23.03.2012


Theodor Ickler

Vormachen und Nachmachen

Anthropologisches zur Sprache

Kulturelle Überlieferung bei Tieren muß kritischer gesehen werden.
Wenn die Sprache eine Kulturerscheinung ist, spielt die Frage nach ihrer Weitergabe eine entscheidende Rolle. Abgesehen von der selektiven Konditionierung spontaner Laute, die eher unwichtig sein dürfte, beruht der Spracherwerb auf Nachahmung und Vormachen. Dies wirft die Frage auf, wie weit Nachahmung und Vormachen schon bei Tieren anzutreffen sind.
Auffälligerweise läßt sich Nachahmung bei Tieren selten beobachten. Bekannte Fälle wie das Kartoffelwaschen japanischer Makaken, das Öffnen von Milchflaschen durch britische Meisen und das Nüsseknacken von Schimpansen lassen sich womöglich anders erklären. Tomasello und andere Forscher haben dafür den Begriff „Emulation“ eingeführt. Jedes Tier würde demnach die Fertigkeit unabhängig durch Versuch und Irrtum lernen, lediglich angeregt durch die von den Gruppenmitgliedern erzeugte Situation.
Beobachtet man das Verhalten freilebender Schimpansen, ist man von der Geschicklichkeit der älteren ebenso beeindruckt wie von der „Lernunwilligkeit“ der jungen. (Ausgezeichnete Filme sieht man im Internet.) Zwar machen sie sich gelegentlich mit den ohnehin bereitliegenden Nüssen und Steinen zu schaffen, aber es dauert Jahre, bis sie das Nüsseknacken selbst beherrschen. Wir erwarten eigentlich ein Hinschauen und Nachahmen, aber das geschieht nicht. Daß die Jungtiere überhaupt nachgeahmt haben, wird post festum aus der Tatsache geschlossen, daß sie es schließlich ebenfalls können, während in benachbarten Horden der gleichen Art die „Kultur“ des Nüsseknackens nicht auftritt. Wirklich beobachtet hat man das Nachahmungslernen nicht.
Noch weniger ist ein Lehren oder Unterrichten der Jüngeren durch die Älteren zu beobachten. Boesch und Tomasello (MPI Leipzig) definieren das Unterrichten sehr großzügig:

If teaching is defined very broadly to include any behavior of one animal that serves to assist another animal's learning, teaching is relatively common in the animal kingdom (Caro and Hauser 1992). But flexible and insightful forms of instruction in which one individual intends that another acquire a skill or piece of knowledge and adjusts its behavior contingent on the learner's progress in skill or knowledge would seem to be very rare. Adopting this intentional definition of teaching, Boesch (1991) observed a number of instances of teaching among Tai chimpanzees in the context of nut cracking. He divided his observations into "facilitation" and "active teaching." Observations of facilitation were fairly common and included such things as mothers' leaving intact nuts for their infants to crack (which they never did for other individuals) or placing hammers and nuts in the right position near the anvil for their infants to use. Active teaching was observed in only two instances, one in which a mother slowed down and modified her nut cracking and one in which a mother modified her son's positioning of the nut--in both cases as adjustments to the difficulties their offspring were having with the procedure. These instances of active teaching are very important because they seem to be of the type characteristic of all human cultures as they instruct their youngsters in at least some important cultural activities (Kruger and Tomasello 1996). This kind of instruction may be seen as a very powerful facilitator of social learning, since carefully crafted demonstrations would seem to frame and support developing youngsters' attempts at imitative learning. Facilitation would also seem to be important, as it exposes youngsters to novel learning experiences, but in this case the learning is left up to them. (http://cogweb.ucla.edu/Abstracts/Boesch_Tomasello_98.html)

Diese Darstellung leidet zunächst an ihrem mentalistischen Vokabular. Es ist nicht feststellbar, ob die Tiere eine „Intention“ haben. Die Definition des Lehrens ist zu weit. Das Eingreifen des älteren Tieres in die Hantierungen des jungen ist noch kein Lehren. Das Bereitlegen der Werkzeuge für das Jungtier ist nur anekdotisch überliefert und bleibt Sache wohlwollender Interpretation. Besser wäre der Nachweis des Vormachens, d. h. das erwachsene Tier müßte sich vergewissern, wie weit die Nachahmung schon gelingt, und sein Verhalten danach ändern. Dies ließe sich am Blickverhalten eindeutig und objektiv beobachten. Nüsse und Werkzeuge zurückzulassen („bereitzulegen“, wie man deuten kann, aber nicht muß) ist nicht ausreichend.
Das Vormachen bestünde in einer Art Verstellung, d. h. das unterrichtende Tier würde eine Nuß knacken, nicht um sie zu essen, sondern nur auf den Erfolg hin, daß das Jungtier Nüsse knackt. Das ist nie beobachtet worden. „Eine Nuß knacken“ und „Zeigen, wie man eine Nuß knackt“ – das ist der Unterschied. Dasselbe gilt für die Werkzeugherstellung.
Anthropologisch ist diese Variante der Verstellung, des „Pretending“, eine Voraussetzung kultureller Überlieferung.


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