Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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12.12.2006
Erwin Quambusch
Die sozialen Folgen der Rechtschreibreformen
Von der Willkür der Schreibreform zur Willkür der Schreibenden
Prof. Quambusch geht (sozial-)rechtlichen Aspekten einer staatlich oktroyierten Reform nach und untersucht die Hinwendung zur Beliebigkeit, der durch die Reform Vorschub geleistet wird.
Einleitend schreibt er:
»Für die Begründung und Veränderung sozialer Beziehungen werden unter den komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart gut differenzierende und leicht verständliche Formen der schriftlichen Kommunikation benötigt. Indem die Kultusministerien in das von der Sprachgemeinschaft geschaffene System der Rechtschreibung eingegriffen, neue Schreibregeln eingeführt, diese z. T. wieder aufgehoben, zum großen Teil aber mit Wirkung ab August 2006 in alternative Schreibweisen für den Schulgebrauch umgewandelt haben, haben sie nicht nur das Prinzip der Einheitlichkeit des Schreibens erschüttert, sondern auch zu einer Schreibkultur der Beliebigkeit beigetragen. Der Vorgang ist gravierend, weil ohnehin das Schreiben ohne Bindung an feste Regeln im Vordringen begriffen ist. Es kommt den verminderten Bildungsmöglichkeiten und -erwartungen in Schule und Elternhaus entgegen. Sollte sich das Schreiben nach Belieben durchsetzen, wäre es gleichwohl von der Gesetzeslage gedeckt; denn diese gebietet, in den Schulen wie auch in den Behörden jenen Regeln zu folgen, die in der Sprachgemeinschaft überwiegend akzeptiert sind.«
(Den vollständigen Text finden Sie hier als PDF-Datei. Erschienen in der Ausgabe 09/2006 der Zeitschrift ZFSH/SGB – Sozialrecht in Deutschland und Europa. Wir danken dem Verlag R. S. Schulz für die freundliche Erlaubnis, diesen Beitrag hier zu veröffentlichen.)
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 12.12.2006 um 19.01 Uhr
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Vom Staat zerstörte Differenziertheit des Deutschen
Prof. Quambusch beleuchtet die (un)rechtliche Seite der Durchpeitschung dieser sinnraubenden, schädlichen und zudem außerhalb des geltenden Rechts liegenden "Reform". Die Ministerialbürokratie und ihre Helfershelfer müssen sich dafür verantworten, daß sie mit der Zulassung sog. Schreib"varianten" die deutsche Schriftsprache und die Leser (amtlicher!) Texte wesentlicher Differenzierungsmöglichkeiten berauben. In ihrem die Schriftsprache primitivierenden, blindlings geführten Rundumschlag haben sie sich allerdings jeglicher Legitimation begeben und sind damit in einen Absolutismus von Gottes Gnaden zurückgefallen. Ob das von so gearteten Geistern "geführte" Staatsvolk dies spürt und tolerieren wird, ist indessen eine andere Frage.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.12.2006 um 11.17 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5517
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Sich schriftlich unmißverständlich genau ausdrücken zu können ist Herrschaftswissen und deswegen unmoralisch. Wenn die deutsche Sprache genauer ist als andere, ist das ein unberechtigter Wettbewerbsvorteil.
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Kommentar von Gnocchi, verfaßt am 13.12.2006 um 13.29 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5518
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Nein, das ist vielmehr ein deutscher Sonderweg!
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Kommentar von pt, verfaßt am 13.12.2006 um 14.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5520
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Nein, das ist kein deutscher Sonderweg. In jeder Sprache dürfte es Möglichkeiten geben, sich sehr präzise auszudrücken, wenn dies erforderlich sein sollte, besonders im Englischen. Neben den oft mehrdeutigen alltäglich gebrauchten Wörtern gibt es da Unmassen von Fremdwörtern zumeist aus romanischen Sprachen, mit denen man sich, falls nötig, sehr präzise ausdrücken kann.
Jede Sprache unterscheidet sich von jeder anderen, es gibt daher keine „Sonderwege“!
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Kommentar von pt, verfaßt am 13.12.2006 um 15.22 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5521
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Allgemeines Einführungsgelabere (AEG):
>>Für die Begründung und Veränderung sozialer Beziehungen werden unter den komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart gut differenzierende und leicht verständliche Formen der schriftlichen Kommunikation benötigt.<<
Die Begründung und Veränderung sozialer Beziehungen erfordert differenzierende und leicht verständliche Formen der schriftlichen Kommunikation? Werden ''soziale Beziehungen'' (warum nicht Bekanntschaften, Freundschaften, vielleicht auch Feindschaften) heute denn nur noch schriftlich ''begründet'' oder verändert? Welche Rolle spielt dabei die differenzierende Form der schriftlichen Kommunikation?
Komplizierte gesellschaftliche Verhältnisse erfordern leicht verständliche Formen schriftlicher Kommunikation? Sollte man nicht eher erwarten, daß sich komplizierte Verhältnisse nicht auch in einer komplizierten Schriftsprache widerspiegeln?
Worin äußern sich denn die ''komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse'', wenn sich heutzutage eher gesellschaftliche Gleichgültigkeit und Beliebigkeit ausbreitet?
Differenzierend vs. leicht verständlch?
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Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 13.12.2006 um 15.49 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5522
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@ Allgemeines Einführungsgelabere (AEG):
Vermutlich ist die Kommunikation mittels SMS gemeint.
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Kommentar von pt, verfaßt am 13.12.2006 um 16.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5523
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Mag sein, aber das betrifft nicht den Kernbereich der Anwendung von Rechtschreibung: Bücher (Lehrbücher, Romane, etc.), Magazine, Zeitungen, usw.
Ich habe kein Mobiltelephon und habe auch noch nie eine SMS verschickt. Ich stelle mir aber vor, daß es aus rein mechanischen / taktilen Gründen nicht ganz einfach ist, dafür einen zumeist kurzen Text einzugeben. Daß sich daraus die Notwendigkeit von Abkürzungen ergibt, liegt auf der Hand. Das Anwendungsgebiet ist aber dermaßen ''leichtgewichtig'', daß es ziemlich übertrieben wäre, dafür eine ''Rechtschreibung'' zu definieren. Geradezu abartig wäre es, eine solche dann der Sprachgemeinschaft zum allgemeinen Gebrauch außerhalb des speziellen Anwendungsgebiets ''Mobiltelephon'' aufzuzwingen.
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Kommentar von Ribbelsack, verfaßt am 14.12.2006 um 09.38 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5524
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Ist nicht gerade die differenzierendere Ausdrucksweise diejenige, die man besser, also auch leichter verstehen kann?
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.12.2006 um 13.22 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5525
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Das ist der besondere Vorteil der deutschen Sprache, daß ihre Wortbildungsmöglichkeiten erlauben (wenn sie nicht von Rechtschreibreformern verboten werden), sich allein mit deutschen Wörtern ganz genau ausdrücken zu können. Das ist gerade der Fehler des Englischen, daß nur die Hard Words eine präzise Ausdrucksweise ermöglichen, diese aber nur mit höherer Schulbildung verstanden werden und im Gegensatz zu unseren lateinischen und griechischen Fremdwörtern oft etymologisch ungestützt sind. Im Deutschen gibt es lediglich Verständigungsprobleme, wenn dieselben Fremdwörter bei Soziologen etwas anderes bedeuten als bei Naturwissenschaftlern.
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Kommentar von b. eversberg, verfaßt am 14.12.2006 um 14.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5526
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Eine soziale Folge ist, daß der Suchende heute mehr wissen muß als zuvor, insbes. darf die klassische Schreibung nicht vergessen werden, man steht sonst zunehmend dumm da.
Nur als Beispiel: Im ZEIT-Archiv kann man schön suchen. Es offenbart sich dabei auch ein selbstverschuldetes Chaos:
potenziell: 1284 – potentiell: 334
essenziel: 108 – essentiell: 34
behände: 33 – behende: 31
Schlussstrich: 111 – Schlußstrich 19
selbstständig: 1136 – selbständig: 319
viel versprechend: 129 – vielversprechend: 377
wohl vorbereitet: 887 – wohlvorbereitet: 6 (davon einer 2006!)
allein stehend: 44 – alleinstehend: 162
Gräuel: 147 – Greuel: 68
gräulich: 19 – greulich: 11
usw. usf.
Gewiß gab es auch vor der Reform Varianten und Fehler. Aber die Zahl der Fälle, wo man beim Suchen an dieses Problem denken müßte, wurde gewaltig vermehrt.
Die Altschreibungen finden sich dabei aber stets auch in den 2000er Jahren!
Wann eigentlich die „Zeitschreibung“ eingeführt wurde, ist nicht erkennbar, oder ob und wann daran noch was geändert wurde. Datiert ist nur ein Beitrag von Zimmer aus dem Jahre 1999.
Eigentlich haarsträubend, das Ganze.
Die Suchmaschine DDC, entwickelt in Verbindung mit dem DWDS, kennt augenscheinlich die Reformproblematik noch gar nicht. Man findet noch nicht einmal "dass" oder "selbstständig" im DWDS, nur im "Kerncorpus".
Im DWDS findet man unter "Rechtsschreibungsreform" (!) dies:
"die R. sieht wichtige Änderungen der zur Zeit geltenden Regeln vor".
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Kommentar von R. M., verfaßt am 14.12.2006 um 16.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5527
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Die UB der HU Berlin informiert die Benutzer ihres Katalogs:
„Sie können den Platzhalter auch verwenden, um unterschiedliche Schreibweisen zu finden. Geben Sie Schif*ahrt ein, um sowohl die alte Schreibweise (Schiffahrt) als auch die neue Schreibweise (Schifffahrt) zu finden.“
Vor zehn Jahren hätte sie schreiben können:
„Geben Sie Schif*ahrt ein, um sowohl die alte Schreibweise (Schifffahrt) als auch die neue Schreibweise (Schiffahrt) zu finden.“
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Kommentar von Thomas Hartwig, verfaßt am 15.12.2006 um 13.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5532
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Ich halte den Beitrag von Herrn Prof. Quambusch für sehr wichtig.
Müßte man den obrigkeitsgläubigen Deutschen nicht (stärker) bewußtmachen, daß es unrechtmäßig ist, sich nach irgendeiner Form der neuen Schreibung zu richten?
Dann hörten wir nicht mehr so oft die Argumente: "So ist es nun einmal." oder "Das ist so vorgeschrieben."
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.12.2006 um 15.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5557
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Die Reform-Schreibkultur der Beliebigkeit: Süddeutsche Zeitung vom 21.12.06, Wirtschaft, Unterüberschrift: "Top-Manager frei gelassen". Blieb er frei oder wurde er frei? Ist doch egal. Wszystko jedno.
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 21.12.2006 um 17.59 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5558
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Beliebigkeit? Ignoranz? Sorglosigkeit in jeder Hinsicht?
»Daniel James war als Übersetzter in Afghanistan tätig.«
»Daniel James [...] wird beschuldigt, dem Iran brisante Informationen übermittelt zu haben, berichteten der „Daily Telegraph“ und andere britische Zeitung am Donnerstag« – wobei "andere britische Zeitung" durchaus interessantes Deutsch sein könnte, aber hier eben leider nicht so gemeint ist.
(Artikel erschienen am 21.12.2006)
»Im Gespräch mit WELT.de erläutert der Vorsitzenden des Islamrats, welche Bilanz er zieht [...]«
(Artikel erschienen am 22.12.2006)
Dann aber doch auch wieder:
»Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat den streitenden Parteien einen Kompromiß vergeschlagen.«
(im Anreißer auf www.welt.de [21.12.06], im Artikel selbst "ss")
»Der Milliardär gilt als reichster Mann Rußlands.« (Anreißer zu "Abramowitsch", 21.12.06; und das dann sogar auch im Artikel selbst)
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Kommentar von Wolf, verfaßt am 26.12.2006 um 19.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=523#5573
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Bedingte Unrechtmäßigkeit
Die Unrechtmäßigkeit der willkürlichen Reform ist leider kein argumentatives Ruhekissen. Abgesehen davon, daß Ritter Quambusch die Unrechtmäßigkeit tapfer gegen Auffassungen des OVG, BVerwG und BVerfG verfechten muß, handelt es sich um eine bedingte Unrechtmäßigkeit. Entscheidende Bedingung ist die beharrliche Pflege des überkommenen Sprachgebrauchs. Dieser Gebrauch vermittelt sich über die Sprachkompetenz der Eltern in den schulischen Raum; mit diesem Gebrauch steht der Bürger seiner Verwaltung gegenüber.
Es ist zwar richtig, daß eine Reform, die eine neue Praxis begründen soll, sich zum Zeitpunkt ihrer Verordnung nie auf geltende Praxis stützen kann. Sofern die Obrigkeit (Schule, Verwaltung) von Rechts wegen gehalten ist, sich am Usus zu orientieren, ist ihre eigenmächtige Abweichung Unrecht. Es geht also um den Abstand zwischen Reformstaat und Bürgerstau. Dieser Abstand ist zwar prinzipiell gegeben, aber faktisch variabel. In diesem Sinn stellt Quambusch die Frage nach der Rechtslage "wenn die Sprachgemeinschaft den Reformschreibweisen von 1996 spontan gefolgt wäre." Die Rechtslage wäre einerseits unverändert, da prinzipiell gleich gelegen, andererseits von Beginn ein historischer Fall, weil faktisch erledigt.
Quambusch meint nun, seine hypothetische Frage sei erledigt, denn "eine solche Situation ist nicht eingetreten". Das ist die Frage. Ich hielte einen relativen Spontaneitätsbegriff für angemessen. Was Spontis lahm erscheint, darf für eine Allgemeine Zeitung ganz spontan sein. Mit anderen Worten: Die Chance, "Unrechtmäßigkeit" argumentativ stark zu machen, hängt an einer selbstbewußten, gebildeten Praxis und wird mit dem Einschwenken auf Reformkurs zunichte. Friedrich Denk hält das Umfallen der FAZ erst nach sechs langen Jahren für beachtlich; ich hätte erwartet, daß die FAZ zumindest 12 Jahre durchhält. Tatsache ist, daß ab Januar ein gewichtiges Akzeptanzdokument täglich in Druck geht, womit sich die Kluft zwischen bürgerlicher Sprachgemeinschaft und staatlicher Sprachverwaltung drastisch verringert.
Bei fortbestehender ziviler Ignoranz gegenüber dem verordneten Neuschrieb hätte die Behauptung der Unrechtmäßigkeit dieses Vorgehens juristisch weiter vertreten werden können. Der Betrieb muß seinen demokratischen Anschein wahren, insofern wären Kurskorrekturen weiterhin möglich und wahrscheinlich. Quambusch arbeitet jedoch sehr gut heraus, daß der Staat und seine Gerichte auf die außerrechtliche Macht des Faktischen setzen, in der Erwartung, daß sich die kurzzeitige Unrechtslücke durch sprachgemeinschaftliche Folgsamkeit bald schließen werde. Als Wegweiser dient die "staatliche Anleitung zur Minderung der Kommunikationsqualität."
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