17.04.2009


Theodor Ickler

Sind natürliche Sprachen „rekursiv“?

Realistische Betrachtungen zu einem linguistischen Gemeinplatz

In neueren sprachwissenschaftlichen Einführungsbüchern und Lexika wird Rekursivität als wesentliche Eigenschaft der menschlichen Sprache angeführt, nach Noam Chomskys neuerer Ansicht ist sie sogar das wichtigste, wenn nicht einzige bedeutsame Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Verhalten der Tiere.

Der Begriff der Rekursivität stammt aus Mathematik und Logik. Von dort ist er in die generative Grammatik übernommen, die ja die natürliche Sprache nach dem Vorbild eines mathematischen Kalküls zu modellieren versucht. Rekursivität ist also zunächst eine Eigenschaft, die man in das Modell hineinbaut, es wird aber behauptet, daß sie auch eine Eigenschaft der zu modellierenden natürlichen Sprachen selbst sei. Da sie – wenn man Feinheiten beiseite läßt – der Konstruktion von grundsätzlich unendlich langen Zeichenketten dient, die menschlichen Äußerungen jedoch durchweg von überschaubarem Umfang sind, unterscheidet man von Anfang an zwischen der idealisierten Sprache selbst, der sogenannten „Kompetenz“, und der durch menschliche Schwächen – etwa Gedächtnisgrenzen – beschränkten tatsächlichen Realisierung, der „Performanz“.

„Der wichtigste Fall von Idealisierung des linguistischen Objekts ist die Annahme, daß die Anzahl der Sätze in einer Sprache unendlich und die Satzlänge im Prinzip durch nichts begrenzt ist (d.h. es gibt stets Sätze, deren Länge jede vorher gegebene Satzlänge übertrifft). Bekanntlich ist die Zahl der geschriebenen oder gesprochenen Sätze faktisch in jeder Sprache endlich, wenn auch sehr groß; um jedoch die Fähigkeit des Sprechers zu erklären, völlig neue, vorher nie gesprochene oder geschriebene Sätze zu bilden, darf nicht diese tatsächliche, muß vielmehr eine gewisse ideale Situation untersucht werden, die allein den Schlüssel zur Lösung der Aufgabe enthält. Wenngleich alle tatsächlich gesprochenen und geschriebenen Sätze einer Sprache endlich lang sind, so gibt es doch für natürliche Sprache keine Regeln, die die Satzlänge begrenzen.“ (Jurij D. Apresjan: Ideen und Methoden der modernen strukturellen Linguistik. München 1971:87)

Eine Syntax „muß der Tatsache Rechnung tragen, daß eine natürliche Sprache prinzipiell uneingeschränkt (infinit) ist sowohl hinsichtlich der Länge wie der Vielzahl von Sätzen, die mit ihr gebildet werden können; sie muß in ihrem Instrumentarium von Baugesetzen also rekursive Mechanismen zur Verfügung haben.“ (Gudula List: Einführung in die Psycholinguistik. 2. Aufl. Stuttgart 1973:43f.)

„Die Regeln der Grammatik sind rekursiv, d.h. jeder Satz kann selbst Teil eines Satzes werden. Durch diese Eigenschaft der Grammatik natürlicher Sprachen wird gewährleistet, daß sie zum Ausdruck potentiell unendlicher vieler Bedeutungen eingesetzt werden kann.“ (Florian Coulmas in: Routinen im Fremdsprachenerwerb. Goethe-Institut 1986:3f.)

„Mehrfache Einbettungen sind im Deutschen durchaus üblich. Es gibt keine systematischen, vom funktionellen System her bedingten Grenzen der Anwendbarkeit dieses Verfahrens. Es gibt nur eine Norm, einen allgemeinen Usus, der die Deutschen z.B. davon abhält, in alltäglicher Rede allzuviele Einbettungen vorzunehmen und dadurch Sätze zu erzeugen, die in ihrer Komplexität vom Hörer überhaupt nicht mehr spontan analysiert werden können.“ (Eugenio Coseriu: Textlinguistik. Tübingen 1980:76)

„Aufgrund ihrer Eigenschaft, rekursive Strukturen erzeugen zu können, erklärt die generative Grammatik die Kreativität des menschlichen Sprachvermögens.“ (Grewendorf/Hamm/Sternefeld: Sprachliches Wissen. Frankfurt 1987:181)

„Die Zahl der möglichen Sätze oder Texte des Deutschen ist unendlich – und zwar nicht nur unendlich in dem Sinne, dass die Zahl der Kombinationen unabsehbar gross wäre, sondern unendlich im mathematischen Sinne. Dies hat seinen Grund im sogenannten Prinzip der Rekursivität (...) Auf diesem Mechanismus beruht der Reichtum und ein guter Teil der Flexibilität natürlicher Sprachen.“ (Linke/Nussbaumer/Portmann: Einführung in die Linguistik. 2. Aufl. 1994:9)

„Rekursivität. Aus der Mathematik übernommener Begriff, der in der Generativen Syntax die formale Eigenschaft von Grammatiken bezeichnet, mit einem endlichen Inventar von Elementen und einer endlichen Menge von Regeln eine unendliche Menge von Sätzen zu erzeugen. Auf diese Weise ist ein solches Grammatikmodell in der Lage, die durch Kreativität gekennzeichnete sprachliche Kompetenz des Menschen zu erfassen. (...)“ (Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart 2002: 560f.)

„Zum Beispiel lassen sich Genitiv-Fügungen nicht beliebig schachteln, obwohl das Deutsche, grammatisch gesehen, keine Restriktionen kennt.“ (Eroms, Hans Werner: Stil und Stilistik. Berlin 2008:146)

Für Komposita postuliert Susan Olsen (Wortbildung im Deutschen. Stuttgart 1986:55) beliebige Einbettungstiefe und gesteht nur Performanzbeschränkungen zu.

Anwendungsfälle der postulierten Rekursivität sind, wie die Zitate teilweise schon erkennen lassen, vor allem die Bildung der Komposita, die Verkettung von Attributen und die Einbettung von Nebensätzen.

Gegen die behauptete Erklärungskraft des Rekursivitätsarguments steht zunächst eine offensichtliche Tatsache: Die unbestrittene Möglichkeit, immer wieder Neues auszudrücken, also die „Kreativität“ der menschlichen Sprache, macht ganz und gar nicht von immer längeren Ketten Gebrauch, wie es gemäß dem Postulat der Fall sein müßte. Was die deutschen Sätze betrifft, so werden sie in neuerer Zeit sogar eher kürzer als länger (worauf übrigens Eroms a.a.O. 156f. selbst hinweist).

Es soll Sprachen geben, die keine Rekursivität kennen; das ist jedoch umstritten und soll hier nicht diskutiert werden.

Es gibt – das sei zugegeben – keinen längsten deutschen Satz, kein längstes Kompositum usw. Aber das bedeutet nicht, daß deutsche Sätze unendlich lang werden können, auch nicht „theoretisch“ oder „im Prinzip“. Auch der längste Regenwurm kann durch einen noch längeren, der schwerste Elefant durch einen noch schwereren übertroffen werden, aber diese Tiere können dennoch nicht, auch nicht theoretisch und im Prinzip, unendlich lang oder schwer werden. Die Modellgesetze, die das verhindern, haben in natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, die wir wahrscheinlich noch nicht überblicken, ihre Entsprechung. Was jetzt in „Performanz“-Beschränkungen abgeschoben wird, ist möglicherweise gerade das Wesentliche. Anders gesagt: Wäre der Mensch nicht so, wie er ist, mit allen seinen Gedächtnisgrenzen, begrenztem Atemdruck, Gestaltwahrnehmung usw., dann wäre die Sprache vielleicht nicht im entferntesten so, wie sie ist und wie wir uns Sprachen vorstellen, oder sie würde gar nicht existieren – das können wir nicht wissen. Am ehesten leuchtet wohl ein, daß solche universellen Erscheinungen wie die Silbengliederung etwas mit der Atmung und der Anatomie und Physiologie des menschlichen Organismus zu tun haben. Wäre dieser ganz anders gebaut, sähe die Sprache zumindest im Bereich der Phonologie ganz anders aus.

Melodien können sehr kurz oder sehr lang sein, aber nicht unendlich lang, pace Wagner. Wäre der Mensch ganz anders, als er ist, so wäre auch seine Musik anders, falls es sie überhaupt gäbe.

Es ist zu erwägen, ob die zweite Einbettung qualitativ dasselbe ist wie die erste, die dritte wie zweite usw. Daß es sich hier jeweils um „denselben“ Vorgang handele, ist zunächst nur eine aus dem frei gewählten Modell stammende Forderung, keine empirische Tatsache. David Palmer beobachtet: „We can see the degrading of intraverbal control by inserting a relative clause of great length: 'I donated my grandfather's diary that he began when he was just a boy living in a small New England town after the Civil War to the historical society.' Here, all intraverbal control over the indirect object has been lost. Here, also, the behavioral interpretation parts ways with a linguistic interpretation, for the linguist's grammar places no restrictions on the length of relative clauses intervening between a verb and its indirect object.“ (http://www.behavior.org/computer-modeling/Palmer/palmer-speaker-listener4.cfm)

Matthias Hartig (Sprache und sozialer Wandel. Stuttgart 1981:25) gibt folgendes Beispiel einer rekursiven Konstruktion:

Ein Buch, das, welches am Samstag auf dem Markt erschienen war, ich gestern gelesen habe, ist verschwunden.

– womit er ungewollt beweist, daß solche Konstruktionen schon bald nicht mehr beherrscht werden.

Ob man eine Schachtelkonstruktion überhaupt noch als korrekt anerkennen will, ist nicht ohne theoretische Vorannahmen entscheidbar. Peter R. Lutzeier (Linguistische Semantik, Stuttgart 1985:7) führt als grammatisch korrekt gebildet an:

Das „Vorsicht-Glatteis“-Verkehrszeichen, das letzte Nacht, die Frostbildung, was für den Autofahrer, der etwas getrunken und ein Auto, das abgefahrene Reifen hat, hat, erhöhte Gefahren mit sich bringt, brachte, total beschädigt wurde, wird nicht mehr aufgestellt.

Es ist fraglich, ob der Laie dies als korrekt akzeptieren würde, da er möglicherweise nicht annimmt, daß weiterführende Relativsätze (was ...) an jeder beliebigen Stelle eingeschoben werden können, und auch noch an weiteren Punkten Bedenken hat.

Nach A. L. Blumenthal beurteilen Laien mehrfach eingebettete Relativsätze einfach als falsch und verstehen sie auch erst nach besonderen Übungen. („Observations with self-embedded sentences“. Psychonomic science 6, 1966:453–454)

Was macht nun wirklich die Kreativität der Sprache aus? Natürlich die ständige Umdeutung der bekannten Formen, also das Semantische. Jede neue Situation erfüllt die konventionellen Zeichen selbst in geläufigster Kombination mit neuem Sinn, und der Hörer wird immer wieder in bisher nicht dagewesener Weise neu orientiert. Das war ja auch Humboldts Ansicht, die Chomsky zu Unrecht im Sinne einer rein zeichenkombinatorischen, gewissermaßen mechanischen „Kreativität“ als Vorläufer reklamiert hat.


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