22.01.2006 Theodor Ickler Strapaziöse FAZ„Kontakt mit avanciert kodierten Kreationen“Nach über vier Jahrzehnten (mit Ausnahme jenes annus horribilis) fühlt man sich irgendwie mitverantwortlich für seine Lieblingszeitung.Besonders wenn sie eine Bastion der besseren Rechtschreibung ist. Natürlich liest man nicht alles, z. B. lege ich den Sportteil immer gleich beiseite. Aber ich habe Verständnis dafür, daß andere so etwas gern lesen. Was soll man aber von dem immergleichen Feinschmecker-Text an so prominenter Stelle halten? Ich hatte mich unter www.rechtschreibreform.com schon mal über das strukturalistische Mangoldtörtchen lustig gemacht und bin selbst erstaunt, wie lange das schon wieder her ist. Gestern also nun: „Wenn man voraussetzt, daß ein klischeehaft eintretendes Reiz-Reaktions-Schema kontraproduktiv für eine differenzierte Wahrnehmung ist, ergibt sich im Gegensatz dazu beim Kontakt mit avanciert kodierten Kreationen ein subtiles Spiel zwischen sprachlich Faßbarem, sprachlich Nichtfaßbarem, aber sensorisch Erfahrbarem und einer Art abstrakten Emotionalität, wie sie üblicherweise mit dem Kunstgenuß verbunden wird. (...) Es ist dies der an dieser Stelle schon einige Male benannte Zustand der reinen Degustation.“ (Jürgen Dollase FAZ 21.1.2006) Der Zustand der reinen Degustation – es geht also darum, das Essen vom Hunger zu befreien, der auf keinen Fall der beste Koch sein darf. Wie kann man erreichen, daß es auch dem vollkommen Satten noch schmeckt? Vor hundert Jahren nannte man das „Dekadenz“ (Huysmans: À rebours). Der Stil verrät alles. „Kontakt mit avanciert kodierten Kreationen“ (= man schiebt sich einen Leckerbissen in den Mund). Dollase hat, wie schon früher gezeigt, irgendwann einmal das bekannte Buch von Claude Lévi-Strauss gelesen („Das Rohe und das Gekochte“). Seitdem verspeist er Zeichenketten statt Fett, Eiweiß und Kohlenhydraten. Schade nur, daß wir deshalb schon seit Jahren auf „Natur und Wissenschaft“ in der Samstagsausgabe der FAZ verzichten müssen. In der Sonntagszeitung geht es dann gleich weiter mit Dollases Restaurantkritik, und manchmal sogar unter der Woche, wie neulich am hellichten Dienstag. Hoffentlich bleibt uns das Blatt erhalten.
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