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17.04.2008
 

Stefan Stirnemann
Vom Rauschen im Wörterwald

Laßt hören aus alter Zeit! Wir drucken einen der ersten Artikel ab, welche die Schweizer Monatshefte zur Sache veröffentlicht haben. Man prüfe, wieviele der geschilderten Probleme nach sechs Jahren noch ungelöst sind.

Was die neue Orthographie betrifft, so reut es mich,
dass ich dem ersten Anprall nachgegeben habe …
(Gottfried Keller an Paul Heyse, 1882)

Gottfried Keller erinnert sich, wie er als kleines Kind von der Vermählung einer Nachbarin reden hörte und, da er Vermehlung verstand, davon träumte, dass sie in einen Backtrog gelegt und mit Mehl zugedeckt werde. Kinder, Dichter und Philosophen haben das Talent, in Wörtern einen anderen oder alten oder neuen Sinn zu spüren und ihn vielleicht durch eine ungewohnte Schreibweise auszudrücken. Christian Morgenstern hört einen alten Sinn und schreibt: «So mag uns Gott behuten in dieser Welt des Scheins.»

Ungewohnte Schreibweisen zu Hauf verdanken wir der neuen Orthographie. Man sieht, perplex, dass Schulausgaben Morgensterns Palmström nun ungeschnäuzt entschreiten lassen und am Gedicht mitdichten, als ob der Dichter ein Sprachspiel versäumt hätte. Oder man findet, mit Rührung, die Altertümer des 19. Jahrhunderts wieder: im Allgemeinen, im Übrigen, des Öfteren – und fragt sich, warum man diese schrullige Renaissance nicht auch den Formen vor allem, seit langem, ohne weiteres gewährt. Wenn aber, wegen Überschwang, das ehrwürdige überschwänglich propagiert wird, so möchte man, unter Pochen auf Mühsal, auch für mühsälig plädieren; so hat z. B. Schopenhauer noch geschrieben. Zweifellos von ihm inspiriert, setzt Thomas Mann das Scheusälige, allerdings nicht aufgrund einer orthographischen Überlegung, sondern weil er aus unserem Sprachschatz ein altes Wort auswählen wollte. Fehlt also einerseits die Konsequenz, so staunt man anderseits über sie: Da in Analogie zum neu-alten morgen Abend auch morgen Früh geschrieben werden soll, drucken die Lesebücher Friedrich Rückerts Gedicht künftig wohl so: «Ach, das Tröglein von Hanf ist wüst / (…) All die Nacht durch bis morgen Frühst / Brannt’ im Zimmer die Lamp’.»

Wir sind damit bei der Steigerung von Substantiven, einer Erscheinung, die Hermann Burger sympathisch sein müsste, der im Schilttaler Dialekt Substantive im Konjunktiv entdeckt hat, z. B. «de Töd für einen eventuell eintretenden Tod». Es ist zwar ein Unterschied, ob eine Idee vom Charme und Ernst dichterischer Phantasie geprägt ist oder von der Borniertheit einer blöden Wörterbuchseite. Für letztere ist Burgers Lehrer Haberstich ein Beispiel, dessen «Spracherziehung sich in der Rechtschreibung erschöpfte». Seine Diktate «voll orthographischer Fussangeln, Falltüren und Tretminen» zeigen eine tödliche Mischung von Sprachdürre und herzloser Moral: zwingendes Resultat, wenn man auf den Reichtum der Sprache den kalten Blick des Korrigierers wirft. Auch Burger, Meister des Adjektivs, der er ist, mischt seine Farben nicht nach orthographischen Rezepten. Und doch müssen sein schmutzigbeig und schmutziggelb heute genauso getrennt werden, wie Erich Kästners prächtigbunt und Thomas Manns rötlichbraun. Wer mit genügend grosser Sprachbegabung gesegnet ist, spürt in der veränderten Schreibung keine Änderung des Sinns und nimmt sie hin.

Der Korrekturtinte ist auch Dürrenmatts Attribut schnapstrinkend ausgesetzt. Bei Wörtern dieses Typs steckt die neue Rechtschreibung in einem besonders grossen Dilemma und ist herzlich ratlos zwischen herzerquickend und Rat suchend. Es handelt sich um Bildungen nach einem alten Muster aus Athen und Rom, direkt erhalten z. B. in den Namen Phosphor und Luzifer, die beide Licht bringend bedeuten. Von solchen Wörtern sind einige sehr poetisch und verdanken den Weg in unsere Sprache dem Homer-Übersetzer J. H. Voss: «die rossenährende Argos». Andere gehören den Fachsprachen an. Das «carnivorus» des römischen Naturforschers Plinius ist im 16. Jahrhundert plastisch mit fleischgeitzig übersetzt worden, später, ohne orthographische Bedenken, mit fleischfressend; heute soll man Fleisch fressend schreiben. Der technische Charakter dieses Typs erhellt aus einem der niederträchtigsten Dokumente, die je verfasst worden sind, dem Protokoll der Wannseekonferenz: Der Nazi-Gangster Heydrich verfügte, dass man seine Opfer strassenbauend in den Osten führe.

Dürrenmatt nun lässt seinen Kommissär Bärlach im letzten Moment vom riesenhaften Gulliver gerettet werden. «Ja, der Zwerg, lachte der Riese schnapstrinkend.» Die Wortbildung ist so gewalttätig wie das Trinken des Retters, sie passt zur düsteren Kraft dieser Figur. Ein orthographisches Problem hat hier nur die sogenannte neue Rechtschreibung.

Sogenannt und sozusagen sind laut dem Grimmschen Wörterbuch im 19. Jahrhundert als ein Wort empfunden und geschrieben worden. Heute soll man das erstere wieder trennen, das letztere nicht. Und doch unterscheidet Thomas Mann sogenannt mindestens rhythmisch und in der Betonung von so genannt: «Ein ansehnliches Gelass, die sogenannte Abtsstube, wohl so genannt, weil es dem Vorsteher der Augustiner-Mönche (…) als Studio gedient habe.» Und das Wort sozusagen parodiert er durch Übersetzung der entsprechenden englischen Formel: «Ich habe ja (sagt der urdeutsche Luzifer) fast nur (…) Necknämchen, mit denen man mir, so zu reden, mit zwei Fingern unter dem Kinn spielt.» - Und wie schreibt man sogetan? Antwort: Gar nicht. Im schweizerdeutschen söttig oder settig ist es noch in vieler Munde und als sotan rarer und vornehmer Gast der Schriftsprache. In seiner eigenen Gestalt aber ist es untergegangen. Und wie es sogetan einmal gegeben hat, so gibt es heute sogenannt und sozusagen.

Zum Leben und Sterben der Wörter sagt der Dichter Horaz, in der Übersetzung C. M. Wielands: «So wie von Jahr zu Jahr mit neuem Laube / der Wald sich schmückt, das alte fallen lässt: / so lässet auch die Sprache unvermerkt / die alten Wörter fallen, und es sprossen neue / ins Leben auf, und füllen ihren Platz.» Soll man in diesen Prozess mit orthographischen Mitteln eingreifen?

Zufolge einer Legende zieht in jedem Jahrhundert einmal einer mit der Baumschere in den Wörterwald, um Ordnung zu schaffen und zu vereinfachen: verkrampfter Hand, entschlossenen Blicks (es liegt auch Verzweiflung darin und eine leichte irre Unruhe). Keiner erreicht sein Ziel, die Büsche haben sich hinter ihm geschlossen, das Gras sich aufgerichtet, und er ist nicht wiedergekehrt. Der Waldrand steht unberührt, die niederen Blätter erzählen sich im Lufthauch vom Unglücklichen, ihr Flispern hat etwas Spöttisches, und die hohen Wipfel rauschen. Der Wald hat seine eigene Ordnung; sie lässt sich mit Geduld erkennen und ist der Baumschere unerreichbar. Insofern könnte man unbesorgt sein und die Orthographen ihrer Spitzfindigkeit überlassen. Und doch gibt es Grund zum Protest: Es widerstreitet der Idee der Republik, wenn der Staat Aufgaben an sich zieht, für die ihm die Kompetenz fehlt. In der Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom 1. Juli 1996 steht: «Die Unterzeichner beabsichtigen, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung des in Artikel I genannten Regelwerks einzusetzen.» Das gilt natürlich unter dem Vorbehalt, dass die Regeln richtig sind. Unterdessen zeigt sich immer mehr, dass dies in zahlreichen Punkten nicht der Fall ist. Versieht der Staat die Meinung, dass zwei mal zwei fünf gibt, mit seiner Autorität, so macht er sich lächerlich. Die Wissenschaft ihrerseits hat ihren Fortschritt im Diskurs, nicht im Diktat. Dieses Prinzip wird grob verletzt, wenn irgend eine Kommission ihre Meinung nicht der offenen kritischen Diskussion aussetzen muss, sondern dieselbe direkt in Wörter- und Schulbücher drucken darf.

Die Schule schliesslich, ohnehin durch dauernde Reformen so verbessert, dass es fast nicht mehr zu ertragen ist, muss Texte weitergeben, in denen die Kategorien ausser Rand und Band geraten sind.

Einer der Sudelsätze Lichtenbergs, 1800, im Jahr nach seinem Tod gedruckt: «Es thun mir viele Sachen weh, die andern nur leid thun» sieht in neuer orthographischer Zurichtung so aus: «Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur Leid tun.» Was soll das?

Und das teure Geld, das die neue Orthographie kostet? Es liesse sich im Bildungswesen besser anlegen.


Stefan Stirnemann, geboren in Aarau, Studium der reformierten Theologie und der Klassischen Philologie in Basel, Lexikograph am Thesaurus linguae Latinae in München, Unterricht an verschiedenen Schulen, derzeit am Gymnasium Friedberg in Gossau (SG).
Arbeiten: «Die altsprachliche Grammatik und der Frankfurtische Gelehrtenverein für deutsche Sprache» (Lizenziatsarbeit), «Karl Mager, einer der vergessenen deutschen Professoren der Kantonsschule Aarau», «Bildung macht frei»; Zahlreiche Untersuchungen zu den Aporien der sogenannten neuen Orthographie.

Anmerkungen und Ausgaben können beim Autor angefordert werden.


Schweizer Monatshefte 82, Februar 2002, Seite 15-16



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