus Erlangen, hatte Kreide zu sich genommen und räsonnierte mit großer Besonnenheit. Ministerialdirektor Josef Hoderlein vom Bayerischen Kultusministerium heimste Sympathie ein durch die bedächtig altfränkische Art, in der er von den Unsicherheiten der geltenden Rechtschreibung erzählte. Als er gar ausrief, kein Lehrer könne mit so einem Wust an Widersprüchlichem vor seinen Schülern „stichhaltig bestehen“, ging durchs Auditorium so etwas wie eine Bewegung, an der sich nur die deutsche Fahne links von den Richtern und der gewaltige Holzadler über ihnen nicht beteiligten. Irgendwann, als von Vorschriften und Gesetzen die Rede ging, erinnerte Verfassungsrichter Papier an die uralte Gesetzmäßigkeit des Mittagessens. Zu diesem Zeitpunkt schien in der Tat die Konzentration schon etwas nachgelassen zu haben. Augenfällig wurde dies, als der nordrhein-westfälische Ministerialdirigent Franz Niehl, einer der großen alten Männer der Rechtschreibreform, an der Reihe war und ein paar ganz knappe Statements abgab. Richterin Renate Jaeger wollte Weiterführendes wissen und fragte Niehl auf eine nicht ganz einfache Art danach. Niehl stutzte, verharrte eine Weile und sagte dann: „Frau Bundesverfassungsrichterin, es kann sein, daß ich Ihre Frage nicht verstanden habe.“ Wie immer das mit der Orthographiereform ausgehen mag: Niehls Höflichkeit wird außer Zweifel stehen. — SZ 11.12.1998 Schutz fürs Rechtschreiben? Reformgegner wollen die Bayerische Verfassung ändern Die Bayerische Verfassung hat den löblichen Artikel 141 zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der kulturellen Überlieferung. Es werden darin unter anderem das Wasser und die Luft aufgezählt, die Wälder und die Seen sowie die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur. Was nicht vorkommt, das sind die deutsche Sprache und deren Schrift. Wenn es nach der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform“ geht, wird sich das bald ändern: Sie bereitet ein Volksbegehren vor, mit dessen Hilfe ein entsprechender neuer Artikel 141 a in der Verfassung verankert werden soll. Dessen Wortlaut: „Sprache und Schrift als zentrale Bestandteile der Kultur dürfen nicht zum Gegenstand staatlich angeordneter Veränderungen werden. In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, die in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist.“ Der Unterschriftenbogen wird zur Zeit im bayerischen Innenministerium auf seine formale Richtigkeit hin überprüft. Gleich danach, vielleicht sogar noch in diesem Jahr, wollen die Reformgegner starten, um nicht zu sagen: durchstarten. Daß sie die zur Zulassung nötigen 25 000 Stimmen im Nu zusammenbringen, dessen sind sie sich völlig sicher: Als Friedrich Denk vor zwei Jahren einen ähnlichen Vorstoß machte, konnte er in kürzester Zeit fast 50 000 Stimmen sammeln. Sein Volksbegehren wurde aber nicht weiterverfolgt, weil seinerzeit auch in Schleswig-Holstein die Leute aufbegehrten und man einander bei der Nutzbarmachung der Naturkraft Volkszorn nicht im Wege stehen wollte. Der Stand der Dinge ist mittlerweile der, daß in Schleswig-Holstein ein Volksbegehren erfolgreich durchging und in Bremen eines zugelassen wird. Die Gegner der Rechtschreibreform sind, über ihren dem Thema zuzuschreibenden Groll hinaus, voller Unmut darüber, daß ihr klarer Erfolg in Schleswig-Holstein sich nicht in ihrem Sinne ausgewirkt hat. Ihr Matador und Motor, der Verleger Matthias Dräger, steht auf dem Standpunkt, daß mit dem Ausscheren des nördlichsten Bundeslandes die verpflichtende Einstimmigkeit der Kultusministerkonferenz aufgehoben ist, daß die Kultusminister folglich die Reform fallenlassen müßten. Davon kann indessen bis jetzt keine Rede sein; Dräger sieht Manipulation und Durchstecherei allenthalben. Aus diesem Grund operieren die Initiativen nun in dem gewichtigen Bundesland Bayern, und das mit dem ähnlich gewichtigen Instrument einer Verfassungsänderung. „Wenn wir es in Bayern schaffen“, sagt Dräger, „dann ist das absolut vorbei.“ Man wolle sich freilich an keine Partei hängen, sondern versuchen, die erforderlichen 25 000 Stimmer per Hand zu akquirieren und dabei gleich jene Infrastruktur an Mitarbeitern aufbauen, die man benötigt, wenn der Volksentscheid dann in den Rathäusern zur Eintragung ausliegt. „. . . dann ist das absolut vorbei.“ Mit das meint Dräger die Rechtschreibreform, die bis heute weder richtig leben noch anständig sterben kann. Um wenigstens ihren Tod zu fördern, haben die Volksinitiativen – es gibt mittlerweile deren sieben – nichts Geringeres als den 50. Jahrestag der UNO-Menschenrechtskonvention zur Unterstützung ihres Anliegens herangezogen. Sie argumentieren, daß die Umstellung der Rechtschreibung in Behörden das Menschenrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verletze. Überhaupt habe man beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 zu stark auf den Komplex Elternrechte geachtet. Dabei sei ein sehr entscheidender Satz in den Hintergrund geraten: der Satz, wonach Personen außerhalb der Schule, also etwa Beamte, „nicht gehalten“ seien, „die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden.“ Bei der Pressekonferenz zum neuen Vorstoß präsentierte sich die bayerische Filiale der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform“. Es handelt sich dabei um die Familie Lemitz aus Eching, die weniger mit den Menschenrechten operiert als vielmehr „aus dem Bauch heraus“. Die Lemitz’ haben drei Kinder, zwei gehen noch zur Schule und werden in der neuen Rechtschreibung unterrichtet. Wolfgang und Monika Lemitz, die Eltern, betrachten die Chose aus der Sicht des kleinen Mannes und stoßen sich daran, daß etwas, was bisher richtig war, nun „per Gesetz“ falsch sein soll. „Das kann doch nicht sein“, sagt Vater Lemitz, und darum soll der alte Zustand wiederhergestellt werden. Hermann Unterstöger — SZ 30.1.1999 Glaubenskrieg in der Fußgängerzone Von Hermann Unterstöger Die letzte Änderung der Bayerischen Verfassung liegt ziemlich genau ein Jahr zurück. Damals entledigten sich die Bayern per Volksentscheid des als antiquiert geltenden Senats. Nun soll, wenn es nach den Vorstellungen der Initiative „WIR gegen die Rechtschreibreform“ geht, die Verfassung abermals geändert werden, und zwar durch Hinzufügen eines Artikels, der erstens Sprache und Schrift unter die Obhut des Staates stellt und der es zweitens verhindert, daß in den Schulen die reformierte Rechtschreibung verbreitet wird. Dazu bedarf es ebenfalls eines Volksentscheids, und der soll diesen Samstag in München ins Rollen gebracht werden. Die bayerische Sektion der Initiative wird zu diesem Zweck ganze sechs Quadratmeter der Fußgängerzone einer Sondernutzung unterwerfen. Sie will jedoch weder jonglieren noch Universal-Gemüsehobel verkaufen noch Lieder der Anden zum besten geben. Vielmehr errichtet sie in der Neuhauser Straße, in Höhe des Statistischen Landesamtes, einen Stand, an dem sie von 14.30 bis 18.30 Uhr über das Ziel der ambitionierten Aktion unterrichtet und – versteht sich – Stimmen dafür sammelt. Generell ist der Gang der Dinge folgender. Zunächst das Vorglühen: Dabei muß die Initiative 25 000 Stimmen zusammenbringen, um die Angelegenheit überhaupt beim Innenministerium vorlegen zu können. Dort wird die Zulässigkeit geprüft, und wenn die Prüfung positiv ausfällt, ist die Sache gewissermaßen gezündet und kann in Fahrt kommen. In dieser Phase (sie ist auf vierzehn Tage begrenzt) muß sich ein Zehntel der Stimmberechtigten, etwa 880 000 Leute, in die bei den Gemeinden ausliegenden Listen eintragen. Danach geht das Verfahren an den Landtag, der entweder zustimmen, also die Verfassung ändern kann, oder der den Antrag ablehnen beziehungsweise einen alternativen Entwurf vorlegen kann. In dem Fall käme es zum Volksentscheid, bei dem die einfache Mehrheit den Ausschlag gibt. In Schleswig-Holstein lief das so, mit dem Ergebnis, daß dort an den Schulen die überlieferte Rechtschreibung gelehrt wird, was indessen nicht zu der erhofften bundesweiten Umkehr führte. Die Initiative setzt jetzt auf die bayerische Karte, in der Erwartung, daß, wenn ein Bundesland die Rechtschreibung zu einer Art Grundrecht erhebt, auch der Rest der Republik in sich geht und der Reform den Abschied gibt. Im hiesigen Kultusministerium zeigt man Gelassenheit. Ministerin Monika Hohlmeier bleibt auf ihrem Standpunkt, wonach die Reform in den Schulen unspektakulär umgesetzt wird und sachliche Unstimmigkeiten des Reformwerks während der Übergangsfrist ausgeräumt werden können; eine Fortsetzung des „Glaubenskrieges“ ist aus ihrer Sicht nicht förderlich. Bayerischer „Beauftragter der Volksinitiative“ gegen die Reform ist der Gemeindegärtner Wolfgang Lemitz, Heidestraße 40, 85386 Eching, Telephon 089/319 59 41, Fax 319 71 117. — Erlösung für das Geisterschiff Die Akademie für Sprache und Dichtung will von der Rechtschreibreform retten, was zu retten ist Von Hermann Unterstöger Selbst wenn in weiten Kreisen das Interesse an der Rechtschreibreform so gut wie erloschen ist: Nach wie vor gurkt sie, dem Geisterschiff des Fliegenden Holländers vergleichbar, auf dem Sprachmeer herum. Ihren gegenwärtigen Zustand kennen nur wenige genau, doch spricht es sich herum, daß diverse Volksbegehren Löcher in den Rumpf gerissen haben und daß in den Stürmen der öffentlichen Auseinandersetzung nicht nur die Segel gelitten haben, sondern auch allerlei Ausrüstung über Bord ging. Teile der Besatzung haben längst abgemustert. Geisterschiffe müssen irgendwann erlöst werden. Bei der Rechtschreibreform scheint der Zeitpunkt dafür gekommen zu sein, und ein mögliches Erlösungskonzept läuft darauf hinaus, daß man das Schiff nicht zerstört, wohl aber den Erkenntnissen und Erfordernissen der Zeit entsprechend umbaut. Bei der Mannheimer Zwischenstaatlichen Kommission wird, wie man hört, das Projekt in dem Sinne modifiziert, und auch die Nachrichtenagenturen, die bald auf die neue Rechtschreibung umzustellen gedenken, erarbeiten dafür eine abgeschwächte Version des ursprünglichen Konzepts. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zählte, nachdem sie vor Schreck zunächst einige Zeit geschwiegen hatte, zu den entschiedenen Reformgegnern. Nun hat auch sie sich dazu durchgerungen, einen Beitrag zur Reparatur und damit möglicherweise zur Erlösung zu leisten. Sie meint, daß der Konflikt genug Kraft gekostet hat und zu einem Ende gebracht werden muß. „Angesichts der Machtverhältnisse“ schlägt die Akademie vor, von der Rechtschreibreform das zu übernehmen, was sinnvoll und unschädlich ist, und das zurückzuweisen, was irreparabel mangelhaft oder ästhetisch inakzeptabel ist. Als „Herzstück der Reform“ betrachtet die Akademie die Regelung, nach kurzen Vokalen das „ß“ durch „ss“ zu ersetzen. Sie sieht zwar neue Fehler vom Typ „Landstrasse“ statt „Landstraße“ heraufziehen, rät aber im Interesse des orthographischen Friedens zum „ss“, es sei denn, dies führe zu Bildungen wie „Missstand“. Hier sollte weiterhin „Mißstand“ geschrieben werden, wie denn überhaupt die Verdreifachung von Konsonanten à la „Schlammmasse“ als überflüssig und grotesk abgelehnt wird. Neuschreibungen wie „überschwänglich“ nimmt man hin, nicht jedoch falsche Volksetymologien nach Art des „Tollpatschs“. Problematisch ist nach wie vor die Getrennt- und Zusammenschreibung. Indem die Reform mehr Getrenntschreibungen zulasse, als es bisher gab, gehe sie das Risiko ein, daß eine Reihe von Wörtern, „auseinandersetzen“ zum Beispiel, aus Schrift und Bewußtsein verschwinden. Die Akademie rät daher, feste Zusammensetzungen wie „freisprechen“ oder „nottun“ in Wörterverzeichnissen zu sichern und andere gewissermaßen freizugeben. „Der Schreiber“, sagt die Akademie, „muß in Zweifelsfällen selbst wissen, was er meint und wie er das am besten schreibt.“ Ein schöner Satz, der nichts anderes sagt, als daß die Rechtschreibprobleme verschwänden, wenn nur mehr Sprachkompetenz vorhanden wäre. Quelle: Süddeutsche Zeitung 8.3.99 — SZ vom 08.08.2000 Meinungsseite Rechthaber und Rechtschreiber VON HERMANN UNTERSTÖGER Da hatte man also gedacht, man könnte mit dem alten Jahrtausend auch ein paar von dessen leidigsten Themen hinter der Biegung der Zeit zurücklassen, etwa und insbesondere die Rechtschreibreform. Doch was tut Gott? Er gibt es der Frankfurter Allgemeinen ein, die Sache von neuem aufzugreifen und dadurch das Land weiträumig zu erfreuen. In Südtirol geschah es einem Schriftsteller, dass er, als er von der Umstellung des Blattes auf die alte Orthographie erfuhr, zunächst fassungslos war. Dann aber, schreibt er der FAZ, „sprang ich auf, klatschte in die Hände, trommelte mit den Füßen auf den Boden und schrie minutenlang wie ein Verrückter.“ Es wäre nun ein Leichtes, es dabei bewenden zu lassen und das seltsam Taumelnde des zitierten Statements für ein Charakteristikum der ganzen Chose zu nehmen. Tatsächlich hat ja die neue Debatte – wie schon die alte – ihre durchaus komischen Seiten, indem sich neben kompetenten Leuten immer auch solche zu Wort melden, die über einen drohenden Sprachverfall lamentieren, ohne zu bemerken, dass just ihre Einlassungen diesen Verfall aufs Betrüblichste dokumentieren, wenn auch anders als durch die Verletzung orthographischer Regeln. Sie gehören der nicht eben kleinen Gruppe innerhalb der Sprachgemeinschaft an, die in der Sekundärtugend Rechtschreibung brillieren, weil sie ihnen als eine Primärtugend eingebläut worden ist. Man könnte ferner und in gerader Fortführung dessen auf dem Standpunkt beharren, dass der deutschen Sprache andere Fährnisse im Wege stehen als die Vernebelung der bislang relativ sicheren orthographischen Pfade. Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim (IdS), wo die Rechtschreibreform organisatorisch angebunden ist, weist eben jetzt darauf hin, dass das Deutsche einer Fülle von Neuwörtern und Entlehnungen ausgesetzt, dass generell sein künftiger Status in Europa unsicher sei. Das alles ist goldrichtig, wirkt aber in der gegenwärtigen Situation ein wenig so, als sagte man zu einem, der sich mit dem Lateinischen schwer tut, er könne noch todfroh sein, dass er nicht Baskisch oder Ungarisch lernen muss. Eine Umfrage des Bonner Meinungsforschungsinstituts „dimap“ hat Folgendes ergeben: Die Deutschen lehnen die reformierte Rechtschreibung mit einer Mehrheit von 60 Prozent ab, wobei dieser Mehrheit immerhin fast 40 Prozent gegenüberstehen, die entweder die Neuerungen billigen (26 Prozent) oder es sogar gern noch ein wenig reformierter hätten (11 Prozent). Der ganz große Exorzismus wider die Rechtschreibreform lässt sich, bei allem Respekt vor der vox populi, damit noch nicht rechtfertigen. Nach den Regeln des demokratischen Umgangs miteinander sowie der Höflichkeit kann man dergleichen indessen auch nicht einfach als dumpfe Maulerei des Volks abtun. Wie soll es weitergehen? Der Coup der FAZ findet, soweit sich das zur Stunde beurteilen lässt, wenig Nachahmung, was den anderen Zeitungen nicht unbedingt als Feigheit ausgelegt werden sollte. Schließlich könnten sie in dem einen Jahr mit der neuen Orthographie ja die Erfahrung gemacht haben, dass es auch sein Angenehmes hat, wenn das Wams etwas lockerer sitzt – eine Erfahrung übrigens, die sie mit manchen ihrer Leser gemeinsam haben, mögen die sich gleich nicht halb so ekstatisch äußern wie der erwähnte Südtiroler Schriftsteller. Andererseits hat sich in diesem einen Jahr mit einer Deutlichkeit, an der sich keiner mehr vorbeidrücken kann, erwiesen, dass die Reform, in bestimmten Einzelheiten jedenfalls, weder den Schreibenden noch den Lesenden zu vermitteln ist. Dabei stellt sich längst schon nicht mehr die Frage, ob solche Details in systematischer, sprachgeschichtlicher oder sonst einer Hinsicht richtig sind. Wenn der – mit Verlaub – „User“ nicht daran denkt, sich den neuen Schuh anzuziehen, und wenn man sich noch einmal in Erinnerung ruft, dass die Rechtschreibung als solche nur eine nachgeordnete Kunst ist, dann kann es unter Vernünftigen wohl kein Problem sein, sich über einen an der Praxis orientierten Rückbau des Unternehmens, zum Mindesten jedoch über ein Ausputzen von dessen wildesten Trieben zu unterhalten. Stellt sich die Frage, wer die Vernünftigen sind. Idealerweise wären es wohl die, die bereit sind, aus ihren jeweiligen Wagenburgen hervorzutreten und die Sache mit einer Lockerheit, wie man sie bisher allzu sehr hat vermissen müssen, zum guten Ende zu führen. Dieses gute Ende wiederum könnte so aussehen, dass man die brauchbaren Elemente der Reform Zug um Zug der alten Rechtschreibung beimengt und den Überschuss dem Schweigen der Archive überantwortet. Auf diese Weise könnte zum Beispiel der ebenso andauernd wie sinnlos diskutierte „Tollpatsch“ (statt bisher „Tolpatsch“) am Leben bleiben, wohingegen man das „wohl verdient“ (statt bisher „wohlverdient“) wieder striche, es sei denn, man überließe es überhaupt dem mündigen Schreiber, mit welcher der zwei Varianten er sich dem Leser wirksam mitteilen will. Ideale verwirklichen sich nicht selbst, und so wäre denn wieder einmal nach einem Gremium zu rufen, dem die Reformer ebenso angehören wie ihre Gegner, die Kultusminister ebenso wie die Lehrer, die Dichter ebenso wie ihre minderen Brüder, die Journalisten. So müsste doch die Kuh vom Eis zu bringen sein, ohne dass sie gleich daran krepiert. — Brief vom 8.8.2000: Sehr geehrter Herr Unterstöger, Ihr neuerlicher Aufruf zur Gelassenheit stimmt im Ton genau mit den Verlautbarungen der Reformer überein, und das ist auch kein Zufall. Denn bei so ungleicher Verteilung der Macht kommt die Parole „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ naturgemäß denen zugute, die am längeren Hebel sitzen. Beschwichtigung war ja schon immer Ihr Ziel, und damit haben Sie sich gleich am Anfang um die Reform verdient gemacht. Nicht zufällig hat Hermann Zabel die Überschrift Ihres Leitartikels ohne weiteres zum Titel seines Buches „Keine Wüteriche am Werk“ machen können. Als ich den überschwenglichen Leserbrief von Andreas Maier las, habe ich zwar auch ein wenig geschmunzelt, aber nachfühlen konnte ich seine Freude schon. Man muß sich eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber der Arroganz der Macht bewahrt haben, um so fühlen zu können. Gerade besonders geistreiche und witzige Menschen gewöhnen sich ja allmählich an eine scheinbar überlegene „Streiflicht“-Gelassenheit, die alles bespöttelt und in ihrer ausgestellten Ataraxie gar nicht merkt, wie weit sie sich schon zum Sklaven (sei es auch in der melancholisch-amüsanten Rolle des Hofnarren) gemacht hat. Ich habe sofort gedacht: „Wie leicht es ist, sich über den Brief von Andreas Maier lustig zu machen! Mal sehen, wer sich dazu hinreißen läßt!“ Wir haben nun jeden Tag den Vergleich: die Qualitätsorthographie und die wiederhergestellte Haltung des aufrechten Ganges bei der FAZ und dagegen das verdruckste Geschreibsel all derer, die die Faust nur in der Tasche ballen und nach außen entweder aggressiv auf den weniger Untertänigen herumhacken oder sich in „Gelassenheit“, „Unaufgeregtheit“ und Geistreichelei ihres Sklavendaseins zu freuen vorgeben. Das Joch ist ja auch nicht allzu schwer zu tragen. Wenn bloß das dumme Gefühl nicht wäre, daß man letzten Endes doch nur ein Mitläufer ist, der sich wegduckt, wenn es auf ein mannhaftes Wort ankäme. Ich lege noch ein paar neue Papiere bei, in denen einige Antworten auf die von Ihnen angetippten Fragen stehen, und grüße Sie mit den besten Wünschen, Th. I. — SZ vom 4.6.2005: Die zwei Teile der Rechtschreibreform Strittiges und Unstrittiges Der Umstand, dass die Rechtschreibreform nun in zwei Teile zerfällt, einen unstrittigen und einen strittigen, dürfte die unterschiedlichsten Empfindungen auslösen. München – Für Gegner der Reform wird ein Wagen, der an die Wand gefahren wurde, nicht dadurch wieder flott, dass man zwei seiner Räder für intakt erklärt. Freunde der Reform werden sagen, dass eine Rechtschreibung, die in den Schulen nun seit längerem praktiziert wird, nicht plötzlich partiell wieder untauglich sein könne. Emotionslose Beobachter hoffen auf eine in naher Zukunft erreichbare vernünftige Lösung und werden dafür möglicherweise von links wie rechts als laue, sprachvergessene Kompromissler angesehen. Das Siegel der Strittigkeit beziehungsweise Unstrittigkeit wird vorderhand exklusiv von der Kultusministerkonferenz vergeben, wohingegen der Rat für deutsche Rechtschreibung – jedenfalls dessen reformkritische Sektion – es lieber gesehen hätte, wenn noch mehr Sachverhalte im Stadium der Strittigkeit verblieben wären. Für unstrittig halten die Kultusminister die Regeln zur Laut-Buchstaben-Zuordnung, zur Schreibung mit Bindestrich sowie zur Groß- und Kleinschreibung. Strittig sind demnach die Komplexe der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Worttrennung am Zeilenende und der Zeichensetzung. Die unstrittigen Teile Bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung geht es der Neuregelung darum, die Wortstämme durch gleiche Schreibung in allen Wörtern einer Wortfamilie kenntlich zu machen. Das führt zu dem von der „Stange“ abgeleiteten „Stängel“, zu dem auf die „Nummer“ zurückgeführten Verbum „nummerieren“ und zu der rund um den „Kuss“ angeordneten „Kussszene“, doch finden sich in dieser Sparte auch assimilierte Fremdwörter wie „Tunfisch“, „Schikoree“, „Sketsch“ oder „substanziell“, analog zu „Substanz“. Was den Bindestrich angeht, so wird er bei einer Reihe von Wörtern fakultativ eingesetzt. Es gilt nun neben dem neuen „Kaffeeextrakt“ wieder den alten „Kaffee-Extrakt“, neben dem „Shoppingcenter“ das „Shopping-Center“. Bei Zusammensetzungen mit Ziffern sind zwei Schreibweisen möglich: „8-fach“ oder „8fach“ (und natürlich „achtfach“). Die Groß- und Kleinschreibung bringt Neuerungen wie die, dass „radfahren“ und „eislaufen“ zu „Rad fahren“ und „Eis laufen“ werden, dass man nicht mehr „pleite geht“, sondern „Pleite“ und dass man all das „heute Mittag“ erledigt statt wie früher „heute mittag“. Bei festen Verbindungen aus Präposition und dekliniertem Adjektiv hat man die Wahl: „binnen kurzem/Kurzem“. Die strittigen Teile Kern dieses Komplexes und so etwas wie die kritische Masse der Reform überhaupt ist die Getrennt- und Zusammenschreibung. Reizwörter wie „Leid tun“ statt des früheren Verbs „leidtun“ oder „Erdöl fördernd“ statt früher „erdölfördernd“ brachten es zu einer vordem nie geahnten Popularität, weil sich an ihnen der Vorwurf belegen ließ, die Reformer gäben ohne Not ein paar semantische Feinwerkzeuge des Deutschen aus der Hand. Hier wurde bereits nachjustiert, so dass man nun „Leid tun“ und „leidtun“, „allein erziehend“ und „alleinerziehend“ sowie „Fleisch fressende Pflanze“ und „fleischfressende Pflanze“ schreiben kann. Kritiker der Reform meinen dennoch, dass man hier zum Status quo ante zurückkehren müsste. Die Worttrennung am Zeilenende hat zu Novitäten wie dem viel gerügten (früher: vielgerügten) „Tee-na-ger“ geführt, auch zur einst strikt verbotenen Trennung von „st“: vormals „Fen-ster“, nun „Fens-ter“. Bei der Zeichensetzung wird zu überlegen sein, ob man den mit „und“ oder „oder“ verbundenen Hauptsätzen nicht wieder das gliedernde und damit viel Sinn stiftende Komma zurückgibt. — SZ 18.7.2005: Der Rechtschreibfrieden kommt bestimmt Es gehört zum politischen Alltagsgeschäft, zur rechten Zeit etwas Medientaugliches parat zu haben. Insofern hätte Johanna Wanka (CDU), die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, nichts Besseres tun können, als den im deutschen Sprachraum drohenden "Sprachföderalismus" an die Wand zu malen. Das Wort machte unverzüglich die Runde und erweckte den Eindruck, als würden sich über kurz oder lang die Hessen nicht mehr mit den Mecklenburgern, die Bayern nicht mehr mit den Sachsen und die Bremer Gott behüte nicht mehr mit den Hamburgern verständigen können. Wanka reagierte mit ihrem Schreckgespenst auf die Pläne einiger Bundesländer, mit der für den 1. August vorgesehenen Einführung der Rechtschreibreform noch so lange zu warten, bis der Rat für Rechtschreibung seine Korrekturempfehlungen vorgelegt hat. Wie erinnerlich, war dieser Rat ins Leben gerufen worden, um die nach wie vor umstrittene Orthographiereform abseits des Kampfgetümmels noch einmal zu überprüfen und einen für die Mehrheit der Bevölkerung hinnehmbaren Kompromiss herauszuarbeiten. Das leistete der Rat auch für bestimmte Segmente, ohne ein Geheimnis draus zu machen, dass auf anderen Feldern Verbesserungen ebenfalls noch höchst wünschenswert seien. Kein Geheimnis war es freilich auch, dass die Kultusminister den zunächst unterschätzten Rat ausbremsen und die Reform endlich amtlich machen wollten. Davon, dass dies im Interesse der Vernunft und eines späteren Rechtschreibfriedens jetzt noch einmal gebremst wird, geht die Welt nicht unter. Was aber den Sprachföderalismus angeht, so verhindert man ihn am besten, wenn man sich den Abweichlern anschließt. Hermann Unterstöger — SZ 4.3.2006 Die Baustelle bleibt offen Von Hermann Unterstöger „Ich hab es getragen sieben Jahr, und ich kann es nicht tragen mehr", sagt Archibald Douglas in Fontanes Ballade, und bei der bayerischen Dichterin Emerenz Meier bricht es aus dem Bauernburschen, den sein Mädl hat sitzen lassen: "Schlag, Herrgott, ein und mach an End!" Das eben gebrauchte sitzen lassen wird man, wie es seinem metaphorischen Sinn entspricht, nun bald wieder zusammenschreiben dürfen, und das ist verdammt gut so, denn lang hätte die deutsche Sprachgemeinschaft „es" nicht mehr getragen, nämlich das Gezappel und Gezerre um die Rechtschreibreform. Dass der Herrgott nicht einschlagen und ein Ende machen musste, ist wohl ein Verdienst der Kultusministerkonferenz, die sich jetzt doch dazu aufgerafft hat, die Mängel- und Reparaturliste des Rechtschreibrates zu ihrer eigenen Sache zu machen und die Orthografie auf dieser Basis vom 1. August 2006 an für verbindlich zu erklären. Vom großen Zapfenstreich sollte man dennoch fürs Erste Abstand nehmen. Dafür riecht es allenthalben zu stark nach Pyrrhussieg und Waffenstillstand, nach einem Frieden um des Friedens willen. Die kollektive Willensäußerung der sechzehn Kultusminister stand so überdeutlich unter der Devise „Nun muss aber endlich Ruhe einkehren“, dass man sich nicht anstrengen musste, um das resignierte „ . . . weil wir anders auch nicht mehr weiterkommen“ wie ein Echo mitschwingen zu hören. Anders gesagt: Da die Waffen schartig geschlagen sind, können wir die Rauferei ruhig einstellen und die Visiere hochklappen. Das Einzige, was vorderhand als Reingewinn gebucht werden kann, ist der Vorsatz, den der sachsen-anhaltinische Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz stellvertretend für viele formulierte: Dass der Staat von so einem Gegenstand künftig die Finger lassen solle. Amen, möchte man sagen, und schreib dir’s ein für allemal hinter deine riesigen Ohren, Staat! Leider ist die Geschichte der Rechtschreibreform unter anderem davon geprägt, dass sich der Staat gar nicht genug tun konnte mit Sich-Einmischen und An-sich-Ziehen, dass er seine Finger ständig und bis an die Handwurzeln in der Sache hatte. Wenn man ihm auch nicht unterstellen sollte, es seien ihm die Untiefen von vornherein bekannt gewesen, so muss er sich doch dafür rügen lassen, dass er, als das Schiff auf Sand zu laufen begann, die Augen davor verschloss und sich auf einen ebenso besserwisserischen wie hochfahrenden Justamentsstandpunkt zurückzog. Frust auf beiden Seiten Der Rechtschreibfriede - oder wie immer man den gegenwärtigen Status nennen mag - hat zu viel von einem Kompromiss an sich, als dass man sich über das Unbefriedigende der Lage hinwegmogeln könnte. Der Rückbau der Reform beschert der Nation eine Rechtschreibung, die nun zwischen der alten und der neuen approximativ die Mitte hält, nur dass da eben nicht holdes Bescheiden liegt, wie der Dichter sagt, sondern der Hase im Pfeffer, sprich: der Frust beider Fraktionen über das Ergebnis. Die Reformer haben zwar einen Teil ihres Werks retten können, sind aber trotzdem empfindlich beschnitten worden und müssen zudem mit dem öffentlichen Verdacht leben, sie hätten das alles, ohne über die fachliche Weitsicht zu verfügen, aus Wichtigtuerei vom Zaun gebrochen. Ihre Gegner dürfen sich, als Bürger wie als Wissenschaftler, dessen rühmen, dass sie gegen das Unding, das die Reform in ihren Augen immer war und ist, aufgestanden sind und manches Hagelwetter dafür haben hinnehmen müssen. Ihnen steckt freilich der Stachel im Herzen, dass der Rechtschreibrat mit seiner Gegenreform auf halber Strecke verdurstete und dass deswegen ihr Ziel, die Una Sancta der orthodoxen Orthografie, im Grunde so weit entfernt ist wie die ganzen letzten Jahre über. Die diesem Lager zugehörige Forschungsgruppe Deutsche Sprache hat bereits den Terminus „Diktatfrieden“ ausgegeben, von dem aus es nicht mehr weit ist zum „Schandfrieden“ unseligen Angedenkens. Unmut hin oder her, beim Griff in die Kiste historischer Parallelen sollte man an sich halten, sonst fuchtelt man am Ende noch mit der „Dolchstoßlegende“ herum. Gelassen dahintrudeln Es lässt sich an dieser Stelle nicht vermeiden, die recht verstandene Streitkultur und demokratische Reife der Beteiligten aufzurufen. Das hört sich schon bei größeren Themen pompös an, umso mehr bei Regelungen wie etwa der, dass man den runden Tisch künftig großschreiben darf, wenn man nicht seine vom Schreiner gewollte Form im Auge hat, sondern seine idiomatisierte Gesamtbedeutung - die gute alte „übertragene Bedeutung“. Nichtsdestoweniger wird es beider Tugenden bedürfen, erstens, weil nun alle Fraktionen vor der Frage stehen, ob sie denn um der Eintracht willen mit etwas leben wollen, mit dem sie aus grundsätzlichen Erwägungen eigentlich nicht leben können, und zweitens, weil die Baustelle entgegen dem Augenschein weiterhin offen bleibt. Eben kündigt ein großer Schulbuchverlag an, dass er sich sofort an die Überarbeitung seiner Deutschbücher macht. Hut ab! Dennoch wird das Land nicht in Anarchie versinken, wenn es auch orthografisch noch ein paar Jährchen so dahintrudelt, wie es das auch in anderen Disziplinen tut. Gibt man den Schulen die Freiheit, während einer Übergangszeit (und möglichst auch danach) die Kirche im Dorf zu lassen und der Sekundärtugend Rechtschreiben nicht mehr Gewicht beizumessen als der Hauptsache Deutsch, wird das kein Schaden sein. Ist diese Gelassenheit erst erreicht, werden auch die letzten Unterrichtsmaterialien nachkorrigiert sein. Man kann aus der jetzt verabschiedeten Gegenreform die Tendenz herauslesen, dass die alte Orthografie weiteres Terrain zurückerobern wird, dass es speziell bei der Getrennt- und Zusammenschreibung zu einer Art Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommen könnte. Hier eröffnet sich für einen gerecht besetzten, klug operierenden und von staatlicher Gängelung möglichst freien Rechtschreibrat ein weites Arbeitsfeld. Sollte es ihn weiterhin geben, wird es sein Geschäft sein, dem orthografischen Verhalten einer momentan zwar verwirrten, aber deswegen nicht auf ewig konfusen Sprach- und Schreibgemeinschaft hart auf der Spur zu bleiben und im ständigen Austausch mit dieser das zu registrieren, was dann in Gottes Namen als Wille der Sprache gelten kann. Den Hardlinern beider Feldlager wird das nicht gefallen, weil sie das Prinzipielle im Sinn haben und insofern dazu neigen, hinter jeder Verhandlung den Verrat zu wittern. Die Übrigen aber sind inzwischen dermaßen weich gekocht respektive weichgekocht, dass sie den Streit um des Kaisers Bart, als welcher ihnen der bald zwanzigjährige Krieg um die Rechtschreibung vorkommt, lieber heute als morgen beendet sähen - mag auch der Bart dabei zerrupft zurückbleiben. Im Film sieht man oft Hochzeiten, bei denen der Pfarrer sagt, wer Hinderliches wisse, sage es gleich oder schweige für immer. So ein Ritual wünschte man sich auch für die Rechtschreibreform.
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