21.02.2006


Theodor Ickler

Neblige Aussicht

Ein Blick vom Trümmerhügel Rechtschreibreform

Martin String wirft in seinem Leserbrief („Es war die Staatsräson“, F.A.Z. vom 20. 2. 2006) die wichtige Frage nach der Legitimität der Rechtschreibreform in ihrer gegenwärtigen Fassung auf.
Bekanntlich unterzeichneten die deutschsprachigen Staaten am 1. 7. 1996 die Wiener Absichtserklärung, eine rechtlich nicht verbindliche Vereinbarung, sich für die Umsetzung der Rechtschreibreform einzusetzen. Dazu gehörte auch die Einrichtung jener zwischenstaatlichen Kommission, die nach mancherlei Querelen im Jahre 2004 aufgelöst und durch den „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ersetzt wurde. Dessen Gründungsurkunde ist eine neue „Vereinbarung“ über ein „Statut“. Beides wurde von den beteiligten Staaten am 16. 12. 2004 unterzeichnet, also genau einen Tag vor der konstituierenden Sitzung des Rates für deutsche Rechtschreibung. Dessen Mitglieder erfuhren bei dieser Gelegenheit auch, daß inzwischen die Stelle eines Geschäftsführers ausgeschrieben, die Bewerbungsfrist abgelaufen und eine Geschäftsführerin ausgewählt worden war. Leider gelang es mir nicht, den Text der Vereinbarung zu Gesicht zu bekommen. Die anderen Ratsmitglieder schien die Geheimnistuerei nicht zu stören, da sie, wie die weitere Entwicklung zeigte, ausnahmslos an der raschen Durchsetzung der Rechtschreibreform interessiert waren und sind. Die Vereinbarung schien allerdings etwas hastig zustande gekommen zu sein, denn schon wenige Tage später teilte mir der KMK-Generalsekretär mit, es könnten sich „evtl. noch geringfügige Änderungen ergeben.“ Vereinbarung und Statut wurden tatsächlich am 17. 6. 2005 abgeändert und aufs neue unterzeichnet. (Warum brauchte die KMK dafür ein halbes Jahr?) Wie ich während der fünften Sitzung des Rates feststellen mußte, hatten die Ratsmitglieder wiederum keine Kenntnis von dieser Neufassung, die nur zufällig in meinen Besitz gelangt war.

Der Rat soll laut Statut „die wichtigsten wissenschaftlich und praktisch an der Sprachentwicklung beteiligten Gruppen repräsentieren“ – eine merkwürdige Bestimmung, denn es gibt keine Gruppen, die „wissenschaftlich an der Sprachentwicklung beteiligt“ sind. Der Rat wird denn auch von Verlagsunternehmen und anderen Interessenvertretern dominiert, die zwar mit der Reformdurchsetzung befaßt sind, aber sicher nicht mit der Sprachentwicklung. Über den Rat wird weiterhin gesagt: „Seine Vorschläge erhalten durch Beschluss der zuständigen staatlichen Stellen Bindung für Schule und Verwaltung“ (!). Es scheint mir fraglich, wie weit die auf deutscher Seite unterzeichnenden Instanzen, nämlich die KMK und die Kulturstaatsministerin, überhaupt befugt sind, solche über die Schule hinausreichenden Wirkungen festzulegen. Es sind übrigens nicht dieselben Instanzen, die seinerzeit die Wiener Absichtserklärung unterzeichnet hatten (KMK und Bundesinnenministerium). Der Anteil der Bundesregierung und der einzelnen Ministerien an der Verantwortung für die Reform ist nicht mehr durchschaubar, denn auch das Justizministerium erhebt Anspruch darauf.

Was den Inhalt der Neuregelung betrifft, so ist zunächst eine inoffizielle, auf Absprachen zwischen der Kommission und den führenden Wörterbuchverlagen beruhende Revision vorgenommen worden, die im Sommer 2000 zu einer neuen Generation von Rechtschreibwörterbüchern und nebenbei auch zur vielbejubelten Rückumstellung der F.A.Z. führte. Im Sommer 2004 trat dann die erste amtliche Revision in Kraft, wiederum mit der Folge neuer Rechtschreibwörterbücher. Seither verwendet die KMK die Formulierung „Regeln und Wörterverzeichnis von 1996 in der Fassung von 2004“.

In welcher Form wurde eigentlich die Revision 2004 vereinbart? In der Vorbemerkung der Kommission heißt es: „Der letzte, vierte Bericht und die dazugehörige Ergänzung enthielten eine Reihe von Änderungsvorschlägen, denen die Kultusministerkonferenz (KMK) auf ihrer Sitzung am 4. Juni 2004 zugestimmt hat und über die Einvernehmen mit den zuständigen staatlichen Stellen in Liechtenstein, Österreich und der Schweiz hergestellt wurde. Auftragsgemäß hat nun die Zwischenstaatliche Kommission den amtlichen Text 'Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis' entsprechend diesen beschlossenen Änderungen modifiziert und die vorliegende Fassung erstellt. Die zuständigen Instanzen in den vier deutschsprachigen Staaten haben bestätigt, dass die 1996 beschlossene Übergangsfrist hinsichtlich der Neuregelung für Schulen und öffentliche Stellen, für die der Staat Regelungskompetenz hat, mit dem 31. Juli 2005 endet. In der hier vorliegenden Fassung des amtlichen Regelwerks sind alle Modifikationsbeschlüsse der zuständigen staatlichen Stellen umgesetzt; sie ist die Grundlage für die Arbeit an der Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung.“ Welche zuständigen Stellen waren beteiligt? In welcher Form wurde Einvernehmen hergestellt? Den Kultusministern hat die revidierte Fassung, wie der Generalsekretär der KMK bestätigt, nicht noch einmal zur Billigung vorgelegen. Sie haben also auch nicht geprüft, ob die Kommission tatsächlich die „Modifikationsbeschlüsse der zuständigen Stellen“ korrekt umgesetzt hat. Wie die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien am 17. 12. 2004 brieflich mitteilen ließ, sollte die revidierte Fassung wiederum im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Das ist nicht geschehen. Die Neufassung der amtlichen Regeln samt neuem Wörterverzeichnis erschien Ende November 2004 auf der Internet-Seite der Kommission, erst im Februar 2005 kam die Buchfassung heraus (Verlag Gunter Narr).

Es sieht so aus, als sei zwar der Beschluß zur Revision, nicht aber die Revision selbst Gegenstand des Einvernehmens gewesen.

KMK 17. 12. 2004: „Auf Vorschlag der Kultusministerkonferenz wählte der Rat den früheren bayerischen Kultus- und Wissenschaftsminister, Herrn Dr. h.c. Hans Zehetmair, zu seinem Vorsitzenden. Das österreichische Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren hatten diesem Vorschlag vorab zugestimmt.“

Dieses Vorschlagsverfahren entspricht dem erst am Vortag unterzeichneten Statut. Wie die Entscheidungen im einzelnen abliefen, ist nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, daß die Suche der KMK nach einem Kandidaten für den Ratsvorsitz schon Monate vorher im Gang war. Weitere Kandidaten gab es nicht; die Wahl Zehetmairs war nur noch eine Formsache, und mehrere Ratsmitglieder sollen mit dem als Diktat der KMK empfundenen Verfahren unzufrieden gewesen sein.

In derselben Pressemitteilung wird Zehetmair zitiert:

„Wir müssen uns inhaltlich umgehend darum bemühen, Schwachstellen der Reform zu beseitigen, um die Gesellschaft mit der Rechtschreibreform zu versöhnen. Diskussionsbedarf sehe ich vor allem bei der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Eindeutschung von Fremdwörtern, der Interpunktion und der Silbentrennung.“

„Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen unterstrich: 'Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung soll und wird auf der Basis der einmaligen systematischen Veränderungen, die am Ende eines jahre- und jahrzehntelangen Diskussionsprozesses standen, nunmehr in einem politikfernen Prozess die kontinuierliche Weiterentwicklung der Schreibregelungen übernehmen. Zeitlich vorrangig soll sich der Rat entsprechend der Beschlüsse der Ministerpräsidenten- und der Kultusministerkonferenz insbesondere mit den Feldern Getrennt- und Zusammenschreibung, Interpunktion und Schreibweisen für Fremdwörter beschäftigen. Der jetzt gewählte Vorsitzende des Rates mit all seiner Erfahrung und Kompetenz ist ein Garant dafür, dass diese verantwortungsvolle Aufgabe in den besten Händen liegt. Und ich hoffe sehr, dass die plurale Zusammensetzung des Rates dabei eine breite Akzeptanz sicherstellt.' Die Kultusministerkonferenz halte dabei in Übereinstimmung mit der Ministerpräsidentenkonferenz an ihrem Beschluss fest, wonach die Neuregelung der Rechtschreibung mit Ablauf der Übergangszeit zum 01.08.2005 in Kraft tritt und für die Schulen bei der Fehlerkorrektur verbindlich wird.“

Wenn es, wie beide Politiker sagen, auch um die Fremdwörter gegangen wäre, hätte das Kapitel Laut-Buchstaben-Entsprechung auf die Tagesordnung gehört. Darüber hat sich der Rat hinweggesetzt, während er gleichzeitig so tut, als seien die Wünsche der KMK hinsichtlich der sonstigen Themenrangfolge für ihn verbindlich. Auch der Vorsitzende verschanzt sich gern hinter dieser Vorgabe, aber eben nur soweit sie mit der Absicht der Ratsmehrheit übereinstimmt, möglichst wenig zu ändern.

KMK-Präsidentin Ahnen hob bemerkenswerterweise eigens hervor, daß es sich bei der Rechtschreibreform um „einmalige systematische Veränderungen“ gehandelt habe. Offenbar will sie der Gefahr vorbeugen, daß es noch einmal zu einer systematischen Veränderung kommen könnte. „Politikfern“ kann der weitere Prozeß nur insofern genannt werden, als nun die wirtschaftlich an der Reform interessierten Unternehmen die Entscheidungen in die Hand nahmen. Das immer noch ausstehende revidierte Wörterverzeichnis wird ganz und gar das Werk der privilegierten Wörterbuchverlage sein und vom Rat nicht mehr begutachtet werden. Die Kultusminister haben bereits angekündigt, daß sie das Gesamtpaket unbesehen annehmen wollen.

Formal gilt die Wiener Absichtserklärung immer noch weiter, so wenig verpflichtend sie auch sein mag. „Novelliert“ wurden gewissermaßen nur der Artikel III, der sich auf die Einrichtung der Kommission bezog, sowie teilweise Artikel II, denn der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden. In Wirklichkeit ist aber auch der Gegenstand der Vereinbarung, also das Regelwerk, bereits bis zur Unkenntlichkeit verändert und steht gerade vor einer weiteren, zwar halbherzigen, aber doch einschneidenden Revision. Deshalb kam das OVG Lüneburg schon 2005 zu der Erkenntnis, daß „derzeit ungeklärt ist, was überhaupt Gegenstand der Reform sein soll.“


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