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23.08.2014
 

Stefan Stirnemann
Diebstahl am «höchsten Seelengut»
Das nationalsozialistische Plagiat einer «Deutschen Stilkunst» hält sich bis heute in den Regalen der Buchhandlungen

1911 erschien Eduard Engels «Deutsche Stilkunst» zum ersten Mal. 1944 veröffentlichte das NSDAP-Mitglied Ludwig Reiners eine eigene «Stilkunst», die wesentlich auf Engels Arbeit beruhte. Sie ist in neuen Auflagen noch heute lieferbar.

Regierungsrat Dr. Emil Weinberg, bis zur Deportation wohnhaft an der Körnergasse 7 in Wien, war der festen Überzeugung, dass «für die Zugehörigkeit zu einem Volke der Sprach-und Kulturkreis massgebend» sei. So schrieb er es 1925 in der Wiener jüdischen Wochenzeitung «Die Wahrheit» unter dem Titel «Die deutschen Schweizer und die deutschen Juden». Er zitierte zur Beglaubigung aus Gottfried Kellers Gedicht «Gegenüber» die Strophe:

Wohl mir, dass ich dich endlich fand,
Du stiller Ort am alten Rhein,
Wo ungestört und ungekannt
Ich Schweizer darf und Deutscher sein!

Weinberg glaubte unerschütterlich daran, dass er im selben Sinne Jude und Angehöriger der deutschen Kulturgemeinschaft sein dürfe. Eduard Engels «Deutsche Stilkunst» war für ihn offenbar ein Schutzbrief, der ihm seine Überzeugung verbürgte, und er besprach die 31. Auflage «dieses bekannten Buches» am 1. Januar 1932 im Beitrag «Juden und jüdisches Schrifttum in Eduard Engels ‹Deutscher Stilkunst›». Er führte diesen Grundsatz Engels an: «Ohne Sprachgefühl kein Volks- und Staatsgefühl: gibt es irgendeine unbezweifelbare Lehre der Weltgeschichte, dann diese. Als die Juden aufhörten, eine eigne Sprache zu reden, hörten sie auf, ein Staatsvolk zu sein und wurden Volkssplitter. Volkstum und Heimat geniessen sie erst wieder, seitdem sie reine Sprachen besitzen.» Und er zitierte u. a., was Engel über Ludwig Börne schrieb: «Immer wieder staunt man: woher hatte jener Jude Löw Baruch, genannt Börne, aus der Frankfurter Judengasse, sein klassisches Deutsch? Des heimatlosen Volkes Sohne war einzig die Deutsche Sprache Heimat und höchstes Seelengut geworden.» Weinberg empfahl Engels Buch der Jugendgruppe der «Union österreichischer Juden» als Anregung und Ermutigung im Kampf um die bürgerliche Gleichberechtigung. Wer war der Autor dieses Buches?

Fontanes und Raabes Entdecker

Eduard Engel (1851–1938), ein Deutscher jüdischer Herkunft, nennt seine «Deutsche Stilkunst», die erstmals 1911 erschien, das «Ergebnis der Erfahrungen eines Schreibers, der sich durch mehr als ein Menschenalter um Sprache und Stil bemüht hat». Engels Erfahrung war vielfältig: Als Herausgeber des «Magazins für die Literatur des In- und Auslandes» schrieb er «Literaturvermittlungsgeschichte», wie Anke Sauter in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2000 feststellt; er habe Theodor Fontane als Erzähler entdeckt und Wilhelm Raabe, Detlev von Liliencron, Emil Zola und Edgar Allan Poe gefördert. Er veröffentlichte auflagenstarke Literaturgeschichten verschiedener Sprachen.

Als Beamter war er mehr als dreissig Jahre Stenograf des deutschen Parlaments: «Von mir ging die Kunde, ich könnte selbst mit einem Besenstiel stenografieren; aber das war erfunden.» In diesem amtlichen Dienst habe er, so schreibt er, Zehntausende langer und kurzer Reden pflichtmässig auf ihre Form geprüft. Engel hing an seinem Vaterland; in seiner «Geschichte der Deutschen Literatur» kreidete er es Carl Spitteler an, dass er «öffentlich gegen die Deutsche Regierung und das um sein Dasein ringende Deutsche Volk auftrat». Spitteler hatte 1914 zu «neutraler Zurückhaltung in freundnachbarlicher Distanz» gegenüber Deutschland aufgerufen. 1931 wurde Engel Ehrenmitglied des Deutschen Sprachvereins und teilte diese Ehre mit Bismarck, Hindenburg, dem Germanisten Behaghel und dem Dichter Peter Rosegger.

Heute ist Eduard Engel vergessen, und wer nach einer «Stilkunst» sucht, findet als Autor Ludwig Reiners. Reiners (1896–1957) war Textilindustrieller und Mitglied der NSDAP und verfasste Bücher zu ganz unterschiedlichen Themen: «Fontane oder die Kunst zu leben» (1939), «Steht es in den Sternen? Eine wissenschaftliche Untersuchung der Astrologie» (1950), «Fräulein, bitte zum Diktat» (1953). Im zweiten Band seiner «Wirklichen Wirtschaft» (1933) begrüsste er den nationalsozialistischen Umsturz und schrieb: «Denn – wie der Führer es in glasklarer Kürze formuliert hat – es ist besser, die Arbeit zu verteilen als ihre Ergebnisse.» 1944 veröffentlichte Reiners eine eigene «Deutsche Stilkunst», die seit der zweiten Auflage von 1949 nur noch «Stilkunst» heisst und als Standardwerk gilt. In wesentlichen Teilen ist sie aber ein Plagiat, begangen an Eduard Engel und weiteren Autoren. Nach dem Untergang des «Dritten Reiches» war Reiners politisch so belastet, dass ihn die Amerikaner, wie ein Freund von ihm, der Schriftsteller Eugen Roth, vorwurfsvoll schreibt, «nicht nur von seinem Posten, sondern auch aus seiner grossen Villa am Isarhochufer verjagten» – vorübergehend, wie in einem «Spiegel»-Artikel von 1957 vermerkt wird.

Einige Beispiele verdeutlichen den Charakter des geistigen Diebstahls. Engel schreibt im Abschnitt über das Adjektiv (bzw. Beiwort): «Wenn des Aristoteles Bericht der Wahrheit entspräche, in des Alkibiades Reden seien die Beiwörter nicht bloss eine Würze, sondern die Hauptkost gewesen, so wäre Alkibiades ein eitler blumiger Schwätzer gewesen – zur Bestätigung des Satzes, dass der Stil der Mensch selber ist.» Auch Reiners hat einen Abschnitt über das Adjektiv: «Es ist kein Zufall, dass – nach dem Zeugnis des Aristoteles – gerade der schillerndste Charakter des Altertums das Beiwort zum Kern seines Stiles gemacht hat, nämlich Alkibiades.» Nun ist es so, dass Engel zwei Namen verwechselt hat, Aristoteles kritisiert nicht Alkibiades, sondern Alkidamas; Engel berichtigte den Irrtum in der letzten Auflage.

Plagiate und Irrtümer

Es ist typisch für Reiners, dass er blind abschreibt und, was er abschreibt, ein wenig ausgestaltet. So schrieb Engel im Abschnitt übers Diktieren: «Goethe hat mehr als 50 Jahre nur diktiert und mochte zuletzt überhaupt nicht mehr anhaltend selbst schreiben.» Und Reiners: «Goethe hat alles diktiert, mochte zuletzt überhaupt nicht mehr anhaltend schreiben und hatte keinen eigenen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer.» Zur Wahl des richtigen Adjektivs bietet Reiners den kleinen Aphorismus: «Wer es sucht, findet es schwerlich.» Auch hier schmückt er sich mit fremden Federn; der Satz ist von Jean Paul, und gefunden hat ihn Reiners in der «Deutschen Stilistik» von Richard Moritz Meyer. Meyer (1860–1914), aus jüdischer Familie, war Germanist und Förderer Nietzsches. Auch sein Buch fiel Reiners in die Hände. Der literarische Dieb stiehlt den Opfern ihre Leistung und weckt den Verdacht, dass er zur eigenen nicht fähig ist.

Ausser zahllosen Plagiaten bietet Reiners in seiner laienhaften Oberflächlichkeit viele Irrtümer. Bildungsstolz schreibt er: «Wir können diese Betrachtung nicht besser abschliessen als mit den weisen Worten Goethes: ‹Was wir einen glänzenden Gedanken nennen, ist meist nur ein verfänglicher Ausdruck, der uns mit Hilfe von ein wenig Wahrheit einen verblüffenden Irrtum aufzwingt›.» Die weisen Worte stammen vom französischen Moralisten Vauvenargues, übersetzt hat sie Fritz Schalk.

Dass Engels Werk damals vorbildlich war, zeigt der Autor Emil Lobedank. Er liess 1932 eine «Deutsche ärztliche Stilkunst» erscheinen und schrieb einleitend: «Selbstverständlich habe ich mich bemüht, eine selbständige Arbeit zu schaffen. Trotzdem konnte und wollte ich nicht verhindern, dass Engels Werk als Vorbild meines Versuchs erkennbar ist. Engel selbst wird mich darum nicht schelten, sondern mein Bemühen zu seinen Erfolgen zählen.» Reiners ging anders vor als der ehrliche Lobedank. Und im «Dritten Reich» durfte es keine Erfolge jüdischer Menschen geben, die mit eigenem Bemühen fortzusetzen waren.

In seiner «Deutschen Stilkunst» redete Engel die Jugend an: «O dass ich noch jung wäre wie ihr, die ihr jetzt in den Hörsälen auf den Bänken sitzet, auf denen ich im Werdejahr des jungen Deutschen Reiches gesessen! Kampffreudig wie ich schon damals war, würde ich einen Studentenverein ‹Deutsche Sprache› gründen.» Die «Deutsche Studentenschaft» antwortete 1933 mit dem Aufruf «Wider den undeutschen Geist»: «Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er.» 1936 veröffentlichte Gerhard Baumann (1912–1996) «aus dem Geiste der Hitler-Jugend», wie ein Rezensent schrieb, sein Pamphlet «Jüdische und völkische Literaturwissenschaft. Ein Vergleich zwischen Eduard Engel und Adolf Bartels». Der Antisemit Bartels (1862–1945) verfasste Literaturgeschichten; ihm war es ein Anliegen, das Judentum von Autoren festzustellen, und er führte diese Arbeit unter dem Schlagwort der «reinlichen Scheidung» von Juden und Deutschen durch.

Auslöschen durch Verschweigen

Baumann nun warf Engel vor, dass er «mit allen Mitteln die von Bartels eingeführte rassische Betrachtung der Literaturgeschichte zu verneinen sucht», und folgerte, «dass er uns niemals völkischer Erzieher sein kann». Der Kampf zwischen Bartels und Engel sei «durch die Gründung eines deutschen Staates» entschieden. 1936 war die Lage so: Es gab eine erfolgreiche «Deutsche Stilkunst», vorbildlich im Konzept und in der Auswahl und Ausführung der Themen, deren Autor verfemt war, ein namenloses Buch. Das war die Stunde des Parteigenossen und Laienschriftstellers Ludwig Reiners; was der Jude nicht mehr sagen durfte, das konnte nun der Arier sagen.

Reiners führte Engels Namen nur einmal auf, in seinem Literaturverzeichnis, und behauptete, er habe diesem und den übrigen Werken einige Beispiele entnommen. Die Stellen, die Regierungsrat Weinberg 1932 gesammelt hatte, übernahm er nicht. Heinrich Heine, den Judenheiligen, wie Gerhard Baumann ihn nannte, behandelte er nur kurz und abwertend; alles Jüdische schnitt er weg. Engel erzählt in seinem Buch «Was bleibt?», einer persönlichen Sichtung der Weltliteratur, eine Anekdote über den Schriftsteller Karl Gutzkow: «Dem Schreiber dieses Buches hat Julius Rodenberg, ein glaubwürdiger Ohrenzeuge, erzählt, dass in einer Nacht zu Weimar Gutzkow die Faust stolz gegen das Denkmal Goethes und Schillers von Rietschel emporgestreckt hat mit dem ruhmbewussten denkwürdigen Ausruf: ‹Neunbändige Romane habt Ihr nicht geschrieben!›»

Reiners schrieb die Anekdote ab, nannte aber Julius Rodenberg, den Juden, nicht. An einer Stelle benannte er höhnisch einen jüdischen Beitrag: «Nur bei längeren Sätzen können wir das Verb voranziehen. In kürzeren klingt das Voranziehen wie Judendeutsch: Ich habe gemacht ein feines Geschäft.» In der neuesten Bearbeitung (2004, Beck-Verlag) ist der Satz entschärft: «In kürzeren klingt das Voranziehen befremdlich: Ich habe getrunken einen guten Wein.»

Was in der Formel der «reinlichen Scheidung» angelegt war, zeigte der Mörder Heinrich Himmler. 1943 sagte er zu SS-Offizieren: «Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse entfernt. Es ist eine Reinlichkeitsangelegenheit. Wir haben nur noch 20 000 Läuse, dann ist es vorbei damit in ganz Deutschland.» Eduard Engel starb wahrscheinlich eines natürlichen Todes. Richard Moritz Meyers Frau, Estella Meyer, die jeweils als erste seine Manuskripte las, also wohl auch seine «Deutsche Stilistik», wurde 1942 im Osten ermordet. Regierungsrat Emil Weinberg wurde mit seiner Frau Gabriele am 28. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert; das «Vermögensverzeichnis in die Ostgebiete evakuierter Juden», mit dem die beiden ihren Mördern ihr Geld auszuliefern hatten, mussten sie mit dem Namenszusatz unterschreiben, den die Behörden im Sinne der «reinlichen Scheidung» allen Juden aufzwangen: Israel und Sara. Auf Emil Weinbergs «Todesfallanzeige» vom 14. November 1942 steht als Todesursache «Herzlähmung».

Wie ist Reiners einzuschätzen? Ist er der nicht ungeschickte Laie, der bei aller fachlichen Unbedarftheit und Oberflächlichkeit aus Büchern seiner Vorgänger ein erfolgreiches Buch zusammenstellte? Auch Eduard Engel steht in einer Tradition und hat, wie es zur Textsorte des Stilbuches gehört, manches übernommen, Begriffe, Themen und Beispiele. Reiners muss anders gesehen werden. Er hat Eduard Engel bestohlen, um ihn zu ersetzen. Mit dem Diebstahl an ihm und anderen hat er den Wert der Arbeit gerade jener Menschen anerkannt, die im Nationalsozialismus als minderwertig und lebensunwert galten. Er hat die rassistische Wahnidee der «reinlichen Scheidung» verwirklicht und den Namen jüdischer Menschen, die nicht gefragt wurden, wie sie selber ihr Judentum verstanden wissen wollen, vernichtet. Seine «Stilkunst» ist Teil des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms.


Quelle: Neue Zürcher Zeitung
Link: http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/diebstahl-am-seelengut-1.18368344


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