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30.11.2007
 

Stefan Stirnemann
Merkers Rede an die Buchstaben

In seiner Funktion als Merker äußert sich Stefan Stirnemann zu dem, was im November im St. Galler Tagblatt zu lesen war.


Herbei ihr Buchstaben unseres schönen und klugen Alphabets, ich habe euch etwas zu sagen! Ihr seid nicht viele, nur sechsundzwanzig, und das doppelte, wenn man einrechnet, dass ihr alle eine starke Schwester oder einen langen Bruder, einen Grossbuchstaben habt. Oder habt ihr gar kein älteres Geschwister, und seid ihr es selbst, die sich, wenn’s nötig ist, auf die Zehen stellen, um gross zu werden? Wie auch immer – ihr seid überschaubar und braucht nicht viel Platz: Kommt ungescheut und bringt auch die Zahlen mit! Sieh, da eilt es herbei, sie trippeln und purzeln und rappeln sich auf; ein feines Scharren feiner Füsschen noch auf dem Zeitungspapier, ein Hüsteln (Silentium! grölt der Merker, in St. Gallen findet ja gerade der Lateinische Kulturmonat statt), und dann ist erwartungsvolle Ruhe.

Hört, ihr Staben und Stäblein! Täglich tut ihr treu Dienst in unserem Tagblatt. Ihr meldet euch bereit, schliesst euch auf Befehl zusammen, trennt euch wieder, marschiert in langen Zeilen über die Seiten und bringt uns auf euren kleinen Schultern in Wörtern und Sätzen die ganze Welt. Die Bilder brauchte es eigentlich nicht, auch wenn man sie gerne sieht. Ihr schwarzen Gesellen, die ihr seit 2700 Jahren fähig seid, alle Sprachen darzustellen, und die man mit einem blassen Namen Zeichen nennt – der Merker verehrt euch. Ihr verdient es, dass man euch sorgsam behandelt, ihr verdient es, dass man euch achtsam liest. Der Merker hat beschlossen, die Zeitung vom 20. November vom ersten A bis zum letzten Z zu lesen und murmelnd weder Anzeige noch Börsenkurs auszulassen. So konntet ihr, Buchstaben und Zahlen, an jenem Abend alle die Gewissheit haben, wenigstens von einem Augenpaar vollständig gewürdigt worden zu sein, und keines von euch musste trauern.

Nach der Schätzung einer hilfsbereiten Mitarbeiterin des Tagblattes waren es am 20. November 363.000 Zeichen, freilich ohne Börse, Wetter und Programme, und auf diesen Seiten wimmelt und wirbelt es doch besonders dicht. Es waren also viele Zeichen, und das Lesen dauerte vierhundertundzwei Minuten. Richtig lesen hiesse vieles zweimal lesen und über manches lange nachdenken.

Quintlein und Spitzmäuslein

„Doch vielleicht bringt ihm sein Engagement für die Gossauer Kinder das benötigte Quentchen Glück“ (Training mit Christian Belz, Seite 45). Das Wort Quintlein oder Quentchen bezeichnet ursprünglich den fünften Teil (lateinisch quintus), also eine kleine Menge. Die Reformer der Rechtschreibung wollen immer noch, dass man Quäntchen schreibt, da man heute bei diesem Wort an Quantum denke. Wer ist „man“? Die Redaktoren des Tagblatts schreiben falsch im Sinne der Reform und richtig im Sinne der Sprache. Sie folgen, hoffentlich immer mehr, den Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK). „Das Spitzmäuslein wiegt ein halbes Quintlein“, schrieb Johann Peter Hebel und gibt damit in etwa das geistige Gewicht der neuen Rechtschreibung. Gesucht ist jetzt verantwortungsvolle Politik, welche auch die Schule von diesem teuren Unsinn befreit.

Zeichen: zuviel, zuwenig, falsch

Hier ist der Grossbuchstabe falsch: Funktionäre, „die nicht Lesen und Schreiben konnten“ (Pol Pots Staatschef verhaftet, 5). Hier blieb ein Trennungszeichen mitten in der Zeile stehen: Die Rücknahmekommission „kann bei gleichem Fonds je nach Vertriebskanal unter-schiedlich sein“ (börse/fonds, 20). Ebenso: Familienzu-lagen (16). Überflüssiger Bindestrich: „11-mal 2 Minuten gegen St. Gallen“ (Eishockey, Strafen, 49).

Hier fehlt das Genitiv-s: „Es ist ein gewaltiges Erlebnis, diese Tiere von der Sicherheit eines Elefantenrücken aus bewundern zu können“ (Tagblatt Reisen, 24). Unnötiger Apostroph: „Tonstudio ohne Zeitdruck für’s kleine Budget“ (marktplatz, 35). Hier fehlt ein Stück Satz: „Nach dem neuen Strafartikel im Strafgesetzbuch ist nun auch Menschenhandel im Zusammenhang mit der Ausbeutung der Arbeitskraft oder der Entnahme von Organen“ (Vernetzung erleichtert Bekämpfung, 15). Im selben Artikel steht, es sei ein Runder Tisch ins Leben gerufen worden, „um den beteiligten staatlichen Organen und privaten Beratungsstellen mögliche Handlungsansätze zu koordinieren“. Es fehlt ein mit. Gleich doppelt berichtet wurde über den Rechenfehler des Bundesamtes für Strassen (Astra). Im ersten Bericht steht, dass Ausserrhoden 6 Mio. Franken weniger aus dem Anteil am Treibstoffzoll erhalte (11), im zweiten sind es 6,4 Mio (16).

Wer versteht das?

Die Maschinen- und Metallindustrie „bildet einen Cluster, woraus sich ein Pool von Arbeitskräften ergibt“ („Renaissance der Industrie“, 3). Was ist ein Cluster? Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm verbucht 1873 das Wort Kluster mit der anschaulichen Erklärung „Klump von Beeren, Früchten“. Wer das ungewohnte Wort auftreten lässt, sei es im englischen, sei es im deutschen Gewand, müsste ihm eine Erklärung beigeben. Noch ein Rätsel: „Das neuartige Verfahren beruht auf ‚lumineszierenden konjugierten Polymeren’ (LCP)“ (Neues Verfahren für Prionen-Forschung, 21). Was sind schliesslich „trockene kunstimmanente Diskurse“? Man trifft sie im an sich wunderbar lebendigen Bericht über die Sammlung Rolf Ricke („Blp“, 23). Journalisten sollten wie Lehrer eher zuviel erklären; die Wahrheit ist, dass wir alle längst nicht alles einfach verstehen.

Stile

„Wer viel fährt, würde auf diese Weise entsprechend seines Benzinverbrauches zur Kasse gebeten“ (forum, Umweltgerechte Besteuerung, 9): das entsprechend ruft nach dem Dativ. „Und ich als auch die Nation schulden ihm Dank“ (Mit, neben und im Schatten der Queen, 10): das als auch ruft nach dem sowohl. Die „Verlagerungspolitik Schiene-Strasse“ (S-Bahn 2013 ist kein Weihnachtsgeschenk, 13): hier stopfte der Autor reichlich Inhalt in wenige Wörter. In der Region Rorschach schliesslich sei die Beschäftigung und im Toggenburg die Bevölkerung gesunken („Renaissance der Industrie“, 3): sinken kann die Zahl, nicht die Bevölkerung. Ist das Beckmesserei?

Und nun ihr Buchstaben, erwartet ihr ein Urteil. Habt ihr euch am 20. November gut aufgeführt, hat man euch gut geführt? Es ist soviel falsch, dass sich nicht alles nennen lässt. Anderseits ist wie stets das meiste richtig und insofern so wenig falsch, dass man mit kleinem Aufwand ein noch besseres Ergebnis erzielte. Der Drittelsmerker hat euch den ganzen Monat gemustert. Seid zufrieden. Verbessert euch! Zum Wiederlesen sei empfohlen: „Integration in der Kinderstube“ (37). Geld ist für gute Sprachbildung gut ausgegeben. Vielleicht beginnt es bald wieder zu schneien, die Flocken tanzen wie die Zeichen auf dem Papier; auch sie zeigen ein Bild der Welt.


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Kommentare zu »Merkers Rede an die Buchstaben«
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 01.12.2007 um 00.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=561#6242

"Vielleicht beginnt es bald wieder zu schneien, die Flocken tanzen wie die Zeichen auf dem Papier; auch sie zeigen ein Bild der Welt."

Das ist es.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 01.12.2007 um 15.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=561#6243

Vielen Dank für Ihre Arbeit als Merker, lieber Herr Stirnemann, und deren unterhaltsame Resultate. Dazu eine Frage: Ruft "als auch" wirklich "nach dem sowohl"? Oder haben wir es nur mit einer (allerdings sehr gewohnten) Vorschrift aus Stilbüchern zu tun? Zum Beispiel ist doch auch "wie auch" für "als auch" möglich, und andere Formulierungen sicher auch ("und ... ebenso wie"). Die Frage stellt sich hier vielleicht eher nach dem einleitenden "und", ob das denn nötig sei. Viele lehren hier in den USA zu diesem "und" tatsächlich "Nie am Satzanfang!" Und sie meinen es gut, denn ein neuer Satz fügt ja sowieso immer etwas hinzu; und Sparsamkeit ist doch Tugend für alle, nicht wahr? Aber gegen dieses Gutgemeinte ist eben das Kraut der Bibel gewachsen, wo so viele Verse mit "und" beginnen; und der muttersprachliche Gebrauch der Sprache der Mutter zu Hause tut sein übriges. Ich meine eigentlich nicht, daß "und ... wie/als auch" schwacher Stil ist; ich sehe es dazu zu oft (gesprochen scheint diese "Doppelkonjunktion" ohnehin nicht groß verwendet zu werden). Oder stolpere ich über sowas bloß nicht, weil meine Schritte zu groß sind?



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