24.04.2015


Theodor Ickler

Grammatische Exerzitien 11

Fernattribut, Extraktion und Verwandtes

Ich betrachte zwei Gruppen von Verschiebungen:

1. Gruppe („Floating“, Zusatzfokus):
In einigen Fällen scheinen Quantoren, Determinative und Attribute aus ihrer normalen Position vor dem Substantiv verschoben zu sein:
Sieger dürfte es keinen geben. (SZ 14.5.84)
Blumen hat er sehr schöne.
Bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß diese Deutung nicht zutrifft:
Literaturkritiker ist Karl Kraus keiner geworden. (FAZ 17.5.86)
Hier steht nicht der pränominal zu erwartende Artikel, sondern das anders flektierte Pronomen. Das Indefinitum welcher hat nicht einmal eine entsprechende pränominale Verwendung:
Filterzigaretten hat es kaum welche gegeben. (Erlanger Nachrichten 20.5.89)
Eine Herleitung aus *welche Filterzigaretten ist offenbar unmöglich.
Ein Determinativ kann zusätzlich stehen:
Ein verlorenes Schaf ist er keins. (Zeit-Magazin 30.8.91:20)
In dieser Gruppe von Fällen ist also das „verschobene“ Element in Wirklichkeit eine (hier) pronominale Zweiterwähnung der meist im Vorfeld bereits genannten, besonders betonten Größe. Die jeweilige syntaktische Rolle ist doppelt besetzt, es ist eine zusätzliche Akzentstelle geschaffen. Noch deutlicher:
Fleisch gab es nur noch Pute. Fisch gibt es nur noch Magerfisch. (Internet)

2. Gruppe („Extraktion“, Gliederungsverschiebung):
In anderen Fällen wird ein präpositionales oder ein Genitivattribut zum primären Satzglied umgedeutet und entfernt sich gegebenfalls von seinem ursprünglichen Bezugselement:
Das Bundeskanzleramt zeigte an der Klärung von Barschels Tod wenig Interesse. (SZ 11.1.95)
Die italienische Regierung wird der steigenden Ausgabenflut nicht mehr Herr. (FAZ 12.11.90)
Aus der valenzbestimmten attributiven Verbindung [Interesse an der Klärung] [zeigen] wird das Substantiv Interesse herausgezogen und näher mit dem Verb verbunden: Interesse zeigen, und dieser neue Verbkomplex erbt die Valenz des Substantivs: [Interesse zeigen] [an etwas]. Es handelt sich also um einen Fall von Gliederungsverschiebung. Vollständig abgeschlossen ist die Umdeutung, wenn die Rektion sich ändert wie in folgendem Fall: Aus [einer Sache Herr] [werden] wird [einer Sache] [Herr werden]; dann kann statt des Genitivs der Dativ gesetzt werden:
Wie nun die Menschen dem Schmerz Herr zu werden versuchen ... (Aviso 2/2007)
Der neue Verbkomplex kann in einen Relativsatz verschoben werden:
Das Schlafzimmer der Eltern, an das sich keine Erinnerung wecken läßt (...) (Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt 1979:23)
Aus [Erinnerung an etwas] [wecken] wird [Erinnerung wecken] [an etwas].
Gleich zwei Präpositionalattribute scheinen in folgendem Fall extrahiert:
Die wenigen Briefe jedenfalls, die wir von ihr an ihren Mann besitzen ... (Inge und Walter Jens: Frau Thomas Mann. 2. Aufl. Reinbek 2003:134)

Anmerkungen:
1. Zur ersten Gruppe bemerkt Ulrich Engel, daß statt der Determinative Pronomina gesetzt werden, hält aber inkonsequenterweise am Begriff der „Distanzstellung“ fest. (Deutsche Grammatik 2004:302 und 364)
Mit der ersten Gruppe vergleichbar sind folgende Konstruktionen:
Ein Löffel für Mama und einer für Papa.
Der Steuermann hat zwei Augen, der Kapitän nur eins (eines).
Die Dudengrammatik (2005:342) versucht hier eine elliptische Deutung, muß aber für die dann unpassenden pronominalen Formen Sonderregeln ansetzen. Außerdem widerlegt der Fall welch (s. o.) die Ellipsentheorie.
Nach einer Beobachtung von Karin Pittner wird das „Auftreten von Appellativa im Singular überhaupt erst durch den Quantor ermöglicht, vgl.
(i) Haus möchte er keines.
(ii) *Haus möchte er.
Dies läßt sich jedoch so erklären: Die betonte Erwähnung im Vorfeld dient der emphatischen Thematisierung, vergleichbar dem Freien Thema (etwa „was X betrifft“). Wenn dann die eigentliche Aussage fehlt, wirkt der Satz unvollständig. Denkbar wäre: Haus möchte er schon, Kinder eher nicht.
2. Doppelte Besetzung einer syntaktischen Position liegt auch vor in der „distributiven Apposition“, vor allem mit jeder, alle, beide:
Wir beschauen ein Standbild jeder von seinem Standpunkt aus. (Schuchardt-Brevier. Darmstadt 1976:291)
Uns war es allen auch zum Heulen. (Anna Seghers: Transit. Darmstadt 1983:25)
3. Nichtvalent angeschlossene Präpositionalphrasen (Supplemente) können laut IDS-Grammatik 2066 nicht durch Gliederungsverschiebung abgespalten werden:
*Aus Porzellan ist die Vase heruntergefallen
Wohl aber ist die Bildung eines zusätzlichen Fokus möglich:
Aus Porzellan besitze ich verschiedene chinesische Vasen.
Die IDS-Grammatik selbst erwähnt als Ausnahme „schwach argumentselektierte von-Phrasen (...)
Von Kujau hängen einige Bilder in der Galerie.“
4. Nicht hierher gehören partitive Prädikationen wie:
Der Fehler waren viele. Ihrer Hühner waren drei.
Vgl. *Viele der Fehler waren. *Drei ihrer Hühner waren.
Manchmal ist eine separative Deutung möglich:
Davon fehlt ein Teil. Davon ist ein Teil verlorengegangen, abgesprungen. Davon nehme ich drei.
5. Keine Gliederungsverschiebung, sondern eine Herausstellungsstruktur (Rechtsversetzung, Nachtrag) liegt vor in Fällen wie:
Da steckt ein tiefer Tadel drin an der Unvernunft einer Menschheit, die... (SZ 12.6.82)
6. Gliederungsverschiebungen dieser Art, gegebenenfalls in Verbindung mit grammatischen Umdeutungen, sind auch aus anderen Sprachen bekannt, vgl.:
Quid tibi hanc tactio est? (Plautus) = Cur hanc tangis? (Paul Pr. 291; Havers, Hb. 37)


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