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22.07.2006
 

Basler Zeitung
Deutschprofis am Ende des Lateins

Liebe Sprachliebhaberinnen und Sprachliebhaber, unser Deutsch steht kopf (oder Kopf?). Einst reichte eine durchschnittliche Schulbildung, um korrekt zu schreiben, und der einmal angeschaffte Duden tat ein Leben lang seinen Dienst.

Inzwischen stapeln sich die Lexika auf unseren Schreibtischen – und seit heute Samstag schreibt uns wieder ein neues Regelwerk vor, wie wir zu schreiben haben: der Duden, Auflage 24.

Wacker schlagen die Deutschexperten mit rund 3000 neuen Empfehlungen Schneisen in den Variantendschungel, der seit der Rechtschreibreform 1996 in unseren Texten wuchert. Wir sind beeindruckt – und ziemlich ratlos: Warum sollen wir künftig “tierliebend” zusammen, “Musik liebend” aber getrennt schreiben? “Handel treibend”, aber “gewerbetreibend”? “Strom sparend”, aber “energiesparend”?

Mit dem Entscheid der deutschen Kultusminister und der Schweizer Erziehungsdirektoren, die neuste Fassung der neuen Rechtschreibung am 1. August in Kraft zu setzen, sei die “Sicherheit in Fragen der Orthografie” wiederhergestellt, schreibt die Duden-Redaktion im Beipackzettel. Schön wär’s.

Werfen Sie mal einen Blick in die diversen neuen Wörterbücher, die den aktuellen Stand der “Reform der Reform” dokumentieren. Sie stellen fest: Nicht nur wir Laien, sondern auch Deutschprofis sind am Ende des Lateins. So rät etwa “Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung”, “das Adjektiv erste in der Fügung Erste Hilfe grosszuschreiben”. Heuers “Richtiges Deutsch” wiederum schlägt genau das Gegenteil vor – nämlich: “möglichst konsequent die Kleinschreibung anzuwenden: das schwarze Brett, der goldene Schnitt, die erste Hilfe”. Wir sind erstaunt, denn auch verantwortliche Heuer- und Wahrig-Redaktoren gehören dem Rat für deutsche Rechtschreibung an, dessen Aufgabe es wäre, für Klarheit zu sorgen und uns das Schreiben zu erleichtern.

Stattdessen ist uns schwindlig geworden angesichts der Variantenflut, die die Dauerreform ausgelöst hat. Im August 1996 lernten wir um und schrieben zum Beispiel neu “es tut mir Leid” (statt leid); ab Juni 2004 schrieben wir “es tut mir leid” (oder “es tut mir Leid”). Jetzt werden wir erneut umgeschult und sollen “es tut mir leid” schreiben – womit sich die neue Rechtschreibung wieder ein Stückchen der alten vor 1996 angenähert hat. Dumm nur, dass wir die alten Regeln inzwischen vergessen haben.

REMO LEUPIN

Die baz wendet die neue amtliche Rechtschreibung an und wählt bei Varianten in der Regel die herkömmliche Schreibung gemäss Empfehlung der Schweizer Orthographischen Konferenz, der Verlage und Nachrichtenagenturen angehören.

> www.baz/go/rechtschreibung



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Kommentare zu »Deutschprofis am Ende des Lateins«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.07.2006 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4571

Auch in der "Frankenpost" vom 24.7.2006 hat man die Lage erkannt:

Hilfreich ist der neue Duden nicht

HERBERT WESSELS ZUR RECHTSCHREIBUNG
Was haben sie gestritten und geschrieben und lamentiert, die wenigen tatsächlichen und viele, viele so genannten und noch mehr selbsternannte Experten in Sachen Rechtschreibreform. Am Dienstag nächster Woche, am 1. August, sollte es eigentlich vorbei sein mit dem Hickhack um Verben und Adjektive, um Getrennt- und Zusammenschreibung, um Zusammensetzungen oder um Groß- oder Kleinschreibung von festen Begriffen. Die Kultusministerkonferenz hatte die revidierte Rechtschreibreform vom kommenden Schuljahr an als verbindlich für alle Schulen erklärt.
Doch statt Einheitlichkeit herrscht Wirrwarr, statt staatlich abgesegneter Verbindlichkeit regiert uns die Willkür der Wörterbuch-Redaktionen. Der neue Rechtschreib-Duden (laut Eigenwerbung „das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der neuen amtlichen Regeln“) erscheint erstmals mit „Duden-Empfehlungen für eine einheitliche Schreibweise“. Wer als Lehrer das Buch zur Hand nimmt, um bei seinen Korrekturen auf der sicheren Seite zu sein, hat Pech gehabt: Der Duden nimmt die neuen Regeln halt nur zur Grundlage, ansonsten leuchten dem Benutzer farbig unterlegte Empfehlungen, etwa 3000 an der Zahl, für die richtige Schreibweise entgegen, die genauer betrachtet allerdings keineswegs einheitlich, sondern eher widersprüchlich sind. Das gibt es dann den „Ein-Euro-Job“, aber das „Eineurostück“; und warum „wohlriechend“ in einem Wort, „übel riechend“ aber in zwei Wörtern geschrieben werden soll, erschließt sich nicht.
Ähnliches erfährt der Benutzer des Wahrig-Wörterbuches, dessen Schreib-Empfehlungen sich von denen des Duden zudem durchaus unterscheiden. Es herrscht also ein allgemeines Durcheinander, wo klare Linien erwartet werden. Zumal die 1996 im ersten Reformschritt eingeführten Schreibweisen für die meisten Schüler in Deutschland noch bis 2007 zwar nicht mehr gelten, aber auch nicht als Fehler angekreidet werden dürfen, wenn sie den Reformbeschlüssen von 2004 widersprechen. Der Duden verzichtet jedoch darauf, die nun überholten Schreibungen kenntlich zu machen.
Vergessen wird dabei auch immer wieder, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung seine Arbeit ja keineswegs eingestellt hat, sondern lediglich unterbrochen. Eine ausgereifte, umfassende und amtlich verordnete Rechtschreibung für den gesamten deutschen Sprachraum kann es zur Zeit also gar nicht geben. Und über den Schulbereich hinaus haben die Politiker in diesem Punkt ohnehin nichts zu sagen. Seit Jahren schreiben Schriftsteller, wie sie wollen, drucken Zeitungen nach unterschiedlichen Vorgaben. Verstanden worden sind sie alle. Ganz einfach deshalb, weil die Reform und auch die Reform der Reform nur einen ganz geringen Teil aller Rechtschreibregeln betrifft. Dass selbst diese Änderungen derart umstritten waren, liegt an der mangelnden Qualität der Rats-Arbeit ebenso wie an der generellen Reform-Faulheit der Deutschen. In diese Reform-Lücke stößt der Duden mit eigenen, die Rats-Empfehlungen unterlaufenden Vorschlägen. Hilfreich ist das nun wirklich nicht.


Kommentar von Hamburger Abendblatt, 24. 7. 2006, verfaßt am 24.07.2006 um 09.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4572

Wie gut ist der neue Duden?
Sprache: Unter der Lupe. Umfangreicher als je zuvor, ist er zur Wiederherstellung des Rechtschreibfriedens nur bedingt geeignet.

Von Peter Schmachthagen [d. i. Peter Meyer]

Rund 130 000 Stichwörter mit über 500 000 Beispielen verspricht der Duden für seine neueste, die 24. Auflage. Der Grund, dass diese Auflage so schnell der 23. Auflage (August 2004) folgen konnte, waren wohl weniger die 3000 neuen Begriffe, die aufgenommen worden sind (darunter Publikumsjoker, USB-Stick und Telenovela), sondern die Unzahl der erlaubten Varianten, die der Rat für deutsche Rechtschreibung noch vergrößert hat.

Die Kultusminister und Ministerpräsidenten segneten im März 2006 die Empfehlungen des Rates ab mit der Maßgabe, die Ausgestaltung in Zweifelsfällen den Wörterbüchern zu überlassen. Damit war dem Duden wieder ein Rang eingeräumt worden wie bis zur 20. Auflage (1991), wonach die Reformer die Privatisierung der deutschen Rechtschreibung abschafften, wie sie die (west-) deutschen Kultusminister der Dudenredaktion 1955 eingeräumt hatten.

Allerdings hat der Duden nun Mitbewerber. Etwa den Wahrig, der für 14,95 Euro auf 1216 Seiten in Tausenden von Fällen andere Empfehlungen gibt als der Duden. "Wer ,korrekt' schreiben will, tut gut daran, das Wörterbuch, nach dem er sich richtet, in Klammern mit anzugeben", kommentiert "Die Welt". Der neue Duden erscheint vierfarbig. Je nachdem, ob die Wörter in Schwarz oder Rot gedruckt, in zweifachem Graublau näher erklärt oder gar leuchtend gelb unterlegt sind, ist die Orthografie unterschiedlich zu handhaben. Matthias Wermke, Leiter der Dudenredaktion, sieht das so: "Deshalb hat sich die Dudenredaktion dazu entschlossen, im neuen Duden immer dort, wo die Regeln mehrere Schreibungen zulassen, die von ihr empfohlene gelb zu unterlegen. Wer sich an diese Duden-Empfehlungen hält, stellt eine einheitliche Rechtschreibung sicher."

Nach welchen Kriterien die gelbe Farbe benutzt worden ist, in vielen Fällen konträr zu den Einträgen in der 23. Auflage, erschließt sich dem Leser nur mit Mühe. Ein weites Feld bietet die Fremdwortschreibung. Wer bisher glaubte, dass Fremdwörter aus lebenden Sprachen nicht eingedeutscht werden sollten, findet richtigerweise Polonaise oder Malaise im neuen Duden, aber Dränage mit ä. So sicher scheint man sich mit den Gelbstellungen doch nicht zu sein, denn Lymphdrainage erscheint wieder mit ai. Es soll Kommuniqué, aber Pappmaschee heißen, das ph verschwindet weitgehend (Delfin, Saxofon, Fotosynthese), das th nicht (Panther, Thunfisch). Es bleibt aber bei Mayonnaise und Portemonnaie.

Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung, die der Rechtschreibrat in Teilen verbessert (viele Praktiker meinen allerdings: verschlimmbessert) hat, kann man eine Münze werfen oder pausenlos im neuen Duden blättern. Wer nach dessen Empfehlung zu Hause großschreibt, kommt von allein nicht unbedingt darauf, dass er zugrunde, zunutze, zuleide, zurate, zugunsten zusammenschreiben soll, obwohl auch hier die Zwei-Wörter-Variable regelkonform gewesen wäre; gewinnbringend steht neben Profit bringend, gnadenbringend neben Segen bringend.

Bei eislaufen und brustschwimmen folgt der Duden den Vorschlägen, die der Rat präsentiert hat. eis und brust sollen angeblich als Substantive verblasst und zur Verbpartikel geworden sein. In Getrenntstellung führt das aber laut Duden zum kleinen eis ("Sie läuft eis") und zur großen Brust ("Sie schwimmt Brust"); möglich, dass der Rat bei dieser Brust-Form an Franzi van Almsick gedacht hat. Ski laufen ist übrigens nicht verblasst, sodass wir im neuen Duden den Eintrag finden: eis- und Ski laufen, Ski und eislaufen.

Wem es zu bunt mit dem neuen Duden werden sollte, muss sich nicht irremachen lassen: 99,5 Prozent der Reformschreibweisen, vor allem die ss/ß-Schreibung, hat der Rat nicht anfassen und der Duden nicht einfärben dürfen.

Das Hamburger Abendblatt wird vom kommenden Montag an schulkonform schreiben, sodass ein Schüler, der eine Schreibweise aus unserer Zeitung übernimmt, dafür im Schuldiktat keinen Fehler bekommen darf. In diesem Artikel habe ich es schon einmal versucht.

# Der neue Duden 1216 Seiten, ISBN 3-411-04014-9, 20,- Euro.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 24.07.2006 um 12.37 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4576

Bei Springer weiß man es also genau:

99,5 Prozent der Reformschreibweisen, vor allem die ss/ß-Schreibung, hat der Rat nicht anfassen und der Duden nicht einfärben dürfen. (Hamburger Abendblatt 24.7.06, hier zitiert)

… zumal doch durch den segensreichen Rat laut Zehetmair "80 bis 90 Prozent" der alten Rechtschreibung gerettet werden konnten (das hat er den widerspenstigen Zeitungen erzählt, als er sie persönlich aufsuchte). (n. Th. Ickler am 07.03.06, hier zitiert; Originalquelle?)



Kommentar von R. M., verfaßt am 24.07.2006 um 13.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4577

Meier übertreibt etwas. Siehe unsere Statistik .


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.07.2006 um 13.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4578

Der Wahrig gibt nicht in Tausenden von Fällen andere Empfehlungen als der Duden, sondern er gibt insgesamt nur 52 Empfehlungen, davon sind einige anders als im Duden, ich habe sie alle aufgelistet. Wahrscheinlich verwechselt Meyer den Rotdruck mit einer Empfehlung. Im übrigen weiß wohl auch Meyer, daß die "Schüler" nur ein armseliger Vorwand sind; der Wille zur Unterwerfung ist davon unabhängig. Schon die behauptete Geringfügigkeit der Reform spricht ja dagegen, daß Schüler durch die Lektüre der FAZ einen Schaden erleiden.

Die meisten Zeitungen verkünden nun wieder, kurz zusammengefaßt: Die Reform ist schlecht, aber wir machen mit!


Kommentar von Rheinischer Merkur, 27. 7. 2006, verfaßt am 26.07.2006 um 23.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4630

Die Farbe Gelb
Der Duden kämpft um sein Image. Können Vorschläge den Weg aus dem Chaos weisen?

HANS-JOACHIM NEUBAUER

Ja, es ist wieder so weit, leider! Die Orthografie kommt noch mal auf den Tisch, schließlich gelten ab dem 1. August die neu reformierten Reformvorschläge der reformierten Revisionskommission oder so ähnlich. Weil die Leute längst genug haben vom quälenden Drehen an den Stellschrauben unserer Sprache und Literatur, warten sie auf den neuen Duden. Der ist traditionell gelb und verspricht Sicherheit, Verlässlichkeit, Norm. Auch wenn daneben schon der „Wahrig“ liegt, der die vom Rat für deutsche Rechtschreibung aktualisierten Regeln weitgehend übernimmt, ist es halt so: Nur der Duden ist der Duden. Aber was heißt das heute?

Die Mannheimer Redaktion geht neue Wege: Auf den 1216 Seiten findet sich das Duden-Gelb neben Schwarz und Rot erstmals auch im Buchinnern – als Farbe der Empfehlung. Das heißt: Die 3000 gelb markierten „Varianten“ sollen sich durchsetzen. Damit ist, als Folge der vom Rechtschreibrat etablierten Variantenflut, die bislang zumindest behauptete Normierungspotenz des Wörterbuches verloren. Andererseits kündet die Farbe Gelb immerhin von dem Anspruch auf orthografische Deutungshoheit. Wer von diesem Wörterbuch eine einheitlichere Orthografie erwartete, als sie der Rechtschreibrat empfiehlt, erweist sich als heilloser Optimist. Dass der Duden aber selbst das vielfach beklagenswerte Niveau des Rechtschreibrates unterschreitet, ist unverzeihlich. Durch das Buch ziehen sich die Spuren der jüngsten orthografischen Schlachten: Bei der Groß-, Klein-, Getrennt- und Zusammenschreibung setzt sich mal diese, mal jene Partei durch. Und während der „Stängel“ überlebt, kommt der „Stengel“ zum alten Eisen. Offenbar wollen trotzdem einige große Medien ihre Textverarbeitung von den Mannheimern einrichten lassen. Dann gibt's die Uneinheitlichkeit per Mausklick.

Wir vom Rheinischen Merkur fühlen uns bestätigt von den sinnvollen Korrekturen fehlerhafter Regeln. Auf der Basis des amtlichen Regelwerks übernehmen wir gute Vorschläge und üben uns ansonsten in Geduld. Wenn die Vernunft siegt, schreiben nach dem nächsten Duden sowieso alle wie wir. Eigentlich bleibt fast alles, wie es ist.


Kommentar von Tages-Anzeiger, Zürich, verfaßt am 27.07.2006 um 10.39 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4632

ZUR KOMPROMISSVERSION DER RECHTSCHREIBREFORM
Fehler wird es weniger geben

Ende gut, alles gut? Die Rechtschreibung ist vom 1. August an wieder verbindlich. Die Reform ist, mit einigen Korrekturen, umgesetzt. Den Schreibern bieten sich Freiheiten wie noch nie.

Von Martin Ebel

Die alte Rechtschreibung hat, bis auf wenige Spezialisten, niemand perfekt beherrscht. Das vergisst leicht, wer auf die neuen Regeln schimpft. Ein Gutteil jener Schriftsteller, die sich in öffentlicher Empörung gegen die Vorschläge der Reformer wandten, waren alles andere als sicher in der «bewährten» Orthografie (wie mancher Lektor hinter vorgehaltener Hand verriet). Eben weil sie so schwierig zu lernen war, kam es überhaupt zu jenem Reformprozess, der sich quälend über Jahre hinzog und um den mit einer Verbissenheit gefochten wurde, als ginge es um viele Quadratkilometer Land mit etlichen Ölquellen darunter - und nicht um die Frage, ob man «Gämse» mit e oder ä und «Fass» ohne Eszett schreiben solle.

Als schon alles beschlossen, ja umgesetzt war, die neuen Regeln in Schulbüchern standen und in Schulen gelehrt wurden, Zigtausende Bücher in neuer Schreibung erschienen waren, Zeitungen und Agenturen sich angepasst hatten - das war 1998 -, kam es zu einer letzten Aufwallung des Widerstands, die nach manchem Hin und Her zur Gründung des Rats für deutsche Rechtschreibung führte, eines Gremiums aus 38 Experten (unter ihnen 9 Schweizer), das einerseits langfristig die Entwicklung der Schriftsprache begleiten wird, zuallererst aber die reformierte Rechtschreibung nochmals reformieren sollte.

Das hat es getan, und zum grossen Erstaunen der Beteiligten und Beobachter sind die Verbesserungsvorschläge allerorts angenommen worden, in Deutschland von den Kultusministern, in der Schweiz von der Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK). Am 1. August ist die Kompromissversion der Rechtschreibreform überall amtlich. Zwei renommierte Nachschlagewerke, der «Duden» (erscheint am Samstag) und der «Wahrig» (schon auf dem Markt) bieten das ganze Vokabular der deutschen Sprache, 130 000 Wörter, in der jetzt und zumindest für die nächsten Jahre gültigen Schreibung.

Die grossen Blöcke der Reform bleiben unangetastet; sie sind bereits ins Sprachbewusstsein von Millionen eingedrungen - Jüngere wissen gar nicht mehr, dass es einmal anders war - und haben keinerlei Protestpotenzial mehr.

Dazu gehören:

- die neue ss-Regel (Eszett nur nach Langvokal, ss nach Kurzvokal), die in Deutschland die überwiegende Mehrheit der veränderten Wörter ausmacht, in der Schweiz aber gegenstandslos ist
- Anpassung der Stammvokale, etwa bei «Stängel», «behände», «Gämse»
- drei Konsonanten bzw. Vokale sind möglich bei «Schifffahrt» oder «Kaffeeernte»
- Substantivierungen werden generell grossgeschrieben: «Der Einzelne», «der Erste», «das Beste», «des Weiteren», «im Allgemeinen», «in Bezug auf», «seit Kurzem», «im Dunkeln tappen», «ins Reine bringen» usw., ebenso Tageszeiten wie «gestern Abend» und Paarformeln wie «Jung und Alt». Hier stellt die Rechtschreibreform eine echte Wohltat dar; niemand, wenn er ehrlich ist, hat in diesem Bereich wirklich durchgeblickt. Zurückgerudert wird, nach dem Eingreifen des Rats für Rechtschreibung, bei verblassten Substantiven wie «angst machen», «feind sein», «klasse» oder «spitze», die alle wieder klein sind; bei «Recht/Unrecht haben», bekommen, geben oder behalten darf gross- oder kleingeschrieben werden. Und «pleite» und «bankrott» gehen wird künftig nicht mehr nur wieder klein-, sondern auch zusammengeschrieben.

- Gross bleiben, wie in der alten Rechtschreibung (und von der neuen vorübergehend abgeschafft), feste Adjektiv-Substantiv-Verbindungen wie «Gelbe Karte», «Schwarzes Brett» und «Erste Hilfe».

- Zusammengesetzte Wörter werden häufiger getrennt geschrieben als früher. Das ist eine vage Formulierung, aber wenn man es konkreter sagen will, wird es gleich sehr kompliziert. Die Zusammen- oder Getrenntschreibung war der heisseste Kampfplatz zwischen Reformisten und Altorthografen. Das Totschlagargument der Letzteren: Hier würden «Wörter abgeschafft». Wenn «sitzen bleiben» oder «näher kommen» im wörtlichen wie im übertragenen Sinn gleichermassen auseinander geschrieben werden müssten, verschwände eine Differenzierungsmöglichkeit der deutschen Sprache.

Dieses Argument (so fragwürdig es ist) hat sich durchgesetzt und dazu geführt, dass künftig nach Bedeutung getrennt oder zusammengeschrieben werden kann. Auf der Bank wird sitzen geblieben, in der Schule aber sitzengeblieben. Bei «näher kommen / näherkommen» entscheidet der Schreiber selbst, wie wörtlich er verstanden werden will. Bei festen Begriffen wie «kurzarbeiten» oder «richtigstellen» ist die Zusammenschreibung sogar (wieder) Pflicht. Ebenfalls wieder zusammen gehören «eislaufen» (aber nicht «Rad fahren»), «kopfstehen», «leidtun» und «nottun».

Einzig bei diesen Punkten, bei der Reform der Reform also, gibt es für Schweizer Schüler eine Übergangsfrist von drei Jahren; in allen anderen Fällen wird im neuen Schuljahr die alte Schreibung (Gemse) als Fehler gewertet.

Fehler wird es künftig weniger geben, so viel darf prognostiziert werden. Nicht nur sind die neuen Regeln insgesamt logischer und leichter zu lernen als die alten, mit der Reform weht auch ein Wind der Toleranz durch die deutsche Orthografie. In sehr vielen umstrittenen Gebieten - und nicht nur in diesen - gibt es nämlich Varianten, das heisst mehrere Möglichkeiten, richtig zu schreiben. Das gilt für Fremdwörter (Delfin/Delphin; Spagetti/Spaghetti), vor allem aber auch für die Getrennt-/Zusammenschreibung.

«Früh reif» und «frühreif», «warm halten» und «warmhalten», «klein kariert» und «kleinkariert», «auf Grund» und «aufgrund», «Halt machen» und «haltmachen», «zugrunde gehen» und «zu Grunde gehen», eine «allein erziehende» oder «alleinerziehende Mutter» - in zahlreichen Fällen steht es dem Schreiber frei, seine Variante zu wählen. Freiheit ist schön, schadet aber der Einheitlichkeit, und so haben schon 1998, bei der ersten Einführung der Reform, Zeitungsredaktionen eigene Hausorthografien entwickelt, die jeweils eine der Varianten verpflichtend machte (der «Tages-Anzeiger» entschied sich seinerzeit für eine besonders radikale Lösung).

Kritiker stören sich auch jetzt wieder an den Wahlmöglichkeiten, weil sie neue Konfusion fürchten. Der neue Duden gibt deshalb, gelb unterlegt, Empfehlungen, welche der beiden Varianten zu bevorzugen sei. Das ist etwas Neues: nicht um richtig oder falsch geht es hier, sondern um besser oder schlechter. Dass man über Letzteres noch mehr (und noch heftiger) diskutieren kann, ist offensichtlich (zum Beispiel empfiehlt der Duden reichlich widersprüchlich «Spaghetti», aber «Getto»). Aber wenigstens die Schüler muss das nicht kümmern.

Tages-Anzeiger; 26.07.2006; Seite 16
Leserforum

Wir braven Sennenknaben
Kompromissversion der Rechtschreibreform: Fehler wird es weniger geben, TA 21. 7.

Schön, dass ab 1. August wieder halbwegs Vernunft in die deutsche Rechtschreibung zurückkehrt. Und nett, dass der TA darüber berichtet hat. Garniert mit ein paar Beispielen. Den unwichtigen und wenig umstrittenen. Da sassen also vor Jahren über hundert Leute palavernd zusammen und suchten eine Lösung für ein Problem, das vorher gar keines war. Gebärten eine Reform, die keiner haben wollte. Und die in Deutschland - ausser vielleicht den Eszett-Regeln - auch nur ganz wenige akzeptiert und umgesetzt haben. Doch der TA hat in vorauseilendem Gehorsam jeden, auch den dümmsten Furz übernommen. So ärgern wir uns nun über Asyl Suchende, Dienst Tuende, Tür Öffnende und Fleisch Fressende. Das Wörtchen es wurde gnadenlos zum s degradiert und ohne Apostroph ans vordere Wort gehängt. Unleserliche Witzwörter wie wos, wies, wills und seis sind die ärgerliche Folge. Der Unsinn liesse sich beliebig fortsetzen. Nachdem nun auch die oberschlauen Hüter der Rechtschreibung gemerkt haben, dass ihnen ausser den Sennenknaben niemand gefolgt ist, krebsen sie zurück. Wenn auch nur teilweise. - Warum nur müssen wir Schweizer immer jeden Schwachsinn als Erste nachvollziehen? Damit haben wir uns ein unnötiges Problem eingehandelt. Der TA im Besonderen. Denn wie will er jetzt - ohne sein Gesicht zu verlieren - wieder zur Vernunft zurückkehren?
MILO BAECHTOLD, ZÜRICH

Schon der erste Satz - «Die alte Rechtschreibung hat, bis auf wenige Spezialisten, niemand perfekt beherrscht» - zeigt, wie wenig der Autor von der Materie versteht, die man aber auch nicht kennen kann, wenn man am Schreibtisch vor sich hin formuliert und weiss, dass das dabei Elaborierte von Spezialisten auf die formelle Richtigkeit hin abgeklopft wird. Diese wiederum halten sich brav an das, was ihnen ihr Zeitungs- oder Buchverlag vorschreibt. Und hier sitzen die wahren Schuldigen, haben sie doch diese Missgeburt von einem Mäuschen, das der Berg der universitären Pseudospezialisten nach Jahren des Herumwälzens von sich gab, ganz obrigkeitshörig übernommen. Dabei war den wirklich Sprachbewussten von Anfang an klar, dass dieser Bockmist nur so von Inkompetenz, Nichtlogik und Inkonsequenz strotzte und dies auch nach vielen kosmetischen Eingriffen weiterhin tut. Die alte Rechtschreibung war wirklich zu verstehen und vor allem zu vermitteln, an Fremdsprachige zum Beispiel.
GUIDO STOCKER, MÖNCHALTORF


Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 27.07.2006 um 12.03 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4633

"Wenn die Vernunft siegt ..."

... so drückt der Rheinische Merkur indirekt eine Hoffnung aus. Ich habe gestern ein Urteil zugestellt bekommen, demzufolge ich eine (meine verstorbene Mutter betreffende) Rechnung, die ich vor zwei Jahren bezahlt habe, vermehrt um viel höhere Gerichtskosten, ein zweites Mal zahlen muß. Ich hatte das nicht erwartet, weil ich alles bestens belegt meinte. Aber, die Angelegenheit war insgesamt schon ein bißchen kompliziert, und der Richter hat entschieden, diese Komplexität für sich auf meine Kosten aufzulösen (und Berufung hat er gleich gar nicht zugelassen).

Meine Schlußfolgerung aus dieser Erfahrung: Man muß (so man kann) eine maximale Komplexitätsreduktion vornehmen, wenn man recht bekommen (oder der Vernunft zum Sieg verhelfen) möchte.

Eine solche Komplexitätsreduktion in Sachen Rechtschreibreform habe ich dann gleich einmal versucht:

1. Schulen sollen den Schülern keine Fehler beibringen (schon gar keine, deren Fehlerhaftigkeit man erkannt hat).

2. Es ist ein grober Verstoß gegen die Pflichten der Schule, wenn dies doch geschieht.

3. Leider ist dieser Verstoß 10 Jahre lang begangen worden: Die Lehrer wurden dazu sogar gezwungen! Sie mußten lehren, "Du tust mir sehr Leid!" sei richtiges Deutsch. (Wäre dies wahr, so müßte man auch sagen können: "Du hast sehr Auto.")

4. Dieser unhaltbare Zustand wurde durch den Rechtschreibrat teilweise geheilt. (Es soll wieder heißen: "Du tust mir sehr leid!")

5. Es soll aber weiterhin gelten (wenn auch nur mehr als Alternative): "Du hast vollkommen Recht!" (Wäre dies wahr, so müßte man auch sagen können: "Du hast vollkommen Auto.")

6. Auch als Alternative ist das Lehren von Fehlern nicht hinnehmbar.

7. Solches dennoch zu dekretieren, stellt eine grobe Pflichtverletzung der involvierten Einrichtungen und Mandatsträger dar.


Das müßte - außerhalb der KMK-Staatsräson zumindest - eigentlich schon reichen. (?)



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.07.2006 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4634

Der Satz "Die alte Rechtschreibung hat auch niemand beherrscht" spielt eine gewisse Rolle in sehr vielen Diskussionen. Wenn man die alte Rechtschreibung mit dem Duden gleichsetzt, bis in die letzten Einzelwortschreibungen hinein, hat in der Tat niemand sie beherrscht. Das ist aber gerade die falsche Betrachtungsweise. In Wirklichikeit gab es Hunderttausende von Menschen, die so zu schreiben vermochten, wie es üblich war, d. h. sie brachten orthographisch unauffällige Texte hervor. Sekreträrinnen und Korrektoren taten noch ein Übriges und näherten die Texte weit stärker an den Duden an, als es für den Normalgebrauch nötig gewesen wäre, und das war ganz in Ordnung, denn Textherstellung kann selbstverständlich auch professionell betrieben werden (wie Layout usw.).

Das Argument hat aber noch eine andere Schwäche: Die Neuregelung sollte doch leichter sein, so daß man sie tatsächlich beherrschen könnte, und zwar ohne Abstriche so, wie sie kodifiziert war. Dieses Ziel ist grandios verfehlt, niemand kann es bestreiten.


Kommentar von Hans-Dieter von Wehbergen, verfaßt am 27.07.2006 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4635

"Hundertausende" scheint mir noch tiefgestapelt, wenn man die Zahl derjenigen meint, die passable Texte ohne grobe Schnitzer aufsetzten.
Den Umstand, daß etwas anderes nichts taugt, als Beweis dafür zu nehmen, daß eine Sache schon in Ordnung ist, ist eine (weitverbreitete) Unsitte.
Dieses "Argument" bringen auch nur diejenigen hervor, die die Rechtschreibreform befürworten, ohne genau sagen zu können, weswegen sie das tun.
Auch daß demjenigen Denk- und Lernfaulheit vorgeworfen wird, der bei der alten Orthographie bleibt, ist so ein Allgemeinplatz. Wenn aber die neue Rechtschreibung einfacher ist, käme das doch dem Denk- und Lernfaulen entgegen, denn er müßte doch dann nichts erlernen, sondern könnte etwas vergessen.


Kommentar von borella, verfaßt am 27.07.2006 um 18.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4637

Was gewesen wäre, hätte es die vielen dudengeprägten Jahrzehnte nicht gegeben, das läßt sich heute kaum schlüssig nachvollziehen. Zumindest nicht ohne ausführliche Studien auf wissenschaftlicher Basis, und selbst dann wäre es Theorie.

Bekannt dürfte sein, daß bis 1996 die Leute, welche hobbymäßig oder professionell schriftliche Elaborate verfaßten, eine recht einheitliche und klare Vorstellung davon hatten, wie man schreibt. Ein Nachschlagen bei Allerweltstexten war eigentlich unüblich.

Und dann kam die Reform. Hätte man es bei den wenigen "Auskämmungen" (Ickler) belassen, wäre der Erfolg auf breiter Basis unvermeidlich gewesen.

Aber eine Reform, die nicht wie ein Elefant im Porzellanladen durch die Schreiblandschaft trampelt, ist halt keine wirkliche Reform, dachten sich die Macher. Und somit wurden im großen Stil übliche Schreibungen verboten und gänzlich unübliche wurden zur Vorschrift erhoben; gegen jedes Sprachgefühl.

Frei erfundene Regeln sollten es nun sein, die die Schreibung bestimmen, die inhaltliche Bedeutung degenerierte zu lästigem Beiwerk. Dieser Ansatz sollte logischer sein und einfacher zu begreifen, dachte man. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich in der Folge herausstellte.

Heute scheint es manchem völlig unbegreiflich, daß man jahrzehntelang auch ohne Regelparagraphen in der Lage war, eine dem Sinn entsprechende Getrennt- und Zusammenschreibung zu praktizieren, noch dazu eine bessere als heute regelkonform überhaupt möglich ist ...

Aber einmal losgelassen leckt die deutsche Gründlichkeit Blut; es kann doch nicht sein, daß etwas so wichtiges wie die Sprache ohne verbindliche Regeln in allen nur denkbaren Bereichen auskommen kann. Und auch hier, je weniger Steine aufeinander bleiben, desto eher ist der Begriff Reform gerechtfertigt.

Und so geschah es, dreimal hintereinander im Zeitraum von 10 Jahren ...

Die Begründungen, warum etwas so sein soll, wie die Regel es vorsah, wurden immer abenteuerlicher, die ursprüngliche Zielsetzung, einfacher und logischer werden zu wollen, verkehrte sich in das absolute Gegenteil, ja, ja ...

Was jetzt? Die Handelnden stehen vor dem angerichteten Scherbenhaufen in dritter Generation und versuchen ihre Ratlosigkeit durch schöne Parolen zu kaschieren.

Ältere Schreiber lesen heute verwundert, daß bestimmte Wortarten nicht mehr bestimmt werden können, jüngere denken sich, wenn sich nicht einmal die Wissenschaft auskennt, wie soll ich es dann können?

Versucht man Schreibweise als Kulturbestandteil zu verstehen, drängt sich einem unwillkürlich der Begriff der "Naiven Kunst" auf, wenn man etwa von "Aprikosen bis Tennisball großen Hagelkörnern" liest.

Auch die Ankündigung, bei Mehrfachmöglichkeit bei der klassischen Variante bleiben zu wollen, halte ich für ein reines Lippenbekenntnis, nur um Gemüter zu beruhigen. Wie sollte so ein Mechanismus in die Redaktionssysteme kommen, wenn man heute liest, was Duden tatsächlich empfiehlt und daß Duden die zugrundeliegenden Korrekturprogramme liefern wird?

Ich kann mir eigentlich kein Szenario vorstellen, wie diese gegenwärtige Situation in absehbarer Zeit bereinigt werden könnte, es sieht ja eher nach einer Dauerbaustelle aus; eine, die mit jeder Nachbesserung größer wird anstatt kleiner.

Aber wo bleibt das Positive? Nun, es sind Kleinigkeiten, Dinge für Liebhaber. Wesentlich direkter als früher erkennt man heute, ob ein Schreiber nur schreibt, um das Papier zu schwärzen, oder ob es ihm ein Anliegen ist, worüber er schreibt. Das merkt man selbst dann, wenn eine neuschriebliche Verlagsorthographie verwendet werden muß.

Weiters schlägt in Wirklichkeit ja kaum jemand die Fälle der GZS nach, wenn sein Sprachgefühl ihn leitet. Also der großflächigen Einübung der Schwachsinnschreibung sind gewisse natürliche Grenzen gesetzt.

Und letztlich, irgendwann wird eine neue Generation von Reformern heranwachsen und fragen, wieso muß die deutsche Orthographie denn nur so unlogisch und schwierig sein, geht das nicht einfacher? Spätestens dann gibt es eine neue Chance, entweder Nägel mit Köpfen zu machen, oder aber dem Chaos eine weitere Dimension hinzuzufügen ...



Kommentar von Neue Zürcher Zeitung, verfaßt am 30.07.2006 um 16.37 Uhr   Mail an
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29. Juli 2006, Neue Zürcher Zeitung
Goldeselei
Die neuen Rechtschreib-Wörterbücher

Die eierlegende Wollmilchsau, stille Utopie aller konsequent auf reichen Ertrag gestimmten Landwirte, wird wohl noch auf lange ein Phantasma bleiben. Aber bei anderen Schöpfungen, die in Gottes reicher Natur ursprünglich ebenfalls nicht vorgesehen waren, hat der Mensch doch Fortschritte gemacht. Beim Goldesel zum Beispiel. In so vielerlei Gestalt läuft er mittlerweile herum, dass die Zoologen Schwierigkeiten haben, ihn zu identifizieren. Wer hätte je geglaubt, einem Goldesel könnte es gefallen, als Rechtschreib-Wörterbuch zu inkarnieren? Und doch ist es so. Die nur auf den ersten Blick dürren Etats, welche der schreibende Teil der deutschsprachigen Menschheit zur Verbesserung seiner orthographischen Kompetenzen aufzubringen bereit ist, bieten dem Grautier eine saftige Weide.

Schon lange vor dem 1. Juli 1996 - dem Tag der «Wiener Erklärung» einer Rechtschreibreform in den deutschsprachigen Ländern - hatten sich spezifische Rassen herausgebildet, wobei sich namentlich der dudianische Goldesel grosser Wertschätzung erfreute, sehr zum Missfallen der wahrigschen Spezies, die eifrig um Terraingewinne kämpft. Gerade jetzt wieder haben diese beiden neue Sprösslinge in die Welt gesetzt. Der Nachwuchs aus dem Geschlecht der Dudens zeichnet sich dadurch aus, dass er die Anweisungen seines Hirten, des Rats für deutsche Rechtschreibung, beharrlich unterläuft. Wo dieser Rat besondere Sorgfalt darauf verwandt hat, die durch die Reform zerstörte Zusammenschreibung von Verben wiederherzustellen, schreit der dudianische Esel unverändert: auseinander! Esel sind bekanntlich störrisch. Vielleicht sollte man sie in die allgemeine Schulpflicht einbeziehen, so dass ihnen der Unterschied zwischen «sitzenbleiben» und «sitzen bleiben» effektiv und damit auch für analoge Fälle ungleicher Bedeutung ein für alle Mal aufgeht.

Wie der neue Graue aus dem Stalle Wahrig seine Hufe setzt, findet schon eher den Beifall der Kenner, aber zufrieden sind sie nicht: «Man sieht zwar, dass die Richtung stimmt, aber Sinn und Verstand kehren nur in Trippelschritten zurück», kommentiert der Traditionalist Theodor Ickler, ein bekennender Feind der reformatorischen orthographischen Eseleien von 1996ff. Dass das wahrigsche Geschöpf eine Schabracke mit der Aufschrift «Neu - Neu - Neu - Neu - Endlich Sicherheit!» trägt, ist, man verzeihe die nicht artgerechte Terminologie, glatte Rosstäuscherei. Sicherheit bringen die neuen Wörterbücher keineswegs. Sie bilden die Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung nur unzureichend ab; und da der Rat seine Arbeit fortsetzt, wird gewiss schon bald eine weitere Ausgabe nötig sein. Die Eltern der Schüler aber, denen man jetzt wieder einmal angeblich verbindliche Schreibungen vorsetzt, werden sich wohl vielfach zu einem neuerlichen Wörterbuch-Kauf animieren lassen. Der orthographische Goldesel tut seine Schuldigkeit. Seinen Züchtern indes, den eilfertigen Verlagen, die gar nicht oft genug «Bricklebrit» rufen können, wünschen wir herzhafte Begegnung mit einem anderen Spruch: Knüppel aus dem Sack!

Joachim Güntner

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Kommentar von Kölnische Rundschau, verfaßt am 31.07.2006 um 11.36 Uhr  
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Basis für den Rechtschreibfrieden
Von Tim Braune

Zehn Jahre lang ging es mit der deutschen Sprache drunter und drüber: Ob groß oder klein, zusammen oder getrennt - die Politik hatte 1996 mit der großen Rechtschreibreform ein Wirrwarr ausgelöst, das Schüler, Lehrer, Dichter und Denker nachhaltig verunsicherte. Nun werden zum 1. August in Schulen und Behörden wieder bundesweit einheitliche Regelungen eingeführt. Die „Reform der Reform“ soll den lange ersehnten Rechtschreibfrieden wiederherstellen.

„Die jetzt gefundenen Regelungen sind eine gute Basis für einen Rechtschreibfrieden. Da sie nicht nur von der Politik, sondern auch von einer breiten Mehrheit der Fachleute unterstützt werden, hoffe ich, dass die Akzeptanz auch außerhalb der Schulen weiter wachsen wird“, sagt die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK) der Länder, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD).

Die Ministerpräsidenten der 16 Länder hatten Ende März einstimmig die Korrekturen beschlossen, die vom Rat für deutsche Rechtschreibung empfohlen worden waren. Sie betreffen vor allem Groß- und Kleinschreibung sowie Zusammen- und Getrenntschreibungen. So werden Eigennamen wie „der Runde Tisch“ wieder großgeschrieben und Wörter wie „eislaufen“ zusammengeschrieben.

Reformiert wurde auch das Trennen am Zeilenende. So soll es verwirrende Trennungen wie „Urin-stinkt“ und „E-sel“ nicht mehr geben. In vielen Fällen sind variable Schreibweisen zulässig, wie bei „Grafik“ und „Graphik“. Die Regeln gelten für Schulen und Behörden, der einzelne Bürger muss sich nicht daran halten.

Der Vorsitzende des Rats für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair, sieht gute Chancen für einen „Sprachfrieden“. In der Sprachwissenschaft solle die Debatte weitergehen. „Wir wollen die Sprache beobachten und dann sehen wir, ob sich Orthographie oder Orthografie, Spaghetti oder Spagetti durchsetzen und ob man creditcard groß, getrennt oder zusammen schreibt.“ „Einheitlichkeit per se war auch gar nicht das Ziel“, sagt er. Es sei gewollt, dass Zusammensetzungen wie „sitzen bleiben“ mal zusammen und mal auseinander geschrieben werden, „und zwar nach ihrem Sinninhalt“.

Nach Ansicht der Lehrerverbände wird die Reform zum neuen Schuljahr Lehrer und Schüler kaum verunsichern. Das Textverständnis der Schüler leide unter den Änderungen nicht, sagt die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer. Welche Varianten sich in der Praxis bewährten, werde sich in der einjährigen Übergangsfrist zeigen. Klar ist: Bis zum 31.07.2007 werden Schreibweisen, die durch die aktuelle Reform überholt sind, nicht als Fehler angestrichen.

Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, erwartet ebenfalls keine Probleme bei der Anwendung. „Die Lehrer sind froh, dass in den Klassenzimmern Ruhe einkehrt.“ Die Änderungen beträfen nur einen Promille-Bereich des Wortschatzes. „Und die Welt geht nicht unter, wenn der Lehrer einmal nachschlagen muss“, sagt der Vertreter der Gymnasiallehrer. Nach dem Ende des Reformchaos könnten sich die Schulen nun wieder stärker darum kümmern, dass sich verschlechternde Rechtschreibniveau der Schüler zu verbessern.

In fünf Jahren wird der Rechtschreibrat den nächsten Reformbericht vorlegen. Die Lehrerverbände sind optimistisch, dass die Ministerpräsidenten dann der Versuchung widerstehen, noch einmal an der ganz großen Reformschraube zu drehen. „Ich bin mir sicher, die Fehler werden nicht noch einmal gemacht“, meint Lehrer Meidinger, „es wird nur noch um sehr behutsame Änderungen gehen, die sich am praktischen Sprachgebrauch orientieren.“(dpa)


Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 27.08.2006 um 09.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=495#4777

Der Verfasser (Jounalist bei der Rheinischen Post?) dieser Zeilen könnte seinen Namen ehren, bleibt aber leider anonym.



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