23.02.2006 Theodor Ickler Wenig praxistauglichAus der Arbeit der RatsmitgliederProf. Dr. Thomas Lindauer – PH Aargau Nordwestschweiz – Kasernenstrasse 20 – CH-5000 AarauStellungnahme zum Reformvorschlag der AG GZS Zunächst möchte ich der Arbeitsgruppe für ihre Arbeit danken. Allerdings muss ich sagen, dass ich etwas irritiert und stellenweise enttäuscht bin. Irritation 1) Die von der AG vorgelegte «Vorlage GZS 8. April» enthält keine Hinweise darauf, was mit den vorgelegten Regelformulierungen an der geltende Orthografie in welcher Richtung reformiert wird. Ich wünschte mir, dass aus zukünftigen Ergebnissen einer AG für alle Ratsmitglieder leicht und deutlich ersichtlich wird, was sich durch die vorgeschlagenen Regeln ändert. Angesichts dessen, dass nicht alle Ratsmitglieder über umfassende sprachwissenschaftliche Kenntnisse verfügen, sollte zudem allgemeinverständlich deutlich gemacht werden, welche Konsequenzen die vorgeschlagenen Änderungen auf die Schreibpraxis haben werden. 2) Die vorgelegten Regeln reformieren, wie dies auch Herr Ickler in seiner Notiz anmerkt, die geltende Rechtschreibung. Die Aufgabe des Rates besteht nicht darin, eine Reform der Rechtschreibung zu entwickeln, sondern die Beobachtung und Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung zu leisten. Ich fürchte, dass eine solche neue Rechtschreibreform die Diskussion nicht beruhigen wird. 3) Es ist im Rat mehrfach und deutlich der Wunsch geäussert worden, dass Variantenschreibungen möglichst vermieden werden sollten. Auch wenn ich diese Ansicht nicht teile, scheint es mir doch angebracht, dass wir diesem deutlich geäusserten Wunsch einer Ratsmehrheit (?) folgen. Es hat mich daher doch stark irritiert, dass die AG nun mit §34 (4.1.), (4.2) E7 weitere solche Variantenschreibungen einführen will. Wie gesagt: Mich persönlich stören Variantenschreibungen nicht. Enttäuschung Mit der geltenden Regelung zur GZS ist offenbar niemand glücklich. Aus der Sicht der Schule bzw. der Lerner liegt dies vor allem daran, dass es hier zu wenig praxistaugliche Regeln gibt: Zu oft muss im Wörterbuch nachgeschlagen werden. Trotzdem gibt es einige leicht verständliche Regeln: R1 Verben stehen immer getrennt von einem folgenden Verb. R2 Nomen und Verb schreibt man immer getrennt. Ausser in den folgenden acht Fällen, wobei für die meisten nicht in allen Fällen ein Nomen als erster Bestandteil erkannt wird: heim-, irre-, preis-, stand-, statt-, teil-, wett-, wunder- R3 Wörter, die auf -wärts und -einander enden, werden getrennt von einem folgenden Verb geschrieben. R4 Adjektive, die auf -ig, -isch, -lich enden, werden von einem nachfolgenden Wort getrennt geschrieben. Diese Regeln mögen aus linguistischer Sicht wenig befriedigend erscheinen, aus praktischer Sicht sind sie aber äusserst nützlich. Ich bin der Meinung, dass die Orthografie nicht zur Tummelwiese von sprachwissenschaftlich geschulten Spezialisten werden darf, sondern dass sie einer grossen Mehrheit der Bevölkerung das Schreiben und Lesen erleichtern soll. Die oben aufgeführten Regeln erfüllen gerade dies: Es sind vier Regeln, die wohl von den meisten Sprachteilhabern verstanden und in ihrem Schreiben umgesetzt werden können. Betrachtet man nun die Vorschläge der AG näher, stellt man mit Erstaunen fest, dass diese vier Regeln reformiert werden sollen. Angesichts dessen, dass wir ohnehin schon zu wenige praxistaugliche Regeln im Bereich der GZS haben, enttäuscht mich dieser Vorschlag sehr. Im Detail: §34 (1.2): In gewissen Fällen soll nun -wärts und –einander mit dem folgenden Verb zusammengeschrieben werden. Aber wohl nicht in allen Fällen: stadtauswärtsgehen, treppaufwärtssteigen … wären das nach dem Vorschlag der AG zulässige Schreibungen? Zudem wird so der Wert der Regel R3 aufgehoben. §34 (1.2) E1: Es schiene mir sinnvoll, wenn die AG hier auch eine allgemeinverständliche und nicht nur eine innerlinguistische Formulierung vorlegen könnte, sodass auch Nicht- Wissenschaftler im Rat verstehen können, was damit gemeint ist. §34 (2.1): Ist es wirklich nötig, weitere Variantenschreibungen einzuführen? Ist es nach dem Verständis der AG möglich etwas kleinzerschneiden zu schreiben? Weiteres Beispiel: die Wand grünanstreichen (als Resultat folgt ja, dass die Wand dann grün ist), da gibt es wohl noch viel zu überprüfen und zu klären. Aber das ist ja auch in der geltenden Rechtschreibung nicht gut gelöst. §34 (2.1) E4: Meint «Es besteht eine Tendenz zur Zusammenschreibung», dass man in den aufgeführten Fällen immer auch getrennt oder zusammenschreiben darf? Wie steht es mit weil die Tür offenbleibt / offen bleibt, weil die Frage offenbleibt / offen bleibt? Auch da scheint man der Varianz Tür und Tor öffnen zu wollen. §34 (2.2): fertigmachen, übrigbleiben zerstört die geltende, oben angeführte leichtverständliche Regel R4. Das scheint mir ein zu hoher Preis zu sein. §34 (3): eislaufen, kopfstehen zerstört die geltende, oben angeführte Regel R2. Warum schreibt man nicht auch schlangestehen, kerzenziehen, radfahren, skilaufen etc.? Warum hier nach dem Willen der AG die Ausnahmeliste um die angeführten Fälle erweitert werden soll, ist nicht nachvollziebar. Erklärungen wären hier hilfreich gewesen. §34 (4.1): kennenlernen. Warum soll wegen einer Schreibung eine derart taugliche Regel wie R1 abgeschwächt werden? Oder meint die AG, dass es hier noch weiter Fälle gibt? Dann ist aber die Regel R1 nicht mehr praxistauglich. §34 (4.2) E7: Auch hier wird der Variantenschreibung Tür und Tor geöffnet. Zudem wird die Regel R1 völlig zerstört. Schreibt man nun die Uhr ist stehengeblieben. Die Zeit ist stehengeblieben. Soll das so stehenbleiben? Wollen wir das wirklich so stehenlassen? Fazit Wie gezeigt, hebt der Vorschlag der AG die wenigen Regeln, die wir im Bereich GZS haben, auf. Da dies für die Schul- und Schreibpraxis wenig hilfreich ist und da die vorgebrachten Vorschläge eine eigentliche Reform der geltenden Rechtschreibung darstellen, lehne ich die aufgeführten Paragrafen ab. — Theodor Ickler: Bemerkungen zur Stellungnahme von Herrn Lindauer Wenn Herr Lindauer von der „geltenden Rechtschreibung“ spricht, meint er stets die von ihm mitverantwortete Neuschreibung, die gerade zur Diskussion und Disposition steht. Ich erwähne dies eigens, weil gerade durch sein Zitat aus meiner Stellungnahme verwischt werden könnte, daß ich die Neuregelung nicht als Grundlage meiner Beurteilung der Vorlage nehme, sondern, wie auch in meiner Stellungnahme deutlich gesagt, die bisher übliche, in Milliarden Texten praktizierte Orthographie (die ich stets von ihrer Darstellung im Duden unterschieden und erstmals auf empirischer Grundlage in meinem eigenen Rechtschreibwörterbuch beschrieben habe). Ich begrüße die Vorlage gerade aus dem Grunde, aus dem Herr Kollege Lindauer sie ablehnt. Es kann nicht ein weiteres Mal (wie oft denn noch?) darum gehen, an der Neuregelung herumzureparieren. Dazu hatten die Reformurheber genug Zeit, sie haben nichts als Wirrwarr hinterlassen. Jetzt muß nachgeholt werden, was nach einhelligem Urteil zu Beginn der Reformbemühungen versäumt wurde: Erfassung und Erklärung der in Jahrhunderten gewachsenen Orthographie, anschließend eine verbesserte Darstellung, aber kein wesentlicher, die Kontinuität der Schriftsprache zerstörender Eingriff in die Substanz. Es liegt völlig außerhalb der sprachgeschichtlichen Entwicklung, Verben wie „fertigstellen“, „heiligsprechen“ usw. zu zerreißen. Dem Grundsatz des hauptverantwortlichen Reformers Schaeder, lieber eine willkürliche als gar keine Regel aufzustellen und Schulkindern beizubringen, kann ich nicht zustimmen. Herr Lindauer befürchtet, daß die Vorlage Schreibweisen wie „kleinzerschneiden“, „grünanstreichen“, „treppaufwärtssteigen“ usw. erlaube. Das ist abwegig. Niemand ist in Versuchung, so zu schreiben, diese Gefahr ist bloß theoretisch konstruiert. Außerdem leitet ohnehin niemand die GZS aus Regeln ab. Die meisten Leute wußten gar nicht, daß es solche Regeln gibt – bevor neue Regeln völlig unübliche Schreibweisen erzwangen. Glaubt Herr Lindauer wirklich, die Bevölkerung würde sich die -ig/-isch/-lich-Regel aneignen, auch wenn sie zugegebenermaßen der Sprachentwicklung entgegenläuft und linguistisch überhaupt keinen Sinn hat? Daß eine Regel „leicht zu lernen“ ist, stellt in meinen Augen keinen hinreichenden Grund dar, sie einzuführen, wenn diese Regel gleichzeitig so weit vom Üblichen entfernt ist. Herr Lindauer will „kennenlernen“ nur noch getrennt schreiben lassen, weil das leicht zu lernen sei, aber er fragt mit keinem Wort, warum die deutschsprachige Welt darauf gekommen ist, „kennenlernen“ usw. zusammenzuschreiben. Waren unsere Vorfahren so entsetzlich dumm? Hier sieht man, daß zwischen einer behutsamen „Pflege der Orthographie“ (Munske) und einer konstruktivistischen, scheinrationalen Zwangsbewirtschaftung der Sprache, die sich nicht einmal bemüht, Gewachsenes zu verstehen, tatsächlich Welten liegen. Aus der Vorlage kann man in der Tat entnehmen, daß die Arbeitsgruppe praktisch die gesamte Neuregelung im Bereich von § 34 verwirft und daher keinen Anlaß mehr sieht, Punkt für Punkt auf diese nun schon in zwei wesentlich verschiedenen Fassungen vorliegende Neuregelung einzugehen – was übrigens zu einer äußerst komplizierten Darstellung und nur noch von vier oder fünf Ratsmitgliedern beherrschbaren Diskussion führen würde! Die ursprüngliche Intention der reformierten GZS ist ohnehin nur noch wenigen gegenwärtig, die von Anfang an dabei waren. Die meisten Ratsmitglieder können wohl – wie die Mehrheit der schreibenden Bevölkerung – gar nicht mehr nachvollziehen, was an der bisher üblichen Schreibweise eigentlich verkehrt gewesen sein soll. Richtig ist Herrn Lindauers Feststellung, daß der Rat keine weitere Rechtschreibreform auf den Weg bringen soll. Die Rückkehr zur allbekannten Rechtschreibung ist keine solche weitere Reform, sondern die einfachste Lösung. Sie ist unvermeidlich, es fragt sich bloß, welche Umwege und Kosten man der Bevölkerung noch zumuten zu können glaubt, bis die gewohnte und bewährte Einheitsorthographie wiederhergestellt ist. — Meine Stellungnahme, auf die Lindauer sich bezieht, hatte folgenden Wortlaut: Kommentar zur Vorlage der Arbeitsgruppe GZS vom 5.4.05 Die Vorlage stellt im großen und ganzen den Zustand, der vor der sogenannten Rechtschreibreform herrschte, wieder her, indem sie ihn besser als der Duden zu beschreiben versucht. Damit folgt sie der richtigen Maxime eines führenden Reformers: „Eine linguistische Theorie, die nicht die üblichen Schreibungen erzeugt, ist falsch.“ (Gerhard Augst / Mechthild Dehn: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart 1998, S. 48) Die Reform hatte weithin unübliche Schreibungen erzeugt. Ein detaillierter Vergleich der Vorlage mit der früheren Dudendarstellung und mit der Neuregelung von 1996 sowie ihrer Revision von 2004 kann hier nicht gegeben werden und ist auch nicht erforderlich, da wir es mit einem radikalen Neuansatz zu tun haben, der lediglich an den sprachlichen Tatsachen (also den üblichen Schreibungen) zu messen ist. Einiges wird aus der Vorlage von Peter Eisenberg vom Mai 2004 übernommen, anderes ist aufgegeben worden. In der Schreibpraxis war die Getrennt- und Zusammenschreibung eigentlich kein großes Problem, wie denn auch der zuständige Reformer (B. Schaeder) meinte, daß hier ständig „Fehler“ begangen, aber kaum bemerkt wurden, weil sie „Fehler“ nur bei strenger Orientierung am Duden waren, der hauptsächlich mit Einzelwortfestlegungen im Wörterverzeichnis gearbeitet hatte. Das Bedürfnis nach erschöpfenden und eindeutigen Regeln war mehr ein theoretisches, sprachwissenschaftliches als eines der Schreibenden selbst. Kein Schreibender, erst recht kein Schüler hat die Getrennt- oder Zusammenschreibung je von einer „Regel“ abgeleitet. Die Schreibwirklichkeit zeigt eine breite Übergangszone, man denke an ernst nehmen, zufriedenstellen usw. Der Wunsch, hier jeweils nur eine einzige Schreibweise zuzulassen, beherrschte den Duden wie auch, oft mit umgekehrtem Ergebnis und eher regelorientiert, die Reform von 1996. Letztere scheiterte u. a. an der Aufstellung geschlossener Listen und sprachfremder Kriterien (keine Zusammenschreibung mit Adjektiven auf -ig, -isch, -lich, -einander-, -wärts- usw.). In der Revision von 2004 war die unglückliche, bis zuletzt verteidigte Partikelliste erstmals geöffnet worden. Die neue Vorlage geht auf diesem Weg weiter, gerät aber in das Dilemma, dem die Reformer gerade auszuweichen versuchten: Die Zusammenschreibung soll ja weiterhin obligatorisch sein, aber wenn die Listen der Verbzusätze mit der Einleitungsformel „zum Beispiel“ ausgestattet sind, hängt das „korrekte“ Schreiben davon ab, ob der Benutzer die Listen eigenständig fortsetzen kann. Damit wird die intensionale Definition der Verbzusätze entscheidend wichtig. Zu § 34 (1.1): Welche präpositionsgleichen Partikeln außer den genannten kommen noch in Frage? Zu (1.2): Was sind das für „Pronominaladverbien“, die zum Teil ohnehin nur als Verbzusätze vorkommen, wie herbei u.a.? Zu (1.3): Wie ist die Reihe abhanden- usw. fortzusetzen? - Man wird in allen diesen Fällen wie vor der Reform zum Wörterverzeichnis greifen müssen oder die Sache auf sich beruhen lassen und nach Gefühl und Erfahrung schreiben. Die beiden „Proben“ unter (1.2) sind übrigens nicht so aussagekräftig, wie die Verfasser meinen: 1. Zur Vorfeldfähigkeit der Verbzusätze gibt es den bekannten, wenn auch nicht sehr häufigen Fall Auf steigt der Strahl ... nach (1.1). Geläufiger sind Fälle nach (1.2): Schon mit dem angeführten Beispielwort dabei läßt sich ein entsprechender Satz bilden: Dabei sitzt er nicht gern (im Sinne eines Dabeisitzens). Die Betonung unterscheidet hier eindeutig, wird aber von der Vorlage gar nicht herangezogen, s. u.). Ausgesprochen häufig ist aber: Hinzu kommt ... Vgl. noch: Krank hat der Arzt aber keinen von uns geschrieben. (Dies auch zu (2.2) E6.) 2. Die Nichtunterbrechbarkeit wird bekanntlich gar nicht selten verletzt durch Gegenbeispiele wie: Schreiber hat Max Strauß oft mit auf Reisen genommen (SZ 10.1.2004) – wo es sich eindeutig um das Partikelverb mitnehmen handelt. Ebenso: Ich wurde zurück nach Eisenach gebracht. (SZ 23.8.86) (zurückbringen); Wir können die Menschen nicht allein damit lassen. (FAZ 27.11.86) Von da an sei es nur noch abwärts mit seiner Persönlichkeit gegangen. (SZ 29.1.85) usw. Auffälligerweise wird das Kriterium der Betonung nicht mehr genutzt, das in der Revision 2004 erstmals wiedereingeführt worden war: mies machen vs. miesmachen, frei sprechen vs. freisprechen. Es ist zwar aus bekannten Gründen ebenfalls nicht „idiotensicher“, in der Praxis aber sehr nützlich und vor allem laienfreundlich. Nachdem die Zwischenstaatliche Kommission sich jahrelang darum bemüht hat, ihr Versäumnis hinsichtlich der Betonung wiedergutzumachen, wäre es interessant zu erfahren, was die Arbeitsgruppe zu ihrem Rückzug bewogen hat. Aus E2 könnte geschlossen werden, daß nur das synkopierte drinsitzen zusammengeschrieben wird, nicht aber die Vollform darin sitzen (die nur in dieser getrennten Schreibweise angeführt wird), im Widerspruch zu (1.2). Das trifft hoffentlich nicht zu. Die Liste unter (1.3) E3 scheint als geschlossene gemeint zu sein. Die Definition ist daher von rein theoretischem Interesse; dem Ratsuchenden ist sie kaum zuzumuten. ZumTeil handelt es sich um Verbindungen mit einem einzigen Verb (feilbieten, wettmachen). Da die ersten Bestandteile „die Merkmale von frei vorkommenden Wörtern verloren haben“ (d. h. nicht frei vorkommen), könnte man sie auch mit denen unter (3) zusammenfassen, auf die dasselbe zutrifft. Anerkennung verdient immerhin, daß wett- und irre- nicht mehr als verblaßte Substantive mißverstanden werden. Allerdings ist unverständlich, daß die Arbeitsgruppe in leidtun (vor der Reform leid tun) immer noch ein ursprüngliches Substantiv zu erkennen glaubt und die Verbindung daher falsch einordnet. Der Irrtum hatte ja die Reformer zu dem grammatisch falschen Leid tun verführt. Und hier muß auch noch einmal gesagt werden, daß es keinen Grund gibt, das bisher übliche leid tun nun als falsch zu brandmarken; die Zusammenschreibung sollte allenfalls zugelassen, aber nicht vorgeschrieben werden. Erst ein revidiertes Wörterverzeichnis könnte zeigen, wie die Verbindungen mit wieder-, wohl- usw. nun geschrieben werden sollen. Man vergleiche die höchst unterschiedliche und unplausible Darstellung von wiederherstellen, wiederherrichten, wiederaufbereiten usw. im reformierten Duden und den raschen Wechsel der Auffassung in den verschiedenen Versionen der Wörterbücher seit 1996. Bei solchen Doppelpartikelverben müßte auch die Getrenntschreibung beider Partikeln in Distanzstellung erwähnt werden: stellte es wieder her; ebenso ganz allgemein die Behandlung der Infinitivpartikel zu in den verschiedenen Gruppen. Die Auszeichnung einer besonderen Gruppe von „reihenbildenden“ Verbzusätzen (Eisenberg hat fest-, voll- und tot- als einzige nennenswerte Fälle herausgefunden; wären nicht wenigstens die Farbadjektive hinzuzufügen?) mit dem Hinweis, hier herrsche eine Tendenz zur Zusammenschreibung, ist unnötig, da es sich um dieselbe Tendenz handelt, die für die zuvorgenannten Resultativ-Zusätze bereits festgehalten ist. E4 ist also überflüssig. Auch die ebenfalls statistische Aussage unter E5 könnte im Sinne der Verschlankung wegfallen, da die entsprechenden Tendenz zur Zusammenschreibung erklärtermaßen gering und im Einzelfall nichts weiter dagegen einzuwenden ist. In die Wörterbücher und Textprogramme werden entsprechende Zusammenschreibungen nicht aufgenommen werden – wozu also dient E5? Der korrigierende Lehrer dürfte wissen, wie er mit solchen ungewöhnlichen Schreibweisen umzugehen hat. Der Bezug auf „idiomatisierte Gesamtbedeutung“ unter (2) ist nicht besonders glücklich. Bei kranklachen, vollquatschen usw. liegt hyperbolische oder auch metaphorische Verwendung vor, aber das ist nicht der Grund der Zusammenschreibung, sondern diese ist als Resultativkonstruktion bereits hinreichend erklärt. Obligatorik der Zusammenschreibung ist erst recht abwegig; sie führt genau zu jenen Duden-Haarspaltereien zurück, derentwegen man seinerzeit nach Reform gerufen hat. Man sollte nicht gerade den fragwürdigsten Teil des alten Duden übernehmen, die Lehre von der „übertragenen Bedeutung“. Sehr fragwürdig ist die Bestimmung, daß gesteigerte Adjektive obligatorisch vom Verb getrennt geschrieben werden sollen: näher kommen. Zunächst ergibt sich ein irritierender Widerspruch zur Partikelliste (1.2), die ja wie bisher ausdrücklich die Komparativform weiter- enthält (eine Ursache paradoxer Folgen in der Neuregelung von 1996). Außerdem widerspricht die neue Vorschrift dem Schreibbrauch, der hier ganz überwiegend zusammenschreibt (nach dem alten Duden sogar obligatorisch, was in der Gegenrichtung übertrieben war). Beherzigenswert scheint mir, was zwei Reformer schon früh gegen ihr eigenes Werk eingewandt haben und was für den, der es ganz genau wissen will, immer gelten wird: „Probleme bei der Getrennt- und Zusammenschreibung von Fügungen aus Adjektiv und Verb wird man in der Praxis auch fernerhin nur mit dem Rechtschreibwörterbuch lösen müssen.“ (Gallmann/Sitta in Augst et al. 1997, S. 95) Die Neugestaltung von § 33 E3 mutet dem Benutzer zu, „Rückbildungen“ als solche zu erkennen. Darüber wäre gesondert zu diskutieren. Schon zum Eisenbergschen Entwurf 2004 habe ich darauf hingewiesen, daß die sprachgeschichtliche Tatsache der Rückbildung dem Sprecher nicht gegenwärtig und daher als Kriterium nicht geeignet ist. Die Neugestaltung von (4) kann nicht befriedigen. Seit Beginn der Reform wird darauf hingewiesen, daß nicht nur kennenlernen (das die Reformer daher schon 1997 wiederherstellen wollten), sondern auch spazierengehen (in der Vorlage spazieren fahren) und einige andere Verben durchaus nicht analog zu schwimmen lernen konstruiert sind. Man geht nämlich nicht, um dann zu spazieren, sondern dies ist ein und dasselbe. In seiner Vorlage von 2004 hatte Eisenberg spazierenfahren usw. noch zusammengeschrieben. Außerdem stört, daß die „Regel“ (4.1) anscheinend nur auf ein einziges Verb, eben kennenlernen, angewandt werden soll (wie im ersten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission Ende 1997; vgl. meinen „Kritischen Kommentar“). Bei leer essen/leer essen ist ein Fehler unterlaufen. nebeneinander treten (4.2) müßte nach (1.1) zusammengeschrieben werden. (Beide Fehler gehen wahrscheinlich darauf zurück, daß in der Geschäftsstelle ein Duden-Rechtschreibkorrektor benutzt wird.) Steht denn überhaupt schon fest, daß großschreiben und kleinschreiben (in der hier gemeinten Bedeutung) weiterhin reformgemäß zusammengeschrieben werden? Nach welcher Regel eigentlich? Oder ist auch dies eine Wirkung des Korrekturprogramms? Insgesamt ist zu begrüßen, daß die sogenannte Rechtschreibreform in diesem Bereich nahezu vollständig zurückgenommen wird. Die genannten Fehler sollten noch ausgebessert werden, dann ließe sich der Neudarstellung von „Regeln“ zustimmen, die freilich im selben Maße praktisch irrelevant werden, wie sie lediglich das ohnehin Übliche auf Begriffe bringen. Die theoretische Abgehobenheit der Regeln liegt ja auf der Hand.
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