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26.08.2004
 

Die Kinder schreiben jetzt schlechter
Prof. Dr. Harald Marx untersucht die Rechtschreibleistungen von Grundschülern

Die österreichische Bildungsministerin, das brandenburgische Bildungsministerium, die Düsseldorfer Staatskanzlei, der Rechtschreibreformer Gerhard Augst und andere mehr behaupten zwar das Gegenteil: Die Rechtschreibleistungen in den Schulen hätten sich durch die Reform verbessert.
Doch wo sind die „Untersuchungen“, auf die sie sich berufen? Gibt es sie überhaupt? – Der womöglich einzige, der tatsächlich Untersuchungen angestellt hat, ist der Leipziger Erziehungswissenschaftler Harald Marx.

Neue Osnabrücker Zeitung, 21. 8. 2004

„Rechtschreibung wurde erschwert“

Schriftsprachforscher Prof. Harald Marx: Negative Effekte durch Studien in Grundschulen belegt

350000 Abc-Schützen, die heute in Niedersachsen eingeschult werden, sollen auch die neue Rechtschreibung erlernen, über die erneut heftig gestritten wird. Der Sprachschriftforscher an der Universität Leipzig, Prof. Dr. Harald Marx, hat in Vergleichsstudien die Rechtschreibleistung von Grundschülern vor und nach der Rechtschreibreform untersucht und kam zu interessanten Ergebnissen. Die Fragen stellte Waltraud Messmann.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie in Ihren Untersuchungen gekommen?

Marx:
Die Untersuchung bezog sich auf die ß-Schreibung, die ja eine der deutlichen Veränderungen im Rahmen der Rechtschreibreform war und ist. Dafür habe ich für diesen Bereich die Leistungen von Grundschülern 1996, also kurz vor der Reform, und 1998, eineinhalb Jahre nach Einführung der neuen Rechtschreibung, verglichen. Ich wollte überprüfen, ob die Annahme der Reformer richtig ist, dass die Rechtschreibleistung durch die Neuerungen erleichtert wird. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Sie wurde nicht erleichtert, sondern erschwert. Es wurden also noch mehr Fehler gemacht. Im Jahr 2001 habe ich die Untersuchung dann auch auf Wunsch der Rechtschreibreformer wiederholt. Dabei zeigte sich, dass die Kinder die ß-Wörter jetzt zwar wieder genauso gut oder genauso schlecht wie vor der Reform schrieben, doch die Neigung zur Übergeneralisierung, die sich bereits 1998 angedeutet hatte, war jetzt gestiegen. Das heißt, Wörter, die in der S-Laut-Schreibung von der Rechtschreibreform nicht betroffen waren, wurden jetzt häufiger als vor der Reform falsch geschrieben. Vergleichsstudien aus den Jahren 2003 und 2004 sind noch nicht ganz ausgewertet, doch scheint sich dieser negative Effekt noch verstärkt zu haben.

Wie erklären Sie sich das?

Marx:
Der Übergeneralisierungseffekt ist psychologisch damit zu erklären, dass bei dieser Rechtschreibreform, anders als bei der ersten, die veränderten Schreibungen zunächst eigentlich nur der Duden kannte oder die Rechtschreibreformer selbst. Die, die sie hätten kommunizieren müssen, Journalisten, Autoren und andere Vielschreiber, kannten sie nicht und haben sich oft auch nicht die Mühe gemacht, sie nachzuschlagen. Das hat auch damit zu tun, dass viele die Reform, jedenfalls in der Form, wie sie vollzogen wurde, nicht wirklich gut fanden. Dieser viel schreibende und viel gelesene Personenkreis produziert jetzt Eigenschreibungen, die entweder weiter den Regeln der alten Rechtschreibung folgen, irgendwo zwischen alter und neuer Rechtschreibung liegen, oder sie schöpfen neue Kreationen. Diese Vielfalt von Schreibungen führt lernpsychologisch betrachtet dazu, dass die einzelnen Abspeicherungen von Schreibmustern bei den Bürgern viel länger dauern, als es vorher der Fall war.

Wie muss ich mir das genau vorstellen?

Marx:
Ich erkläre das immer wieder gerne mit der Einführung der Postleitzahlen. Sie war eine Hundertprozentumstellung. Das bedeutet, ab einem bestimmten Zeitpunkt gab es keine alten Postleitzahlen mehr. Das hat am Anfang auch Proteste gegeben, aber die Umstellung ist nachher nahtlos erfolgt: Weil man das Alte nicht mehr benutzen durfte, musste man es vergessen. Lern- und gedächtnispsychologisch ist genau das das Problem bei der neuen Rechtschreibung: Es bleibt vieles, wie es war, und nur einiges verändert sich. Weil aber auch die Medien nur teilweise umgestellt haben, die FAZ zum Beispiel überhaupt nicht, bestand auch aus der Sicht der erwachsenen Bundesbürger und kritischer Lehrer nicht wirklich ein hundertprozentiger Zwang zur Umstellung. Die Neuerungen wurden deshalb auch schulisch nicht adäquat eingeführt. Dadurch hat sich jetzt ein Nebeneinander verschiedener Schreibungen etabliert.

Das bedeutet aus lernpsychologischer Sicht?

Marx:
Lernpsychologisch betrachtet, legen wir im Gedächtnis die Spuren ab, die wir lesen. Sehen wir ein „daß“ mit ß, dann merken wir uns, dass es „d-a-ß“ gibt. Wenn wir dann „dass“ nach der neuen Rechtschreibung mit Doppel-„s“ sehen, legen wir es in unserem Gedächtnis mehr oder weniger gleichrangig ab. Wir erinnern dann, dass es eine grafisch verschriftlichte Folge „daß“ und „dass“ gibt. Je nachdem, wie wir gerade gestimmt sind, wählen wir die eine oder die andere aus. Es gibt seit der Reform fast keine Examensarbeit meiner Lehramts- und Magisterstudenten, in der das „ss“ oder „ß“ nicht wenigstens einmal falsch geschrieben ist.

Wurden denn diese Überlegungen bei der Entwicklung und Umsetzung der Reform gar nicht berücksichtigt? Die Reformer wollten doch die Rechtschreibung vor allem leichter erlernbar machen.

Marx:
Nein, nein. Da waren Pädagogen beteiligt und Sprachwissenschaftler. Die lernpsychologische Komponente, das habe ich den Reformern auch immer wieder gesagt, ist einfach zu kurz gekommen. Sie haben nicht bedacht, wie Menschen lesen und schreiben lernen. Deshalb habe ich als Schriftsprachforscher schon damals eine Gegenhypothese aufgestellt, die sich dann auch bestätigt hat: dass es nämlich zu einer sich ausbreitenden Verwirrung kommt. Wir müssen uns davon verabschieden zu glauben, dass die Reform eine Erleichterung gebracht hat. Diese Erkenntnis wird auch in der Rückkehr verschiedener großer Zeitungen und Magazine zur alten Rechtschreibung deutlich.

Die beispielsweise die Kultusministerkonferenz ja heftig kritisiert.

Marx:
Also mich ärgert es schon, wenn die Kultusminister sagen, das jetzt an den Schulen besser rechtgeschrieben wird. Denn das ist ja nur Meinungsmache und beruht nicht auf empirischen Tatsachen.

Sind Sie denn jetzt für eine konsequente Übernahme der neuen Rechtschreibung ab Oktober 2005, um dem offenbar schädlichen Nebeneinander endlich ein Ende zu setzen?

Marx:
Nein. Ich habe schon 1999 vorgeschlagen, den Termin 2005 für die Verbindlichkeit der Reform in jedem Fall auszusetzen. Jetzt würde ich dafür plädieren, dass man es zunächst bei der Gültigkeit von Alt und Neu belässt, langfristig aber die Empirie und die Zeit entscheiden lässt, welche der Schreibungen sich häufiger durchsetzt. Man könnte dann, sagen wir mal in 15 Jahren, eine größere empirische Überprüfung machen und dann das, was häufiger vorkommt, in den Vordergrund rücken. In der Ausgabe X des Dudens oder anderer Werke dieser Art würden die weniger gebräuchlichen Schriftformen, egal ob alte oder neue Rechtschreibung, dann nur noch als geschichtliche Zwischenformen, Antikformen oder Ausnahmen auftauchen.

Das wäre denn statt eines künstlichen Reformwerks eine natürliche Auslese?

Marx:
Ja, ein natürlicher Ausleseprozess, denn über Regeln lässt sich das eben nicht steuern. Auch wenn das nach wie vor viele Pädagogen meinen. Das Lernen vollzieht sich nicht nach den Regeln der Sprachwissenschaftler, sondern läuft auf der Ebene der Wahrnehmung des Einzelnen ab.

Wird dann aber nicht die jüngere Generation benachteiligt, die an den Schulen ja die neue Rechtschreibung lernt?

Marx:
Das ist eine Frage der Texte, die die Kinder lesen. Wenn sie permanent nur mit neuen Texten konfrontiert werden, dann lernen sie die neue Rechtschreibung. Aber sogar in den Lehrerkommentaren in den Schulheften meiner Kinder finde ich immer wieder Wörter in der alten Rechtschreibung. Auch sind nach wie vor allein schon aus Geldmangel nicht alle eingesetzten Schulbücher auf die neue Schreibung umgestellt. Das heißt, in der Stringenz, wie jetzt behauptet, wurden die Schüler auch bisher nicht in der neuen Rechtschreibung unterrichtet.

Kommt in der Langsamkeit der Umstellung auf die neuen Schreibweisen nicht auch die negative Haltung vieler gegenüber der Reform zum Ausdruck?

Marx:
Statt die Rechtschreibreform offiziell zu verkünden, wäre es wesentlich sinnvoller gewesen, man hätte, wie in der Vergangenheit schon geschehen, die Änderungsvorschläge als Alternativen zu der bisherigen Schreibweise in einen neuen Duden eingearbeitet. Dann hätte man schauen können, wie sie angenommen werden. Die Rechtschreibreformer haben es ja schon im Vorfeld versäumt, wenigstens einen Ausgangszustand festzuhalten. Denn auch vor der Rechtschreibreform hat man ja nicht alles richtig geschrieben. Aber insgesamt sind die Rechtschreibleistungen heute schlechter als beispielsweise noch vor zwanzig Jahren.

Führen Sie das auch auf die Reform zurück?

Marx:
Das kann man eben nicht. Es gibt viele Gründe. So ist die Bedeutung der Rechtschreibleistung in den Lehrplänen an den Schulen zurückgefahren worden. Wir wissen, dass heute ein Drittklässler ungefähr so gut rechtschreiben kann wie ein Zweitklässler vor zwanzig Jahren. Wir haben eine Verzögerung von einem Jahr, je nach Schultyp auch von zwei Jahren.

Ist nicht auch zu erwarten, dass sich die geschriebene Sprache durch SMS und E-Mail und die dort üblichen Kurzbotschaften weiter erheblich verändern wird?

Marx:
Das ist sicher eine Erschwernis, dass sich diese Entwicklung zeitgleich mit der Rechtschreibreform vollzieht. In dieser nennen wir es Subkultur wird beispielsweise auf die üblichen Standards eines Briefes verzichtet. Die Anzahl von Fehlschreibungen ist in der Tat gerade in SMS und E-Mails ganz erheblich. Noch viel schlimmer ist das übrigens beim „Chatten“, das noch mehr Sonderformen, wie beispielsweise„ be-8“ statt „beachten“ produziert. Bei rechtschreibunsicheren Personen wird damit der Prozess des Erwerbs der neuen Rechtschreibung noch zusätzlich verzögert. Auf rechtschreibsichere Personen hat diese Art von Fehlschreibungen aber überhaupt keinen Einfluss.

Sie sehen nicht die Gefahr, dass sich die Schriftform dieser Subkultur irgendwann zur Norm entwickelt?

Marx:
Solange die Empfänger alle diese Botschaften anerkennen, wird sich diese Schreibweise ausbreiten. Doch sie ist immer nur einer Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten vorbehalten. Wenn nicht auch die Zeitungen anfangen, so zu schreiben, dann wäre dies meines Erachtens nach nicht das Problem.



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Kommentar von Neue Osnabrücker Zeitung, verfaßt am 04.11.2005 um 14.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=86#2233

»Wulff: Ich bleibe ein Kämpfer gegen die Schreibreform

Osnabrück/Hannover (dpa/wam.-Eb.)

Trotz Einführung der neuen Rechtschreibregeln zum 1. August auch in Niedersachsen will Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) sich weiter für die klassische Schreibweise einsetzen. "Ich bin Kämpfer gegen die Reform - und bleibe das auch", sagte Wulff.

Er habe beim Thema Rechtschreibung "vorerst verloren", räumte der CDU-Politiker ein. Es mache jedoch keinen Sinn, "mit dem Kopf durch die Wand" zu wollen. "Da gewinnt immer die Wand." In der "Bild"-Zeitung erläuterte er am Donnerstag: "Wir bekommen die chaotischen Neuregelungen nur weg, wenn wir in der Kultusministerkonferenz und in der Ministerpräsidentenkonferenz Einigkeit erreichen, dass wir uns alle aus diesem Feld wieder zurückziehen."

Schon zuvor hatte Wulff gefordert, dem neu gegründeten "Rat für Deutsche Rechtschreibung" künftig mehr Kompetenzen einzuräumen. Die Kultusministerkonferenz solle nicht länger über die Weiterentwicklung der deutschen Sprache entscheiden. Dass Bayern und Nordrhein-Westfalen einen Sonderweg gehen und die Einführung der neuen Regeln weiter verschieben wollen, könne das eigentliche Problem nicht lösen, meinte der CDU-Politiker. "Für den Stopp der neuen Regeln brauche ich alle 16 Ministerpräsidenten."

Der Schriftsprachforscher Prof. Harald Marx rechnet ab 1. August mit einem weiteren Anstieg der Fehlerhäufigkeit in der Rechtschreibung. "Die Reform ist ein Reinfall", betonte Marx in einem Gespräch mit unserer Zeitung.

Einen negativen Effekt der neuen Schreibung hat Marx, der an der Universität Leipzig lehrt, bereits in mehreren Vergleichsuntersuchungen mit Grundschülern nachgewiesen. Er werde jetzt noch dadurch verstärkt, dass zwei Bundesländer ausgeschert seien. "Damit bleibt weiter offen, wohin es eigentlich geht", sagte Marx. Das andauernde Nebeneinander von Schreibungen führe zu einer allgemeinen Verunsicherung der Bürger und damit zu vermehrten Falschschreibungen.

"Wenn uns permanent verschiedene Schreibweisen für ein und dasselbe Wort angeboten werden, sind wir nicht in der Lage, eine eindeutige Alternative im Gedächtnis abzuspeichern", erläuterte der Lernpsychologe. "Außerdem bewirkt dies eine Verunsicherung bei Wörtern, die gar nicht von der Reform betroffen sind."

Für die Zukunft riet Marx, "sich nicht noch einmal eine Kommission ans Bein zu binden, die eine dritte Rechtschreibreform anschiebt", sondern die Entwicklung der Schriftsprache einem "natürlichen Ausleseprozess" zu überlassen. Änderungsvorschläge sollten als Alternativen in den Duden eingearbeitet werden, um dann nach einigen Jahren empirisch zu überprüfen, welche Form sich durchgesetzt hat. "Dann kann man eine davon vielleicht streichen."

Als Beispiel führt Marx das Wort "Büro" an, das früher ganz französisch "Bureau" geschrieben worden sei. "Irgendwann wurde es eingedeutscht, und heute schreibt kaum einer noch die französische Form." Das Erlernen von Wortschreibungen vollziehe sich nicht nach den Regeln der Sprachwissenschaftler, sondern laufe beim Lesen auf der Ebene der Wahrnehmung von Buchstabenfolgen ab, resümierte der Wissenschaftler. «


( Neue Osnabrücker Zeitung, 22. Juli 2005 )



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