Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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24.03.2006
„Noch mehr Chaos“
– oder mehr Geld?
In Südtirol macht man sich über die Rechtschreibsituation keine Illusionen. In Darmstadt hingegen schon.
Die Lage ist chaotisch, und Nachbesserungen machen alles nur noch schlimmer. Das ist, wie die Dolomiten
berichten, die einhellige Meinung der Südtiroler Schüler und Lehrer.
Die gute »alte« Rechtschreibung haben die heutigen Schülerinnen und Schüler gar nicht mehr gelernt, wie sollten sie sich deren Wiedereinführung wünschen können?
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hingegen sieht alles auf bestem Wege. Nur etwas mehr Geld könnte man schon brauchen. Für die Ausstattung des Rechtschreibrats.
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Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 24.03.2006 um 13.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3636
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Was nützt denn die "kontinuierliche Beobachtung des Sprachgebrauchs", wenn dieser in weiten Teilen erzwungen ist? Welchen Sprachgebrauch will man denn beobachten? Den in den Schulen, den in den gleichgeschalteten oder den nicht gleichgeschalteten Zeitungen, den der Schriftsteller, die sich umstellen lassen, oder den derer, die sich weigern?
Die Akademie sollte es wirklich besser wissen ...und nicht so tun, als ob die Beobachtung eines chaotischen Zustands zur Einheitlichkeit führen könnte.
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Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 24.03.2006 um 14.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3637
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Zu den Rahmenbedingungen für professionelle Arbeit gehört nicht allein eine finanziell und institutionell abgesicherte Arbeitsebene, sondern insbesondere Professionalität derjenigen, die die Arbeit verrichten sollen.
Die Pressemitteilung der Darmstädter Akademie mag diplomatisch gemeint sein, um ihren grundsätzlichen guten Willen zu signalisieren. Von viel Sprachverstand zeugt sie allerdings nicht, wenn sie das Ergebnis des Rats für deutsche Rechtschreibung als „erfolgreich“ bezeichnet und es begrüßt, und wenn sie überhaupt in der Frage der Rechtschreibregelung die Möglichkeit eines Kompromisses für erwägenswert hält. Wissenschaft lebt nicht von Kompromissen, sondern von Erkenntnissen, warum sollte das für die Sprachwissenschaft nicht gelten?
Die Forderung müßte allerdings tatsächlich dahin gehen, daß die Beobachtung und Beschreibung der Orthographie wieder in die Hände von politik- und kommerzfernen rein wissenschaftlich orientierten Institutionen gelegt wird. Die Geschichte der Rechtschreibreform hat allerdings gezeigt, daß es für solche Institutionen an kompetentem Personal mangelt, sonst hätte sie ja gar keine Chance gehabt und wäre von der deutschen Germanistik unter Gelächter abgelehnt worden. Wer also, wenn doch ein Wunder geschieht und sowohl materielle wie institutionelle Rahmenbedingungen vom Himmel fallen, sollte die inhaltliche Arbeit leisten? Die Darmstädter Akademie hat mehrfach bewiesen, daß sie dafür nicht in Frage kommen kann. Eine „zweitbeste“ Orthographie vorzuschlagen (Wallstein Verlag 2003) und für die deutsche Sprache gut genug zu finden, oder jetzt dieses unausgegorene Nachbesserungsflickwerk des Rechtschreibrates zu „begrüßen“, disqualifiziert sie für diese Aufgabe definitiv.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 24.03.2006 um 15.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3638
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Die "kontinuierliche Beobachtung des Sprachgebrauchs"
Da stimme ich Ihnen zu, Frau Morin. Letztlich ist es weder möglich noch sinnvoll, den
''Sprachgebrauch'' zu beobachten, und schon gar nicht kontinuierlich! Dies liefe auf eine totale Überwachungsgesellschaft im Namen des Götzen ''lebendige Sprache'' hinaus. Es geht hier auch nicht um den ''Sprachgebrauch'', denn den wird sich eh' keiner vorschreiben lassen, sondern um den Schriftsprachgebrauch. Doch selbst hier ("kontinuierliche Beobachtung des Schriftsprachgebrauchs") trifft Ihre Argumentation zu bzw. paßt sogar noch besser. Selbst die ''Beobachtung der Schriftsprache'', wenn sie vernünftige Ergebnisse liefern soll, bringt so viele Probleme der verschiedensten Art mit sich, daß man zwar irgendwelche Beobachtungen anstellen kann, diese aber im höchsten Maße interpretationsbedürftig wären. Ich habe -- besonders in www. rechtschreibreform.com unter einem anderen Pseudonym -- schon einiges dazu geschrieben, das aber zumeist ignoriert wurde. Leider wird hier aber nicht über solche Probleme diskutiert. Die Leute wollen hier Sprache beobachten, das darf nicht in Frage gestellt werden! Man will Veränderungen feststellen um sich der ''Lebendigkeit'' der Sprache zu versichern. Zumindest habe ich den Eindruch, wenn ich hier bestimmte Einträge lese.
Man kann natürlich argumentieren, daß man die Texte ''professionelle Schreiber'' als Grundlage heranzieht, aber wer legt fest, was als ''professionell'' zu gelten hat? Nur der Journalist, der in der Hektik der Tagesaktualität auch mal Fehler macht, reformbedingt mal nach der einen, mal nach der anderen Norm schreibt, weil man in ebendieser Hektik in alte Gewohnheiten zurückfällt, der vielleicht nie besonders gut in (klassischer) Rechtschreibung war, der vielleicht eine Rechtschreibprüfung benutzt oder der mal ausprobieren will, inwieweit er die Macht hat, seine spezielle Schreibung bestimmter Wörter in ein Wörterbuch einfließen zu lassen? Natürlich kommt man durch das Internet leicht an solche Texte heran und kann sie durch ein Programm automatisiert analysieren lassen. Aber, ist dieses Programm korrekt, kann jeder Interessierte den Quellcode einsehen? Sollten nicht auch Romantexte als Grundlage herangezogen werden, denn deren Autoren sind in höheren Maße professionell als Journalisten, da sie nicht der Hektik und der Tagesaktualität ausgesetzt sind und sozusagen für die Ewigkeit schreiben?
Eine Diskussion, wie Sprach- bzw. Schriftsprachbeobachtung -- insbesondere als Grundlage für ein verbindliches Wörterbuch -- durchgeführt werden soll, dürfte genauso erbittert wie die Diskussion über die Rechtschreibreform geführt werden. Letztlich ist es auch dasselbe.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 24.03.2006 um 15.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3639
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Selbstverständlich muß die Sprachentwicklung beobachtet werden. Was dabei herauskommt, wenn man sie mißachtet, hat man ja gesehen. Die Forderung nach Drittmitteln hat Peter Eisenberg schon verschiedentlich erhoben, so im Juli 2000. Selbstverständlich ist es unzumutbar, daß die KMK den deutschen Ratsdelegierten nicht einmal die Reisespesen ersetzen will. Aber auch Bezahlung einiger Bahnfahrkarten oder die Einrichtung mehrerer Planstellen hätte das Ergebnis der Beratungen sicher nicht merklich verbessert. Dazu fehlen eben noch ganz andere Voraussetzungen als die finanziellen.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.03.2006 um 15.53 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3640
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Es geht vor allem darum: Es geht nicht an, daß irgendwelche Leute sich Regeln und neue Schreibweisen ausdenken, die nicht gebräuchlich und/oder nicht zweckmäßig und/oder nicht erwünscht sind – meistens fallen diese Kriterien im Ergebnis sowieso zusammen. Stattdessen haben Schreibungen als Norm zu gelten, die gebräuchlich usw. sind. Man kann sich über Einzelheiten und Grenzfragen oder auch grundsätzlich über manches streiten, aber zunächst einmal sollte klar sein, daß dies der richtige Weg ist. Es war auch der Weg, der zu jenen Schreibungen geführt hat, die wir heute für (annähernd) optimal halten.
Man kann es mit den abstrakten Bedenken auch übertreiben. Nur weil grundsätzliche Probleme zum Beispiel im Zusammenleben in einer Gesellschaft oder in einer Partnerschaft sich niemals ein für allemal und in jeder Hinsicht letztgültig klären lassen, ist es dennoch nicht unmöglich, ein gutes Zusammenleben zu organisieren bzw. zu erleben. Es gibt viele weitere Beispiele für "Probleme", die man theoretisch ins unendliche treiben kann, die sich aber in der Praxis zur weitgehenden Zufriedenheit lösen lassen. Vor allem ist es möglich, zwischen grundsätzlich verfehlten, schädlichen, unbrauchbaren Herangehensweisen (Rechtschreibreform) und konstruktiven, hilfreichen, nützlichen Herangehensweisen (Beschreibung des Sprachgebrauchs, Norm als Feststellung des Üblichen) zu unterscheiden. Auch bei unserem Thema.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 24.03.2006 um 17.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3641
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Bevor man irgendetwas mißt, muß man sich über einheitliche Meßmethoden einigen, sonst mißt jeder das, was er als Meßergebnis haben möchte. Daß die Regeln der deutschen Sprache nicht erfunden, sondern entdeckt werden müssen, haben sie mit den Gesetzen der Mathematik, Physik und Chemie gemeinsam.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2006 um 17.38 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3642
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Der Wunsch nach mehr Geld und Stellen könnte in Erfüllung gehen. Immerhin hat die DASD den Kultusministern nicht nur eine goldene Brücke gebaut, sondern erkennt auch in ihrer neuen Presserklärung ausdrücklich an, daß der Staat für die Rechtschreibung zuständig ist und bleiben soll. Dafür kann man schon eine Gegenleistung verlangen. Allerdings wird damit in das ureigene Geschäft der Wörterbuchredaktionen eingegriffen, eine interessante Konstellation.
Übrigens ist der Text, wie alle Verlautbarungen der DASD, in klassischer Rechtschreibung verfaßt - als wollte sie uns den Anblick der zweitbesten nun doch nicht zumuten.
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Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 24.03.2006 um 17.45 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3643
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Die Presseerklärung der Akademie ist ein politisches Papier, das -- wie alle politischen Papiere -- wohl bewußt nichts Genaues aussagt.
"Die Deutsche Akademie ... begrüßt den ... vorgelegten Kompromiß", steht da. Was bedeutet das? Die Akademie begrüßt das, was ihr vorgelegt wurde, kann aber das nicht beurteilen, was ihr nicht vorgelegt wurde? Ist die Schreibung "Kompromiß" ein Vertipper oder ein Zeichen dafür, daß man sich dem "Herzstück der Reform" noch immer nicht anschließt?
Für den, der nicht lesen mag, ist diese Presseerklärung ein Lob; für den, der lesen kann und mag, ist sie ein eindeutiger Verriß.
Deutlich weniger Eierei stünde der Akademie allerdings wohl an.
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Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 24.03.2006 um 17.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3644
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Die neue Rechtschreibung wurde nun gerade eben mit äußerstem Erfolg in den Schulen ein- und durchgeführt; die Experimentierfreude der Pädagogen hat ihre schaumgebremste Aufnahme in der Bevölkerung nicht geschmälert.
„Schon wida ferpend“
Ohne die Krawallmacher, die von der überkommenen Rechtschreibung partout nicht lassen wollen, wäre das Experiment sicherlich besser verlaufen.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 24.03.2006 um 19.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3645
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<<Bevor man irgendetwas mißt, muß man sich über einheitliche Meßmethoden einigen, sonst mißt jeder das, was er als Meßergebnis haben möchte. Daß die Regeln der deutschen Sprache nicht erfunden, sondern entdeckt werden müssen, haben sie mit den Gesetzen der Mathematik, Physik und Chemie gemeinsam.>>
Dem ist natürlich zuzustimmen! Es gibt auch den Spruch: ''Wer mißt mißt Mist!'' D. h., daß jede Messung fehlerbehaftet ist. Die Meßmethode selbst verfälscht das Meßergebnis. Im Gegensatz geht es bei der Sprach- und Schriftsprachentwicklung und -beobachtung aber nicht um Mathematik, Physik oder Chemie, sondern um Menschen! Nicht jeder möchte gerne beobachtet werden. Die Sprachgemeinschaft ist nicht homogen, sondern entwickelt sich an den verschiedenen Enden in verschiedene Richtungen.
@ R.M.: Es geht mir nicht darum, Sprachentwicklung zu mißachten! Es geht mir darum, vorschnelle Schlüsse aus ''Beobachtungsergebnissen'' zu verhindern, da diese Ergebnisse durchaus verschieden interpretiert werden können.
@ Wolfgang Wrase: Vom Prinzip her stimme ich Ihnen zu. Allerdings habe ich keine abstrkten Bedenken geäußert, sondern ziemlich konkret gesagt, wo bei der Sprachbeobachtung mögliche Fehlerquellen liegen könnten. Leider geht hier niemand darauf ein.
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 24.03.2006 um 21.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3646
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In den ersten Jahren der Rechtschreibreform setzten die Kritiker große Hoffnungen auf die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die sich auch damals schon anbot, die Rolle der Duden-Redaktion zu übernehmen. Ihr Präsident Professor Meier nominierte sogar einen Rechtschreibrat, der allerdings nie in Aktion trat und schließlich die ihm zugedachte Aufgabe an Professor Eisenberg delegierte. Professor Weinrich brachte zwischendurch eine andere Lösung ins Gespräch. In Zweifelsfällen sollten die Wörterbuchredaktionen die Darmstädter Akademie anrufen, die dann im Plenum eine Entscheidung fällen würde. An sich ist der Vorschlag naheliegend, eine ohnehin aus öffentlichen Mitteln unterhaltene Institution mit der Rechtschreibnormierung zu betrauen, und da käme außer dem Mannheimer Institut für Deutsche Sprache eben nur die DASD in Frage. Personell und sachlich ist das IDS natürlich bei weitem besser ausgestattet, aber angesichts ihrer unrühmliche Rolle bei der Rechtschreibreform wäre dies sicherlich nur die "zweitbeste" Wahl. Es steht freilich zu befürchten, daß es darauf hinauslaufen wird. Das IDS hat bekanntlich schon staatliche Mittel beantragt, um diese Aufgabe übernehmen zu können.
Ansonsten gibt es im deutschsprachigen Raum nur drei kommerzielle lexikographische Einrichtungen, die für eine solche Aufgabe gewappnet wären, nämlich die Wörterbuchredaktionen des Duden, von Bertelsmann-Wahrig und des Österreichischen Wörterbuchs. In Frankreich und in der angelsächsischen Ländern arbeiten ebenfalls jeweils mehrere Wörterbuchverlage unabhängig voneinander, aber die Probleme sind dort weniger groß als bei uns. Die angekündigten neuen Auflagen der drei konkurrierenden deutschsprachigen Wörterbücher werden erneut zeigen, daß Einheitlichkeit ohne "Feinabstimmung" nicht zu erreichen ist, es sei denn, man einigte sich darauf, die ohnehin in der Schreibpraxis zu beobachtende Varianz auch lexikographisch zu dokumentieren. Das führt zwar zu Hausorthographien und wird als "Beliebigkeit" verurteilt, aber die Deutschschreibenden müssen eben lernen, wie es um die Dynamik der deutschen Rechtschreibung bestellt ist. Man kann nicht die Freiheit individueller Ausdruckspräzisierung und eine starre Reglementierung gleichzeitig haben wollen.
In allen Kultursprachen orientiert sich die allgemeine Rechtschreibpraxis an dem Vorbild der hohen Literatur und der überregionalen Periodika. Das Schreiben einfacher Leute erforscht niemand, so daß urige Varianten wie Professor Augsts Volksetymologien normalerweise unter der Decke bleiben. Zwar spielen Rechtschreibwörterbücher nirgendwo eine solche dominierende Rolle wie bei uns, aber den zirkulären Prozeß gibt es überall: Die hohe Praxis orientiert sich am prestigiösen Wörterbuch, und dieses wiederum orientiert sich an der hohen Praxis. Erst wenn Bereiche der Rechtschreibung so unregulierbar sind wie bei uns, gibt es auch hoch dort oben Varianten. Professor Ickler hat sie in der Presseorthographie der Jahre vor 1996 nachgewiesen, sich dabei allerdings das Problem eingehandelt, wie man diese Vielfalt lexikographisch darstellt. Wer die gegenwärtigen Probleme der deutschen Rechtschreibung unvoreingenommen betrachtet, sieht darin auch etwas Positives: Die hierzulande übliche Überreglierung hat sich selbst ad absurdum geführt. Nun sind ehrliche Sprachpfleger gefragt, die den Deutschschreibenden in einigen wenigen volkstümlich formulierten Regeln erläutern, worauf es ankommt. Wenn dieser freie Angang von der Schreibgemeinschaft akzeptiert wird, erhalten wir wirklich den Rechtschreibfrieden, der jetzt nur als Schlagwort von sich reden macht.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.03.2006 um 03.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3648
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An Bardioc: Die Probleme, die Sie grundsätzlich beschreiben, lösen sich bei der konkreten Arbeit zum größten Teil in Luft auf. Nehmen wir ein Beispiel: Das Wort anthrazit ist nicht ganz einfach zu schreiben. Ein Fremdwort, das durchaus auch der Normalbürger immer mal wieder sieht oder auch gebraucht, etwa als Farbe eines Kraftfahrzeugs oder von Kunststoffoberflächen.
Es dürften auch die Schreibweisen antrazit und antrazith vorkommen. Ob es sich bei der Quelle einer solchen Variantenschreibung um einen hektischen Journalisten handelt oder um einen Romanautor, der nicht die besten Kenntnisse der Rechtschreibung hat, spielt keine Rolle. (Das werfen Sie als unlösbares theoretisches Problem auf.) Es spielt keine Rolle, ob eine Rechtschreibprüfung aus Zeitnot oder aus Faulheit oder aus Gleichgültigkeit nicht eingesetzt wurde; oder ob eine Rechtschreibprüfung nicht zur Verfügung stand; oder ob sie versagt hat; oder ob ein Lektor unkonzentriert war; oder ob seine Korrekturanweisung versehentlich nicht umgesetzt wurde. Das ist alles egal, denn man kommt unmittelbar zu dem Ergebnis: anthrazit ist die gebräuchlichste Schreibweise, also die Norm.
Wenn sich irgendwann eine Variante antrazit immer stärker ausbreiten sollte, wird sie ein gewissenhaftes deskriptives Wörterbuch irgendwann verzeichnen. Es spielt im Prinzip keine Rolle, ob das erst bei einem Anteil der Variante von 30 Prozent oder schon bei 10 Prozent gemacht wird. Das eine Wörterbuch ist eben variantenfreudiger, das andere ist normfreudiger. Dies zu entscheiden ist die schwierige Aufgabe des Wörterbuchverfassers oder der Redaktion. Tatsächlich gibt es in einer Unzahl von Fällen die Abwägung: Soll die Variante schon verzeichnet werden oder nicht? Aber im Endergebnis ist das wiederum unerheblich, wenn man nur mit Rechtschreibung vernünftig umgeht. Solange anthrazit nämlich eindeutig die Hauptvariante ist, wird sie auch bevorzugt werden. Es ist dann für den Schreiber unwesentlich, ob eine andere Variante schon in einem Wörterbuch verzeichnet ist oder nicht. Sobald eine Nebenvariante sich so stark durchgesetzt hat, daß sie als gleichwertige Wahl für den Schreiber in Frage kommt, wird sie auch verzeichnet und damit anerkannt sein.
Man kann hier also zwischen großen abstrakten Problemen und einfachen konkreten Problemlösungen unterscheiden.
Es gibt, wieder nur vordergründig, im Moment nur ein sehr großes allgemeines Problem: Was bedeutet "deskriptives Verfahren" unter den Bedingungen der Rechtschreibreform, die unerwünschte, unzweckmäßige und vor allem ungebräuchliche Schreibungen massenhaft gegen die gebräuchlichen Schreibweisen durchzusetzen versucht? Dieses Problem mutet tatsächlich unlösbar an. Es ist aber nicht die Schuld des beschreibenden Verfahrens, sondern die Schuld der Rechtschreibreform, denn sie ist das genaue Gegenteil davon. Man kann einem guten Verfahren nicht vorwerfen, daß es nicht mehr befriedigend funktioniert, wenn es mit seinem Gegenteil kombiniert werden soll.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.03.2006 um 06.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3649
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Da ich gerade für eine bevorstehende Neuauflage meine "Normale deutsche Rechtschreibung" noch einmal Wort für Wort durchsehe, kann ich sagen, daß die Probleme mit der Darstellung der nichtreformierten deutschen Rechtschreibung viel kleiner sind, als mancher annehmen mag. Wenn das Ganze dann auch noch als bloße Empfehlung daherkommt, was natürlich mit der Entstaatlichung verbunden ist, gibt es überhaupt kein Problem mehr. Es kommt ja nur darauf an, daß jemand, der nach diesem Wörterbuch schreibt, einen orthographisch unauffälligen Text hervorbringt. Wenn ein solcher Text also "um ein Vielfaches" oder "beiseiteschieben" enthält, dann wird ein normaler Leser nichts dabei finden, denn es entspricht sowohl seiner Leseerfahrung als auch seiner Intuition. Nur ein Dudenfetischist kommt auf den Gedanken, im Duden von 1991 nachzuschlagen und dann festzustellen, daß es "falsch" ist. Für solche Leute arbeiten wir aber nicht.
Sehen wir uns doch die einzelnen Problemfälle genauer an! Grundsatzdebatten haben was Steriles - wenn man keine Reform an Haupt und Gliedern plant, sondern bloß die Praxis erleichtern will.
Ich weiß, daß es neben den von mir angeführten Schreibweisen noch andere gibt. Davon kann jeder Gebrauch machen. Aber wenn er sich nach meinem Wörterbuch richtet, ist er auf der sicheren Seite.
Was aus dieser Haltung für die Schule folgt, ist auch klar: Es ist die Aufgabe des Deutschunterrichts, die Schüler auf der Hauptstraße der Rechtschreibung zu halten. Seitenwege gibt es, aber man meidet sie aus leicht einsehbaren Gründen.
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 25.03.2006 um 09.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3650
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Professor Icklers Falsch ist richtig erinnert daran, daß die Reformpropaganda nicht nur "behutsam", sondern auch "volkstümlich" in ihrem Sinne besetzt hat. In meinem letzten Beitrag sollte besser nicht von „volkstümlich formulierten Regeln“ die Rede sein, sondern von „allgemeinverständlichen Regeln“. Im übrigen finde ich es erfreulich, daß neuerliche Nuancierungen in den Diskussionsbeiträgen den Eindruck zerstreuen, hier sei nur eine monolithische Position gefragt. Wir alle schreiben eben für Leser und nicht für im staatlichen Auftrag handelnde Lehrer oder normfetischistische Beckmesser. Leider sind wir aber noch weit davon entfernt, die Schulzulassung von Normale deutsche Rechtschreibung zu erleben.
Wolfgang Wrases Abhandlung über Genese und Akzeptanz von Varianten ist ein wahres Kabinettstück und sollte nicht so bald in Vergessenheit geraten. Zugleich müssen wir aber folgendes bedenken: Wahrscheinlich mehr als 95 Prozent der Wörter in Texten sind nach wie vor so fest in ihren Schreibungen, daß sie weder durch Regeln gestützt werden müssen noch Anlaß zu der Befürchtung geben, sie könnten sich in Varianten auflösen. Möglichkeiten der Ausdrucksdifferenzierung für Virtuosi, aber gleichzeitig auch Unsicherheiten für ungeübte Schreiber enthalten lediglich unsere Problemfelder "Univerbierung" und "Substantivierung". Wie hier die künftigen Lösungen aussehen werden, entscheidet über Enge oder Weite unserer Schreibkultur.
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 25.03.2006 um 13.57 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3652
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An der Presseerklärung der DASD fällt zweierlei auf: daß die Akademie eine solche Erklärung für geboten hielt und daß sich kaum jemand für diese zu interessieren scheint. Sie wurde am Donnerstag von dpa verbreitet, schlug sich meines Wissens aber weder in den Freitags- noch in den Samstagsausgaben der Tageszeitungen nieder. Es ist allerdings gut möglich, daß ich etwas übersehen habe. Für diesen Fall bitte ich um Widerspruch.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 27.03.2006 um 02.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3657
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Nur das Darmstädter Echo hat die Meldung pflichtschuldigst aufgegriffen.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.03.2006 um 07.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3658
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Anders als manche Ratsmitglieder scheint die DASD noch nicht gemerkt zu haben, wofür sie der KMK eigentlich gedient hat. Sie war sozusagen das größte Feigenblatt. Glaubt jemand im Ernst, "die Politik" würde in Zukunft auch nur einen müden Cent lockermachen, um dem Rat die Arbeit zu ermöglichen, für die er laut Statut eingerichtet wurde? Wo doch die Wörterbuchverlage längst die angestammte Aufgabe wieder übernommen haben, und das ganz ohne Kosten für die öffentliche Hand. Die Verfasser der Verlautbarung glauben wohl selbst nicht daran, reden sie doch verschleiernd und leisetreterisch von "Strukturen". In Darmstadt scheint man tatsächlich zu glauben, DUDEN, WAHRIG und Konsorten warteten auf Zulieferung vom Rat, um mit allerhöchstem Segen ihrer geschäftlichen Tätigkeit nachgehen zu können.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.03.2006 um 10.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3659
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Je einfacher denken, desto besser (angeblich ein Adenauer-Ausspruch)
Merke: Nicht die Umfaller, Wendehälse, Mitläufer sind für die KMK wichtig. Ihr Interesse gilt allein den noch nicht Unterworfenen. Auch "die Politik" geht ökonomisch und ressourcenschondend vor. Wenn die DASD glaubt, noch immer eine bedeutende Rolle im Rechtschreibtheater zu spielen, so hat sie sich in dem Moment in die Komparserie katapultiert, als sie sich auf Kompromißlinie bringen ließ - von ihren eigenen Leuten.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 27.03.2006 um 10.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3660
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Am Rande bemerkt:
Helmut Jochems: ''Wir alle schreiben eben für Leser und nicht für im staatlichen Auftrag handelnde Lehrer oder NORMfetischistische Beckmesser. Leider sind wir aber noch weit davon entfernt, die Schulzulassung von NORMale deutsche Rechtschreibung zu erleben.''
Das Wort ''normal'' ist ziemlich problematisch, denn letztlich bedeutet es nur ''normgemäß''.
Was ist normal?
Einer Norm entsprechend? Welcher Norm? Duden? Ickler? Reform? Der Schreibung von Journalisten, der von Politikern, Lehrern, einer beliebigen Szene, der Tagesthemen, Tageschau, Schülern?
Jemand sagte mir eimal, daß es ''normal'' nicht gibt!
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 27.03.2006 um 15.39 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3665
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An Wolfgang Wrase:
>>An Bardioc: Die Probleme, die Sie grundsätzlich beschreiben, lösen sich bei der konkreten Arbeit zum größten Teil in Luft auf. Nehmen wir ein Beispiel: Das Wort anthrazit ist nicht ganz einfach zu schreiben. Ein Fremdwort, das durchaus auch der Normalbürger immer mal wieder sieht oder auch gebraucht, etwa als Farbe eines Kraftfahrzeugs oder von Kunststoffoberflächen.<<
Der NORMalbürger schreibt NORMgerecht nach der NORMalen Rechtschreibung. – Wer, bitteschön, ist denn der Normalbürger? Einer, der wenig schreibt? – Merken Sie, worauf ich anspiele? Haben wir Reformgegner es nötig, solche Konstrukte zu erfinden bzw. zu benutzen?
''Anthrazit''
Ausgangspunkt unserer Diskussion ist der Beitrag von Frau Morin, in dem gefragt wird, was denn die ''kontinuierliche Beobachtung des Sprachgebrauchs'', wenn dieser in weiten Teilen erzwungen ist, denn nützt und welchen Sprachgebrauch man beobachten will. Da es in ihrem Beitrag um die SCHREIBUNG des Wortes ''anthrazit'' geht, bezieht sich das natürlich auf den Schriftsprachgebrauch.
Wir befinden uns hier auf der Webseite der FORSCHUNGSgruppe Deutsche Sprache, und Sie und viele andere hier möchten die Entwicklung der (Schrift-) Sprache beobachten, und Sie möchten offensichtlich, wie der Name impliziert, einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgen.
Wenn Sie wissenschaftlich mit (empirischen) Daten umghen wollen, so MÜSSEN sie sich der mögliche Fehlerquellen bewußt sein und die Ergebnisse entsprechend interpretieren. Anderenfalls müssen Sie sich unwissenschaftliches Vorgehen vorwerfen lassen. Es scheint leider so zu sein, daß viele der hier eintragenden Sprachliebhaber nicht die geringste Ahnung davon haben, wie mit Zahlen und Meßergebnissen umzugehen ist. (Ich möchte nicht behaupten, daß ich besonders viel Ahnung davon habe, aber die Naivität wie hier, und früher in www.rechtschreibreform.com, damit umgegangen wurde, ist schon erschreckend.)
Wie schreib Germanist so schön:
''Bevor man irgendetwas mißt, muß man sich über einheitliche Meßmethoden einigen, sonst mißt jeder das, was er als Meßergebnis haben möchte. Daß die Regeln der deutschen Sprache nicht erfunden, sondern entdeckt werden müssen, haben sie mit den Gesetzen der Mathematik, Physik und Chemie gemeinsam.''
Es spielt eben schon eine Rolle, wie ein Ergebnis zustande kommt: Wenn jeder eine fehlerhafte Rechtschreibkorrektur benutzt, stellt Herr Ickler irgendwann einmal fest, daß ''anthrazit'' eben nicht mehr die gebräuchlichste Schreibweise ist, also nicht mehr die Norm, und das, obwohl alle Leute richtig ''anthrazit'' geschrieben haben, was dann aber aufgrund der fehlerhaften Rechtschreibkorrektur automatisch verändert wurde. Rechtschreibänderungen werden damit ''zufällig'' oder durch fehlerhafte Programme erzwungen. Diese Art von Problemen sollten berücksichtigt werden, selbst wenn sie auf den ersten Blick als nebensächlich erscheinen. Auf einem anderen Gebiet hatte eine vergleichbare Konstellation weltweite Auswirkungen: Vor ein paar Jahren gab es einen Börsencrash, einen ''schwarzen Freitag'', der dadurch bedingt war, daß viele Börsianer ihre Geschäfte durch ein und dasselbe Programm automatisiert abwickeln ließen. (Ich kenne mich mit desem Thema nicht sehr gut aus, vielleicht weiß jemand hier mehr darüber.)
>>Wenn sich irgendwann eine Variante antrazit immer stärker ausbreiten sollte, wird sie ein gewissenhaftes deskriptives Wörterbuch irgendwann verzeichnen.<<
Es geht doch darum, was sie messen wollen: Den Umgang von Menschen oder den von Programmen (Maschinen) mit Sprache und Rechtschreibung.
>>Es spielt im Prinzip keine Rolle, ob das erst bei einem Anteil der Variante von 30 Prozent oder schon bei 10 Prozent gemacht wird.<<
Vom Prinzip her spielt es wirklich keine Rolle, ab welchem Prozentsatz man einer bestimmten Schreibweise den Status einer Variante zukommen lassen sollte, WENN dieser Prozentsatz nur genügend hoch über dem ''Fehlerrauschen'' liegt. Niemand würde wollen, daß man eine neue Variante einführt, nur weil sich die Leute auch mal vertippen.
Zumindest ich würde das nicht wollen. Ich will nicht, daß jemand aus der INTERPRETATION meines Verhaltens – ganz gleich auf welchem Gebiet – Schlüsse für Veränderungen zieht und meint, mir dadurch etwas ''Gutes'' tun zu müssen, sondern allenfalls aus meiner bewußten WILLENSBEKUNDUNG.
>>Das eine Wörterbuch ist eben variantenfreudiger, das andere ist normfreudiger. Dies zu entscheiden ist die schwierige Aufgabe des Wörterbuchverfassers oder der Redaktion. Tatsächlich gibt es in einer Unzahl von Fällen die Abwägung: Soll die Variante schon verzeichnet werden oder nicht? Aber im Endergebnis ist das wiederum unerheblich, wenn man nur mit Rechtschreibung vernünftig umgeht.<<
Und hier kommt die Didaktik ins Spiel: Varianten sind, wie das Frau Pfeiffer-Stolz schon ausgeführt hat, didaktisch nicht sehr sinnvoll. Ein Schüler kann eben noch nicht ''vernünftig'' mit Rechtschreibung umgehen, sondern ist erst dabei, es zu erlernen.
Jemand, der in einem Wörterbuch nachschaut, möchte von möglichen Varianten die RICHTIGE genannt bekommen, er möchte eine klare und sichere Entscheidung, anderenfalls würde er ja nicht nachschauen. (Daß man das h in ''anthrazit'' auch an einer anderen Stelle setzen könnte, dürfte jedem klar sein, dafür brauche ich kein Worterbuch, welches mir diese Variante ''legalisiert''.) Deshalb sollten Varianten die Ausnahme, aber nie die Regel sein. Sie sollten begründet sein. Jede Schreibweise ist durch ihre Etymologie begründet, um die richtige Schreibweise von z. B. ''anthrazit'' herauszufinden, müßte man also die Geschichte dieses Wortes kennen. Natürlich, wenn es eine große Mehrheit anders schreibt, Beispiel Bureau vs. Büro, dann sollte dies natürlich als richtig anerkannt werden.
Solche Entscheidungen sollten aber nicht nur ''mechanisch'' von einem Algorithmus gefällt werden, der Wörter nur gemäß ihrer Häufigkeit als ''richtig'' ausweist.
>>Solange anthrazit nämlich eindeutig die Hauptvariante ist, wird sie auch bevorzugt werden. Es ist dann für den Schreiber unwesentlich, ob eine andere Variante schon in einem Wörterbuch verzeichnet ist oder nicht. Sobald eine Nebenvariante sich so stark durchgesetzt hat, daß sie als gleichwertige Wahl für den Schreiber in Frage kommt, wird sie auch verzeichnet und damit anerkannt sein.<<
Ja, natürlich, es geht, wie eben dargelegt, eben darum, wie eine Schreibweise zu ihrem jeweiligen Status kommt.
>>Man kann hier also zwischen großen abstrakten Problemen und einfachen konkreten Problemlösungen unterscheiden.<<
Noch einmal, die von mir aufgezeigten ''Probleme'' sind nicht abstrakt. Es ist leicht, die Augen vor Sachverhalten zu verschließen, die man nicht kennt! Wie kann es in einer sehr komplexen und komplizierten Welt einfache Problemlösungen geben. Mit dieser Behauptung widersprechen Sie sich selber, wenn sie behaupten:
>>Dies zu entscheiden ist die schwierige Aufgabe des Wörterbuchverfassers oder der Redaktion. Tatsächlich gibt es in einer Unzahl von Fällen die Abwägung: Soll die Variante schon verzeichnet werden oder nicht?<<
>>Es gibt, wieder nur vordergründig, im Moment nur ein sehr großes allgemeines Problem: Was bedeutet "deskriptives Verfahren" unter den Bedingungen der Rechtschreibreform, die unerwünschte, unzweckmäßige und vor allem ungebräuchliche Schreibungen massenhaft gegen die gebräuchlichen Schreibweisen durchzusetzen versucht? Dieses Problem mutet tatsächlich unlösbar an.<<
Ja, genau, Herr Wrase, darum geht es mir schon die ganze Zeit: Was bedeutet "deskriptives Verfahren" unter den Bedingungen der Rechtschreibreform, die unerwünschte, unzweckmäßige und vor allem ungebräuchliche Schreibungen massenhaft gegen die gebräuchlichen Schreibweisen durchzusetzen versucht?
Wird in einer solchen Zeit ein deskriptives Verfahren eingesetzt, so wird man natürlich unerwünschte, unzweckmäßige und auch ungebräuchliche Schreibweisen feststellen und diese dann auch im Wörterbuch aufführen müssen. Aus genau diesem Grunde habe ich an anderer Stelle schon mehrmals eine Art ''Karenzzeit'' gefordert, in der ganz bewußt nicht ''beobachtet'' wird, damit sich die Gemüter beruhigen und die klassischen bzw. zweckmäßigen Schreibungen wieder zu ihrem Recht kommen können. Ich glaube allerdings nicht, daß man es sich nehmen lassen wird, dieses gigantische gesellschaftliche Experiment Rechtschreibreform unbeobachtet zu lassen, schließlich können dann die Gesellschaftsreformer aus ihren Fehlern lernen und später eine Reform noch besser planen und durchsetzen.
>>Es ist aber nicht die Schuld des beschreibenden Verfahrens, sondern die Schuld der Rechtschreibreform, denn sie ist das genaue Gegenteil davon. Man kann einem guten Verfahren nicht vorwerfen, daß es nicht mehr befriedigend funktioniert, wenn es mit seinem Gegenteil kombiniert werden soll.<<
Ja, aber dieses beschreibende Verfahren beschreibt, unter den heutigen Bedingungen eingesetzt, nur die vorherrschende Verwirrung. Hätte es keine Reform gegeben, wäre dieses Verfahren eher angebracht. Allerdings gibt es auch hier Grenzen: Vor einiger Zeit gab es hier folgende Aussage: In der Schweiz werden Fremdwörter aus den anderen schweizer Nationalsprachen nicht eingedeutscht, sondern in ihrer originalen Schreibweise übernommen. D. h., daß eingedeutschte Schreibungen solcher Wörter Fehler sind, unabhängig von ihrer Häufigkeit. Dies ist ganz klar präskriptiv! Es ist aber sinnvoll!
Rechtschreibung soll Sinn wiedergeben, und Sinn ist nicht abhängig von Mehrheiten!
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Kommentar von R. M., verfaßt am 27.03.2006 um 16.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3666
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Mit Beobachtung ist nicht die gewissermaßen besinnungslose Erhebung von Daten gemeint. Wenn wir die deformierte Schreibpraxis beobachten, folgt daraus auch nicht, daß wir Tipp über kurz oder lang als korrekte Schreibweise anerkennen müssen. Und wir haben schon deshalb nicht vor, die Augen vor der Realität zu verschließen, weil das unwissenschaftlich wäre.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.03.2006 um 17.53 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3668
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Richtig – üblich – normal
Ein Problem der Rechtschreibung ist, daß etwas normiert, kodifiziert, verbindlich gemacht werden soll, was sich mehr oder weniger schnell ändert. Einem unbefangenen Gemüt fällt es schwer, hinzunehmen, daß das, was gestern falsch war, heute richtig sein soll. Nehmen wir z.B. aus der chemischen Fachsprache den Wechsel vom Ä zum E in Bezeichnungen wie Äthanol/Ethanol, Äther/Ether usw. Man kann sagen, daß die geänderte Norm rein "willkürlich", "arbiträr" geschaffen wurde. Hintergrund war eine Anpassung an den Sprachgebrauch anderer Nationen. Insofern ist die Änderung auch rational begründet. Hinzu kommt, daß die chemischen Fachausdrücke ohnehin "Kunstgebilde" sind, zwar nicht völlig freischwebend, aber doch ziemlich "poetisch" abgeleitet Also: Der Wechsel verlangt zwar von manchem ein Umlernen, stößt aber nicht auf unüberwindliche innere Widerstände. Auch kommt in diesem Fall ein etymologisches Moment nur sehr mittelbar ins Spiel.
Etwas anders sieht es schon beim Wechsel von "Kathode" zu "Katode" aus. Ein Griechischkundiger kann das Wort ableiten, er vermißt das h, ihm erscheint die geänderte Schreibung "falsch". Wir nähern uns hier den berüchtigten "Quäntchen", "Meßner"... Der Unkundige kann "damit leben", wie es neuerdings so oft heißt. Aber auch der Kundige soll – Prof. Ickler hat es betont – gezwungen werden, sein besseres Wissen zu verleugnen. Man hat die Reform bildungsfeindlich genannt, und in der Tat wird den Schülern von Staats wegen zur Zeit nicht nur Falsches beigebracht, sondern, schlimmer noch, ein Bildungs- und Erkenntnispfad versperrt. (Daß Orthographie auch ein Bildungs- und Kulturgut hohen Ranges sein könnte, kommt natürlich Leuten, die in ihr nur eine sinnlose Plage und Zumutung sehen, nicht in den Sinn).
Zum Beispiel anthrazit wäre aus meiner Sicht zu sagen, daß eine Schreibweise, die sich auf die fremdsprachliche Wurzel bezieht, niemals falsch werden kann. Man kann sich sozusagen immer wieder der richtigen Schreibweise versichern. Hingegen fällt es bei "Gämse", "Stängel", "schnäuzen" schon viel schwerer, überzeugende Argumente gegen diese Neuschreibungen zu finden. Sie sind ja nicht eigentlich falsch, sondern allenfalls überholt. Für die Jugend haben sie vielleicht sogar einen nostalgischen Reiz.
Schreibungen ändern sich im Gebrauch, aber sie ändern sich verschieden schnell und auch abhängig von der Sprachebene. Möglicherweise wird dieser Tatsache nur ein differenzierender Normenbegriff gerecht.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.03.2006 um 18.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3669
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Für einen Praktiker wie mich (denn ich habe das Wörterbuch gemacht) hat diese seit acht oder neun Jahren immer wieder aufflammende Diskussion etwas Unwirkliches. Es ist nicht schwer, die allgemein übliche Schreibweise zu ermitteln. Wir sind uns wohl einig, daß es nur um die Rechtschreibung in normaler Sachprosa gehen kann. Als ich den Versuch für die Mitte der neunziger Jahre unternahm, bestätigte sich, daß in den gehobenen überregionalen Zeitungen und im gesamten Sachbuchbereich eine sehr einheitliche Schreibweise herrschte. Das ist bei einem Kulturvolk mit vielhundertjähriger schriftlicher Praxis und flächendeckender Schulpflicht und Literalisierung nicht anders zu erwarten. Wo es Bereiche gab, die noch nicht völlig vereinheitlicht waren ("beiseite schieben", "schneller Brüter"), habe ich die Varianz als solche aufgezeichnet. Sie hält sich sehr in Grenzen.
Das Normale ist das Übliche. Der eigentlich normative Aspekt, das Seinsollen also, kommt durch den Benutzer in die Beschreibung hinein: Er ist es, der so schreiben will wie die anderen. Für die Schule ergibt sich, von der anderen Seite her: die Lehrer bringen das Übliche als das Gesollte bei. Also wo ist das Problem?
Daß wir die Sprache so beschreiben, wie sie vor dem Attentat war, ist doch wohl selbstverständlich.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 27.03.2006 um 18.39 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3670
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>>Ein Problem der Rechtschreibung ist, daß etwas normiert, kodifiziert, verbindlich gemacht werden soll, was sich mehr oder weniger schnell ändert. Einem unbefangenen Gemüt fällt es schwer, hinzunehmen, daß das, was gestern falsch war, heute richtig sein soll.<<
Inwiefern ändert sich die Rechtschreibung mehr oder weniger schnell? Rechtschreibung ändert sich doch nicht aus sich selbst heraus, sie wird geändert. Menschen schauen in Wörterbüchern nach, um die richtige Schreibung eines Wortes herauszufinden. Was dort steht wird als richtig angesehen. Aus dieser Sicht heraus braucht sich an der Rechtschreibung gar nichts zu ändern, allenfalls fallen Wörter außer Gebrauch oder es kommen neue hinzu. Aber an der Schreibung eines Grundstocks von Wörtern braucht sich nichts zu ändern.
Sprache kann sich ändern, Rechtschreibung hingegen braucht sich nicht zu ändern. Das beste Beispiel dafür ist das Englische, wenn man von ein paar Kleinigkeiten absieht. Es geht auch darum, daß, was gestern richtig war, heute falsch sein soll, nur weil es ein paar Minister so wollen. Es geht auch nicht um die ''Unbefangenheit'' des Gemüts. Es geht darum, was von wem warum geändert wird.
Bei Ihrem Beispiel mit der Schreibung des Wortes Äther kann man natürlich zwischen chemischer Fachsprache und Alltagssprache bzw. -schreibung unterscheiden. Ich würde ''Äther'' nicht als falsch ansehen, nur weil die ''Fachschreibung'' des Wortes geändert wurde. Ob diese ''Angleichung an internationale Konventionen'' sinnvoll oder notwendig war, sei dahingestellt. Letztendlich wird sich auf wissenschaftlichen Gebiet das Englische durchsetzen, d. h. jeder Chemiker wird nur noch in Englisch veröffentlichen.
Ein Wissenschaftler sollte doch in der Lage sein, zwei Sprachen und ihre Unterschiede geistig handhaben zu können. Übrigens, ein Grund für die Rechtschreibreform war ja die Angleichung der deutschen Rechtschreibung an internationale Normen, z. B. die Substantivkleinschreibung und vermutlich auch die Abschaffung des ß. Anfänglich wär ja auch die Abschaffung der Umlaute geplant. (Wurde mal im Fernsehen so dargestellt.)
Woanders sind Menschen stolz auf ihre Traditionen und ändern bewußt nichts, hier meint man, alles ändern zu müssen, weil sich ja alles ändert!
>> ... Sie sind ja nicht eigentlich falsch, sondern allenfalls überholt. Für die Jugend haben sie vielleicht sogar einen nostalgischen Reiz.<<
Ich glaube nicht, daß die Jugend sich des ''nostalgischen Reizes'' bewußt ist.
>>Schreibungen ändern sich im Gebrauch, aber sie ändern sich verschieden schnell und auch abhängig von der Sprachebene. Möglicherweise wird dieser Tatsache nur ein differenzierender Normenbegriff gerecht.<<
Warum ändern sich Schreibungen im Gebrauch? Wie denn? Von selbst? Durch die Rechtschreibprüfung? Weil die Tinte verläuft? Weil jemand mal einen Fehler macht oder mal ein Wort nicht weiß und zu faul zum Nachschlagen ist? Weil sie einen verzauberten Stift mit automatischer Rechtschreibkorrektur benutzen -- sowas gibt es bei Harry Potter? Was verstehen Sie unter Gebrauch? Das Schreiben oder das Lesen? Ändern sich Schreibungen durch das Lesen? Ist es nicht eher so, daß vieles Lesen eher eine bestimmte Schreibweise stabilisiert? Wir schreiben für die, die lesen! Ein Text wird einmal geschrieben, aber dann keinmal, einmal, mehrmals oder vielmals gelesen! Schreibung ist daher inhärent konservativ! Ickler mißt nur den (Schrift)Sprachgebrauch des professionellen Schreibers. Ob da auch unterschiedliche Sprachebenen berücksichigt werden. Wenn eine Szene, z. B. Schüler einer bestimmten Schule, eine bestimmte Schreibung für sich als Gruppenmerkmal wählen, wohl wissend, daß sie nach der gerade im Deutschunterricht gelehrten Schreibnorm falsch ist, dann ist das schon ''differenzierender Normbegriff''! Dazu braucht es dann keine Wörterbuchredaktionen. Hier geht es -- korrigieren Sie mich, falls ich mich irre -- aber um die Rechtschreibung des Hochdeutschen, was selber schon ein differenzierender Normbegriff -- und eine ausdifferenzierte Norm -- ist.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.03.2006 um 19.20 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3671
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Schon die Umstellung von "Oxyd" auf "Oxid" hat verschleiert, daß es von griech "oxys" scharf kommt und mit "Oxygen" und "Oxymoron" verwandt ist. Einige griechische Kurzwörter und Silben sind eben schon Allgemeingut im Deutschen und sollten nicht mal so und mal so geschrieben werden.
Es hilft sehr beim Auffinden der griechischen Wurzeln, wenn ein gewisses System erhalten bleibt, daß z.B. in Fremdwörtern "ä" auf griechisch "ai" und "e" oft auf griechisch "ä" zurückführt. So ist es bei "Äther". Die "Kathode" ist keine "Kat-ode", kein "Niedergesang", sondern ein "Kat-hodos", ein Weg nach unten. Soviel Etymologie muß sein.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.03.2006 um 20.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3672
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Sehr geehrter Bardioc, das ist ja ein bißchen viel, was sie da alles in Ihre Entgegnung gepackt haben. Daß sich die Rechtschreibung nicht "von selbst" ändert, sondern durch schreibende Menschen, ist wohl keiner besonderen Erwähnung wert. Das hat auch Prof. Ickler schon in seiner Kritik an der Argumentation der Reformer ("Rechtschreibung ist von Menschen gemacht und kann auch von Menschen verändert werden") als trivial und äußerlich betrachtet gekennzeichnet. Sicher ist Rechtschreibung ihrem Wesen nach konservativ - sonst brauchten wir nämlich keine. Richtig ist auch, daß dies aus ihrer dem Leser dienenden Funktion folgt. Rechtschreibung folgt auch nicht zwingend irgendeinem Sprachwandel. Diese falsche Begründung der Reform, neben einigen anderen, können wir getrost vergessen. Trotzdem wird niemand bestreiten, daß es sich ändernde Schreibweisen gibt - nicht geplant, verordnet (wie zur Zeit), sondern "einfach so". (Die berühmte unsichtbare Hand) . Das ist ja gerade ein Grundirrtum der Reformer, daß sie dieses quasi-evolutionäre Geschehen und Geschehenlassen durch Planung ersetzen wollten. Unsere Rechtschreibung ist (war) das Ergebnis einer langen Entwicklung. Sie läßt Tendenzen und Konvergenzen erkennen. Sie wollen doch nicht behaupten, diese Entwicklung sei mit dem augenblicklichen Stand an ein Ende gekommen. "Das Normale ist das Übliche". So ist es. Aber das Übliche ändert sich. Ich sagte es schon einmal: Orthographie hat viel mit Sitten und Gebräuchen gemein. Das Dilemma zwischen Beharren und Anpassung in bezug auf die orthographische Norm bleibt für jeden Wörterbuchverfasser bestehen. Man könnte auch sagen, das Umschlagen von der Deskription in die Präskription ist die eigentliche ethische Frage; es sei denn, man verschreibt sich einem orthographischen Nihilismus, den man auch als Liberalität ausgeben kann.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.03.2006 um 20.41 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3673
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Mit "Oxid/Oxyd" hat es folgende Bewandtnis: Verbindungen aus einem Metall und einem (einzigen) Nichtmetall enden im Namen auf -id: Chlorid, Sulfid, Nitrid, Phosphid... Folglich müßte es wegen des Wortstammes Oxyid heißen. Hier wurde das y "geopfert".
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 27.03.2006 um 21.16 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3674
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ist nicht schwer, die allgemein übliche Schreibweise zu ermitteln. Wir sind uns wohl einig, daß es nur um die Rechtschreibung in normaler Sachprosa gehen kann. Als ich den Versuch für die Mitte der neunziger Jahre unternahm, bestätigte sich, daß in den gehobenen überregionalen Zeitungen und im gesamten Sachbuchbereich eine sehr einheitliche Schreibweise herrschte. Das ist bei einem Kulturvolk mit vielhundertjähriger schriftlicher Praxis und flächendeckender Schulpflicht und Literalisierung nicht anders zu erwarten. Wo es Bereiche gab, die noch nicht völlig vereinheitlicht waren ("beiseite schieben", "schneller Brüter"), habe ich die Varianz als solche aufgezeichnet. Sie hält sich sehr in Grenzen. Das Normale ist das Übliche. Der eigentlich normative Aspekt, das Seinsollen also, kommt durch den Benutzer in die Beschreibung hinein: Er ist es, der so schreiben will wie die anderen. Für die Schule ergibt sich, von der anderen Seite her: die Lehrer bringen das Übliche als das Gesollte bei. Also wo ist das Problem?Professor Ickler
So where is the problem? Die Redensarten überspringen wie manches andere auch die Sprach- und Kulturgrenzen, und das ist gut so. Die Rechtschreibung in normaler Sachprosa war vor 1996 einheitlich, außer in Bereichen, die noch nicht völlig vereinheitlicht waren. Schreiben wie die anderen. Wären unsere Freunde Krieger und Kunze damit einverstanden? Zumindest die Literaten im Widerstand gegen die Rechtschreibreform fordern den Erhalt der für ihre Texte konstitutiven Differenzierungsmöglichkeiten. Ist die Reform der Reform nicht das Angebot, dem zu entsprechen, ohne die normalen Schreiber zu dieser Virtuosität zu verpflichten? Wäre es überhaupt wünschenswert, die Freiräume der deutschen Rechtschreibung zu vereinheitlichen? Sieht jemand wegen "den Weg freimachen/frei machen" in einem Rechtschreibwörterbuch nach? Tragen pedantische Differenzierungen etwas zur deutschen Schreibkultur bei? Reiht sich jemand ins Heer der Schreibbanausen ein, der "im Voraus" schreibt? Für "Borreliose" benötigt man zwar ein Rechtschreibwörterbuch, aber die meisten deutschen Haushalte haben keins. Die anderen bleiben ratlos. Für Zecken als Borrelioseüberträger hat die deutsche Lexikographie nichts übrig. Wozu dient also ein Rechtschreibwörterbuch? Um nachzusehen, wie man "umso", "irgendetwas" und "nachhause" schreibt. Sollten wir uns nicht schämen, daß deutsche Rechtschreibsauseinandersetzungen um Quisquilien gehen? "Im Handumdrehen" nur so, "nichtsdestotrotz" andersherum. Haben wir vergessen, daß wir am Anfang eines Jahrhunderts stehen, das wahrscheinlich die Ausrufung einer "Islamischen Republik" hierzulande sehen wird, die Einführung der Scharia, aber auch die Kultur der schönen arabischen Kalligraphie selbst in den Grundschulen des Ruhrgebiets. Where is the problem? Indeed, where is it?
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 27.03.2006 um 23.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3675
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Lieber Herr Professor Jochems, die Reform der Reform ist leider nicht das Angebot eines Erhalts von Differenzierungsmöglichkeiten, ohne den normalen Schreiber zu der entsprechenden Virtuosität zu verpflichten. Dergleichen hätte man vor zehn Jahren durch eine weniger beckmesserische Benotungspraxis in den Schulen umsonst haben können (soweit es darum überhaupt ging). Auch die Zehetmair-Revision beharrt darauf, absurde Schreibungen wie "behände" und Behelfslösungen wie "Eisschnell-Läufer" für die Schreibgemeinschaft verbindlich machen zu wollen. Da ist von Freiräumen keine Spur. Noch etwas: Wer "im Voraus" schreibt, reiht sich in der Tat in das Heer der Schreibbanausen ein. Wobei ich gar nichts gegen Schreibbanausen habe, solange sie mich nicht dazu zwingen wollen, in ihren Reihen mitzumarschieren.
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Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 28.03.2006 um 00.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3676
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Lieber Herr Jochems, mir scheint, Sie lassen etwas Entscheidendes bei Ihrem Plädoyer für Freiräume außer acht. Rechtschreibung ist eine Konvention zwischen Schreibern und Lesern, ein Code. Wenn Sender und Empfänger nicht den gleichen Code anwenden, werden sie sich nicht oder nur unvollständig verstehen. Sie können uns lange damit trösten, daß die virtuosen Schreiber ja die Differenzierungsmöglichkeiten nutzen können. Wenn die Empfänger die Differenzierungen nicht mehr erkennen, weil sie sie nicht gelernt haben, sind alle Bemühungen des Schreibers für die Katz.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.03.2006 um 08.13 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3677
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Lieber Herr Prof. Jochems, die Beharrlichkeit, mit der Sie auf "Freiräumen" bestehen und unseren Blick weg von Belanglosigkeiten wie im voraus/Voraus auf die eigentlichen drängenden gesellschaftlichen Probleme lenken möchten, hat etwas Imponierendes. - Aber es gibt doch Sprachteilhaber, die wissen wollen, wie man richtig schreibt. Dieses Bedürfnis ist legitim, mindestens so begründet wie der Wunsch nach orthographischer Freizügigkeit. Wer nach der richtigen Schreibweise von freisprechen/ frei sprechen fragt, will nicht mit einem Hinweis auf die demnächst vor der Tür stehende islamische Republik in diesem unserem Lande abgespeist werden. Er will aber auch nicht unbedingt Freiräume eröffnet bekommen. Er möchte so schreiben, wie es üblich ist, weil er verstanden und gesellschaftlich anerkannt werden möchte. Für diesen imaginären Benutzer werden Wörterbücher gemacht. - Ich frage mich, bei allem Respekt, ob nicht aus Ihren immer lesenswerten und durchdachten Beiträgen mitunter ein ganz klein wenig Gelehrtenabgehobenheit hervorlugt...oder ist es doch nur Altersweisheit, die uns anderen bis auf weiteres/Weiteres noch abgeht?
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.03.2006 um 11.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3678
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Herr Jochems hat immer gegen Pedanterie und Überregulierung Stellung bezogen, und darin (aber nicht nur darin) hat er meine volle Zustimmung. Ich habe inzwischen das Vorwort zur Neuauflage meines Wörterbuchs überarbeitet. Hier ist es - und enthält zusammenfassend meine Meinung zur vorangeganenen Diskussion:
"Die deutsche Rechtschreibung war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einheitlich geregelt. In Zweifelsfällen galt der „Duden“ – so hatten es die Kultusminister für den Schulbereich angeordnet, und die Schulorthographie wurde nicht nur von den Behörden, sondern weit darüber hinaus als maßgebend anerkannt. Die sogenannte Rechtschreibreform, die 1998 in Kraft trat, aber schon zwei Jahre vorher an den meisten Schulen eingeführt wurde, zerstörte diese Einheitlichkeit, ohne eine neue stiften zu können. Der Hauptgrund war die außergewöhnliche Fehlerhaftigkeit des neuen Regelwerks. Schon 1997 schlugen seine Verfasser „unumgänglich notwendige“ Korrekturen vor, die von den Kultusministern zunächst begrüßt, dann jedoch überraschenderweise untersagt wurden. Um die Unzuträglichkeiten der neuen Schreibweisen zu vermeiden, erarbeiteten die Nachrichtenagenturen und einige Zeitungsverlage unterschiedliche Kompromiß- und Alternativentwürfe, also „Hausorthographien“, wie man sie im 19. Jahrhundert gekannt hatte und durch die Einheitsorthographie von 1902 überwunden glaubte. Es erschien eine zweite Generation reformierter Wörterbücher, die trotz erheblicher Abweichungen von der amtlichen Neuregelung den Anspruch erhoben, deren korrekte Auslegung zu sein. Sie konnten sich auf exklusive Beratung durch eine „Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung“ berufen. Unterdessen verweigerten sich fast alle Schriftsteller der Neuregelung, und den Schulbuchverlagen wurde auferlegt, geschützte Autoren nur in der Originalschreibung abzudrucken. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kehrte angesichts dieser Entwicklung zur klassischen Rechtschreibung zurück. Der Zwischenstaatlichen Kommission, in der sich fast nur die Reformurheber zusammengefunden hatten, wurde ein „Beirat für deutsche Rechtschreibung“ zur Seite gestellt, den allerdings die Schweiz und Österreich nicht anerkannten.
Im Juni 2004 beschlossen die Kultusminister eine zwar tiefgreifende, aber keineswegs ausreichende Korrektur des verunglückten Regelwerks. Wieder wurden neue Wörterbücher gedruckt. Wenig später kamen Zweifel auf, ob das ganze Unternehmen überhaupt noch zu retten sei. Der Axel-Springer-Verlag stellte alle seine Publikationen wieder auf die frühere Rechtschreibung um, andere Unternehmen kündigten ähnliche Maßnahmen an. Als die Zwischenstaatliche Kommission die Erwartungen der Politiker dauerhaft enttäuschte, wurde sie samt Beirat aufgelöst und durch einen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ersetzt, in dem allerdings wiederum fast ausschließlich Reformbefürworter saßen – mehrheitlich dieselben wie in den gerade aufgelösten Gremien. Im Sommer 2005 trugen die Kultusminister selbst zur wachsenden Verunsicherung bei, indem sie einige Teile des Regelwerks für verbindlich erklärten, andere zur weiteren Bearbeitung freigaben. Der Rat schlug unter künstlich erzeugtem Zeitdruck schon Anfang 2006 eine weitere durchgreifende Änderung vor, die ungeachtet ihrer schweren Mängel von den Politikern gebilligt wurde und ihren Niederschlag in einer vierten Generation reformierter Wörterbücher (innerhalb von zehn Jahren!) fand.
So scheint ein Augenblick der Besinnung geboten. Wir hatten – und haben in weiten Teilen der seriösen Literatur immer noch – eine seit über hundert Jahren bewährte, außerordentlich leserfreundliche und bei allem Wandel recht einheitliche Orthographie. Änderungswünsche wurden denn auch nicht etwa mit funktionalen Mängeln der üblichen Rechtschreibung begründet, sondern mit ihrer angeblich unzumutbaren Schwierigkeit für Lernende und „Wenigschreiber“. Dem konnte die Neuregelung aber nicht abhelfen; sie ist sogar in vieler Hinsicht schwieriger als die alte und richtet sich außerdem in zentralen Bereichen ausdrücklich gegen die eigengesetzliche Entwicklung der Schriftsprache. Reformierte Texte – seien es Kinderbücher, Schulbücher oder selbst amtliche Schriftstücke – zeigen denn auch eine bisher nicht für möglich gehaltene Menge orthographischer Fehler. Noch schlimmer ist allerdings, daß gerade die „korrekte“ Befolgung der neuen Regeln zu grammatisch falschen Schreibweisen führte: so Leid es mir tut, wie Recht du doch hattest, am Schwindel erregendsten usw. Auch nach den bisherigen Reparaturen bleiben heute Abend, Diät leben und viele andere unannehmbare Schreibweisen verbindlich, darunter die vielbelächelten „volksetymologischen“ wie schnäuzen, nummerieren, einbläuen, platzieren usw.
Die Diskussion drehte sich seit 1996 immer nur um die Frage, wie ein Kompromiß zwischen altem Duden und Neuregelung aussehen könnte. Auf diesem Wege bot auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre „zweitbeste Lösung“ an. Dabei wurde geflissentlich übersehen, daß auch die beste jederzeit erreichbar blieb. Sie besteht darin, die tatsächlich übliche, in Jahrhunderten gewachsene Schreibweise zunächst einmal zu erfassen und dann in Wörterbüchern so darzustellen, wie sie wirklich ist. Das hat grundsätzlich auch der Duden versucht, allerdings blieb er in bestimmten Bereichen hinter den Anforderungen zurück. Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung und bei der Groß- und Kleinschreibung ließ er sich zu Einzelwortfestlegungen verleiten, die schließlich die gesamte deutsche Rechtschreibung als Ansammlung von Spitzfindigkeiten erscheinen ließen und in den unverdienten Ruf der Unbeherrschbarkeit brachten. Es wäre daher das Gebot der Stunde gewesen, diese Haarspaltereien auszukämmen, ohne die üblichen Schreibweisen durch gänzlich neue zu verdrängen.
Einige Beispiele sollen verdeutlichen, was gemeint ist. Der alte Duden legte z. B. strikt fest, daß ernst nehmen nur getrennt, ernstzunehmend aber zusammenzuschreiben sei; hinzu kam noch Getrenntschreibung bei einer ziemlich abwegigen Betonung auf dem zweiten Bestandteil: ernst zu nehmender Einwand. Auch beiseite legen und ähnliche Verbindungen durften nur getrennt geschrieben werden. Für den schnellen Brüter und die Wendung um ein vielfaches war Kleinschreibung verordnet. In Wirklichkeit kümmerten sich die wenigsten Schreiber um solche Bestimmungen. Der Reaktortyp wurde oft und das Vielfache in dieser Verbindung fast immer groß geschrieben. Es gibt Hunderte von ähnlichen Beispielen.
In dieser Situation liegt folgende Lösung nahe: Solange niemand eine stimmige und allgemein akzeptierte Rechtschreibreform vorzuschlagen vermag, sollte man bei der herkömmlichen Orthographie bleiben. Sie funktioniert ausgezeichnet, findet breiteste Anerkennung und ist anpassungsfähig genug, um sprachliche Neuentwicklungen aufzunehmen. Voraussetzung ist allerdings eine vom Duden unabhängige, auf gute Texte gestützte Erfassung der wirklich üblichen Schreibweisen.
Zusammen mit dem Wörterverzeichnis wird hier eine neue Fassung der Regeln zur Diskussion gestellt, und zwar zunächst in einer vereinfachten, allgemeinverständlichen Form, die ungefähr das enthält, was ein gebildeter Erwachsener über die deutsche Rechtschreibung weiß. Sie ist auch für Schüler gedacht. Eine anspruchsvollere, mehr in die Einzelheiten gehende Darstellung schließt sich an.
In den beiden genannten Übergangsbereichen war es unumgänglich, die im Schreibbrauch herrschende Wahlfreiheit getreulich wiederzugeben. rückwärtsfahren oder beiseiteschieben werden nun einmal teils getrennt und teils zusammengeschrieben. Aus dem Kreise wohlwollender Kritiker ist vorgeschlagen worden, die Getrennt- und Zusammenschreibung „eindeutiger“ zu regeln. Dagegen sprechen zwei Gründe. Erstens berechtigt das Material nicht zu Festlegungen, wie sie der Duden in zahllosen Einzeleinträgen getroffen hatte. Noch wichtiger ist aber der zweite Grund: Entschiede der Lexikograph im Sinne der „Eindeutigkeit“ bei jedem Wort, ob es getrennt oder zusammen-, groß oder klein zu schreiben sei, dann wüßte der Benutzer zwar, daß eine Festlegung existiert, er müßte aber jedesmal nachschlagen, um herauszubekommen, wie sie aussieht. Diese geradezu monströse Erschwerung würde zum vielbeklagten früheren Zustand zurückführen, der allmählich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Dudennorm erzeugt hatte.
Bei der Silbentrennung sind fast keine Varianten vorgesehen. Dieser Teil der Orthographie ist heute nicht ohne Rücksicht auf die automatische Textverarbeitung zu behandeln. Die Trennprogramme brauchen eindeutige Vorgaben und kommen mit dem, was Schülern schwierig erscheinen mag, im großen und ganzen sehr gut zurecht. Übrigens entfällt die etwas vage Empfehlung des alten Duden, wonach zwei ungleiche Vokale selbst dann nicht getrennt werden, wenn sie zu verschiedenen Silben gehören. Es scheint wenig sinnvoll, zwar ide-al, Isra-el usw. zu trennen, ide-ale, Isra-eli usw. aber nicht zuzulassen. Zu unschönen einzeln stehenden Vokalbuchstaben kann es hier offenbar gar nicht kommen. Diese „Neuerung“ (wenn es denn eine ist, denn der Duden von 1991 läßt durchaus einen Spielraum) ist die einzige nennenswerte Abweichung von der bisherigen Norm. Es sollte aber dabei bleiben, daß Fremdwörter wie Dia-gnose, Sub-strat nach ihren Bestandteilen und nicht nach Metzgerart (Diag-nose, Subst-rat laut Neuregelung) getrennt werden. Diese Bestandteile (dia, sub usw.) sind vielfältig verwendbare Bausteine des heutigen Deutsch; mit ihrer Verundeutlichung ist niemandem gedient.
In der vorliegenden Neubearbeitung sind seit der vierten Auflage auf Wunsch vieler Benutzer knappe Bedeutungsangaben hinzugefügt, wo es sinnvoll erschien – etwa im Umfang der gewohnten Rechtschreibwörterbücher. Das grammatische Geschlecht ist, wenn es sich nicht von selbst versteht, durch den Artikel gekennzeichnet. Neu ist auch die reichhaltigere Auswahl von Namen bekannter Persönlichkeiten, mit den Lebensdaten als Zugabe. Dennoch bleibt das Wörterbuch ein orthographisches und kann ein Bedeutungswörterbuch oder gar ein Konversationslexikon nicht ersetzen.
Das Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es dem Ratsuchenden ermöglicht, orthographisch unauffällige Texte zu schreiben."
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 28.03.2006 um 13.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3680
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Lieber Herr Ickler, ich freue mich auf die angekündigte Neuauflage von Normale deutsche Rechtschreibung. Ihr Vorwort nimmt an der entscheidenden Stelle auf, was von Anfang an Ihre Richtschnur für die Darstellung des "Üblichen" war: Entschiede der Lexikograph im Sinne der "Eindeutigkeit" bei jedem Wort, ob es getrennt oder zusammen-, groß oder klein zu schreiben sei, dann wüßte der Benutzer zwar, daß eine Festlegung existiert, er müßte aber jedesmal nachschlagen, um herauszubekommen, wie sie aussieht. Diese geradezu monströse Erschwerung würde zum vielbeklagten früheren Zustand zurückführen, der allmählich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Dudennorm erzeugt hatte. Damit erledigt sich manches in unserer Diskussion. Darf ich trotzdem noch auf die drei letzten Beiträge antworten?
Lieber Herr Kratzbaum, in Ihrer Replik gehen Sie von Prämissen aus, die wir uns noch klarer bewußtmachen und kritisch durchdenken sollten:
1. Die richtige Schreibweise von freisprechen/ frei sprechen ergibt sich aus dem Wörterbuch. Wer hier zum Wörterbuch greift, muß einen schlechten Deutschunterricht gehabt haben oder über kein Sensorium für den Zusammenhang von Sprechen und Schreiben im Deutschen verfügen. Herr Denk pflegte früher zu sagen: "Man hört's doch!" Daß Adjektive als "Umstandsbestimmung" verwendet werden können, weiß jeder normal "beschulte" Deutsche ohnehin aus dem Fremdsprachenunterricht. Im Englischen und im Französischen sind solche abgeleiteten Adverbien nämlich mit -ly bzw. mit -ment zu kennzeichnen. Da bei uns das Adjektiv sowohl als Adverb wie als Prädikativ endungslos verwendet wird, ist die Unterscheidung etwas schwieriger als in den Nachbarsprachen, aber nicht hoffnungslos. Auch ehe man von "resultativen Prädikativen" bzw. von "idiomatisierten Gesamtbedeutungen" sprach, richteten sich bewußte Schreiber nach dem Akzent auf dem ersten Glied und der "neuen" Bedeutung. Der Blick ins Wörterbuch stellt immer und überall der Rechtschreibung ein Armutszeugnis aus.
2. Er will aber auch nicht unbedingt Freiräume eröffnet bekommen. Freiräume in der Rechtschreibung sind in der Sache vorgegeben und kein Zugeständnis der Normierungsinstitutionen. Auf dem Gebiet der Univerbierung sind sie so allgegenwärtig, daß der Lexikograph unseres Vertrauens, Professor Ickler, Verbzusatzkonstruktionen mit Adjektiven als erstem Glied durchgehend mit Bindebögen zur Andeutung der "Fakultativität" versehen hat - nicht aus Übermut oder aus Verlegenheit, sondern weil seine empirisch ermittelten Belege nicht anderes hergaben. Die revidierte Reform sieht jetzt drei Möglichkeiten vor: stets getrennt, stets zusammen sowie getrennt oder zusammen. Bei "stets zusammen" wird dem Schreiber neuerdings zugestanden, sein eigenes Sprachgefühl ins Spiel zu bringen. Was er nicht als idiomatisiert betrachtet, schreibt er halt getrennt. Auf alle diese Fälle werden sich die Wörterbuchredaktionen selber einen Reim machen und entsprechend im Einzelfall entscheiden. Wer ihnen blind folgt, verzichtet auf sein orthographisches Selbstbestimmungsrecht zugunsten des fragwürdigen Linsengerichts der gesellschaftlichen Anerkennung.
3. Er möchte so schreiben, wie es üblich ist, weil er verstanden und gesellschaftlich anerkannt werden möchte. Texte, die lediglich wegen ihrer eigenwilligen Orthographie nicht oder nur schwer zu verstehen sind, zählen eher zu den Seltenheiten, und in unser Schmunzeln über Schreibschnitzer lieber Mitmenschen mischt sich wohl kaum Verachtung. Aber die Personalchefs bei der Lektüre unbeholfener Bewerbungsbriefe! Ich kenne Fälle, in denen Fachleute mit guten Zeugnissen an dem Gutachten irgendeiner dilettierenden Graphologin ("nicht teamfähig") scheiterten. Daß die Verwechselung von "daß" und "das" je einen tüchtigen Bewerber aus dem Rennen geworfen hätte, halte ich dagegen für eine Mär. Bleibt also das Schreiben, "wie es üblich" ist. Hier kommt unsere Leseerfahrung ins Spiel, und in diesem Punkte unterscheiden sich bekanntlich die Sprachteilnehmer gewaltig. Seltene Schreibungen prägen sich ohnehin nicht ein. Der Grundbestand der deutschen Einzelwortschreibungen sollte dagegen der Sprachgemeinschaft als "üblich" geläufig sein, nach fast zehn Jahren Rechtschreibreform allerdings auch mit einigen wenigen Abweichungen gegenüber früher. Es bleiben dann noch die Fälle, in denen in bezug auf den vorliegenden Kontext zu entscheiden ist: "Ein dichtbesiedeltes Tal ist dicht besiedelt", "ein wohlverdienter Preis ist wohl verdient": Hier hilft auch das Wörterbuch nicht weiter und selbst das Nachdenken nicht. Man muß es halt hören. Wörterbucheinträge haben ohnehin die Doppelnatur, sich zwar an Vorgefundenes zu halten, dieses aber zu vereinheitlichen. Wir haben alle noch in unguter Erinnerung, wie die Dudenredaktion in ihrem großen Wörterbuch die literarischen Satzbelege ohne viel Federlesens reformierte. Auf den freien Schreibbürger kommt es eben an. Wie sagte doch vor längerer Zeit schon jemand im einem der neuen Bundesländer: "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen..."
Lieber Herr Müller, was entgeht mir, wenn ich nicht weiß, daß der Duden bis zuletzt - kontraintuitiv - die Schüler "auseinander setzen" wollte, und dies nur deshalb, damit sich die Diskutanten mit einer Sache "auseinandersetzen" konnten?
Lieber Herr Bärlein, reiht sich jemand ins Heer der Schreibbanausen sein, wenn er sich an "aus dem vollen schöpfen" hält und folglich auch "ins leere gehen" schreibt, was aber glatt die alte Dudennorm verpaßt?
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.03.2006 um 13.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3681
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Lieber Herr Prof.Jochems, auch ich bin im Zweifelsfall immer auf der Seite der Freiheit und bin genau wie Sie der Meinung, daß ein deutschsprachiger Schreiber im Idealfalle nur ganz selten ein Wörterbuch nötig haben sollte, z.B. bei seltenen Fremdwörtern. Ich bin also der Letzte, der für Pedanterie und Überregulierung eintreten würde. Aber wir, die wir hier in hoffentlich fehlerfreiem Deutsch, unberaten durchs Wörterbuch, schreiben, sind allzu leicht geneigt, unsere Kompetenz als allgemein vorhanden zu unterstellen. Ich möchte mich sozusagen für den orthographischen Mittelstand einsetzen. Ganz oben und ganz unten braucht man kein Rechtschreibwörterbuch. Wer ein Wörterbuch erwirbt, will einen realen Nutzen. Er geht, ob zu Recht oder zu Unrecht, davon aus, daß es richtige Schreibweisen gibt. Diese möchte er befolgen, einmal aus innerem Bedürfnis, ganz besonders aber da, wo Rechtschreibung bewertet wird. Das "orthographische Selbstbestimmungsrecht" nützt ihm dann gar nichts.(Eine Umfrage: Wer schaut wann ins Wörterbuch? wäre außerordentlich reizvoll). Allerdings wird in Zukunft auch auf der Seite der Urteilenden das Werkzeug so stumpf werden, wie es heute schon beim reformgeschädigten Nachwuchs der Fall ist.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 28.03.2006 um 14.16 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3682
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''Was er nicht als idiomatisiert betrachtet, schreibt er halt getrennt.''
Was glauben Sie, Herr Jochems, wieviele Schüler wissen, was ''idiomatisiert'' bedeutet?
''Ich kenne Fälle, in denen Fachleute mit guten Zeugnissen an dem Gutachten irgendeiner dilettierenden Graphologin ("nicht teamfähig") scheiterten.''
Dies ist aber weder die Schuld der Rechtschreibung, eines Wörterbuches oder der jeweiligen Fachleute mit guten Zeugnissen, das ist die Schuld der Firmen, die Menschen nach ihrer Handschrift beurteilen. Graphologie hat meines Wissens auch nichts mit Rechtschreibung zu tun. Dies ist eher mit Kaffeesatzleserei zu vergleichen. Besagte Fachleute können froh sein, nicht in einer solchen Firma arbeiten zu müssen.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 28.03.2006 um 15.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3683
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>>Daß sich die Rechtschreibung nicht "von selbst" ändert, sondern durch schreibende Menschen, ist wohl keiner besonderen Erwähnung wert. ... <<
Lieber kratzbaum,
was mich an den Diskussionen hier stört, ist die Oberflächlichkeit, mit der sie teilweise geführt werden. Es wird ohne viel nachzudenken von Sprachbeobachtung gesprochen, obwohl die Beobachtung der Schriftsprache gemeint ist, man redet davon, daß Sprache sich ändert -- natürlich, innerhalb von Jahrzehnten und Jahrhunderten gibt es schon einige Änderungen, die Welt, in der wir leben ändert sich ja auch -- sagt aber nie genau, welche Arten von Änderungen gemeint sind. Aus meiner Sicht gibt es Arten von Veränderungen, die für die Rechtschreibung nicht oder kaum relevant sind. Die Veränderungen der Sprache in den letzten Jahrzehnten sind nicht so gravierend, daß sie eine Reform nötig machten. Und selbst wenn es gravierende Veränderungen gegeben hätte ist das noch lange kein Grund für eine Reform, siehe die englische Sprache und Orthographie. Es wird von ''Freiräumen'' gesprochen und ein ''Normalbürger'' konstruiert. Reformgegner wollen selbst eine Reform durchführen (diese Äußerung gab es erst vor wenige Tagen oder Wochen hier auf dieser Webseite) und die Sprachliebhaber hier zeigen ihre teils erschreckende Inkompetenz auf anderen wichtigen Gebieten, die sie aber für die eigene Sache beanspruchen, z. B. aus dem Bereich der Mathematik oder des Computers. Demgegenüber steht eine Detailverliebtheit in rechschreiblichen Dingen, der man, wenn man nicht mindestens Deutschlehrer oder Sprachwissenschaftler ist, kaum mehr folgen kann. Es wird dem Götzen der ''Lebendigkeit der Sprache'' gehuldigt, indem man Varianten oder Veränderungen einführen will, die letztlich nutzlos sind, Beispiele: die Zusammenschreibung von ''so daß'' oder die Schreibung von Akornymen wie NATO als normales Substantiv in Analogie zum Wort Laser. Dies wird dann mit ''Klauen und Zähnen'' als Reflexion der evolutionären Weiterentwicklung von Sprache verteidigt. Dann wird auch mal ein ROM zur Stadt Rom, obwohl hier im ersteren Fall ein kurzes, im letzteren ein langes a vorliegt und eine Unterscheidungsschreibung auch inhaltlich angezeigt wäre. Dies alles ist mir in den Diskussionen der letzten Jahre aufgefallen.
''Rechtschreibung folgt auch nicht zwingend irgendeinem Sprachwandel.''
Natürlich! Den Begriff ''Sprachwandel'' sehe ich seit der Sendung des Telekollegs Deutsch, die zur Einführung der Reform ausgestrahlt wurde und die Akzeptanz der Reform mit sehr subtilen psychologischen Tricks vorbereiten sollte, als Kampfbegriff der Reformer an. Mir scheint es ein konstruieter Begriff zu sein. Wenn man sich aufmacht, den Sprachwandel zu erfassen und zu erforschen, dann setzt man sich damit unter Erfolgszwang. Man MUß eine Veränderung, einen Wandel feststellen, um nicht sein ganzes Unterfangen als sinnlos erscheinen zu lassen. Das führt dann zu oben beschriebenem Phänomen (ROM --> Rom, weil sich die Sprache ja wandelt) oder einfach dazu, daß man Beobachtungen im Bereich des ''Fehlerrauschens'' als Sprachwandel fehlinterpretiert.
''... daß es sich ändernde Schreibweisen gibt''
Genau hier liegt mein Problem: Diese Aussage ist unpersönlich: ''es'', sie stellt die (vermeinlichen) Änderungen als etwas von Außen kommendes, Schicksalshaftes dar. Es ist die ''Lebendigkeit der Sprache'', der Götze, dem man dient, indem man sie dann getreulich in einem Wörterbuch verzeichnen will. Dies im Gegensatz dazu, daß Menschen ''richtig'' schreiben wollen und dehalb Rat in einem Wörterbuch suchen.
''Unsere Rechtschreibung ist (war) das Ergebnis einer langen Entwicklung. Sie läßt Tendenzen und Konvergenzen erkennen.''
Natürlich ist unsere Rechtschreibung dar Ergebnis einer langen Entwicklung, das bestreitet keiner.
''Sie wollen doch nicht behaupten, diese Entwicklung sei mit dem augenblicklichen Stand an ein Ende gekommen.''
Es ist die Frage, was man als Entwicklung ansieht: Ist es eine Weiterentwicklung, wenn man das ß durch Doppel-s oder das ph in Fremdwörtern oder Neologismen auf Basis griechischer Wörter durch f ersetzt? Oder ''so daß'' als ein Wort schreibt? Oder ''leid'' in ''es tut mir leid'' plötzlich groß schreibt? Ich sehe darin keine wesentliche Weiterentwicklung der Schreibung und schon gar nicht der Sprache.
Dies ist zu unterscheiden von der Frage der Getrennt- oder Zusammenschreibung von Wörtern wie ''ernst nehmen'' vs. ''ernstnehmen'', wo auch ich beide Schreibweisen akzeptieren würde. Allerding stellt sich auch hier die Frage, ob der ''Übergang'' von einer dieser Schreibungen zur anderen wirklich als evolutionärer Vorgang angesehen werden kann. Ich bin der Ansicht, daß hier die deutsche Sprache einen inhärenten Freiraum bietet. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden:
1. Die Zusammenschreibung ergibt eine neue Bedeutung
2. Zusammen- wie Getrenntschreibung haben die gleiche Bedeutung
Im ersteren Fall sind es ganz klar zwei eigene Lexikoneinträge, im letzteren kann es passieren, daß mit Aufkommen neuer Phänomene, die sprachlich beschrieben werden sollen, die Zusammenschreibung eine neue Bedeutung erhalten kann. (Sie würden letzteren Prozeß vermutlich als ''Evolution'', ''Sprachentwicklung'' oder ''Sprachwandel'' bezeichnen.) Für mich ist es nur eine sprachinhärente Möglichkeit, die zur gegebenen Zeit und bei Bedarf zur Anwendung kommt. Wie wahrscheinlich das ist, sei dahingestellt.
"Das Normale ist das Übliche". So ist es. -- Nein! Wenn schon, dann sollte das Übliche auch das Normale sein! Das ist doch viel mehr in Ihrem Sinne -- oder?
''Aber das Übliche ändert sich.'' Da ist wieder das Problem: Das nicht weiter begründete Postulat, daß sich etwas ändert! Daraus werden dann Schlußfolgerungen gezogen.
''Ich sagte es schon einmal: Orthographie hat viel mit Sitten und Gebräuchen gemein.''
Ja, und manche Gebräuche sind identitätsstiftend. Die Veränderung dieser Gebräuche ergibt eine andere Identität! Die Reformer zwingen uns also eine neue, von ihnen entworfene Identität auf. Manche dürften es ''hip'' finden, eine neue Identität verpaßt zu bekommen. Deswegen reiten sie auf der Schaumkrone der Reform mit!
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 28.03.2006 um 18.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3684
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Lieber Bardioc,
reichen Sie doch bitte Ihre Gedanken hier (#3683) bei der FAZ und anderen Medien auf den FAZ-Artikel heute (FAZ, 29.3.2006, S. 2) hin ein. Die "Oberflächlichkeit", die Sie "an den Diskussionen hier stört", ist nämlich der Allgemeinheit und der diese vertretende Regierungsgewalt weit mehr als unserem Forum hier zuzuschreiben. Und das sollte denen, soweit das möglich ist, eben öffentlich immer wieder vorgehalten werden. Daß "beim Verfassungsgericht in Karlsruhe [...] unterdessen eine Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtschreibreform eingegangen" ist, ist in dieser Sache schon eine erfreuliche Nachricht..
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.03.2006 um 18.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3685
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"idiomatisiert" ist oft ein zu starker Ausdruck, denn es bedeutet, daß die Gesamtbedeutung nicht mehr aus den Einzelbedeutungen der Bestandteile ableitbar ist.
In den meisten Fällen handelt es sich um eine bedeutungsmäßige ("semantische") Verschmelzung beider Glieder zu einem neuen Begriff.
Die Sprachentwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt sich in dem Bestreben, die geschriebene Sprache der gesprochenen anzunähern: durch kürzere Sätze und weniger Nebensätze, ermöglicht durch zahlreiche Neubildungen von Wörtern; durch nebengeordnete statt geschachtelter Nebensätze und durch "Ausklammerung" des Verbs anstelle der "Satzklammer".
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.03.2006 um 18.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3686
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Lieber bardioc, es ist nützlich, immer wieder einmal auf die eigentlichen Ursachen des augenblicklichen "Rechtschreibkampfes" zu blicken. Bis zur Reform hat sich die deutsche Orthographie quasi aus sich selbst, genauer: als Ergebnis unzähliger Schreibakte entwickelt. Ich denke schon, daß man hier den Begriff "Entwicklung" guten Gewissens gebrauchen kann. Wie Prof. Ickler sagt: Das alles ist offensichtlich nicht am Reißbrett entworfen worden. Trotzdem ist die deutsche Rechtschreibung keineswegs chaotisch, sondern stark systematisch, folglich auch erlernbar. Selbstverständlich hätte die Entwicklung auch zu einer ganz anderen Orthographie führen können. Sie ist nun aber einmal so, wie sie ist, und nicht nur das: sie ist auch in hohem Maße zweckmäßig (> dem Lesen und dem Leser dienlich) und zudem auf Selbstoptimierung angelegt. - Mit der Reform, deren Motive wir hier nicht zu erörtern brauchen, kam es erstmals zu einem Bruch; dies allerdings nur punktuell, was ein wesentlicher Grund der augenblicklichen Verwirrung ist. Es gab bis dahin keinen vergleichbaren Angriff auf das deutsche Sprachsystem.
(P. Eisenberg). Mit anderen Worten: Es wurde ohne erkennbares Konzept und leitendes Prinzip an relativ wenigen Stellen eingegriffen. Es gibt also, wie ich schon neulich bemerkte, keine neue Rechtschreibung im strengen Sinne, sondern nur eine beschädigte herkömmliche. Wir sehen das deutlich daran, daß mehrfach Reparaturversuche unternommen wurden, stets mit dem Ziel einer Wiederherstellung. - Dieser Schadensfall hat vielerorts zu einer gründlichen Beschäftigung mit Sinn und Zweck von Orthographie überhaupt geführt. Auch die Diskussion auf diesen Seiten kreist immer wieder um diesen Komplex. Jenseits kritikwürdiger Einzelheiten kommen wir immer wieder auf Normen und ihre Herkunft, Freiräume, Verbindlichkeit, Sanktionen usw. Daß die Reform überflüssig und sogar schädlich war, darin sind sich die meisten der hier Auftretenden wohl einig. Es sind außer sachfremden auch keine Argumente pro Reform mehr in Sicht. Die unbeantwortete, jetzt noch nicht zu beantwortende Frage ist: Wie geht es weiter?
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 28.03.2006 um 18.56 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3687
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Danke, Germanist, für die Etymologien von Oxyd und Kathode und die Erklärung von ''idiomatisiert''.
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Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 28.03.2006 um 21.02 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3689
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Herr Jochems schrieb:
Es bleiben dann noch die Fälle, in denen in bezug auf den vorliegenden Kontext zu entscheiden ist: "Ein dichtbesiedeltes Tal ist dicht besiedelt", "ein wohlverdienter Preis ist wohl verdient": Hier hilft auch das Wörterbuch nicht weiter und selbst das Nachdenken nicht. Man muß es halt hören.
Hierzu vermisse ich im "Ickler" eine Erläuterung. Es ist in der Tat so, daß Partizipien dieser Art in attributiver (und wohl auch adverbialer) Stellung häufiger zusammengschrieben werden als in prädikativer. Eine starre Regel wäre zwar unvernünftig, aber man könnte auf diesen Sachverhalt zumindetst hinweisen. ("wohlverdient" würde ich allerdings auch in prädikativer Stellung zusammnschreiben, wegen der Eindeutigkeit.)
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.03.2006 um 23.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3692
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Wenn Getrenntschreibung und Zusammenschreibung unterschiedliche Bedeutungen darstellen, wie z.B. bei Verbindungen mit "wohl", kann man nicht zusätzlich zwischen attributiver und prädikativer Stellung im Satz unterscheiden.
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 28.03.2006 um 23.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3693
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Lieber Herr Professor Jochems, nein. Sie wissen doch, daß ich kein Dudenfetischist bin. "Ins leere gehen" finde ich allenfalls etwas befremdlich, während "aus dem Vollen schöpfen" (nach Ickler neben dem "vollen" ebenfalls üblich) mir als der plastischere Ausdruck sogar eher einleuchtet. Interessant bleibt die Frage, warum nicht nur ich, sondern offensichtlich auch Sie "im Voraus" dagegen als anstößig empfinden bzw. zumindest nicht als Beispiel für nichtbanausische Varianz verteidigen wollen. Vielleicht gilt das Postulat, man solle nicht ohne Not neue Entitäten einführen, auch orthographisch. Unter dem "Vollen" kann ich mir ebenso wie unter dem "Leeren" noch etwas vorstellen, nicht jedoch unter dem "Voraus" (den juristischen Terminus technicus einmal außer acht gelassen).
Eigentlich war mir aber an etwas anderem gelegen. Die Diskussion, ob diese oder jene reformierte oder reforminduzierte Schreibung akzeptabel ist, ließ sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre führen. Heute ist klar, daß die Reform nicht etwa eine Befreiung vom Dudenregiment gebracht hat, sondern eine neue und wegen ihres nicht mehr bloß imaginären Charakters schlimmere, nämlich staatliche Bedrückung. Die Frage lautet spätestens ab 30. März 2006 (also übermorgen) nicht mehr, was wir für akzeptabel halten, sondern ob wir noch akzeptiert werden. Insofern gehen Ihre Beiträge hier -- tut mir leid, das so deutlich sagen zu müssen -- manchmal wirklich etwas ins Leere.
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 29.03.2006 um 00.02 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3694
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Ist ein hochverdientes Amt immer hochverdient — oder nicht manchmal eben doch vielleicht nur sehr hoch verdient worden? — Weshalb ein Kabarettist auch manchmal ein attributiv durchaus richtig geschriebenes "hochverdient" mit eindringlichem und verständnisheischendem Augenblick so langsam auseinandersprechen würde, wegen der Zweideutigkeit, bis alle es halt hören. — Im Ernst: Ich sehe einen Unterschied zwischen "Ein dichtbesiedeltes Tal ist dicht besiedelt" und "Ein dichtbesiedeltes Tal ist dichtbesiedelt". Ersteres ist auf seine Art eine Erklärung von "dichtbesiedelt", letzteres erklärt gar nichts und macht mich nur nervös. Ich könnte mir sogar "Dieses Tal ist neubesiedelt, das erste war altbesiedelt" vorstellen; ich bin kein Siedlungswissenschaftler und verstehe nichts von deren besonderer Terminologie, hätten sie denn diese. Aber auch hier ergäbe "Das neubesiedelte Tal ist neubesiedelt" keinen Sinn, und man würde es deshalb nicht sagen, während "Ein neubesiedeltes Tal ist neu besiedelt, ein altbesiedeltes Tal ist vor längerer Zeit schon besiedelt worden, und deshalb nennen wir es 'altbesiedelt', im Gegensatz zu 'neubesiedelt'" doch einen natürlichen Gesprächsbeitrag wiedergeben könnte. Ich verstehe frustrierte Lehrer sehr gut. (Aber Sie haben das Thema angeschnitten, Herr Fleischhauer! Und zu einem weniger dicht besiedelten Tal habe ich hier gar nichts gesagt, ich weiß.)
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 29.03.2006 um 05.59 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3695
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An Bardioc
Ich erinnere Sie daran, daß Kritik und das Sichverstecken hinter einem Pseudonym überhaupt nicht zusammenpassen. Sie schätzen die Ruhe und die persönliche Sicherheit, die Ihnen das Pseudonym bietet, erregen aber ungehemmt Unmut mit Ihren gesammelten Vorwürfen. Sie werfen den Reformgegnern bzw. uns ausdauernd vor, wir hätten keine Ahnung von Wissenschaft, insbesondere von Themen wie Mathematik oder Computertechnik, obwohl wir das angeblich für uns in Anspruch nähmen; wir würden verfehlte Konzepte anbeten (Sprachwandel), hochgefährliche Methoden anwenden (das Übliche als Norm), haarsträubende Schreibweisen zulassen (Nato), und wir hätten uns keine Gedanken gemacht über das Wesen und die Notwendigkeit von Normen.
Ziemlich absurd sind diese ellenlangen Anwürfe, und zwar durchweg. Ich finde es persönlich auch menschlich daneben, wenn Professor Ickler – nach bestem Wissen und Gewissen, mit einer riesigen Erfahrung und Allgemeinbildung, bienenfleißig – ein Wörterbuch in Alleinarbeit erstellt, um eine vernünftige Grundlage der Rechtschreibung zu schaffen, und dann von Ihnen mit Verachtung überhäuft wird. Dabei ist zu bezweifeln, ob Sie eine einzige Seite des Wörterbuchs besser formulieren könnten, so wie Sie an die Sache herangehen.
Ich könnte es Stück für Stück auseinandernehmen, was Sie da an "Argumentation" zusammenrühren, aber das dauert zu lang. Wollen Sie mich vielleicht anrufen? Dann erkläre ich Ihnen bei Interesse jede Einzelheit. Hier nur einige Hinweise.
Wir haben als Reformgegner nie besondere Kenntnisse in Computertechnik oder Mathematik für uns in Anspruch genommen, und das hat auch so gut wie nichts mit unserem Thema zu tun. Nötig ist, daß man Anzahlen ins Prozentverhältnis umrechnen kann und weiß, daß die Silbentrennung heute vor allem von Software erledigt wird (und zwar fehlerhaft). Deshalb ist es verfehlt, den Reformgegnern "erschreckende" Unkenntnis in diesen Wissenschaften vorzuwerfen.
Das Wörterbuch von Professor Ickler ist nicht reine "Wissenschaft", sondern im selben Maß Ergebnis praktischer Herangehensweise; auch der gesunde Menschenverstand ist bei vielen pragmatischen Erwägungen und Entscheidungen eingeflossen. Es ist ein Werkzeug, das gut handhabbar sein soll. Werkzeuge, mit Augenmaß und Verstand gefertigt, sind nicht "Wissenschaft". Professor Ickler bezeichnet sich selbst als Praktiker in diesem Zusammenhang. Lesen Sie in diesem Diskussionsstrang.
Das bedeutet zum Beispiel, daß das Wörterbuch, anders als ein reproduzierbares Experiment, sich nicht automatisch aus der empirischen Arbeit genau so und nicht anders ergeben hat bzw. ergeben muß. Die Empirie ist allerdings ein Element der Wissenschaft, die Professor Ickler wie kein anderer bei seiner Wörterbucharbeit berücksichtigt hat, bestimmt auch gewissenhafter, als Sie es tun würden. Auf der empirischen Grundlage muß man jedoch noch aufbauen: auswählen, zusammenfassen, den Befund deuten, hin und her vergleichen, bestimmte Varianten werden ignoriert, andere werden anerkannt. Andernfalls bestünde das Wörterbuch aus sämtlichen Varianten, die überhaupt registriert wurden. Das wäre offensichtlich nutzlos.
Sie schreiben zum Sprachwandel: Mir scheint es ein konstruieter Begriff zu sein. Wenn man sich aufmacht, den Sprachwandel zu erfassen und zu erforschen, dann setzt man sich damit unter Erfolgszwang. Man MUß eine Veränderung, einen Wandel feststellen, um nicht sein ganzes Unterfangen als sinnlos erscheinen zu lassen. Das führt dann zu oben beschriebenem Phänomen (ROM --> Rom, weil sich die Sprache ja wandelt) ...
Sie haben also noch nicht einmal verstanden, daß es Sprachwandel gibt, auch bei der Rechtschreibung. Das versteht normalerweise jeder sofort, wenn er Texte vergleicht, die zum Beispiel zweihundert Jahre Abstand voneinander haben. Sie stellen den Sprachwandel als bloßes Konstrukt dar! Ein Beispiel sei ROM --> Rom. Zunächst einmal meinen Sie nicht ROM --> Rom, sondern zum Beispiel CD-ROM --> CD-Rom, die von Ihnen behauptete Verwechslungsmöglichkeit mit der Stadt Rom ist völlig abwegig und von wird von Ihnen mit Gewalt an die Wand gemalt. Der Fall ist in der Tat ein hervorragendes Beispiel für Sprachwandel im Bereich der Rechtschreibung. Ich habe das selbst zigmal, vielhundertmal korrigiert: Die Leute schreiben CD-Rom, und ich mache daraus wieder CD-ROM, weil es so im autoritären Wörterbuch steht, also die weitverbreitete Variante CD-Rom (noch) nicht davon gedeckt ist. Das nächste Mal kommt der Schreiber wieder mit CD-Rom an, obwohl er meine Korrektur ausgeführt hat und in sonstigen Texten zwischendurch CD-ROM liest. Das nächste Mal wieder. Offensichtlich gibt es eine ganz starke Tendenz zur Variante CD-Rom, die ein gutes beschreibendes Wörterbuch alsbald zur Kenntnis nehmen wird, womit nebenbei bemerkt eine permanente Fehlerquelle ausgemerzt wird. Auch in dieser Hinsicht ist die beschreibende Rechtschreibung jeder gewaltsamen Normierung haushoch überlegen. Aus Ihrem Text geht im wesentlichen hervor, daß Sie persönlich eine heftige Aversion gegen die Schreibung CD-Rom pflegen und sie am liebsten für alle Zeiten verbannen würden. Dabei übersehen Sie, daß Sie mit diesem Anliegen keine Chance gegen die Realität haben und daß Sie eine permanente Fehlerquelle in der Sprachgemeinschaft beibehalten würden. Außerdem zeichnet sich ein Wissenschaftler dadurch aus, daß er zuerst einmal die Wirklichkeit hinnimmt, wie sie ist, und nicht wie die Reformer nach seinen persönlichen Lieblingsideen umzugestalten versucht. Sie selbst treten hier also keineswegs als Wissenschaftler auf.
Übrigens ist nicht NATO oder Nato ein Akronym im Gegensatz zum "Wort" Laser, sondern beides sind Akronyme und Wörter, wobei ersteres noch mehr einen Namenscharakter hat, weil es eine Institution bezeichnet, etwa auf der Ebene eines Ländernamens. Der Befund ist, daß die Versalienschreibung bei Laser kaum mehr verwendet wird, während bei NATO/Nato beide Varianten stark vertreten sind. Ein Befund, den Sie offenbar bei aller wissenschaftlichen Rhetorik nicht hinnehmen wollen.
Schließlich: Sie verfehlen das Thema, um das es hier gehen sollte. Wenn Sie unbedingt wollen, können Sie die deskriptive Rechtschreibung von allen Seiten und in jeder Hinsicht problematisieren, bis hin zu dem "Argument", es sei doch unmöglich, wenn jemand unreflektiert von einem "Normalbürger" redet. Das Thema hier ist die Rechtschreibreform. Wenn Sie eine Diktatur abschaffen wollen, dann machen Sie sich nicht nützlich, wenn Sie die Demokratie in jeder Hinsicht problematisieren, obwohl das selbstverständlich ebenfalls möglich ist. Sie sollten das jedoch zeitlich verschieben und sich zuerst an der Hauptaufgabe beteiligen, die Diktatur oder - in unserem Fall - die Rechtschreibreform zu bekämpfen. Das tun Sie nicht, indem Sie die Verfechter der Demokratie als ahnungslose Stümper darstellen, die keine Ahnung von den theoretischen Grundlagen der Politik hätten.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 29.03.2006 um 09.08 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3696
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Aus einem früheren Beitrag von »Bardioc« (5. 11. 2003):
[J]edes Kind weiß heutzutage, wofür ROM steht. Das gehört zur technischen Allgemeinbildung. Ob die meisten Kinder heutzutage noch wissen, daß Rom eine Stadt in Italien ist, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Es gibt Dinge, die selbst in einer funktionierenden Demokratie nicht der demokratischen Willensbildung unterworfen sein dürfen; sind sie es, wird es zur Katastrophe kommen! Deutschland ist keine funktionierende Demokratie!
Die heutige englische Orthographie entspricht im wesentlichen der vor 500 Jahren. (Hab ich mal in einem Lexikon gelesen.)
Es ist zwecklos, auf diesem Niveau argumentieren zu wollen.
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 29.03.2006 um 10.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3697
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"Sprachwandel" ist ein ziemlich alter linguistischer Terminus, meist auf das Lautsystem einer Sprache bezogen, also auf die "Lautverschiebung". Daß im Englischen Schreibung und Lautung so offenkundig auseinanderklaffen, verdankt diese Sprache insbesondere der sog. "frühneuenglischen Langvokalverschiebung", die erst im 18. Jahrhundert zum Abschluß kam. Die Unterscheidung von "deskriptiver" und "präskriptiver" Sprachwissenschaft ist dagegen neueren Datums. Die in Amerika entstandene "neue" Linguistik setzte sich für It's me gegen das grammatische "richtige" It's I ein - ergriff also Partei für das "Übliche". Zwischen Deskription und Präskription besteht im übrigen ein dialektisches Verhältnis: Was als üblich vorgefunden wird, qualifiziert sich zugleich als Norm für die Sprachgemeinschaft, aber nur so lange, wie die Üblichkeit anhält. Freilich sollte man der gerade vorherrschenden sprachwissenschaftlichen Mode nicht blindlings folgen. Der Strukturalismus glaubte ohne eine semantische Komponente, also ohne die Bedeutung, auskommen zu können. Ein Nachhall davon findet sich noch in Professor Augsts Rechtschreibreform (besonders in den jetzt umgeschriebenen Paragraphen 34 und 36). Heute ist die Linguistik so hoch spezialisiert, daß ihre Texte nur für einen kleinen Kreis verständlich sind. Über einen Grundbestand entsprechender Termini sollten aber auch sprachwissenschaftliche Laien verfügen. Vor einiger Zeit hob eine Doktorandin lobend hervor, die Rechtschreibreform käme ohne "prädikativ" aus. So etwas geht nicht gut. Dagegen kann man "idiomatisiert" wohl keine große Zukunft vorhersagen. Über die Sprache zu sprechen ist schwierig genug, da verbietet sich jede unnötige Erschwerung.
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Kommentar von Bardioc, verfaßt am 29.03.2006 um 16.14 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3706
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Sehr geehrter Herr Wrase,
vorausschicken möchte ich, daß ich NICHT Ihr Feind bin. Ich bin wie Sie gegen die Rechtschreibreform. Ich hege sogar eine gewisse Hochachtung für Sie, da Sie zumeist hervorragende Beiträge eingestellt haben (in www.rechtschreibreform.com) und auch hier einstellen. Es ist natürlich klar, daß unterschiedliche Menschen nicht immer einer Meinung sein können, dies gilt besonders auf dem Gebiet der Rechtschreibung.
Es gibt Foren im Internet, da sind Pseudonyme normal, da gibt es noch nicht einmal die Möglichkeit, sich zu registrieren. Pseudonyme gehören zur Internetkultur! Ich möchte daran erinnern, daß auch Professor Jochems unter (mehreren) Pseudonymen Eintragungen getätigt hat, so daß es für andere Teilnehmer nicht unbedingt ersichtlich ist, wer nun dahintersteckt.
Ich möchte ganz sicher nicht ''ungehemmt Unmut erregen'', die ''Vorwürfe'' waren niemals in der von Ihnen behaupteten Allgemeinheit gemacht. Ich habe immer versucht, meine Ansichten so gut wie möglich zu begründen.
Außerdem habe ich vom ''Götzen der Lebendigkeit der Sprache'' geschrieben, dem man dient oder huldigt (und das ist der tatsächlich Eindurck, den ich manchmal von den Diskussionen hier habe), aber nicht von den von Ihnen aufgeführten Begriffen.
Wenn Sie ein bißchen ''zwischen den Zeilen'' gelesen hätten, dann hätten Sie bestimmt den leisen Humor bemerkt, siehe:
"Das Normale ist das Übliche". So ist es. -- Nein! Wenn schon, dann sollte das Übliche auch das Normale sein! Das ist doch viel mehr in Ihrem Sinne -- oder?
Dies ist so zu verstehen:
Wenn das Normale das Übliche ist, dann kann man das auch interpretieren: Das Normale ist das Normgemäße, und diese Norm kann auch durch einen Verwaltungsakt wie die Rechtschreibreform der Sprachgemeinschaft aufgezwungen, die aufgezwungene Norm also zum Üblichen werden, wenn man sie nur lange genug in den Schulen lehrt. Genau das wollen wir ja nicht! Deswegen schrieb ich: Nein! Wenn schon, dann sollte das Übliche, also das, was sich evolutionär in einer Gesellschaft entwickelt hat, auch das Normale sein! Das ist doch exakt und genau in Ihrem Sinne, oder?
''... oder die Schreibung von Akornymen wie NATO als normales Substantiv in Analogie zum Wort Laser. ''
Natürlich ist mir bekannt, daß das Wort Laser früher mal ein Akronym war. Mit Analogie zum Wort Laser meinte ich, daß nun das Wort NATO wie ein normales Substantive behandelt wird, nach dem Muster des Wortes Laser. Übrigens, ''Laser'' ist auch ein -- wenn auch relativ seltener -- Familienname! Ich nehme den Befund sehr wohl hin, da ich selbst ''Laser'' schreibe!
Ich habe Herrn Ickler nie ''mit Verachtung überhäuft''. Ich habe nur meine Meinung gesagt. Ich habe zu argumentieren versucht! Herr Ickler hat mit seinem Wörterbuch einen Bezugspunkt geschaffen, nach den Randbedingungen grammatische Richtigkeit und professionelle Schreiber. Natürlich läßt es sich darüber streiten, was nun als ''professioneller'' Schreiber anzusehen ist.
Ein solches Wörterbuch ist natürlich sprachwissenschaftlich und im Sinne der Deskription von unschätzbarem Wert. Es gab hier mehrfach Äußerungen, daß dieses Wörterbuch als Nachfolger des Duden ein Ausweg aus dem heutigen Rechtschreibchaos sein könnte. (Soweit ich Herrn Ickler verstanden habe, war sein Wörterbuch ursprünglich aber nicht als Ersatz für den Duden gedacht.) Es hat dann -- von mehreren Seiten und auch schon in rsr.com -- dahingehend Kritik gegeben, daß auch Ickler Varianten zuläßt und daß dies aus didaktischen Gründen nicht wünschenswert sei. (Ich würde hier die Problematik von Wörtern wie
''ernst nehmen'' vs. ''ernstnehmen'' ausklammern, da hier eine Regelung nicht sinnvoll ist. Dies ist offenbar auch Herrn Icklers seine Meinung.) Natürlich weiß ich nicht, wie Herr Ickler letzlich vorgeht, und welche Varianten er nach welchen Kriterien ignoriert oder aufnimmt.
Dem Begriff ''Sprachwandel'' begegnete ich zum erstenmal in besagter Sendung des Telekollegs Deutsch, in dem Aussagen gemacht wurden wie (sinngemäß): Jeder Sprechakt bewirkt einen Wandel der Sprache. Wundern Sie sich da, wenn man diesem Begriff ablehnend gegenübersteht?
Natürlich ist mir bewußt, daß sich Sprachen fortentwickeln, sonst gäbe es ja heute kein Deutsch oder Englisch! Mir ist auch klar, daß das Deutsche sich über verschiedene Stadien in seine heutige Form entwickelt, und das es früher -- und leider auch jetzt wieder -- unterschiedliche Schreibnormen gegeben hat.
Ich frage nur, ob wirklich alles ''Sprachwandel'' oder ''evolutionäre Fortentwicklung der Sprache'' ist, was einem heute unter diesem Begriffen so alles aufgetischt wird.
''Ein Beispiel sei ROM --> Rom. Zunächst einmal meinen Sie nicht ROM --> Rom, sondern zum Beispiel CD-ROM --> CD-Rom, die von Ihnen behauptete Verwechslungsmöglichkeit mit der Stadt Rom ist völlig abwegig und von wird von Ihnen mit Gewalt an die Wand gemalt.''
Nein, Herr Wrase, ich meinte ROM --> Rom, und genauso habe ich es auch geschrieben. Ein ROM ist ein Festwertspeicher in Chipform, der in einem IC-Gehäuse auf der Platine eines Computers eingelötet ist und einen Adreßdecoder und eine Speichermatrix enthält, die bei der Herstellung mit Daten oder Programmen versehen wird. Ein ROM kann sich also NICHT drehen. Eine CD-ROM -- ich schreibe lieber CDROM in Analogie mit PROM, EPROM oder EEPROM und weil man sich den Bindestrich spart (ökonomisches Prinzip!) -- ist eine Scheibe, die sich ein einem Laufwerk dreht, wenn von ihr gelesen wird.
Sprachlich gibt es keine Verwechselungsmöglichkeit, da ROM mit kurzem o, Rom aber mit langem o gesprochen wird.
ROM wurde schon ROM geschrieben, als erstmals für jeden erschwingliche Computer auf dem Markt kamen, da es ein Akronym ist. Es ist anzunehmen, daß es der Duden damals auch so aufgenommen hat. Meines Erachtens gehört ein solches Wort, ebenso wie NATO, gar nicht in ein Rechtschreibwörterbuch, sondern in ein Lexikon. Es ist ein technischer Fachbegriff, der später auch auch auch andere Speichermedien, eben die CDROM, übertragen wurde. Mit der Ausbreitung der Computer benutzen auch Leute diesen Begriff, die nichts oder nur wenig über die technischen Hintergründe wissen.
Herr Wrase, stellen Sie sich vor, die Rechtschreibreform wäre bereits gekippt und man würde daß wieder mit ß schreiben, auch nach einem deskriptiven Wörterbuch, weil die Mehrheit der Leute noch so schreiben, einschließlich der professionellen Schreiber. Dann kommt ein Schüler, der Reformschrieb gelernt hat und dem Sie daß Doppel-s in ein ß korrigieren. Später kommt dieser Schüler wieder, und wieder finden Sie die Schreibung mit Doppel-s. Und so würde es ihnen mit vielen Schülern ergehen, die diese Schreibung verinnerlicht haben oder die ganz bewußt dabei bleiben wollen, da sie es in der Schule so gelernt haben. (Aus demselben Grund möchten ja auch wir bei unseren klassischen Schreibweisen bleiben.) Offensichtlich gibt es eine ganz starke Tendenz zur Variante mit Doppel-s, die ein
gutes beschreibende Wörterbuch alsbald zur Kenntnis nehmen wird, womit nebenbei bemerkt ein permanente Fehlerquelle ausgemerzt wird. Eine ähnliche Argumentation könnte man für jede Veränderung, auch wenn sie ungrammatikalisch ist, anwenden. (Nebenbei bemerkt war der klassische Duden kein autoritäres Wörterbuch, sondern hat ebenfalls die (Schrift)sprachentwicklung beobachtet und Neuerungen aufgenammen.) Vielleicht hat Ihr Schreiber einfach nur eine fehlerhafte Rechtschreibprüfung benutzt, bevor er Ihnen den Text zur weiteren Korrektur übergeben hat, damit er nicht gar so unbedarft dasteht. Dann würde Ihr Beispiel nur eine starke Tendenz zur Benutzung einer bestimmten Rechtschreibprüfung beweisen, mitnichten aber einen (Schrift)sprachwandel! Genau das ist es, worum es mir die ganze Zeit über geht!
Was mir vorschwebt ist bestimmt keine ''gewaltsame Normierung'', sondern ebenfalls eine Art Beobachtung, aber auf einer anderen Ebene: Neben den ''klassischen'' Wörtern, die aus einer Zeit stammen, in der die Welt noch nicht so voll von Normen der verschiedensten Art war, z. B. auch juristischen Normsetzungen, gibt es Wörter, die rechtlich geschützt sind bzw. geschützte Produkte bezeichnen. Ein solcher Namen kann nicht einfach -- Sprachwandel hin oder her -- anders geschreiben werden, da -- juristisch festgelegt, die entsprechende Zeichenfolge eben für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Firma, Institution etc. steht. (Natürlich ist einer Firma unbenommen, ihren Namen oder die Namen ihrer Produkte gemäß des (Schrift)Sprachwandels ändern.) Ähnlich sollte mit technischen Fachbegriffen im weitesten Sinn verfahren werden: Sie werden einmal eingeführt und stehen dann für diesen Sachverhalt. Ähnliches gilt für Namen und Begriffe aus der Belletristik oder -- selbstverständlich -- auch für Eigennamen von Menschen. Mit anderen Worten: Nicht alle Wörter können dem Sprachwandel gleichermaßen unterliegen, schon aus (namens)rechtlichen Gründen oder aus (Familien)Tradition. Natürlich gibt es hier auch Übergänge und Zweifelsfälle, es geht mir darum, da Prinzip dazulegen.
''Aus Ihrem Text geht im wesentlichen hervor, daß Sie persönlich eine heftige Aversion gegen die Schreibung CD-Rom pflegen und sie am liebsten für alle Zeiten verbannen würden.''
Woraus geht das hervor?
''... und daß Sie eine permanente Fehlerquelle in der Sprachgemeinschaft beibehalten würden.''
Es gibt schlimmere Fehlerquellen für die Sprachgemeinschaft!
''Außerdem zeichnet sich ein Wissenschaftler dadurch aus, daß er zuerst einmal die Wirklichkeit hinnimmt, wie sie ist, ...''
Die Wirklichkeit ist, daß einmal eine technische Lösung erfunden und eingeführt wurde, die die Bezeichnung ROM erhalten hat -- vermutlich aus Symmetie zum Begriff RAM (der aber auch im Deutschen eher ''rem'' ausgesprochen wird) -- und die man deshalb nicht einfach anders schreiben sollte, wenn man fachlich ernstgenommen werden will! Der Urheber sollte das Recht haben, die von ihm erfundene Sache zu benennen. Aus Hochachtung dem Erfinder gegenüber sollte diese Benennung in exakt derselben Form beibehalten werden.
''... und nicht wie die Reformer nach seinen persönlichen Lieblingsideen umzugestalten versucht.''
Habe ich versucht, etwas umzugestalten? Da ich (Schrift)Sprachteilnehmer und auch Muttersprachler bin, bin ich -- wie Sie auch -- ein Teil des sprachlichen Entwicklungsprozesses und habe damit das Recht, meine persönlichen Lieblingsschreibweisen -- möglichst unter Beachtung eben dargelegter Ansichten -- in meine (Schrift)Sprache einfließen zu lassen.
''Sie selbst treten hier also keineswegs als Wissenschaftler auf.''
Ich habe nie behauptet, einer zu sein!
Ich habe das deskriptive Prinzip in bezug auf Rechtschreibung nicht in der Hinsicht ''problematisiert'', wie Sie mir hier unterstellen. Ich habe mögliche Fehlerquellen aufgezeit, über die hier nicht oder kaum diskutiert wurde. Frau Morin und auch Sie selbst haben diese Fehlerquellen zumindest erwähnt, und dafür bin ich dankbar.
Rechtschreibung ist eine sehr komplexe Sache, die mehreren, sich teilweise widersprechenden Anforderungen gerecht werden muß. Natürlich kann man nicht erwarten, daß sie allen Anforderungen in gleich hohem Maße entspricht. Daher kann immer jemand kommen und eine Rechtschreibreform mit der Begründung
fordern, daß die Rechtschreibung auf dem einen oder anderen Gebiet nicht optimal ist. Aus meiner Sicht bedingen Präskription und Deskription einander. Lernen ist zuerst einmal Präskription. Bestimmte Überlegungen und Randbedingungen lassen eine spezielle Schreibung günstiger erscheinen als eine andere. Hier kann, bis zu einem gewissen Grade natürlich, auch Präskription angebracht ein. Ich habe dafür ein Beispiel gebracht. Da jeder Muttersprachler aber auch Teil des Entwicklungsprozesses der Sprache ist, hat jeder auch das Recht, in bestimmten Bereichen schöpferisch mit Sprache und Schriftsprache umzugehen. Hier ist dann Deskription angebracht. Es muß aber darüber diskutiert werden, wo die Grenzen zwischen diesen Prinzipien liegen und ob es noch weitere Prinzipien geben könnte, denen Rechtschreibung unterliegen könnte. Keiner von uns kann dies allein entscheiden!
Das Wort ''normal'' -- auf Menschen angewandt -- ist nicht ganz unproblematisch, das habe ich in meinem bisherigen Leben bitter erfahren müssen. Jeder Mensch ist einzigartig, niemand möchte sich gern in eine Norm pressen lassen. Jeder möchte die speziellen Umstände seines Lebens gewürdigt wissen. Deswegen habe ich mich gegen den Begriff ''Normalbürger'' gewandt.
''Sie sollten das jedoch zeitlich verschieben und sich zuerst an der Hauptaufgabe beteiligen, die Diktatur oder - in unserem Fall - die Rechtschreibreform zu bekämpfen.''
Eine ganze Reihe von Reformgegnern wissen, daß ich mich sehr wohl an der Bekämpfung der Rechtschreibreform beteilige.
''Das tun Sie nicht, indem Sie die Verfechter der Demokratie als ahnungslose Stümper darstellen, die keine Ahnung von den theoretischen Grundlagen der Politik hätten.''
Ich habe begründet auf Probleme beim deskriptiven Prinzip aufmerksam gemacht und eine gewisse Oberflächlichkeit kritisiert, mehr nicht.
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Kommentar von idw, 4. 3. 2006, verfaßt am 03.04.2006 um 09.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3790
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Professionelle Sprachbeobachtung als Basis für die künftige Rechtschreibnormierung
Die teils sehr unsachlich geführten öffentlichen Diskussionen um die Zukunft der deutschen Rechtschreibung haben nachgelassen. Zu dieser Entwicklung haben die letzten Vorschläge des RATS FÜR DEUTSCHE RECHTSCHREIBUNG beigetragen. Dazu kam die Entscheidung reformkritischer Verlage, nunmehr die Vorgaben des Rats zu akzeptieren. Die DGfS (DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR SPRACHWISSENSCHAFT) begrüßt diese Entwicklungen und den Beschluss der Ministerpräsidenten vom 30.3.06, weil damit die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung gestützt und jetzt der Weg für eine sachliche Analyse der erforderlichen Normierungsmaßnahmen frei wird.
Die Schwierigkeiten mit der Reform haben freilich auch gezeigt, dass Probleme der Rechtschreibnormierung ohne eine systematische Sprachbeobachtung und -analyse nicht angemessen gelöst werden können. Eine solche Analyse muss sowohl die Dauerhaftigkeit der Rechtschreibung als auch ihre allmählichen Veränderungen ernst nehmen. Die DGfS, die Vereinigung von mehr als 1.000 Sprachwissenschaftlern in Deutschland, unterstützt daher Forderungen zur Einrichtung professioneller Arbeitsstrukturen, die dem Ziel der vernünftigen, konsensfähigen Rechtschreibnormierung dienen. Die Bedingungen, unter denen der RAT FÜR DEUTSCHE RECHTSCHREIBUNG bisher gearbeitet hat, entsprechen bei weitem nicht den Erfordernissen, die für eine solche Arbeit nötig sind. Die heftigen Kontroversen der Vergangenheit können nicht zuletzt als Zeichen für ein großes öffentliches Interesse an der deutschen Rechtschreibung interpretiert werden, das durch eine zweckmäßig konzipierte, öffentlich getragene Institution gestillt werden sollte.
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Kommentar von H.J., verfaßt am 03.04.2006 um 10.32 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3792
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Verfasser des nachstehenden Textes vom 2. 4. 2006 ist Privatdozent Dr. Wolf Peter Klein, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft. Er lehrt am Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Erfurt und ist unter folgender Netzanschrift zu erreichen: wolfpeter.klein@uni-erfurt.de.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.04.2006 um 16.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3794
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Die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft hat vor neun Jahren ein bißchen auf die Rechtschreibreform geschimpft und dabei ein gewisses Ressentiment gegen die anderen Kritiker, die erfolgreicher waren (Denk u.a.), durchblicken lassen. Gar zu deutlich war damals, daß in der DGFS Leute saßen, die gern selbst eine Rechtschreibreform gemacht hätten, wenn sie denn in all den Jahren einen diskutierbaren Entwurf zustande gebracht hätten (Homburger Arbeitsgruppe). Kurz danach paßten sie ihre Mitgliederzeitschrift der Reformschreibung an. Seither war nichts mehr zu hören.
Jetzt macht sich die DGFS naturgemäß die Eisenbergsche Forderung nach mehr Geld zu eigen, damit der "Rat" die Arbeit tun könne, die bisher der Duden getan hat. Gegen das ganze Projekt einer staatlichen "Normierung" der Sprache hat sie offenbar nichts einzuwenden. Allerdings ist auch nichts von einer Diskussion darüber unter den 1000 Mitgliedern bekannt geworden.
Der vornehme Ton von einst bestimmt auch die neue Verlautbarung. Mit den "unsachlichen" Kritikern will man nichts zu tun haben, lieber kuscht man und schweigt. Geld und Stellen kann man natürlich immer gebrauchen. Deshalb "begrüßt" man die Entscheidungen der Politiker und bestätigt ihnen gern, daß sie zu mehr "Einheitlichkeit" beitragen.
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Kommentar von H.J., verfaßt am 04.04.2006 um 11.22 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3803
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Vor zwei Jahren besuchte Dankwart Guratzsch die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Mainz und unterhielt sich dort mit den Leitern der Arbeitsgruppe "Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht", Ursula Bredel und Hartmut Günther.
HG: Ich habe noch von keinem einzigen Lehrer bestätigt bekommen, dass weniger Fehler gemacht werden. Die Rechtschreibung ist an einigen Punkten im Gegenteil erschwert worden.
DG: Gilt das auch für die "Neulerner"?
UB: Besonders für sie. Denn durch die neuen Regeln ist die Systemhaftigkeit der Orthographie verloren gegangen. Neulerner begegnen deshalb der Rechtschreibung mit weniger günstigen Voraussetzungen.
HG: Es wird ja oft übersehen: Das alte System war recht gut.
UB: Schlecht war nur die Erläuterung der alten Regeln, wie sie zum Beispiel in den Schulen gelernt werden sollte.
DG: Nennen Sie ein Beispiel!
UB: Nehmen Sie die alte Duden-Regel 60: "Substantive werden groß geschrieben." Dazu mussten dann Ausnahmen, Ausnahmen der Ausnahmen und womöglich Ausnahmen von den Ausnahmen der Ausnahmen gelernt werden. Aber man hätte alles in eine einzige Regel zusammenfassen können: "Groß geschrieben werden erweiterbare Kerne von nominalen Gruppen." Der Satz ersetzt 44 Duden-Regeln.
DG: Ist das für Kinder erlernbar?
UB: Das ist die Aufgabe der Schule. Die Erfahrung zeigt, dass sich Kinder dafür spielerisch begeistern lassen. Wenn Sie solche Erweiterungen vorführen, etwa: "Der (kleine) Hund jagt die (große) Katze auf den (kahlen) Baum", dann machen die Kinder selbst weiter und haben keine Schwierigkeiten mehr mit Schreibweisen, die früher Probleme bereiteten: "das (bessere) Selbst", "das (eigene) Ich". Wir müssen erklären, was los ist, und nicht gleich die Orthographie verändern.
DG: Also war die Rechtschreibreform überflüssig?
HG: Wir waren strikt gegen die Reform. Man kann nicht etwas reformieren, was man selbst nicht versteht.
So stand es in der WELT v. 9.3.2004. Schlagzeile in der Siegener Zeitung von heute: "Schuldebatte verschärft sich" - auch die klassische Rechtschreibung garantiert keine lecture automatique.
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 05.04.2006 um 13.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3812
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Bekanntlich befinden wir uns in bester Gesellschaft, wenn wir mit dem Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das weitere Schicksal der Rechtschreibreform die Berücksichtigung der Akzeptanz in der Schreibgemeinschaft anmahnen. "Konsens" - der Lieblingsausdruck der 1998 amtierenden KMK-Präsidentin Anke Brunn - geht sogar noch einen Schritt weiter: gemeinsame Praxis des Üblichen. So bestimmt die "synchronische" Sprachwissenschaft übrigens die Texte, an die sie sich vor allem halten möchte. Realistischerweise müßten auch Urteile über die Akzeptanz dieses Kriterium berücksichtigen. Freilich sollten selbst sprachwissenschaftliche Laien erkennen, daß dies ein gewaltiges Problem aufwirft. Der Erforschung unmittelbar zugänglich ist alles öffentliche Schreiben. Wie die deutsche Sprachgemeinschaft jedoch privat schreibt, läßt sich nur schwer ermitteln. Ob es uns lieb ist oder nicht, wenn es je ein abschließendes Urteil über die Akzeptanz der Rechtschreibreform geben sollte, es wird sich an die öffentliche Rechtschreibung halten.
Stellen wir uns einen auf Unparteilichkeit verpflichteten Richter vor, der dies in der Zeitung liest: Auf dem Buchrücken prangen goldene Lettern. Schwer liegt der großformatige Band auf dem wuchtigen Altarblock der Stuttgarter Stiftskirche. Es ist die neue Altarbibel der Deutschen Bibelgesellschaft, die hier im Gottesdienst am Pfingstsonntag in der württembergischen evangelischen Landeskirche eingeführt wurde. Die Feier war nach Angaben der in Stuttgart ansässigen Bibelgesellschaft die Auftaktveranstaltung für ganz Deutschland. [...] Der Text in dem 20,5 mal 31 Zentimeter großen und 1752 Seiten dicken Buch ist nach Angaben der Bibelgesellschaft die aktuelle Fassung der Lutherbibel in neuer Rechtschreibung. Sie ist von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für alle gottesdienstlichen Lesungen anerkannt. [...] Der Sprecher der Bibelgesellschaft, Ralf Thomas Müller, weist darauf hin, dass bei der Durchsicht des Textes 1999 auch veraltete Verbformen dem heutigen Sprachgebrauch angepasst wurden. Außerdem sei im Alten Testament das Wort „Weib" durch „Frau" ersetzt worden, weil sich in heutiger Zeit seine Bedeutung ins Negative verschoben habe. Müller räumt ein, dass die neue Rechtschreibung nicht das einzige Motiv ist, das den Verlag bewogen hat, nach 1988 jetzt wieder eine Altarbibel herauszugeben.
Das war übrigens im Mai 2004. Nun bringt das bei uns so unbeliebte Gütersloher Verlagshaus zusammen mit BILD eine prächtige Bibel für den Hausgebrauch heraus: die "Immendorff-Bibel" mit 24 Drucken des Düsseldorfer Künstlers. Kai Diekmann schreibt in einem Begleitbrief: "Jede Epoche hat ihr eigenes Recht, ihren eigenen Ausdruck und Charakter." Das läßt sich auch auf den Text beziehen, die "ökumenische Version" der "Guten Nachricht" - in modernem Deutsch und in reformierter Rechtschreibung. Die Freunde werden fragen: Ist die Lektüre nicht eine Qual? Entschuldigt meine Antwort: Keineswegs. Was uns an der Rechtschreibreform am meisten in Harnisch bringt, kommt im Bibeltext nicht oder sehr selten vor; in anderen seriösen Texten auch nicht.
Zurück zur Akzeptanz. Wer auf der Suche nach Auskünften über die Redaktionsgeschichte des Alten Testaments das Internet befragt, stößt dort auf einen schönen Aufsatz der Privatdozentin Karin Schöpflin aus Göttingen - in reformierter Rechtschreibung. Das besagt noch nichts über das Schreibverhalten der deutschsprachigen Theologen generell. Eine einfache Googlesuche schafft jedoch Klarheit. "Bundesbuch" +"dass" bringt 381 Hinweise, "Bundesbuch" +"daß" 289. Wer in bezug auf Schweizer Beiträge sichergehen möchte, gibt noch "Bundesbuch" +"gross" ein - 84 Hinweise. Damit bleiben die "Neuschreiber" immer noch leicht in der Überzahl.
Werft mir nun nicht wieder Defätismus vor, ich möchte nur daran erinnern, daß es zur Zeit keinen "Konsens" in der Frage unserer Rechtschreibung gibt und sich die eruierbare Akzeptanz offenbar in der Schwebe hält. Gewiß sollte man daraus Lehren für das weitere Vorgehen ziehen. Noch eins: Wie man verständlich über Rechtschreibung sprechen kann, finde ich gerade hier: http://www.sekretaerinnenwelt.de/Rechtschreibreform.pdf
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.04.2006 um 14.45 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3813
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Ursula Brendel im Gespräch mit Dankwart Guratsch 2004: "Man hätte alles in eine einzige Regel zusammenfassen können: 'Groß geschrieben werden erweiterbare Kerne von nominalen Gruppen.' Der Satz ersetzt 44 Duden-Regeln."
Vielleicht ist das hier schon früher ausdiskutiert worden, aber bei der Groß- oder Kleinschreibung des substantivierten Adjektivs zählt nur eine tatsächlich vorhandene Erweiterung: groß - oder der Gebrauch des substantivierten Adjektivs als Adverb: klein - ob es sich um bestimmte Redewendungen oder um unveränderliche Wortpaare handelt: klein - oder um eine nicht so enge Verbindung: groß.
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Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 05.04.2006 um 16.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3814
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Sekretärinnen, so entnimmt man dem von Herrn Jochems zitierten Papier, richten sich also nach einem "Kultusministererlass".
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Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 05.04.2006 um 17.17 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3816
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Wie man verständlich über Rechtschreibung sprechen kann, finde ich gerade hier: http://www.sekretaerinnenwelt.de/Rechtschreibreform.pdf
Ich halte den Text nicht für besonders verständlich, noch nicht einmal für studierte Leute. Zumindest unsere Sekretärinnen könnten ihn sicherlich nicht nachvollziehen. Um einen Begriff wie etwa "unfeste Zusammensetzung" zu verstehen, muß man sich mit dieser speziellen Materie speziell beschäftigt haben.
Man kann unsere Rechtschreibung halt nicht so einfach in Regeln fassen; sie ist im Detail so unlogisch wie wir Menschen selbst. Ich halte es für einen Irrweg, eine geringe Zahl von Regeln per se für ein Qualitätszeichen zu halten. Die Reformer haben es ja vorgemacht: "Zusammensetzungen schreibt man zusammen, Wortgruppen hingegen getrennt." Dieser Satz klingt gut, klingt wie eine "Regel", hat keinerlei Ausnahmen -- und ist doch des Zirkelschlusses wegen als Richtschnur völlig unbrauchbar.
Wer versteht schon ohne spezielle Einweisung einen Satz wie 'Groß geschrieben werden erweiterbare Kerne von nominalen Gruppen'? Wenn er ohne Sekundärliteratur unverständlich ist, hilft es wenig, wenn der Fachmann erkennt, daß dieser Satz 44 Duden-Regeln ersetzt.
Das eigentliche Problem für unsere armen Erstklässler und andere zu Beschulende ist ja, daß die Saat des ständigen Leichtermachenwollens und Zubeschulendenschweißsparens aufgegangen ist. Als Unk... -- äh -- Wildkraut: Die Kinder können heute nicht nur nicht mehr rechtschreiben, sondern überhaupt nicht mehr recht schreiben. Mit und ohne Rechtschreibfrieden.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.04.2006 um 17.21 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3817
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Die Netzseite sekretaerinnenwelt.de gehört der Beratungsfirma POC-PolegekOfficeConsulting, heidrun@polegek.com, die mit dem von ihr behaupteten Kultusministererlaß Werbung für ihre Kurse macht und Geld verdienen will. So werden Sagen und Märchen mit der Zeit zur Wirklichkeit.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.04.2006 um 17.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#3818
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Was die Leser wünschen und was die Verlage ihnen bieten, ist bekanntlich zweierlei. Es kann sein, daß bald überhaupt keine namhafte Zeitung mehr die herkömmliche Rechtschreibung verwendet und gleichzeit über 90 Prozent der Leser genau diese wünschen. Was folgt daraus für die Akzeptanz?
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Kommentar von Ivan Panchenko, verfaßt am 14.03.2020 um 20.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=444#11091
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Eine Beobachtung (zu #3668): In der chemischen Fachsprache schreibt man Ether statt Äther, aber Molybdän (mit ä) statt Molybden. Ich empfinde das als inkonsequent, überhaupt stört mich das Nebeneinander: Zitronen enthalten Citronensäure, Estrogen wirkt östrogen.
Aber im Dänischen: ether (traditionell æter) und molybden (traditionell molybdæn)!
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