17.07.2013


Theodor Ickler

Rezipientenpassiv

Grundzüge einer umstrittenen Konstruktion

Beim sogenannten Dativ- oder Rezipientenpassiv tritt das Dativobjekt des entsprechenden Aktivsatzes in den Nominativ; als Hilfsverb dienen kriegen, bekommen, erhalten:

Eine interessante Funktion hat das Deutsche im Laufe der letzten Jahrzehnte im Mittleren Osten zugeteilt bekommen. (Jb. Deutsch als Fremdsprache 10, 1984:200)

Sie erhalten den korrigierten Text an die angegebene E-Mail-Adresse gesendet. (Duden-Website 2001)

Sie möchte deshalb Fußball lieber von Männern erklärt bekommen, das Wunder der Geburt aber natürlich lieber von einer Frau. (SZ 1.6.95)

Die Kinder kriegen/bekommen ein Märchen vorgelesen.

Die letzten Beispiele zeigen, daß „Besitzwechsel“ nicht zu den Voraussetzungen des Rezipientenpassivs gehört (entgegen der Behauptung von Christa Dürscheid: Syntax. Göttingen 2012:37).

Man nimmt an, daß das Rezipientenpassiv aus einer Konstruktion mit Objektsprädikativ entstanden ist: Du kriegst es geschenkt (= als Geschenktes), dazu die Gegensatzbildung: Du kriegst es weggenommen – mit deutlicher Grammatikalisierung, da ein wörtliches Verständnis nicht mehr möglich ist.
Diese Konstruktion muß allerdings nicht auf ein dativregierendes Verb zurückgeführt werden, vgl.

Der Autor freut sich, obwohl er meistens ganz schön geschimpft kriegt. (...) Der liebe Gott hat vermutlich auch ganz schön geschimpft gekriegt. (BR Kalenderblatt 18.4.2002)

Eigentlich müßten wir den Preis erhöhen, aber das kriegen wir am Markt nicht durchgesetzt. (FAZ 17.7.02)

das Stadttheater, das seine Aufführungen nicht mehr rezensiert bekommt (Thomas Steinfeld, Hg.: Was vom Tage bleibt. Frankfurt 2004:22)

Ernst nehme ich nur noch das, was mir schmeckt. Das wird mein Körper schon sortiert bekommen. (Eckard von Hirschhausen: Die Leber wächst mit ihren Aufgaben. Reinbek 2009:79)

Ich kann mich an kein einzelnes Silvester mehr erinnern, ich krieg sie nicht mehr auseinandergehalten. (SZ 31.12.11)

Möglich scheint ein Dativ in Fällen wie diesem:

Er weiß, wie man in Washington etwas erledigt bekommt. (SZ 7.11.08)

In den zuletzt angeführten Beispielen liegt ebenfalls kein Besitzwechsel zugrunde.

Ein Zustands-Rezipientenpassiv wird mit haben gebildet. Dadurch entsteht eine Zweideutigkeit, da auch das Perfekt des Aktivs mit haben und Partizip II gebildet wird:

Wenn wir eine Sprache gegeben haben, welche wir interpretieren wollen ... (Conceptus 25, 1991:9)

Unter „face“ versteht man das positive Gesamtbild einer Person, welches diese von anderen anerkannt haben will. (Jürgen Dittmann/Claudia Schmidt (Hg.): Über Wörter. Grundkurs Linguistik. Freiburg 2002:265)

Wir haben Homer vortrefflich ins Deutsche übersetzt, weil ein Dichter das Werk unternommen. (Börne über Voß, nach Blatz II:29)

Die Unterscheidung von Vorgang und Zustand kann aufgehoben werden:

Ich will die Haare kurz geschnitten haben/vom Chef geschnitten haben (IDS-Grammatik 1997:1852)

Hier ist haben gleichbedeutend mit bekommen. Es wird gewissermaßen das Resultat vorweggenommen, ganz deutlich auch in folgendem Beispiel:

Wir wollen das nächste Mal von der Cutterin Monika Zeindler erklärt bekommen haben, wo sie den Schnitt angesetzt hat. (SZ 24.8.87)

Bei

Er hatte das Gesicht von Falten durchzogen (IDS-Grammatik 1997:1853)

muß man wohl auf Falten durchzogen sein Gesicht zurückgreifen, wenn man nicht überhaupt auf eine Herleitung verzichten und einfach eine Sekundärprädikation (mit Adjektiv als Objektsprädikativ) annehmen will. (Die Konstruktion scheint den semantischen Einschränkungen der Pertinenz zu unterliegen: Körperteil oder Kleidungsstück.)

Ein Rezipientenpassiv kann zwar auch bei Verben vorkommen, die eigentlich kein Dativobjekt regieren, doch muß die schwankende Rektion mancher Verben berücksichtigt werden:

So kann das Kind gelehrt bekommen, daß ein Pfeifen mit den Lippen oder eine Handbewegung das Kreischen ersetzen kann. (G. Böhme: Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen. Stuttgart 1974:76)

Wie sich an demselben Werk zeigt, verwendet der Verfasser das Verb lehren mit dem Dativ der Person: Dem Kind wird gelehrt, im Angstzustand nicht dysphorisch zu reagieren. (ebd.:76) Auch das Verb schimpfen, das als Argument gegen das „Dativpassiv“ angeführt worden ist (s. o.), kommt mit dem Dativ vor.

Anmerkungen:
Die objektsprädikative Ausgangskonstruktion liegt vor in

Die SPD hat Wahlkampf-Patzer nicht länger exklusiv. (SZ 24.6.13)

Das Rezipientenpassiv ist insgesamt selten, und als Zustandspassiv läßt es sich nur schwer belegen, weshalb Grammatiker manchmal recht abwegige Beispiele selbst bilden: Der Kunde hat vom Juwelier die Steine vereint (Hans Werner Eroms: Stil und Stilistik. Berlin 2008:169).

Sütterlin weist darauf hin, daß regional noch vorkommt: Du kriegst Geschimpftes. (Neuhochdeutsche Grammatik. München 1924:462)


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