10.12.2013 Theodor Ickler Politisch seinEigenartige Verwendung eines SchlagwortesIch lese gerade, daß manche Zeitungen den Entschluß des Bundespräsidenten, nicht nach Sotschi zu reisen, für ein "politisches Signal" halten, während andere es für "unpolitisch" erklären.Ich möchte den Fall nicht erörtern, sondern auf die merkwürdigen Konnotationen dieser beiden Wörter hinweisen. Aus dem Sozialkundeunterricht und der Propaganda während des Studiums erinnere ich mich, daß ich gefälligst politisch sein soll bzw. mich "engagieren" muß, was ungefähr dasselbe bedeutet. Allerdings beschränkt sich diese Forderung meist darauf, daß man zu allem eine "Meinung" haben muß. (Zur Erinnerung: In der Lernzieltaxonomie war das die allerhöchste Kategorie.) Die Lehrer, die uns zum Politischsein aufforderten, waren selbst politisch enthaltsam, jedenfalls habe ich keinen auf einem Wahlzettel wiedergefunden. Thukydides läßt seinen Perikles sagen, ein zurückgezogen lebender Bürger sei kein guter Bürger. Sokrates hingegen meinte, in manchen aufgewühlten Zeiten sei es gut, sich unter ein Mäuerchen zu stellen und abzuwarten, bis das Unwetter vorbei ist. Die Unpolitischen seien, so wurden wir belehrt, schuld am Aufkommen der Diktatur gewesen. Wer nicht zur Wahl gehe, arbeite den Radikalen in die Hände. Stimmt das alles überhaupt? Heute habe ich den Eindruck, daß "unpolitisch" immer nur die Politik der anderen Seite bedeutet. Aber aufgrund unserer Erziehung genügt es immer noch, den Gegner unpolitisch zu nennen, das ist fast so tödlich wie "konterrevolutionär" in jenen Diktaturen, sie sich "revolutionär" nennen. (In Nordkorea funktioniert es gerade wieder einmal.) Ich selbst nehme ja an allen Wahlen teil und wäre, wie jeder weiß, sogar selbst beinahe mal in den bayerischen Landtag gewählt worden. Aber ich sehe auch keinen Makel darin, wenn jemand nicht zur Wahl geht und sich auch nicht als Kandidat aufstellen läßt.
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