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14.03.2013
 

Wolfgang Steinig im Gespräch mit Manfred Götzke
Schüler schreiben mit mehr Fehlern – aber fantasievoller
Studie vergleicht Schüleraufsätze von 1972 und 2002

Der Germanist Wolfgang Steinig kritisiert, "dass wir so wenig tun an unseren Schulen für Kinder aus sozial schwachen Familien". Beim Vergleich der Qualität von Schüleraufsätzen von 1972 und 2002 zeige sich, dass die Schere zwischen den Schichten weiter auseinander gehe.

Manfred Götzke: Auch früher war früher alles besser. Kulturpessimismus ist ein 1.000 Jahre altes Phänomen, aber es ist nicht wegzukriegen, vor allem, wenn es um die Sprache und deren vermeintlichen Verfall geht. Auch das Institut für deutsche Sprache hat sich heute auf seiner Jahrestagung mit dem Sprachverfall beschäftigt und gefragt: Was ist Verfall, was Dynamik und was natürlicher Wandel? Unter dieser Fragestellung hat sich der Germanist Wolfgang Steinig von der Universität Siegen Texte von Viertklässlern aus vier Jahrzehnten genau angeschaut und untersucht: Schreiben Schüler heute wirklich schlechter als vor 40 Jahren? Herr Steinig, die Frage Ihrer Untersuchung, die ist natürlich provokativ. Was heißt denn schlecht für Sie?

Wolfgang Steinig: Das ist natürlich ein provokativer Einstieg, den ich da gewählt habe. Linguisten haben immer Probleme mit schlechter und besser, nicht? Was man in der Regel feststellen kann, ist, dass sich die Schriftlichkeit von Schülern verändert. Schüler schreiben heute einfach anders als in den 70er-Jahren. Was wir auf jeden Fall sagen können, ist, dass die Rechtschreibung sich wirklich verschlechtert hat. Allerdings - und das muss man dann immer sofort auch dazu sagen -, dieser Effekt ist sehr stark schichtspezifisch, das heißt, Kinder aus der sozialen Unterschicht, die machen enorm viele Fehler, sehr, sehr viel mehr Fehler als in den 70er-Jahren. Das heißt, die soziale Schere ist gerade bei der Rechtschreibung enorm auseinandergegangen.

Götzke: Woran liegt das denn ihrer Meinung nach?

Steinig: Da gibt es sicherlich viele Gründe dafür, auch ökonomisch driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Da ist es dann auch, denke ich, kein Wunder, dass sich das auch in den Leistungen der Schüler spiegelt. Wir haben es mit einer Situation zu tun, wo das Gymnasium, also der Übertritt in das Gymnasium so unglaublich wichtig ist, dass vor allen Dingen Eltern, die den Wert des Gymnasiums richtig einschätzen, gewissermaßen als Eintrittskarte in ein besseres, finanziell abgesichertes Leben, die tun alles für ihre Kinder, damit die das schaffen. Und die Rechtschreibung ist halt ein ganz hartes Faktum, das oft genau eine Empfehlung für das Gymnasium verhindern kann. Wenn einfach zu viele Fehler in einem Text sind, dann sagt die Lehrerin, also das Kind ist vielleicht gerade noch Realschule oder Hauptschule, aber mehr ist nicht drin.

Götzke: Herr Steinig, jetzt haben Sie ja nicht nur Rechtschreibfehler gezählt in Ihrer Studie, Sie haben ja auch im weitesten Sinne die Qualität von Texten untersucht. Wie haben Sie das denn gemacht?

Steinig: Ja, wir haben also beispielsweise mit Computeranalysen den Wortschatzumfang analysiert. Und da hat sich herausgestellt, dass Texte aus 1972 im Vergleich zu Texten von 2002, dass da der Wortschatzumfang sehr stark angestiegen ist. Wiederum auch schichtspezifisch in einer höchst unterschiedlichen Weise, das heißt, die Kinder, die 2002 eine Gymnasialempfehlung bekommen haben und aus der oberen Mittelschicht kommen, die sind die Gewinner des Systems. Deren Texte sind interessanter zu lesen, der Wortschatz ist geradezu explodiert. Aber Kinder, die eine Hauptschulempfehlung haben, Eltern aus der Unterschicht, sozialen Unterschicht, kommen, da hat sich im Wortschatz nichts verbessert, stagniert auf niedrigem Niveau.

Götzke: Kann man grundsätzlich sagen, insgesamt schreiben die Kinder weniger korrekt, was die Rechtschreibung angeht, aber fantasievoller?

Steinig: Ja, vor allen Dingen also die Kinder aus höheren sozialen Schichten. Nicht, also das, die sind selbstbewusster geworden, das zeigen jetzt unsere allerneusten Daten, da haben sich auch die Textsorten teilweise verändert, da finden Sie jetzt also viel stärker kommentierende Texte, nicht? Die Kinder sind irgendwie freier geworden, Texte werden einfach variabler. Und ich denke, da spielt möglicherweise das Internet eine Rolle. Denken Sie an Kommentierungen im Internet, das ist sehr vielfältig geworden, Menschen schreiben klein, fehlerhaft, hauen irgendwelche Meinungen raus. Und das scheint langsam auch schon in die Grundschule einzudringen - langsam.

Götzke: Wir müssen vielleicht noch mal ganz kurz klären, wie Sie das untersucht haben. Sie haben einen Film gezeigt, 1972 den gleichen wie 2012, und dann sollten die Kinder einen Text dazu abliefern.

Steinig: Genau.

Götzke: Was waren so die größten Unterschiede, die Sie festgestellt haben, '72, 2002, 2012, was die Textarten angeht?

Steinig: Ja, also Texte aus dem Jahr 1972, die waren eher in einem nüchtern-berichtenden Modus geschrieben, die waren auch kürzer - nüchterner, kürzer, berichtender. 2002 wurden die Texte fantasievoller, kreativer, erzählerischer, sie bekamen also ... man fand sehr viel häufiger wörtliche Rede in den Texten, Spannungselemente wurden sprachlich gestaltet, also das hat sich enorm verbessert. Und jetzt, 2012, finden wir sehr viele kommentierende Texte. Da schreibt einfach ein Kind, ich fand den Film doof - ein Satz, fertig, ab.

Götzke: Sie haben das ja gerade schon angedeutet, das könnte ja möglicherweise tatsächlich mit Schreibkulturen zusammenhängen, die sich auch irgendwie über Facebook, Twitter, wo man ja vor allem auch kommentiert ...

Steinig: Ja, genau, ja, Kinder, Jugendliche, heute Erwachsene auch, leben heute in einer Zeit, wo wahrscheinlich so viel geschrieben wird wie noch nie zuvor. Man sieht überall Menschen mit allen möglichen Medien irgendwelche Tastaturen bedienen, die irgendetwas von sich geben und ins Netz schicken. Also das Schreibverhalten hat enorm angezogen.

Götzke: Der Titel Ihrer Tagung heißt "Sprachverfall?". Das Fragezeichen könnte man vielleicht streichen, aber vielleicht auch das Wort?

Steinig: Ja, völlig, also Sprachverfall, mit dem Begriff kann man gar nichts anfangen, das ist einfach ein unwissenschaftlicher Begriff, ich finde den einfach nicht passend, so einen Begriff, für eine wissenschaftliche Tagung.

Götzke: Also Kulturpessimismus ist nicht angezeigt?

Steinig: Das bringt uns sowieso nicht weiter. Was uns umtreibt - mich vor allen Dingen als Sprachdidaktiker umtreibt -, dass wir so wenig tun an unseren Schulen für Kinder aus sozial schwachen Familien.

Götzke: Die Schüler schreiben heute oft weniger korrekt, dafür aber spannender und fantasievoller, sagt der Germanist Wolfgang Steinig von der Uni Siegen.


Quelle: Deutschlandfunk
Link: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/campus/2041412/


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Kommentare zu »Schüler schreiben mit mehr Fehlern – aber fantasievoller«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2013 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9285

Also nichts Neues, vgl. www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=966.

Die Rechtschreibreform kann Steinig natürlich nicht erwähnen, als Freund der Siegener Reformer und erst recht in einem Vortrag am IDS.


Kommentar von Pt, verfaßt am 15.03.2013 um 19.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9287

In einem Land wie Deutschland ist es relativ leicht, wenn schon nicht an der Schule, so doch in öffentlichen Bibliotheken an gute Literatur zu kommen, um damit seine Sprachfertigkeiten zu entwickeln.

Darum wundert es mich immer wieder, warum sich Sprachwissenschaftler immer so extrem für die soziale Zugehörigkeit von Schülern interessieren bzw. in solchen Diskussionen immer wieder suggerieren, daß dies einen Einfluß auf Sprach- und Rechtschreibfertigkeiten hätte, schließlich können doch alle Eltern ihre Kinder zum Lesen anhalten. Es wird zwar immer auch darauf verwiesen, daß es auch andere Gründe geben könnte, aber dann immer auf eine engstirnige und überholte Schichtzugehörigkeit verwiesen. Leben diese ''Wissenschaftler'' wirklich in unserer Zeit?

Es wäre daher wünschenswert, wenn sich solche Leute auch mal mit den anderen Gründen für schlechte Leistungen an den Schulen auseinandersetzen würden, auch wenn das für Germanisten, etc. ein ungewohntes Feld ist. Eine interessante Fragestellung wäre z. B., inwieweit Mobbing an den Schulen die Leistung der Schüler reduziert, insbesondere auch die Deutsch- und Rechtschreibleistungen. Damit könnte man dann einschätzen, wie groß der Einfluß von Rechtschreibnormen auf die schulische Leistung wirklich ist.

Mobbing kann die Leistungen des Opfers sehr stark reduzieren, ich habe von einem Fall in meiner Bekanntschaft gehört, daß ein Schüler dadurch überall auf Note 6 gefallen war; von möglichen Schulschießereien wie in Winnenden ganz zu schweigen.

Bezeichnend ist auch das manipulative Vorgehen des Interviewers: Er gibt ''weniger korrekt'' und ''fantasievoller'' vor, legt es Herrn Steinig geradezu in den Mund. Das wird dann als Überschrift benutzt und gegen Ende als eine Art Fazit. Das nimmt dann der Aussage, daß die Schüler mit mehr Fehlern schreiben, ihre Schärfe, denn phantasievoll ist ein positiv besetztes Wort, und an Regeln möchte sich heute eh keiner mehr halten. Wir sind ja so cool!

Und was bedeutet ''Und da hat sich herausgestellt, dass Texte aus 1972 im Vergleich zu Texten von 2002, dass da der Wortschatzumfang sehr stark angestiegen ist.''? Wo ist der Wortschatz sehr stark angestiegen?

Auch dieses Argument ist manipulativ, da es durch die Einführung des Computers, des Internets. Handies, SMS, Compterspiele, durch exzessieves Ansehen von Fernsehserien aller Art etc. und die dadurch entstandene Explosion an Begriffen es leichter geworden ist, irgendwas Interessantes zu schreiben.

Die Leute sind ingesamt selbstsbewußter geworden, das war ja das Ziel der Erziehung in den letzten Jahrzehnten. Kommentieren ist einfach, gerade dann, wenn es nicht weiter begründet zu werden braucht: ''Da schreibt einfach ein Kind, ich fand den Film doof – ein Satz, fertig, ab.''


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.03.2013 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9290

Fantasievoll dürfte durchaus von Steinig stammen, er hat es auch früher schon in diesem Zusammenhang benutzt. Solche Interviews werden ja oft gar nicht wirklich geführt, sondern der Journalist macht aus einem bereits vorliegenden Text ein Frage- und Antwortspiel und mailt das Ergebnis dem Interviewten zwecks Genehmigung. Manchmal kommt ein Anruf hinzu, das muß aber nicht sein.


Kommentar von MG, verfaßt am 18.03.2013 um 00.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9292

| Solche Interviews werden ja oft gar nicht wirklich geführt,

In diesem Fall wurde das Interview so geführt, auf der angegebenen Internetseite findet sich ja ein Podcast.

Ärgerlich, wenngleich typisch ist der politische Unterton des Interviews.


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 19.03.2013 um 11.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9295

Solche Sätze wie "... also das Kind ist vielleicht gerade noch Realschule oder Hauptschule..." erinnern mich irgendwie an eine Imbißbude: im Ruhrgebiet: "Wer ist die Pommes und wer ist die Currywurst?"

Auch ansonsten wirkt das ganze Interview auf mich reichlich gestammelt und wenig fundiert.


Kommentar von ppc, verfaßt am 21.03.2013 um 10.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9301

Die FAZ schreibt zu dem Thema sinngemäß, daß die Schüler ihre mangelnde Rechtschreibfähigkeit durch einen größeren Wortschatz "kompensieren". Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Verbessert sich die Lesbarkeit eines gruselig falsch geschriebenen Textes dadurch, daß noch mehr falsch geschriebene Wörter darin vorkommen? Ich denke, die FAZ traut sich nur nicht zu schreiben: "Die Rechtschreibung der Schüler ist schlecht, und auch wir sind daran schuld."


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2013 um 07.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9307

Auch der SPIEGEL hat sich nun der Untersuchung Steinigs angenommen (siehe hier). Dazu darf auch die Schreibdidaktikerin Renate Valtin ihren bekannten Standpunkt vertreten. Die Rechtschreibreform wird nicht erwähnt, wie gewohnt.

Manche Leser kritisieren mit Recht die Behauptung, die Schüler seien immerhin kreativer, "fantasievoller", selbstbewußter geworden. Das ist nicht operationalisierbar, als Indikator dient der Wortschatz, was offensichtlich Unsinn ist.

Meiner Ansicht nach erklärt sich die Verschlechterung der Rechtschreibung zum einen daraus, daß weniger gelesen wird, zum anderen aus der teilweise reformbedingten Unlust der Lehrer, die Kinder zur richtigen Schreibung zu erziehen. Das hat allerdings schon vor der Reform angefangen, nämlich mit der bekannten Diffamierung solcher angeblich inferioren Fertigkeiten, die auch zur Reform führte. (Ich habe das seit meinem Schildbürgerbüchlein ausführlich belegt.)

Ich habe sehr viele Lehrer kennengelernt, die ungefragt gestanden, sich mit der reformierten Rechtschreibung nicht mehr auszukennen. Sie hätten auch weder Zeit noch Lust, allen Wendungen der Reformer zu folgen. Außerdem kämpften sie heutzutage mit ganz anderen Problemen (Stichwort "selbstbewußte Schüler").

Der Schaden, den die Rechtschreibreform hier angerichtet hat, ist also schwer zu trennen von den Folgen jenes Zeitgeistes, der seinerseits erst die Reform hervorgebracht hat. Traurigerweise fiel die Durchsetzung der Reform in eine Zeit, die sich schon wieder stark gewandelt hatte und einer solchen Reform eigentlich nicht günstig war. Aber die langsam mahlenden Mühlen der KMK waren nicht mehr davon abzubringen.


Kommentar von Pt, verfaßt am 30.03.2013 um 13.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9308

Das Wort ''selbstbewußt'' kann natürlich vielerlei Bezug haben: auf das Privatleben, auf die Schule, auf eigene Interessen – im Gegensatz zu den Interessen anderer oder der Allgemeinheit, auf Politik, Umweltschutz, etc.

Anfang der 80er Jahre stand ''selbstbewußt'' für eine Eigenschaft des ''mündigen Bürgers'', d. h. das Aufbegehren des Einzelnen gegen Startbahn West und WAA, Verweigerung von Zwangsdiensten, Einsatz für den Frieden, z. B. Teilnahme an Ostermärschen, Menschenketten, Mahnwachen; das Ziel des Wortes war als extern, genauer: die Staatsmacht.

Heute bezieht sich ''selbstbewußt'' auf eher private Interessen, das Ziel ist also mehr ''intern'', liegt mehr im Persönlichen. Man akzeptiert die Staatsmacht, meint vielleicht, sich gegen sie zu wenden oder sie zu kritisieren, indem man die RSR praktiziert, siehe dazu z. B. den Erfolg der RSR im universitären Bereich, insbesondere bei den ASten, von denen man am ehesten Widerstand erwartet hätte. Dabei war es doch ein staatliches Gremium, die Kultusministerkonferenz, die die RSR gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt hat.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.03.2013 um 16.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9309

Wissenschaftlich exakt und fair wäre die Auswertung, wenn sie zwischen allgemeingültigen Rechtschreibfehlern und Mißachtungen der Rechtschreibreform unterscheiden würde. Ich halte nur die ersteren für wirkliche Fehler, weil die Reform-Regeln sich mehrfach geändert haben und deswegen eigentlich von niemandem mehr wirklich ernstgenommen werden. Demnächst kann gemäß Reform falsches ja wieder richtig sein. Wer die Reform nicht mehr ernstnimmt, kommt möglicherweise zu kreativen Neuschöpfungen.


Kommentar von MG, verfaßt am 02.04.2013 um 00.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9311

SPIEGEL ONLINE
28. März 2013, 18:53 Uhr

Rechtschreibung bei Schülern
"Ich fant den Film gemein"

Von Frauke Lüpke-Narberhaus

Früher war alles besser - auch die Rechtschreibung? Um das herauszufinden, verglich der Germanistik-Professor Wolfgang Steinig Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten. Das Ergebnis: Ja, die Kinder machen mehr Fehler. Sie schreiben aber auch viel kreativer.

Sie tippen LOL, wenn sie etwas lustig, und OMG, wenn sie etwas furchtbar finden. Sie schreiben beim Chatten konsequent klein, und Kommas kosten auch nur Zeit. Die Pessimisten nörgeln schon lange, dass die Jugend von heute kaum noch etwas kann - Rechtschreibung sowieso nicht. Stimmt das?

Um dieser Frage nachzugehen, hat Wolfgang Steinig, Professor für Germanistik an der Uni Siegen, Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten miteinander verglichen. Das Fazit: Schüler machen heute mehr als doppelt so viele Rechtschreibfehler wie vor vierzig Jahren. "Die Ergebnisse sind dramatisch", sagt er.

Vor vierzig Jahren, damals studierte er noch, hatte Steinig einen Film mit einer Super-8-Kamera für einen Unterrichtsversuch gedreht. Drei Jungen nehmen einem Mädchen die Puppe weg, werfen sie sich gegenseitig zu, eine Frau mischt sich ein und rügt die "Lümmel". Das ist die Geschichte, etwa zwei Minuten dauert sie.

Dreimal hat Steinig diesen Film Viertklässlern zeigen lassen, 1972, 2002 und 2012. Jedes Mal hatten die Schüler danach eine Schulstunde Zeit, darüber zu schreiben. Inhaltlich sollten die Lehrer keine Vorgaben machen, ob sie sich daran gehalten haben, konnten Steinig und sein Team nicht überprüfen; denn sie selbst haben das Klassenzimmer nie betreten, um die Schüler nicht zu irritieren, sie hätten dann vielleicht die Ergebnisse verfälscht.

Die Studie ist für Deutschland nicht repräsentativ, denn es haben nur Schüler aus zwei nordrhein-westfälischen Städten teilgenommen. Das Bundesland landet in Rankings meist eher im Mittelfeld, zuletzt beispielsweise beim Grundschulleistungsvergleich, Schüler in Bayern oder Sachsen hätten in den Aufsätzen womöglich besser abgeschnitten. Und trotzdem ist die Studie interessant, schließlich haben die Forscher eine stattliche Datenmenge gesammelt: 1972 haben 254 Schüler von vier verschiedenen Grundschulen teilgenommen, 2002 Jahre waren es 276 Schüler von fünf Schulen und 2012 mehr als 400 Schüler von acht Schulen, die vier Grundschulen vom ersten Jahr beteiligten sich dabei jedes Mal.

Steinig und sein Team analysierten unter anderem, wie die Schüler ihre Texte heute und früher aufgebaut haben, wie sich das Schriftbild verändert hat, wie viele Rechtschreibfehler sie früher gemacht haben, wie viele sie heute machen und wie sich die soziale Herkunft auf die Rechtschreibung auswirkt. Die Aufsätze von 1972 und 2002 haben sie bereits zuvor verglichen und das Resultat in einem Buch veröffentlicht. Die ersten Ergebnisse des Vergleichs 1972 - 2002 - 2012 haben sie bei der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache Mitte März vorgestellt, weitere Ergebnisse sollen folgen. Weil der Rat für deutsche Rechtschreibung die Studie fördert, konzentrierten die Forscher sich zunächst auf die Orthografie.

Die zentralen Ergebnisse:

* Die Rechtschreibfähigkeiten haben sich stark verschlechtert: 1972 kamen auf 100 Wörter im Mittel 6,94 Rechtschreibfehler, zehn Jahre 12,26 Fehler und zuletzt 16,89 Fehler.

* Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, machten 2012 nur geringfügig mehr Fehler als Kinder, die einsprachig aufwachsen (16,54 Fehler versus 17,3 Fehler pro 100 Wörter). Zehn Jahre zuvor war die Diskrepanz hier noch höher (11,36 Fehler versus 14,92 Fehler pro 100 Wörter).

* Schüler gestalten ihre Texte heute anders als früher: 1972 berichteten sie vor allem, 2002 erzählten sie und 2012 kommentierten sie häufig. "Ich fant den Film gemein", schrieb beispielsweise ein Schüler (weitere Textbeispiele lesen Sie hier).

* Jungen machten schon immer etwas mehr Rechtschreibfehler als Mädchen.

* Die Kluft zwischen den sozialen Schichten hat sich vergrößert: Schüler aus der bildungsfernen Schicht machen heute wesentlich mehr Fehler als vor vierzig Jahren. 1972 waren es im Mittel 7,23 Fehler und jetzt 20,47 Fehler auf 100 Wörter.

Besonders der letzte Punkt bereitet Wolfgang Steinig Sorgen: Denn damit zeigt seine Studie wieder einmal, dass es Deutschlands Schulen nicht gelingt, die schwächsten Schüler ausreichend zu fördern. Das bekamen sie zuletzt von den Iglu- und Timss-Studien bescheinigt. "Den schwächeren Schülern müsste man ganz anders helfen, als es bisher geschieht", sagt Steinig. Dabei sei eher unwichtig, ob ein Kind aus einer Zuwandererfamilie komme: "Ein Kind aus einer türkischen Arztfamilie hat normalerweise keine Probleme beim Schreiben", sagt Steinig. Ein deutschsprachiges Kind aus einer Arbeiterfamilie benötige aber meist viel Hilfe.

Und wie lassen sich die Ergebnisse erklären? Zum Teil vermutlich tatsächlich, weil Schüler heute viel und schnell simsen, chatten, mailen - und weil selbst ihre Eltern dabei oft nicht besonders auf die richtige Schreibweise achten. Warum also sollten die Kinder sich anstrengen?

Gleichzeitig tragen aber wohl auch die Lehrer eine Mitschuld: "Viele legen heute mehr Wert aufs Lesen", sagt die Schulforscherin Renate Valtin. Die Professorin gehörte 2006 zum Iglu-Wissenschaftlerteam, das damals auch bundesweit die Rechtschreibung von Grundschülern überprüft hat: In einem Test mit 35 Wörtern schrieben die Kinder im Durchschnitt beinahe die Hälfte falsch - damit waren die Ergebnisse immerhin noch etwas besser als in der ersten Iglu-Studie fünf Jahre zuvor. In vielen Schulen herrsche die Devise: Schreib, wie du sprichst, den Rest lernst du später, sagt Valtin. Offensichtlich ein Trugschluss.

Immerhin, das zeigt Steinigs Studie auch, ist nicht alles schlechter geworden: Die Schüler würden heute oft freier schreiben, kreativer und phantasievoller, viele kommentierten den Film. "Das zeigt, sie sind selbstbewusster und meinungsstärker", sagt Steinig. "Das ist doch auch positiv." Dabei kommt es allerdings vor, dass die Kinder offensichtlich Schulaufsatz und E-Mail verwechseln, so wie diese Schülerin, die schreibt: "der ganze Film war Okey. :-) Schöne Grüße Sarah."


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.04.2013 um 06.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9313

Das stärkere Selbstbewußtsein der Schüler könnte damit zusammenhängen, daß sowohl bei der reformierten Rechtschreibung als auch bei der Bedienung des Computers der Wissensvorsprung des Lehrers und der Eltern weggefallen ist oder sich umgekehrt hat. Darauf haben ja die Kultusminister selbst oft sehr zufrieden hingewiesen. Als Grundschüler sangen wir das freche Liedchen "Unser Lehrer ist genau so dumm wie wir." In den Zeitungen müssen die Lehrer täglich lesen, daß der Unterricht, den sie bisher gegeben haben, Mist war und nun endlich Reformen stattfinden müssen. Kein Wunder, daß sie immer kleinlauter werden.


Kommentar von Pt, verfaßt am 03.04.2013 um 12.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9314

Bei der reformierten s-Schreibung besteht dieser Wissensvorsprung aber immer noch, siehe Logikfalle.

Vorschlag für eine Hymne der Kultusminister: "Uns're Lehrer sind genau so dumm wie wir."


Kommentar von Germanist, verfaßt am 03.04.2013 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9315

Wenn die Schüler zu selbständigem logischen Denken ausgebildet werden sollen, ist eine Rechtschreibung, die wie ein Dogma nur glauben und gehorchen zuläßt, für deutsche Schüler fehl am Platz.


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.04.2013 um 16.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9316

Für mich steht die Hauptursache des Leistungsabfalls von Schülern schon lange fest, es ist die permanente Disziplinverschlechterung.

Früher haben wir in der Schule noch stillgesessen, der Lehrer stand vor der Klasse und hat den Ton angegeben.
Heute ist sogenannter Frontalunterricht verpönt, die Schüler machen in der Schulstunde, was sie wollen, der Lehrer braucht ein Drittel der Zeit, um überhaupt etwas Ruhe reinzukriegen. Lehrer haben keine Autorität mehr. Bekommt ein Schüler eine schlechte Note, beschwert sich anderntags der Vater beim Direktor und bekommt recht. Im Elternabend darf ja kein Schüler namentlich wegen Schulleistungen oder schlechten Betragens kritisiert werden, sonst flattert dem Lehrer umgehend eine Beleidigungsklage ins Haus. (Früher haben Eltern die kleine Schmach statt dessen anschließend mit ihren Kindern ausdiskutiert, das hat noch eher geholfen.) Dazu kommt der massenhafte Unterrichtsausfall.
Statt für normale Verhältnisse zu sorgen, denken sich die Kultusminister einen "Fortschritt" nach dem andern aus: Rechtschreibreform, Abschaffung der Schreibschrift, G9, Unterricht im Kreis, kein Sitzenbleiben mehr, Zensuren abschaffen, ...
Warum ist Finnland besser? Weil es dort in den Schulen eben nicht wie im Zirkus zugeht.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 03.04.2013 um 19.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9317

Ob ein Lehrer Autorität hat, hängt von seinem Auftreten und seinem Unterricht ab. Er ist nicht nur frei, den Unterricht so zu gestalten, wie es ihm sinnvoll erscheint, sondern sogar ausdrücklich dazu aufgerufen. Der Frontalunterricht ist nach wie vor die häufigste und meistakzeptierte Form – akzeptiert von Lehrern, Eltern und Schülern.
Klar kommt es vor, daß Schüler schlechte Noten als Beleidigung ansehen und der Vater sich beschwert. Hier ist es die Aufgabe der Schulleitung, Haltung zu bewahren und den Lehrer zu unterstützen. Die Schulleitungen, unter denen ich bislang tätig war, haben solche Elternanfragen umgehend freundlich, sachlich und bestimmt zurückgewiesen. Der Lehrer mußte die Schulleitung zuvor lediglich in der Sache in's Bild setzen, sich jedoch keinesfalls für die Notengebung rechtfertigen. Schade, Herr Riemer, daß Sie andere Erfahrungen gemacht haben.
Unterricht fällt im übrigen auch nur aus, wenn partout nicht für eine Vertretung gesorgt werden kann; selbst die 9. Stunde um 15.00 Uhr wird noch vertreten.

Daß von oben, also vom Kultusministerium, ein Blödsinn nach dem anderen in die Schule hineingetragen wird, stimmt natürlich; und daß die Schulen damit alleingelassen werden und sehen können, wie sie mit Planungsgruppen die Umsetzung der Vorgaben deichseln können, trifft auch zu (mittlerweile werden Neuerungen nach Möglichkeit ausgesessen; zu oft ist es vorgekommen, daß Sachen dringend angemahnt wurden, von denen keiner mehr etwas wissen wollte, wenn die Umsetzungskonzepte schließlich erarbeitet waren).


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 03.04.2013 um 20.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9319

Diverse Schülerkommentare zum Steinig-Befund sind unter www.spickmich.de/news/201303262000-das-internet-veraendert-euer-schreibverhalten zu finden.


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.04.2013 um 10.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9321

Ja, lieber Herr Mahlmann, ich habe durch meine 3 Jungs in den neunziger Jahren bis Anfang der 2000er Jahre schon so manche haarsträubende Erfahrung gemacht, vor allem Ordnung und Disziplin betreffend. Und wenn dann noch nicht einmal in extremen Fällen ein Schüler vom Gymnasium verwiesen werden kann, untergräbt das letztlich die Autorität des Lehrers, da kann er noch so gut sein. Ich habe mich bei manchen Vorfällen am Gymnasium gefragt, wie das dann erst an Real- und Hauptschulen aussehen muß.
Wenn der Lehrer nicht 45 min zum Unterricht zur Verfügung hat, ist doch klar, daß weniger gelernt wird. Ordnung ist für mich zur Zeit der wichtigste Mangel an den Schulen.
Und der Unterrichtsausfall – sicher, es soll so weit wie möglich vertreten werden, aber das ist die Theorie. Ich weiß, daß bei meinen Kindern etwa 1 bis 2 Stunden pro Woche (durchschnittlich) ausgefallen sind. Meist wegen Krankheit, aber es gab z. B. auch Lehrerkonferenzen und sogar Lehrerausflugstage, da fiel eben der Unterricht aus. Warum der Lehrerausflug nicht während der Ferien stattfinden konnte, weiß ich nicht. Die Schulzeit meiner Kinder war für mich eigentlich ein ständiges Kopfschütteln.


Kommentar von news4teachers.de, 17. Juni 2013, verfaßt am 21.06.2013 um 22.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9406

Zu viele Rechtschreibfehler: Philologen fordern anderen Deutschunterricht

MÜNCHEN. Die Kenntnisse deutscher Viertklässler in Sachen Rechtschreibung sind in den vergangenen vier Jahrzehnten deutlich schlechter geworden. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. Der bayerische Philologenverband ist alarmiert – und fordert einen anderen Deutschunterricht in der Grundschule.

In einer bundesweit einzigartigen Längsschnittstudie haben der Siegener Germanistikprofessor Wolfgang Steinig und seine Mitarbeiter über einen Zeitraum von 40 Jahren untersucht, wie sich die Schreibfähigkeiten von Viertklässlern in Deutschland verändert haben. Neben der Orthografie haben die Bildungsforscher auch Textgestaltung, Grammatik und Wortschatz getestet. Erstes Ergebnis: Die Fähigkeit der Schüler, Texte orthografisch korrekt und grammatikalisch normgerecht zu schreiben, hat im Durchschnitt stark abgenommen.

Die ersten Daten der Untersuchung stammen von 1972. Damals habe Steinig vier Grundschulen in Dortmund und Recklinghausen besucht und Schülern der vierten Klassen einen zweiminütigen Amateurspielfilm gezeigt, berichtet die „Zeit“: Kinder streiten um eine Puppe, schließlich greift eine Frau ein. Im Anschluss sollten die Schüler aufschreiben, was sie gesehen hatten. In den Jahren 2002 und 2012 wiederholte Steinig das Experiment. Insgesamt hätten die Sprachwissenschaftler knapp 1000 Texte von Kindern ausgewertet.

Von sieben Fehlern auf 17

„Besonders deutlich fallen die Befunde zur Rechtschreibung aus: Die Zahl der Fehler pro hundert Wörter stieg von durchschnittlich sieben im Jahr 1972 auf zwölf im Jahr 2002 an und dann noch einmal auf 17 Fehler im Jahr 2012“, heißt es. Vor allem mit der Kennzeichnung von langen und kurzen Vokalen und mit den Regeln für die Groß- und Klein- sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung hätten viele Kinder heute mehr Probleme als früher.

Allerdings gebe es in den vergangenen 40 Jahren auch positive Entwicklungen: So seien die Texte von 2002 nicht nur länger als die von 1972, sie zeigten auch einen beträchtlich vergrößerten Wortschatz, seien lebendiger geschrieben und spannender zu lesen. „Darin zeigen sich die Folgen eines Schulunterrichts, der von den siebziger Jahren an zwar immer weniger Wert auf ‚harte‘ Kompetenzen wie Rechtschreibung, Grammatik und Interpunktion legte, dafür aber die Kreativität der Schüler, ihre Freude am freien Schreiben und ihre Ausdrucksfähigkeit förderte“, heißt es.

Den Philologenverband beruhigt das nicht. Denn: „Wenn man die Gründe für diese Veränderungen betrachtet, kann auch dies kein Grund zur Freude sein.“ Steinig erkenne nämlich vorrangig soziale Faktoren als Ursache: Die Zunahme des Wortschatzes finde sich fast ausschließlich bei Mittelschichtkindern, die schlechtere Rechtschreibung betrifft in erster Linie Kinder aus sozial schwächeren Familien. Hierzu sagt der Vorsitzende der bayerischen Philologen, Max Schmidt: „Unterricht, der das freie Schreiben statt das Einüben sprachlicher Normen bevorzugt, benachteiligt gerade die Schwachen. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern brauchen Förderung, sie dürfen nicht zurückgelassen werden!”

Die daraus abzuleitende Forderung ist für Schmidt klar: “Die Grundschule muss hier auffangen, was zu Hause nicht geleistet werden kann. Nur so können sämtliche Bildungspotentiale ausgeschöpft werden. Dazu ist wieder mehr Deutschunterricht – beispielsweise statt des Englischunterrichts – an der Grundschule erforderlich! Und es ist dringend notwendig, das freie Schreiben mit einem stringenten Rechtschreibunterricht zu begleiten, der den Kindern Rechtschreibstrategien und Regeln an die Hand gibt!”

(www.news4teachers.de)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.08.2013 um 03.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9566

Im SPIEGEL (35/2013) ist ein weiterer Aufsatz von Wolfgang Steinig abgedruckt, in dem er die Ergebnisse seiner Langzeitstudien darlegt und gegen Jürgen Reichen und Hans Brügelmann polemisiert. Wieder ist die Rechtschreibreform nicht erwähnt. Deren Wirkung auf die Lehrer und des Rechtschreibunterricht müßte mit ganz anderen Methoden untersucht werden, aber das unternimmt niemand. Die ideologischen Schaukämpfe um die beste Unterrichtsmethode langweilen allmählich.

In einem Satz versichert Steinig, auch er wolle keineswegs zurück "zu den Methoden aus den siebziger Jahren", sagt aber leider nicht, was das für Methoden waren. (Seinen eigenen Untersuchungen zufolge müßten diese Methoden ja besonders erfolgreich gewesen sein, denn alle Kinder, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, schrieben damals wesentlich besser als später.)


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 31.08.2013 um 07.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9567

Als jemand, der in den siebziger Jahren eingeschult wurde, kann ich aus eigener Erfahrung nur die generelle Einstellung der Lehrer wiedergeben, und diese war: Geduld, Anerkennung der Grenzen kindlicher bzw. jugendlicher (Pubertät!) Aufnahmefähigkeit und vor allem Einübung.

Das alles war weit entfernt von den angeblich so fortschrittlichen "regelbasierten" Curricula, die ja, wenn überhaupt, nur die intelligentesten Schüler nachvollziehen können.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.10.2013 um 03.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9621

Auf Steinig bezieht sich auch ein Beitrag in der Stuttgarter Zeitung. Befragt wird auch ein weiterer Deutschdidaktiker. Er hat auch ein Buch zum Schriftspracherwerb geschrieben. Die Überflüssigkeit der Schreibdidaktik ist nicht zu verkennen. Die Journalistin steuert auch noch etwas bei:

Ganzwort-Methode
Bis weit in die 1970er Jahre hinein sind Grundschüler vor allem nach der analytischen Methode unterrichtet worden. Dabei wurden den Kindern ganze Wörter oder kurze Sätze vorgesetzt – meist aus den sogenannten Fibeln. Diese Wörter und Sätze wurden so lange geübt, bis sie sich eingeprägt hatten. Oftmals wurde einfach nur auswendig gelernt.


Die Ganzwortmethode ist also die analytische! Man lernt nie aus.

Wie ich schon berichtet habe, schrieben wir in der ersten Klasse Wörter wie OMA, MAMA, MIMI usw. auf unsere Schiefertafeln. Unsere Lehrer wußten wahrscheinlich nichts von Phonemen und Graphemen, jedenfalls nicht explizit. Der geringschätzige Ton der Journalistin ("den Kindern Wörter vorsetzen", "einfach nur auswendig lernen") ist unberechtigt. Unsere Lehrer hatten keine "Methode". Implizit vermittelten sie uns durch die ausgewählten, ziemlich lebensfremden Wörter gleichwohl die Grundlagen unserer Schrift. Wir extrapolierten das dann. Wie gesagt, zu Ostern begann die Schule, im Herbst konnten wir schreiben, wie ich an einem Briefchen sehe, das ich meiner Mutter ins Krankenhaus schickte, wo sie gerade mein Brüderchen geboren hatte. Ja, ich habe darin fil statt viel geschrieben, aber es versteht sich von selbst, daß unsere Lehrer mit so etwas umzugehen wußten.
Ich habe natürlich nicht den Lebensweg meines ganzen Jahrgangs verfolgt, aber ich bin sicher, daß alle 42 Schüler der ersten Klasse wenig später die deutsche Rechtschreibung beherrschten, soweit man es von einem durchschnittlich Gebildeten erwarten kann.

Unsere Journalistin schreibt auch Grafem-Fonem-Korrespondenz. Sie kann es eben auch nicht besser als ein Erstkläßler; neu ist nur, daß man sie gewähren läßt bis ins Erwachsenenalter. Das nennt sich Rechtschreibreform.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.10.2013 um 05.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9622

Auf dem Kieler Germanistentag beschäftigte sich eine Sektion mit Rechtschreibdidaktik. Im Programm wird die Rechtschreibreform nicht erwähnt, und nach den spärlichen Berichten kam sie auch in den Referaten nicht vor.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2013 um 11.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9678

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, zitiere ich hier aus dem Briefchen, das ich mit sechs geschrieben habe (ein Teil ist abgerissen, leider hat niemand etwas aus jener Zeit aufbewahrt):

Am Freitag haben wird das y x q gelärnd und heude haben wir das z gelärnd. zu mir hat der herr Walder zu erst gesagt kanst gehen. Du hast fiel zufiel Milch. schönen Krus von Hans Teo Ickler. (Teils in Schreibschrift, teils in Druckbuchstaben, die wir zuerst gelernt hatten.)

Na ja, das ist immer auch ein bißchen genierlich, aber es ist so lange her, 1950, da war ja noch keiner von Euch geboren!

Unser Lehrer hieß Walter oder Walther und kam mir uralt vor. Die Volksschule war behelfsmäßig in einer Baracke auf freiem Feld untergebracht. Wer Briketts hatte, brachte sie mit.

Ich muß ziemlich schreibfreudig gewesen sein. Korrigiert hat mich niemand, aber durch viel Lesen bin ich dann ziemlich gut geworden. Mit meinen drei Töchtern ging es etwas anders, weil sie eben schon Akademikereltern hatten und außerdem die Auffassung sich durchgesetzt hatte, daß es durchaus sinnvoll ist, dem Wunsch der Kinder schon vor Schulbeginn zu entsprechen und ihnen Lesen und Schreiben beizubringen.

Amüsant ist wohl noch, daß der Lehrer die Kinder nach Hause schickte, wenn sie ihre Aufgabe gemeistert hatten, so daß wir zu verschiedenen Zeiten das Gebäude (na ja!) verließen. Ich glaube, heute ist das aus rechtlichen Gründen nicht mehr zulässig.


Kommentar von Pt, verfaßt am 12.11.2013 um 17.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9679

Zu #9678

''Amüsant ist wohl noch, daß der Lehrer die Kinder nach Hause schickte, wenn sie ihre Aufgabe gemeistert hatten, so daß wir zu verschiedenen Zeiten das Gebäude (na ja!) verließen. Ich glaube, heute ist das aus rechtlichen Gründen nicht mehr zulässig.''

Würde aber die Schüler vor Mobbing-Übergriffen ihrer Mitschüler schützen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.03.2014 um 07.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9876

Frage: Würden Sie dem Eindruck widersprechen wollen, die Rechtschreibekompetenz unserer Schülerinnen und Schüler­ sei gegenüber "früher" gesunken?

Antwort: Das wird immer wieder behauptet, es ist aber nicht nachgewiesen.



Das ist aus einem "Interview" (in Wirklichkeit Klett-Werbung) mit der Sonderpädagogin Prof. Cordula Löffler (http://bildungsklick.de/pm/90875/rechtschreibung-wir-brauchen-keinen-methodenstreit).

Aber es gibt doch die hier zitierte Untersuchung von Wolfgang Steinig, und auch andere haben Vergleichsdiktate eingesetzt, um dasselbe nachzuweisen. Auch wird natürlich die Reform mit ihren direkten und atmosphärischen Folgeschäden nicht erwähnt. Alles läuft bloß darauf hinaus, die tollen Produkte von Klett zu erwerben.


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.03.2014 um 15.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9877

In 100 Jahren:

Frage: Finde sie au das die schülerine kei anung von schreibe meh habbe?

Antwort: Das werd immer behaupt is aber net bewise.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2014 um 05.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9954

Gut, daß bei der 8. Köthener Sprachtagung an diesem Wochenende Rudolf Wachter für die SOK dabei ist. Auch Uwe Grund wird seine Ergebnisse vortragen können. Der ebenfalls anwesenden Kerstin Güthert wird man vielleicht ein paar Andeutungen entlocken können, wie es mit dem Rechtschreibrat weitergehen soll.

Ich verstehe übrigens immer noch nicht, warum die Methode Reichen als Rechtschreibunterricht kritisiert wird, wo sie doch schon im Namen "Lesen durch Schreiben" als Leseunterricht ausgewiesen ist. Renate Valtin wird ihren bekannten Standpunkt darlegen. In einigen Bundesländern veranstaltet man schon eine regelrechte Hatz auf Reichen-Anhänger und tut sich mit Verboten von dessen (wirklicher oder vermeintlicher) Methode groß. Damit kann man von anderen Fehlern und Versäumnissen ablenken, z. B, der Rechtschreibreform, die niemals erwähnt werden darf.

In der Presse wird anläßlich des Bildungsberichts wieder mal sehr breit diskutiert, ob es an der "Kompetenz"-Orientierung liegt, daß die Leistungen nachlassen. Aber die Bildungsstandards mit ihrer Kompetenzbesessenheit sind viel zu unbestimmt formuliert, als daß man sie wegen dieser Orientierung kritisieren könnte. Der Fehler liegt anderswo. Als ersten Schritt schlage ich vor, die akademische Pädagogik abzuschaffen und die Lehrer aufzufordern, ihren Erstkläßlern Lesen und Schreiben beizubringen. Welcher normale Erwachsene wäre dazu außerstande?


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 20.06.2014 um 11.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#9955

Die Reichen-Methode wird kritisiert, weil es den Lehrern verboten ist, die Schreibfehler der Kinder zu korrigieren; sie müssen vielmehr für das Drauflosschreiben gelobt werden, und wenn der Unfug noch so sehr in's Kraut schießt. Hinzu kommt, daß in der dritten Klasse plötzlich alles anders ist und jeder Fehler angestrichen werden muß.

Die Kinder einfach machen zu lassen und sie behutsam korrigierend an die richtige Orthographie heranzuführen, ist etwas ganz anderes.


Kommentar von Die Welt, 29. Juni 2015, verfaßt am 30.06.2015 um 19.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#10107

Rabe fordert bessere Rechtschreibung

Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) fordert einen klaren Rechtschreibunterricht in der Grundschule mit "Mut zur Korrektur". Ein Schreiben nach Gehör ohne Korrektur trage dazu bei, dass sich Fehler verfestigten, warnte Rabe in einem Gastbeitrag für die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" am Sonnabend. "Heute haben wir an Schulen ein viel freundlicheres Lernklima und hervorragend ausgebildete, pädagogisch geschulte Grundschullehrer, die mit der Korrektur falsch geschriebener Wörter sicher keine Kinderseele verletzen." Umgekehrt würden Kinder schlicht beschummelt, wenn man sie in dem Glauben lasse, alles sei gut, schreibt Rabe. Der Bildungssenator kritisiert insbesondere die Reichen-Methode. Der Reformpädagoge Jürgen Reichen (1939-2009) habe in den 1970er Jahren das "Lesen durch Schreiben" erfunden, nach der die Kinder nach Gehör "drauf los" schreiben sollten. "Korrigiert wird erst mal nicht. Denn – so die Theorie – das frustriert und hemmt die Kreativität." Doch die vielerorts beliebte Methode sei zumindest anfällig für Fehler und Missverständnisse. Eltern beschwerten sich zu Recht, wenn Schule die Rechtschreibung auf die leichte Schulter nehme, so Rabe. Studien belegten eine deutliche Verschlechterung.

(www.welt.de)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.07.2015 um 06.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#10108

Das sind zwar nur Halbwahrheiten, aber am meisten wundert man sich über die Hartnäckigkeit, mit der die Kultusminister die Rechtschreibreform nicht mehr erwähnen, als ginge sie diese einstige Großtat gar nichts an.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.04.2016 um 08.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#10462

Bei Kindern mit LRS sieht man in gesteigerter Form, welches pädagogische Problem sich bei Schreibanfängern stellt. In Zeitungsartikeln und Leserbriefen wird, wie wir gesehen haben, heftig dafür gestritten, Fehler auf keinen Fall zu dulden; sie würden sich verfestigen usw.
Nehmen wir eine LRS-Schülerin der zweiten Klasse. Sie spricht normal und lebhaft und schreibt phantasievolle Geschichten, schwer zu entziffern wegen der ständig wechselnden wilden Verschriftung. Die erfahrene Sonderpädagogin weiß, daß solche Kinder nichts mehr hassen, als wenn man mit dem Rotstift in den Text hineinpfuscht. Der Text ist eben etwas sehr Persönliches. Die Lehrerin hält also die pädagogische Bearbeitung völlig heraus, gewinnt und bewahrt dadurch das Vertrauen des Kindes.
Die uneinsichtige Behandlung der Legasthenie und LRS hat schon unzählige Karrieren in eine falsche Richtung gelenkt und wahre Tragödien verschuldet. Man erfährt davon nur allmählich, weil es hier viele dunkle Punkte in den Lebensläufen gibt, über die keiner der Beteiligten gern spricht.
Wie gesagt, bei "normalen" Kindern ist das alles nur abgeschwächt zu beobachten, aber man kann aus den harten Fällen viel lernen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.04.2016 um 11.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#10463

Als eine unserer Töchter 3;10 war, sprach sie ganz korrekt, aber wenn sie "Briefe schrieb", verließen sie ihre grammatischen Fähigkeiten. In einem dieser Briefe stand angeblich Liebe Oma hat von der Rosina heute Geburtstag. Mündlich wäre ihr das nie entschlüpft, aber sie fand nichts dabei, daß man sich schriftlich eben anders ausdrückt. Der Hintergrund ist wahrscheinlich, daß in den gern gehörten vorgelesenen Texten vieles vorkam, was sie grammatisch überforderte und trotzdem verstanden wurde. Aus meinen Aufzeichungen:

Sie will FAMILIE schreiben und denkt zuerst, daß das Wort mit M anfängt. Dann merkt sie, daß es dann MILIE heißen würde und schreibt es richtig.

Sie buchstabiert vor sich hin und fügt dann zusammen:

F - A - L - O - R (= verloren).

4;0: Sie schreibt unsere Vornamen TEJO und IRENÄ - obwohl sie es früher schon richtig konnte; jetzt wohl phonetisch genauer. Dieser Entwicklungszyklus ist regulär: orthographisch - phonetisch - orthographisch.




Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2016 um 10.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=690#10534

Noch einer:

http://www.rga.de/lokales/remscheid/professor-regelwerk-klarer-geworden-6641788.html?cmp=defrss



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