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06.10.2005
 

Theodor Ickler
Falsches Deutsch und schlechtes Deutsch

Unter diesem Titel veröffentlicht Börsenblatt-online heute einen ausführlichen Beitrag Theodor Icklers.
In der Rubrik „Briefe an die Redaktion“ wurde in der heutigen gedruckten Ausgabe des Börsenblatts ein Auszug daraus abgedruckt.



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Kommentare zu »Falsches Deutsch und schlechtes Deutsch«
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Kommentar von Jens Stock, verfaßt am 06.10.2005 um 18.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1957

Das ist eine sehr schöne und kompakte Darstellung der derzeitigen Orthographiesituation und ihrer Probleme. Herr Ickler zeigt insbesondere in überzeugender Weise auf, inwiefern die sogenannten unstrittigen Bereiche der Reformrechtschreibung keineswegs als wirklich unstrittig angesehen werden können.

In fast allen Punkten würde ich dem Inhalt des Beitrags zustimmen. Bei der Fügung "jdm. Angst machen" würde ich persönlich die Großschreibung bevorzugen, genau wie bei "jdm. Angst einjagen". Es gibt in diesem Sinne ja auch einen Unterschied zwischen "recht haben" und "Angst haben". Man sagt:

    Einerseits: "Du hast vollkommen recht."
    Andererseits: "Ich habe große Angst."

Ich würde also nur "angst (und bange) sein" klein schreiben.


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 06.10.2005 um 18.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1958

Lieber Herr Stock, "jdm. Angst einjagen" unterscheidet sich doch strukturell von "jdm. Angst machen". Wenn ich jemandem Angst einjage, dann hat der doch danach hoffentlich große Angst. Damit ist sozusagen das "Ding" Angst in den anderen eingedrungen. Wenn ich jemandem angst mache, dann mache ich dem doch nicht das "Ding" Angst und stelle diese vor ihm hin.

(Weitere Diskussionen hierzu sollten wir im Diskussionsforum führen.)


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 06.10.2005 um 19.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1959

Wird "Angst" zum Substantiv, wenn ein Adjektiv davor steht oder auch wenn ein Adjektiv davor stehen könnte? Vor "Angst" ist in manchen Fällen ein Adjektiv möglich, vor "Bange" und vor "Angst und Bange" wohl eher nicht.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.10.2005 um 19.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1960

Noch einmal: "unstrittig".

Man muß das nur richtig übersetzen: Die Kultusbürokraten wollen, daß über diese Einzelheiten nicht mehr gestritten werde. Es ist der beliebte Roßtäuschertrick, Forderungen als Tatsachen zu maskieren, präskriptive Sätze als deskriptive zu verschleiern. - In diesem Fall entsprang die plumpe Taktik der nackten Not. Der unbotmäßig aktive Rechtschreibrat soll an die Kette gelegt werden.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.10.2005 um 20.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1961

Zu den "schlechten" Großschreibungen: Ein schönes Beispiel für den Bedeutungsunterschied findet sich hier im Diskussionsforum – in Form der "Rubrik für alles mögliche und alles Mögliche".


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 07.10.2005 um 08.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1962

Könnte hier jemand aus der Begründung der Reformer (Gallmann, Sitta?) zitieren, warum hinter "heute" kein Substantiv "Abend" stehen kann?

In Spiegel-online hat die allseits geschätzte Frau Dr. Popp sich wieder vernehmen lassen:

Aber Icklers Argumentation ist wieder so verquer, dass ich schon allein aus Opposition dazu bei "heute Abend" bleiben werde, solange nichts anderes amtlich ist.


Kommentar von rrbth, verfaßt am 07.10.2005 um 09.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1963

Hier
http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Pub/Konzept_Nominalitaet_1997.pdf
auf S. 29:

„Aus morphosyntaktischer, aber auch aus phrasensemantischer Sicht liegen in den kursiv gesetzten Wortformen keine nominalen Elemente vor, man hat daher früher (teilweise!) klein geschrieben:
(108) a) heute abend
b) außer acht lassen, in [i]acht nehmen
c) teilnehmen ich nehme teil
d) radfahren ich fahre Rad
e) Auto fahren ich fahre Auto

... und hier:
http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Pub/Lemma_1991.pdf
auf S. 8:
„Ein weiteres problematisches Beispiel bildet die Wortform abend (klein geschrieben!), beispielsweise in:
(29) heute abend
Es handelt sich nicht um eine reguläre Flexionsform von Abend, da sie keinen Kasus aufweist; nominale Lexeme haben sonst nur kasusbestimmte Flexionsformen. DUDEN IV (1984: 348) betrachtet das Wort als Adverb. Ist es gleichwohl zum Lexem Abend zu stellen?
Man könnte versuchen, den Begriff des Lexems für besondere Wortformen der beschriebenen Art zu erweitern. Vermutlich gelingt dies nicht in befriedigender, das heißt allgemeingültiger Weise, da die zu erfassenden Phänomene von allzu heterogener (und teilweise auch peripherer) Art sind.“



Kommentar von rrbth, verfaßt am 07.10.2005 um 09.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1964

Und hier
http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Pub/Gro_N_und_EN_1991.pdf
auf S. 4
„Wortformen substantivischer Lexeme können – vorwiegend in festen Wortverbindungen – nichtsubstantivisch verwendet werden.
[...]
Wortformen substantivischer Lexeme können mit den Adverbien des Paradigmas {‹gestern›, ‹heute›, ‹morgen›} komplexe adverbiale Phrasen (oder vielmehr Phrasenkerne?) bilden. Tageszeiten werden dann klein geschrieben, Wochentage hingegen groß: ‹heute nachmittag›, ‹heute Mittwoch›.“


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.10.2005 um 10.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1965

Die Stelle bei Gallmann lautet:
"Ein weiteres problematisches Beispiel bildet die Wortform 'abend' (klein geschrieben!), beispielsweise in
'heute abend'
Es handelt sich nicht um eine reguläre Flexionsform von 'Abend', da sie keinen Kasus aufweist; nominale Lexeme haben sonst nur kasusbestimmte Flexionsformen. Duden IV betrachtet das Wort as Adverb. Ist es gleichwohl zum Lexem 'Abend' zu stellen?"
(Augst/Schaeder (Hg.): Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion. Frankfurt 1991, S. 270)
Auch in der amtlichen Neuregelung wird die Kasusbestimmtheit als eines der drei Erfordernisse für Substantivität genannt.

Natürlich ist "abend" zum Lexem "Abend" zu stellen, es ist aber nicht dieses Lexem, wie eben die Verwendung zeigt. Historisch ist es der adverbiale Akkusativ. Irgendwann ging der substantivische Charakter verloren, und es ist ganz gleichgültig, ob man es der berüchtigten Restklasse "Adverb" zuschlägt oder nicht, denn im Zweifelsfalle gilt ohnehin Kleinschreibung. Dazu vgl. schon Wilmanns 1880, S. 159; 1887, S. 187. Auch der Reformer Klaus Heller stellt in einer millionenfach verbreiteten Broschüre fest, daß die Bezeichnung der Tageszeiten hier „nichtsubstantivisch“ gebraucht werde und daher bisher klein geschrieben worden sei.

Petra Ewald, eine Schülerin des Reformers Dieter Nerius, gibt zu, daß bei Leid tun, Schuld haben, morgen Abend keine Substantive vorliegen, und findet die Ausdehnung des Majuskelgebrauchs auf Nichtsubstantive „aus linguistischer Sicht problematisch“. (Gisela Schmirber, Hg.: Sprache im Gespräch. Hanns-Seidel-Stiftung 1997, S. 193)


Gallmann wußte schon damals nicht recht, was er damit anfangen sollte, und 1997 argumentiert er ungefähr so: Wenn wir nicht wissen, welche Wortart "abend" hat, dann identifizieren wir es doch einfach mit dem nächstliegenden Wort von bestimmbarer Wortart, und das ist hier das Substantiv "Abend". Damit wird er aber selbst nicht so glücklich sein.
Jedenfall ist "neulich Abend" nach üblicher deutscher Grammatik nicht recht konstruierbar. Und die Beweislast liegt immer bei dem, der etwas ändern will! Das haben die Reformer (wie schon Kopke 1995 bemängelte) gelegentlich vergessen und von den Kritikern verlangt, sie sollten beweisen, daß "abend" hier Adverb sei! Es ist ja auch kein Wunder, daß wir mit den antiken 10 Wortarten nicht durchkommen.
In der neuen Dudengrammatik schreibt Gallmann: "Die Adverbien des Typs 'gestern, heute, morgen' können ein Substantiv als Nebenkern bei sich haben." Das ist gänzlich ad hoc hinzuerfunden und erklärt nichts; es gibt auch kein Stichwort "Nebenkern".


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.10.2005 um 10.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1966

Mein Eintrag hat sich mit dem meines Vorgängers zeitlich überschnitten und ist keine Reaktion darauf!


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 07.10.2005 um 13.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1967

Theodor Ickler: In der neuen Dudengrammatik schreibt Gallmann: "Die Adverbien des Typs 'gestern, heute, morgen' können ein Substantiv als Nebenkern bei sich haben." Das ist gänzlich ad hoc hinzuerfunden und erklärt nichts; es gibt auch kein Stichwort "Nebenkern".

"Das ist gänzlich ad hoc hinzuerfunden ..." - was für ein verständliches Deutsch! Man könnte es etwas wissenschaftlicher auch so ausdrücken: Argumentationen vom Typ der Gallmannschen Grammatik können eine spontane Behauptung als Nebenkern bei sich haben.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.10.2005 um 15.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1970

Könnte man nicht M. Popp dazu bringen, ab und zu hier im Forum aufzutreten, damit wir bei all dem Ernst und gelegentlicher Melancholie auch mal etwas zu lachen hätten. Frau Popp bleibt so lange bei einer Schreibweise, wie sie amtlich ist. Was soll uns da Linguistik, was Grammatik. Das orthographische Leben könnte so leicht sein...


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 07.10.2005 um 18.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1971

Der "adverbiale Akkusativ" ist aus dem "Akkusativ der Richtung" entstanden und im Deutschen in "heim" (= nachhause) vorhanden.
Interessanter ist der inogermanische Lokativ, den es als "Lokativ des Ortes", "Lokativ der Zeit" und "Lokativ der Umstände" gab und der im Deutschen im Dativ aufgegangen ist. Bei "heute abend" kann man wohl eher von einem früheren "adverbialen Lokativ der Zeit" und einem heutigen "adverbialen Dativ der Zeit" sprechen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.10.2005 um 06.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1975

Schon richtig, aber da es solche Lokative usw. schon lange nicht mehr gibt, können sie auch kein produktives Muster im Deutschen abgegeben haben.
Übrigens ist die Zahl der Kasus auch im heutigen Deutsch durchaus strittig. Wir haben die vier bekannten, aus den indogermanischen acht übriggebliebenen und z. T. synkretistisch mit diversen Funktionen belastet. Grammatiker wissen aber, daß man z. B. sagen kann "ein Tisch aus Holz", aber nicht "ein Tisch aus Holze", wohl aber (wenn auch etwas veraltend) "ein Tisch aus altem Holze". Und weiter: "Mutters Frühstück" ist ja hochgradig irregulär, weil Feminina kein s im Genitiv anhängen. Sollte man in diesen Fällen also mit weiteren Kasus rechnen?
Zu den Tageszeiten: "heute abend" hat eine entfernte Ähnlichkeit mit "diesen Abend", aber eine viel größere mit "heute früh".


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 08.10.2005 um 13.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1976

Vielleicht bin ich ja als Ingenieur zu einfach gestrickt, aber wenn ich mich richtig erinnere, wurden Konstruktionen wie heute, morgen, heute morgen / abend / früh usw. in der Schule bis zur Mittelstufe als "Umstandsbestimmungen der Zeit" bezeichnet. Damit war der Fall klar: Es liegt kein "Hauptwort" vor, also folgt Kleinschreibung. Erst in der Mittelstufe wurden die lateinischen Begriffe "Verb", "Adverb", "Substantiv" usw. eingeführt. Bis dahin hatten wir mit "Tuwörtern / Tätigkeitswörtern", "Hauptwörtern" usw. die Klippen der Groß- und Kleinschreibung bereits weitestgehend hinter uns.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.10.2005 um 14.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1977

Die Schreibgemeinschaft hat es zwar nicht mitbekommen, aber seit ein paar Tagen hat die Diskussion um die deutsche Rechtschreibung eine neue Qualität gewonnen. Den Anfang machten die Lüneburger Oberverwaltungsrichter mit ihrem populistischen "Gang und Gäbe", unsere Seite konterte mit dem elitären Eingeständnis, daß ohne Grundkenntnisse in Indogermanischer Sprachwissenschaft kaum relevante Entscheidungshilfen zu unseren orthographischen Zweifelsfällen möglich sind. Die Mehrsprachigen in unserem Kreis haben es ja längst gesagt: Wer sich die Entsprechungen unserer Phraseologismen in den Nachbarsprachen anschaut, weiß mehr als unsere monolingualen Reformkommissionen und sonstigen Rechtschreibregulierer. Nehmen wir nur den ursprünglichen Stein des Anstoßes, "radfahren". Die deutsche Syntax versagt kläglich, wenn sie diese "Univerbierung" grammatisch deuten soll. Es ist eben ein Phraseologismus, der sich jeder rationalen Erklärung und natürlich einer überzeugenden orthographischen Festlegung entzieht. So quirlig ist die deutsche Sprache, was alle zur Kenntnis nehmen sollten, die ohne ein geschlossenes staatliches Rechtschreibreglement nicht glauben auskommen zu können.

Im Polnischen sagt man "jechac rowerem" (man ergänze einen Accent aigu auf dem "c" und zerlege "rowerem" in den Stamm "rower" + Instrumentralendung "em"). Gibt es also tatsächlich Überbleibsel des indogermanischen und in den slawischen Sprachen bis heute erhaltenen Instrumentals auch im Deutschen? Selbst wenn dem so wäre - das ist "Herrschaftswissen" (wie die 68er sagten) und hat in einer volkstümlichen Rechtschreiblehre nichts zu suchen. Man kann sich eine Rechtschreiblehre für alle nur so vorstellen, daß der traditionelle Schreibwortschatz als verbindlich vorgestellt wird, dazu ein Anhang mit etwa 100 Besonderheiten, die sich die Schüler ebenfalls einprägen und alle Erwachsenen praktizieren. Der ganze angehäufte Plunder an Spitzfindigkeiten mag als Raritäten für bildungsbewußte Schreiber auch noch seinen Platz in den Wörterbüchern finden, aber deutlich ausgezeichnet als nicht allgemeinverbindlich. Spaßeshalber könnte man ja ein paar Fangfragen für Tüftler anhängen: Warum schreibt man "jemandem ein X für ein U vormachen" - den übertragenen Gebrauch deutet man doch durch Kleinschreibung an, oder?


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 08.10.2005 um 17.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1978

Mal rein hypothetisch angenommen, Herr Ickler könnte sich in allen in diesem Beitrag angesprochenen Punkten im Rat durchsetzen, könnte die von Frau Güthert gepflegte Liste zusammenschmelzen wie der Schnee in der Sonne. Die derzeit etwa 360 Einträge umfassende Wortliste enthielte dann:
ca. 100 Einträge zur s-Schreibung (wie bisher), die man im Prinzip auf einige wenige Zeilen verdichten könnte;
ca. 30 Einträge zu Dreifachkonsonanten (Klemmmappe / Schifffahrt).

Von den übrigen etwa 230 Einträgen blieben noch etwa 65:
21 Einträge zur Bindestrichschreibung (z. B. 8achser -> 8-Achser);
ca. 10 Einträge zu Zahlwörtern (der achte -> der Achte / auf Null stehen -> auf null stehen);
9 Einträge zum englischen Plural auf -ies / -ys (Daddies, Daddys [Plural von Daddy] -> Daddys);
sowie ca. 25 Einträge, von denen ich nicht weiß, wie ich sie kategorisieren soll. Dazu gehören u. a. Marginalien wie: auf deutsch -> auf Deutsch, Friteuse -> Fritteuse, gespien, gespieen -> gespien, I-Punkt -> i-Punkt, Jäheit -> Jähheit, Karamel -> Karamell sowie das bekannte rauh -> rau.

Die Rechtschreibreform und das, was die meisten Menschen davon bis heute verinnerlicht haben, wäre auf den Punkt gebracht: Flußsand schreibt man reformiert Flusssand und Schiffahrt mit drei f.


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 08.10.2005 um 19.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1979

"Umstandsbestimmungen", heute "Adverbiale", auch "adverbiale Bestimmungen" genannt, können Adverbien sein, aber auch "präpositionale Fügungen" aus Präposition und Substantiv, auch reine Substantiv-Fälle, z.B. der Genitiv: schnellen Schrittes oder der Akkusativ: jeden Morgen.

Ich glaube, daß das "X für ein U" aus den früher üblichen römischen Ziffern stammt, bei denen "X" = 10 und "V" = 5 bedeutet. (Das U und das V wurden damals sehr oft gleich geschrieben).


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2005 um 05.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1980

Die Wörter werden geschrieben, wie sie eben geschrieben werden, das ist der Ausgangspunkt. Dann beobachten wir, daß neben der großen Masse des Selbstverständlichen eine kleine Menge von Wörtern existiert, bei denen mancher sich nicht so leicht merken kann, wie sie geschrieben werden. Ich habe seit acht Jahren eine Liste davon, sie umfaßt sechs Seiten einspaltig. Also "Grieß, verwandt, brillant" usw.
Dann muß man unterscheiden, was bloß Dudeneinfälle waren und was wirklich an sinnvollen Unterscheidungen gebraucht wird. Auf diesem Unterschied bestehe ich ja nun schon jahrelang bis zur Ermüdung.

Und dann der Haupteinwand gegen die Reform: Sie ändert nichts an der kapitalen Fehleinschätzung in mindestens zwei Punkten. Die Frage der Getrennt- und Zusammenschreibung wird irrigerweise auf "Wortgruppe vs. Zusammensetzung" reduziert (hierzu Herrn Jochems' Beispiel "radfahren") und die Groß- und Kleinschreibung auf "Kennzeichnung einer Wortart" (Substantivgroßschreibung). In beiden Fällen ist der Funktionswandel der graphischen Techniken nicht erkannt worden. Dadurch fährt die ganze Diskussion auf einem falschen Gleis. Leider ist der Rat für deutsche Rechtschreibung auch nicht imstande, hier eine grundsätzliche Umkehr zu vollziehen. Er müßte dann auch die amtliche Regelung wegwerfen, statt auf ihrer Grundlage weiterzubasteln.
Wenn man noch einmal meine eigene Regelformulierung (in kurzer [Teil 1, Teil 2; jeweils ca. 32 KB] und langer Fassung) überfliegt, wird man bei aller Verbesserungswürdigkeit feststellen, welchen Gewinn an Plausibilität die Abkehr von den beiden Fehlern mit sich bringt.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.10.2005 um 10.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1981

Unserem Wörterbuch ist die Überzeugung eingeschrieben, daß Sprache verdirbt, wenn sie keine Anwälte mit historischem Gedächtnis hat: Wir sehen das Wörterbuch als historisches Spracharchiv, das Vergangenheit und Gegenwart verbindet, ja beide in der Geschichte aufhebt. Die historische Semantik des Wortschatzes und ihre Fundierung im literarischen Beleg kommen dem geschichtlichen Verlangen nach.

Diesen "Beschluß" gaben Helmut Henne und seine Mitarbeiter im Januar 1992 der "9. vollständig neubearbeiteten Auflage" von Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch mit auf den Weg. Uns interessiert heute, wie im Lichte dieses wortgeschichtlich orientierten Wörterbuchs einige der neuen Großschreibungen (gerade vorgestellt in Frau Gütherts Liste) zu beurteilen sind. Doch da taucht gleich ein Problem auf:

Wir waren zeitlich überfordert, die von Paul übernommenen "Zitate" in jedem Einzelfall nachzuweisen, mußten somit auch die vorfindliche Orthographie (die Paul angeglichen hatte) übernehmen. [...] Werke, auch Wörterbücher, die selbst eine Geschichte haben, sind durch diese geprägt - hier in den Formen der Belege. Wir konnten und wollten diese Geschichte nicht tilgen. Der Zweck: Die Bedeutungen im literarischen Beleg zu bezeugen, ja zum Sprechen zu bringen, schien uns allemal gewährleistet.

Hermann Paul hat demnach sein ursprünglich 1897 erschienenes Wörterbuch nach der Rechtschreibkonferenz von 1901 orthographisch überarbeitet - auch die Belege. Wir sollten also annehmen, daß alle Einträge ohne Angabe und Datierung des Fundorts die "klassische" deutsche Rechtschreibung des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Dabei entdeckt man Erstaunliches. Ein paar Lesefrüchte:

es bleibt alles beim alten; er ist noch der Alte
ich bin mir darüber im klaren; ins Klare setzen liebt der alte Goethe
sich auf dem Laufenden halten, auf dem Laufenden sein
subst. das Trockene bibl. 'das trockene Land', daher aufs Trockene bringen; übertr. im Trockenen 'geborgen, ohne Sorgen sein'; [...] er hat sein Schäfchen ins Trockene gebracht usw.

Zu "gut und böse" zitiert Hermann Paul Nietzsches Zarathustra (1883): Keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als gut und böse. (74)

Es zeichnet sich jetzt schon ab, daß im Vergleich mit den im Kapitel Groß- und Kleinschreibung vor dem Rat für deutsche Rechtschreibung liegenden Aufgaben die Überarbeitung der Getrennt- und Zusammenschreibung ein Spaziergang war. "Peils Liste", die vielen der Überrumpelten die Augen für den Widersinn der Rechtschreibreform öffnete, könnte bald durch "Gütherts Liste" ergänzt werden, allerdings in entgegengesetzter Argumentationsrichtung. Die Schreibgemeinschaft wird der Verwunderung voll sein, was sie vor 1996 alles geschluckt hat. Es kann jetzt nicht um Restauration gehen, sondern um die Beschreibung einer deutschen Rechtschreibung, die von jedem intelligenten Sprachteilhaber zu beherrschen ist. Diese Aufgabe übersteigt jedoch die Möglichkeiten des Rates für deutsche Rechtschreibung, und eine andere Lösung ist nicht in Sicht. Armes Deutschland.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 09.10.2005 um 15.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1982

"(Es geht) um die Beschreibung einer deutschen Rechtschreibung, die von jedem intelligenten Sprachteilhaber zu beherrschen ist." (Prof. Jochems) - Prof. Jochems´ Credo, daß erstens die alte Rechtschreibung in weiten Teilen auch eine Zumutung war, und daß zweitens, daraus folgend, eine Rechtschreibung fürs Volk gefordert ist, ist ja beinahe auch der Ansatz der Reformer gewesen. Viel Neues kann man dem eigentlich nicht entgegensetzen. In der reformierten Rechtschreibung sieht Prof. Jochems jedenfalls seine Forderung nach Beherrschbarkeit durch "jeden intelligenten Sprachteilhaber" nicht erfüllt, wenn ich ihn recht verstehe. Er gehört ja doch nach wie vor zu deren entschiedenen Gegnern. Mit der bloßen "Beschreibung" dürfte aber sein Postulat nach allgemeiner Beherrschbarkeit nicht zu erfüllen sein - wobei die Voraussetzung einer gewissen Intelligenz immerhin nicht ohne Charme ist. (Zabel wollte es bei der Pflichtschulzeit bewenden lassen - Menschenfreund und Anwalt der kleinen Leute auch er.) Denn jede Beschreibung kann sich ja nur auf die übliche Orthographie mit all ihren Schwierigkeiten, Spitzfindigkeiten und Ungereimtheiten beziehen.

Eine Rechtscheibung, wie sie Prof. Jochems vorschwebt, ist nur als geplantes Konstrukt denkbar, also als genau das, was der reformierten Schreibung als Hauptvorwurf gemacht wird: Daß sie kontraevolutionär und kontraintuitiv sei. Das unauflösbare Dilemma besteht darin, daß gesprochene und geschriebene Sprache einerseits am Reich der Freiheit teilhaben. Andererseits verlangt die schriftliche Kommunikation, vor allem wegen reduzierter technischer Mittel, nach Einheitlichkeit und damit nach Normen. Die Frage, schon oft gestellt, ist eben: Woher bezieht man diese Normen? Prof. Ickler will die Regeln aus dem Usus ableiten, die Reformer verfuhren umgekehrt. Für Prof. Ickler ist die Sprache, ob gesprochen oder geschrieben, etwas Lebendiges, ein Organismus. Die Reformer hingegen betrachten zumindest die Schreibung als etwas ganz und gar Äußerliches und willkürlich Veränderbares. Der eine findet Normen, die anderen setzen Normen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2005 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1983

Es wäre sicher interessant, die eigenwillige Orthographie Hermann Pauls einmal über die Jahrzehnte seines Schaffens hinweg zu verfolgen. Übrigens war er, als er die letzte Ausgabe seiner Prinzipien der Sprachgeschichte bearbeitete, schon lange sehbehindert, fast blind.

Die deutsche Orthographie ist ja so beschaffen, daß Intelligenz nicht ausreicht, sie zu beherrschen. Man muß auch viel gelesen haben, also gebildet sein. Intelligenz wäre ausreichend, wenn es nur darum ginge, nach Gehör zu schreiben; das geht zwar auch nicht ohne Abstraktionsleistung (weil es zwar die Buchstaben gibt, nicht aber die Laute, denen sie angeblich zugeordnet sind), aber genau diese Leistung ist ein gefundenes Fressen für die Intelligenz.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 09.10.2005 um 19.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1985

Umgekehrt gibt es wahrscheinlich auch Sprachteilhaber, die nicht besonders intelligent, aber trotzdem recht sicher in der Rechtschreibung sind, zumindest im Rahmen dessen, was sie überhaupt zu schreiben haben. Ein gutes (visuelles) Gedächtnis ist die beste Versicherung gegen Rechtschreibfehler. Rechtschreibung ist zunächst einmal das Abrufen typographischer Muster, vor allen Normen, Regeln, Bedeutungsnuancen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 10.10.2005 um 12.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1986

Gestern abend hörte ich eine kurz vor der Emeritierung stehende Kollegin Erstaunliches von den schriftlichen Arbeiten ihrer Studenten berichten. Sie seien häufig kaum lesbar, wobei neben Grammatik und Wortwahl vor allem die Rechtschreibung selbst gutwillige Prüfer vor große Probleme stelle. Dies wurde von anderen mit der Bemerkung bestätigt: "Sie lesen ja nicht mehr." Selbst wenn man diese Feststellungen nicht für verallgemeinerungsfähig hält, sollte man sie doch als Erinnerung an das "soziokulturelle" Umfeld verstehen, in dem wir unsere Diskussion über die gegenwärtige Situation der deutschen Rechtschreibung führen.

Die deutsche Orthographie ist ja so beschaffen, daß Intelligenz nicht ausreicht, sie zu beherrschen. Man muß auch viel gelesen haben, also gebildet sein. - Ein gutes (visuelles) Gedächtnis ist die beste Versicherung gegen Rechtschreibfehler. Rechtschreibung ist zunächst einmal das Abrufen typographischer Muster, vor allen Normen, Regeln, Bedeutungsnuancen. Diesen Anmerkungen Prof. Icklers und kratzbaums hätte in unserer Gesprächsrunde niemand widersprochen.

Nein, eine Zumutung in weiten Teilen war die alte Rechtschreibung keineswegs. Es gibt im übrigen keine "alte" Rechtschreibung, wie man sich leicht anhand der neuerdings zweifarbig gedruckten Rechtschreibwörterbücher überzeugen kann, und eine Rechtschreibung fürs Volk fordert niemand - welche Bedeutungsschattierung man auch für dieses Reizwort gelten lassen will. Eine Rechtscheibung, wie sie [dem Graukopf aus den hinterwäldlerischen Haubergen] vorschwebt, ist nur als geplantes Konstrukt denkbar, also als genau das, was der reformierten Schreibung als Hauptvorwurf gemacht wird: Daß sie kontraevolutionär und kontraintuitiv sei. Das unauflösbare Dilemma besteht darin, daß gesprochene und geschriebene Sprache einerseits am Reich der Freiheit teilhaben. Andererseits verlangt die schriftliche Kommunikation, vor allem wegen reduzierter technischer Mittel, nach Einheitlichkeit und damit nach Normen.

Was soll man dazu sagen? Kratzbaum und ich sind uns doch einig, daß es in der deutschen Rechtschreibung nach wie vor einen "Grundbestand des Richtigen" gibt, der sich den Schreibern als "Lesefrucht" eingeprägt hat und beständig auf "Abruf" zur Verfügung steht. Dieses selbstverständliche und weitgehend unreflektierte Schreibvokabular zeigen die reformierten Wörterbücher im Schwarzdruck. Hinzuzuzählen sind die vielen neuen "ss"-Wörter, die sich nur in einem marginalen typographischen Zug vom bislang "Gespeicherten" unterscheiden. Da die neuesten Wörterbücher zwar die Verbindungen mit Partizipien wieder richtig dokumentieren, nicht jedoch die ebenfalls rehabilitierten verbalen Univerbierungen, wartet hier noch ein beachtlicher Teilwortschatz auf seine Rückkehr in den Schwarzdruck. Dies alles ist in der deutschen Rechtschreibung unstrittig, ist weder "geplant", noch "kontraevolutionär" und schon gar nicht "kontraintuitiv". Hier werden keine Regeln benötigt, die Einheitlichkeit ergibt sich von selbst, und man ist höchstens überrascht, daß sich hinter dem Selbstverständlichen eine "Norm" verbergen soll.

Bleibt die Güthertsche Liste. Sie enthält 360 Einträge (zur Erinnerung: die großen Rechtschreibwörterbücher verzeichnen deren 125.000), die den kläglichen Rest der Neuregelung dokumentieren, ein Sammelsurium von Reformertüfteleien, die kein intelligenter Schreiber freiwillig übernehmen wird, aber auch von ein paar begrüßenswerten Korrekturen früherer Dudenspitzfindigkeiten, von denen mancher Leser dieser Liste hier zum erstenmal erfährt. Hätten sich die Reformer darauf beschränkt, wären ihnen Lob und Anerkennung sicher gewesen.

Da kein ernsthafter Wille zu erkennen ist, das gegenwärtige deutsche Rechtschreibdilemma intelligent zu lösen, wird man seine Hoffnung auf kratzbaums Nothelfer setzen - Evolution und Intuition. Aber Achtung: Eine deutsche Rechtschreibung ohne Schwierigkeiten kann es nicht geben. Theodor Icklers sechs Merkblätter werden nie überflüssig werden. Übrigens: Ich war 61, als ich erfuhr, daß meine (englische) Schreibung "brilliant" im Deutschen nicht üblich ist. Damals näherte ich mich auch der Emeritierung, wie die eingangs erwähnte Kollegin von einer renommierten deutschen Universität.



Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 10.10.2005 um 12.37 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1987

Selbst wenn sie immer noch viel lesen, dann geht es im Lesestoff inzwischen bunt durcheinander. Die Frage ist dabei, wieviel Uneinheitlichkeit kann der normale Kopf verkraften? Oder ist es so, daß schon eine relativ kleine Grauzone ausreicht, den beim Lesen unbewußt ablaufenden Speicherprozeß nachhaltig zu behindern? Wir wissen doch inzwischen, daß eine neue Verunsicherung erlebt wird und daß diese ausstrahlt auf Wörter und Wendungen, die überhaupt nicht betroffen sind von der Reform. Die Risiken und Nebenwirkungen treten erst allmählich deutlicher hervor. Die Reformer haben davon nichts antizipiert.
Ich meine immer noch, die Grauzone muß so klein sein wie nur möglich - und das war ja auch der Fall - wenn das Lernen beim Lesen funktionieren soll.
Wenn sie aber wirklich nicht mehr lesen, die Studenten, haben wir natürlich ein ganz anderes Problem ...


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 10.10.2005 um 13.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1988

Schon recht, Herr Prof. Jochems: Die Einheitlichkeit ergibt sich von selbst. Aber nicht für den ratsuchenden Schreiber! Hinter dem "Selbstverständlichen" verbirgt sich eine Norm - oder wenn Sie lieber wollen: eine Regelmäßigkeit. Es gibt eben doch zwei Sphären (mindestens) der Orthographie. In der einen bewegen sich die Sprachteilhaber, die das Werkzeug Rechtschreibung gleichsam spielerisch und mitunter auch schöpferisch handhaben. Sie schlagen praktisch nie im Wörterbuch nach und nehmen auch mal einen Fehler in Kauf. Dann gibt es die anderen, die einfach richtig schreiben müssen, von Berufs wegen oder auch in der Schule. Sobald Orthographie bewertet wird, sind Normen nötig, woher auch immer sie abgeleitet werden. Damit sind wir wieder bei der "abgestuften Kompetenz", einem Lieblingskind von mir. - Karl Kraus schreibt mal "kennenlernen", mal "kennen lernen", "in Acht" usw. Das war ihm völlig egal.


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 10.10.2005 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1989

Helmut Jochems: Bleibt die Güthertsche Liste. Sie enthält [...] aber auch von ein paar begrüßenswerten Korrekturen früherer Dudenspitzfindigkeiten ...

Nur ein kleiner Einwurf am Rande, ohne Herrn Jochems ansonsten widersprechen zu wollen: Ich kann diese begrüßenswerten Korrekturen insofern nicht erkennen, da dem Schreiber ja keine Wahl gelassen wird. Hier wird doch eine Spitzfindigkeit nur gegen eine andere ausgetauscht.


Kommentar von H. J., verfaßt am 10.10.2005 um 16.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1990

Wer im Duden nachsieht, wie man "Borreliose" schreibt, ist zweifellos ein ratsuchender Schreiber. Man kann ihn aber auch "ratlos" nennen, denn das amtliche Wörterbuch läßt ihn hier im Stich. Die meisten ratsuchenden Schreiber haben dagegen Angst, sich in so weltbewegenden Zweifelsfällen wie "umso oder um so?" zu blamieren. Die Norm, die es in diesem Falle zu beachten gilt, ist eine typisch deutsche Lexikographenmarotte. Darf ich auf meine Überlegungen zum Begriff "Rechtschreibfehler" zurückkommen? Wer in kratzbaums "Kernbestand des Richtigen" nachlässig ist, vergeht sich am Konsens der Schreibgemeinschaft. Sich über Spitzfindigkeiten hinwegzusetzen ist dagegen ein Zeichen von staatsbürgerlicher Charakterstärke. Ich schäme mich heute, daß ich als junger Mensch "zuhause" aufgegeben habe, weil der Duden es so befahl. Die Schule hat übrigens aufs Leben vorzubereiten, und dort herrscht orthographisch das keineswegs einheitliche Übliche vor. Lehrer als Durchsetzer einer Staatsrechtschreibung sind ein Greuel.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 10.10.2005 um 17.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1992

Aus den Niederungen

Lehrerin zum Schüler: "Du machst so viele Rechtschreibfehler. Schau doch im Wörterbuch nach, wenn du im Zweifel bist."

Schüler: "Ich bin nie im Zweifel!"

(Hinlänglicher Stoff zum Nachdenken, meine ich.)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.10.2005 um 18.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1993

Wieder einmal muß ich, nein will ich Herrn Jochems recht geben. Die Dudenspitzfindigkeiten kann nur ermessen, wer sich einmal ausgiebig damit beschäftigt hat. Der alte Duden ist aber für mich sowieso nie eine Größe gewesen, auf die ich viele Worte verwendet hätte. Als Bezugsmaß habe ich ihn ja auch von vornherein ausgeschieden und mich ganz und gar auf den Usus berufen, und den habe ich, wie ich nicht ohne aufgefrischte Autoreneitelkeit bemerke, bei gegebener Zeitknappheit gar nicht schlecht erfaßt. Das zeigt sich gerade an den Fällen "zuhause" und "umso", die Herr Jochems sehr richtig als besonders gute Beispiele anführt.
Aber auch die Tüfteleien der Neuregelung sind kraß, wenn man z. B. an das Gewirr um "zu Schanden" usw. denkt, wo einem ja nach wenigen Zeilen voller ungleich behandelter Beispiele der Kopf schwirrt.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.10.2005 um 00.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1994

Wenn zuhause im Wortschatz allein dastünde, gäbe es keine Bedenken gegen die Zusammenschreibung. Aber was ist mit nachhause? Ich finde, das ist ästhetisch auf einer Ebene mit der Nussschnitte. Jedenfalls gibt es hier mehr Anlaß zur Getrenntschreibung. Wenn wir als Norm zuhause haben, aber (noch) nicht nachhause schreiben wollen, hätten wir das ungleiche Paar zuhause, nach Hause und vielleicht als Übergangsphänomen zuhause, nach hause. Also, mit zuhause handelt man sich nachhause ein, und in der Gesamtschau ist das eine weniger schöne Lösung. Kein Leser stört sich nämlich an zu Hause. Das Problem ist ja nur, daß die Leute es intuitiv zusammenschreiben wollen.

Und zwar - zugegeben - so häufig, daß sich der Wörterbuchmacher dem Gebrauch des Volkes unterwerfen und die Zusammenschreibung anerkennen sollte; die eventuelle Abweichung gegenüber nach Hause oder nach hause wäre eben in Kauf zu nehmen, in guter deskriptiver Unschuld. Zudem ist in Rechnung zu stellen, daß zu Hause viel häufiger vorkommt als nach Hause und in aller Regel nicht in direkter Nachbarschaft mit letzterem, so daß ihm eine Norm aus eigenem Recht zukommt. Viele hundert immergleiche Korrekturen, die mir im Lauf der Jahre immer peinlicher wurden, haben mich weichgekocht. Fazit: Zustimmung zum Wörterbuch der normalen Rechtschreibung (Ickler), nieder mit Duden und der Reform und dem ganzen Krampf.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.10.2005 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1995

Schon bisher gab es Österreich und der Schweiz offiziell "nachhause" und "zuhause", aber die Reformer haben sich nicht zur Anerkennung für Deutschland durchringen können, sondern beides nur als regionale Varianten zugelassen. Wobei übrigens im amtlichen Wörterverzeichnis die Behandlung unterschiedlich ist: bei "nachhause" kann man die regionale Beschränkung nur über den Verweis auf "Haus" erschließen.

Noch eine Beobachtung: Bei "Handvoll" gab und gibt es eine Tendenz zur Kleinschreibung ("handvoll"), also noch mal das Gegenteil der reformierten Schreibweise.

(Siehe dazu auch hier. Red.)


Kommentar von Christian Dörner, verfaßt am 11.10.2005 um 13.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1997

Die Zusammenschreibungen zuhause und nachhause waren vor der Reform auch in Österreich und der Schweiz nicht offiziell zulässig.

Der Irrtum beruht wahrscheinlich auf dem vergessenen Stern bei zuhause im amtlichen Regelwerk von 1996. Das Regelwerk ist hier auch sonst – wie so oft – verwirrend und widersprüchlich: nachhause ist, wie schon angemerkt wurde, zwar als Neuschreibung gekennzeichnet, wird aber nicht auf Österreich oder die Schweiz beschränkt. Unter Haus findet man dann nachhause und zuhause – beide korrekt als Neuschreibungen gekennzeichnet und mit dem Hinweis auf die ausschließliche Zulässigkeit in Österreich und der Schweiz versehen.

Der Duden von 1991 kennt die Zusammenschreibungen natürlich auch nicht für Österreich und die Schweiz, und selbst die reformierten Auflagen versehen die neuen österreichischen und schweizerischen Schreibvarianten korrekt mit Rotdruck.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.10.2005 um 05.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#1999

Vielen Dank für den Hinweis, Herr Dörner. Ich hatte mich auf das ÖWB und seine Kennzeichnungen verlassen, dessen ältere Ausgaben mir allerdings nicht zur Hand waren. Immerhin wird man eine gewisse Üblichkeit für Österreich feststellen können.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 12.10.2005 um 13.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2000

Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Kritikern der Rechtschreibreform wird offenbar wieder schärfer im Ton. Die Öffentlichkeit erfährt davon zwar so gut wie nichts, aber vielleicht steckt darin doch ein Hinweis, wie es weitergehen wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Begrenzung des derzeit geltenden Teilmoratoriums interessant, die gerade in Potsdam bekanntgegeben wurde. Bis 2007 hätte demnach der Rat für deutsche Rechtschreibung noch viel zu tun, wenn er wenigstens das Schlimmste wieder in Ordnung bringen wollte. Dabei steht selbst für die überarbeiteten Teile des Regelwerks überhaupt noch nicht fest, wann sie den angeblich betroffenen Verbänden zur Entscheidung vorgelegt werden - ergebnisoffen. In unserem Lager ist die Hoffnung nicht ganz erloschen, daß die Rechtschreibreform vielleicht doch noch "amtlich" zurückgenommen wird, oder aber eine spektakuläre Rückkehr zu den "üblichen" Schreibweisen in der Presse und bei den Sachbuchverlagen dem Reformversuch das Wasser abgräbt.

Für die Reformkritiker ist dies alles unproblematisch, denn mit der Berufung auf Theodor Icklers Rechtschreibwörterbuch glauben wir den Ungereimtheiten der letzten Duden-Auflagen wie auch den Absurditäten der Neuregelung aus dem Weg zu gehen. Ist das aber wirklich so einfach? In der sog. Güthert-Liste finde ich 60 Einträge (von 360), in denen mir die alte Dudenregelung suspekt ist. Nirgendwo habe ich früher die unmögliche Schreibung "Busineß" gesehen, und auch Prof. Ickler dokumentiert als übliche Schreibung "Business", allerdings mit dem Zusatz "a. Busineß". Variantenschreibungen hat Frau Güthert nicht aufgenommen, deshalb fehlt "Stenographie". Ich habe in den letzten Jahren die mir geläufige Schreibung mit "f" aufgegeben, um nicht falsche Verdächte zu wecken. Jetzt schäme ich mich, daß ich mich aus rein taktischen Gründen konformistisch verhalten habe. Daß ich zu Duden-Zeiten so hätte schreiben sollen: jung und alt, jeder beliebige , um ein beträchtliches , etwas bis ins kleinste regeln, ins reine bringen/kommen/schreiben , aus dem vollen schöpfen , in die vollen gehen und etliches andere mehr, erfahre ich jetzt erst aus der Güthert-Liste. Vielleicht komme ich nicht mehr in die Situation, daß von mir hier Loyalität erwartet wird, aber dann sage ich mir, eine vernünftige Schreibung verliert nicht dadurch ihren Charme, daß Prof. Augst sie ebenfalls benutzt. Ich habe übrigens die Hoffnung aufgegeben, daß die Deutschen je eine wirklich freie Rechtschreibung haben werden. Wahrscheinlich wird eher das Schreiben obsolet werden, als daß es bei uns so praktiziert wird wie bei allen anderen Völkern.



Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 12.10.2005 um 14.12 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2001

Th. Ickler: "Aber auch die Tüfteleien der Neuregelung sind kraß, wenn man z. B. an das Gewirr um "zu Schanden" usw. denkt, wo einem ja nach wenigen Zeilen voller ungleich behandelter Beispiele der Kopf schwirrt."

Genau solche Beispiele brauchen Öffentlichkeit. Wie etwa "Aufsehen erregend" vs. "äußerst aufsehenerregend". Hätte man, warum auch immer, ein paar Änderungen eingeführt, die nachher genauso sinnvoll oder sinnlos sind wie vorher, hätte ich sie wahrscheinlich äußerst achselzuckend übernommen.

Um ein Bild zu verwenden: Das Wurzelwerk des Baumes verursachte beim Umpflanzen mehr Probleme als vorgesehen. Die Bauarbeiter haben sich dann nicht anders zu helfen gewußt, als ein paar zu kappen, ein paar wegzubinden, ein paar zu verknoten, ...


Kommentar von Red., verfaßt am 13.10.2005 um 09.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2006

(Vier Beiträge zum Thema Handvoll/Hand voll/handvoll wurden hierhin verschoben)


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.10.2005 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2010

Im Sommersemester 1985 - zehn Jahre vor der Rechtschreibreform, allerdings aus Anlaß des Siegener Kolloquiums "Graphemics and Orthography" - befragte ich meine damaligen Seminarteilnehmer, wie man "recht haben" schreibt. Heraus kam ein Ergebnis wie bei der letzten Bundestagswahl: "recht" und "Recht" hielten sich in etwa die Waage. Daran erinnert jetzt die Güthert-Liste, in der dieser Eintrag nicht fehlt:

Alte Rechtschreibung: recht behalten/bekommen/erhalten/geben/haben
Neue Rechtschreibung: Recht behalten/bekommen/erhalten/geben/haben

Hier fehlt "recht tun", das jedermann aus dem Sprichwort kennt: "Tue recht und scheue niemand." Frau Pfeiffer-Stolz würde ihre Freude haben, wenn sie das Google-Orakel befragte: 2310 Belege - Groß- und Kleinschreibung wild durcheinander. Sogar "Niemand" wollen einige groß schreiben. Das geht nun wirklich zu weit, aber "recht" hat es schon in sich. Helmut Henne breitet in den neuesten Auflagen von Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch die außerordentlich verzwickte Bedeutungsgeschichte des ursprünglichen Adjektivs aus - mit gelegentlichen Hinweisen auf die Rechtschreibung. Von der "alten Substantivierung Recht" sagt er: "Der Verwendung von recht(2) entspricht es nur noch in bestimmten Verbindungen, [...] wobei man sich zum Teil, wie die Kleinschreibung andeutet, der substantivischen Natur des Wortes nicht mehr bewußt ist." Sehen wir uns die Belege der Güthert-Liste an: lauter transitive Verben, die "recht"/"Recht" als Objekt erscheinen lassen. Intuitiv sieht der Sprachteilnehmer hier also ein Substantiv vor sich, von dem er nun hört, er sei sich dessen nicht bewußt, oder aber, wie im DDR-Duden-Leitfaden von 1967 zu lesen steht, es handele sich um ein prädikativ als Adjektiv verwendetes Substantiv (Ewald/Nerius 1990: "Desubstantivierung"). DUW 1989 schießt in puncto Zirkelerklärungen den Vogel ab:

im Recht (in der Stellung, Lage desjenigen, der das Recht auf seiner Seite hat bzw. der recht hat)
recht haben (im Recht sein)
recht behalten (sich schließlich als derjenige erweisen, der recht hat)
jmdm. recht geben (jmdm. bestätigen, daß er recht hat, im Recht ist)
recht bekommen (bestätigt bekommen, daß man recht hat)

Mein DDR-Duden aus dem Jahre 1967 enthält den folgenden Beitrag wie aus der Feder des seligen Pfarrers Bolte:

zwischen recht (richtig) und unrecht (unrichtig) nicht unterscheiden können
zwischen Recht und Unrecht nicht unterscheiden können

Mit viel Nachdenken findet man natürlich einen Unterschied, aber immerhin, wie kommt das gewöhnliche Schreibvolk dabei weg? Von der Güte ist so manches in der deutschen Rechtschreibung, sei sie nun klassisch-traditionell oder verhunzt-reformiert. Was folgt daraus? Wie auch immer der deutsche Rechtschreibstreit ausgeht, das Sprachgefühl wird sich nie ausschalten lassen, und lupenreine Einheitlichkeit wird es deshalb auch nie geben, selbst wenn amtlich die Verwerfungen wieder eingeebnet sind. Das war früher auch nicht anders. Eines könnte am Ende wirklich neu sein: Toleranz in Rechtschreibfragen. Die hat es in Deutschland seit 1901 nur spurenweise gegeben.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.10.2005 um 18.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2011

Natürlich schreiben wir nach einer "Gefühlslogik", wie ich es nennen möchte, und nicht nach einer mechanistischen Logik. Selbstverständlich läßt sich in problematischen Randbereichen der Schriftsprache, die ständig neu nachwachsen, niemals Einheitlichkeit erzielen. Sollte man das nicht gelassen hinnehmen, wie es bis 1996 der Fall war? Was soll der Vorteil einer Maßnahme sein, durch die eine Hälfte der Schreibenden verstört wird, während sie der anderen entgegenkommt? Worin soll der Sinn bestehen, wenn aus der bestehenden Unsicherheit heraus genau das Umgekehrte als richtig (recht?) proklamiert wird? Unvollkommenes läßt sich nicht durch linguistische bzw. orthographische Eiertänze vollkommen machen. Der Mensch überschätzt sich völlig, wenn er dies versucht. Die Rechtschreibreform mag uns dafür ein Beispiel sein.
Ein Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel bekommt weder der Sprache selbst noch ihren Benutzern. Es ver- und zerstört.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.10.2005 um 21.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2014

Zwei kurze Textstellen sind mir heute besonders aufgefallen:

"Die Sprache ist ein Gut des Volkes, in dem man nicht einfach herumpfuschen kann", sagt sie. Vor allem ärgert sie die Willkür, mit der die neuen Regeln verfaßt wurden.

Worin soll der Sinn bestehen, wenn aus der bestehenden Unsicherheit heraus genau das Umgekehrte als richtig (recht?) proklamiert wird? Unvollkommenes läßt sich nicht durch linguistische bzw. orthographische Eiertänze vollkommen machen. Der Mensch überschätzt sich völlig, wenn er dies versucht.

Einmal spricht Josephine Ahrens in der heutigen FAZ, das andere Mal Frau Pfeiffer-Stolz (ebenfalls heute) auf dieser Netzseite. In beiden Fällen geht es um die Zulässigkeit dirigistischer Eingriffe in die Rechtschreibung. Zu dieser Frage hat sich bekanntlich 1998 das Bundesverfassungsgericht geäußert:

Die Sprache unterscheidet sich von anderen Regelungsgegenständen auch nicht dadurch, daß bei ihr korrekturbedürftige Fehlentwicklungen - etwa im Sinn erschwerter Lehr- und Lernbarkeit - von vornherein ausgeschlossen wären. Der Staat kann die Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln. Begrenzende Wirkungen ergeben sich aus der Eigenart der Sprache jedoch nur für Art und Ausmaß einer Regelung, nicht dagegen für eine Regelung überhaupt.

Auch ein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung läßt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen. Der Staat ist nicht darauf beschränkt, nur nachzuzeichnen, was in der Schreibgemeinschaft ohne seinen Einfluß im Lauf der Zeit an allgemein anerkannter Schreibung entstanden ist. Regulierende Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung beseitigen oder - etwa aus Vereinfachungsgründen - bestimmte Schreibweisen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt.

Man beachte, daß hier dem Staat über die Rechtschreibung hinaus ein generelles Eingriffsrecht in die Sprache zugestanden wird, wovon er zum Glück selbst hierzulande keinen Gebrauch macht. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht gilt die Rechtschreibung jedoch bei uns als regelungsbedürftig, entscheidet über richtig oder falsch der Staat. Er greift damit in eine Vorkommensweise der Sprache ein, die sich nicht ganz so spontan entwickelt hat, wie wir uns gerne einreden. Da für das Deutsche eine umfassende Orthographiegeschichte fehlt, ist es im konkreten Falle schwierig, Spontanes von bewußter Festlegung zu trennen. Die meisten Dehnungs-"h"s sind zum Beispiel etymologisch nicht gerechtfertigt. Man möchte gerne wissen, unter welchen Umständen sie in unsere Orthographie gekommen sind - lediglich aus Neugierde, denn diesen Aspekt der Physiognomie unserer Wörter möchten wir ja nicht missen. War übrigens das "h" in "Thür und Thor" eine Fehlentwicklung oder eine Fehlentscheidung, und war der Staat 1901 gut beraten, alle entsprechenden Schreibungen als Gerümpel zu entsorgen?

Unter den Teilgebieten der Rechtschreibung hat wenigstens die Univerbierung das Interesse der Germanisten gefunden. Daß Wortgruppen akzentuierend zusammengezogen und dann auch zusammengeschrieben werden, ist offenbar ein spontaner Vorgang. Haben aber nicht bis in die Gegenwart hinein Lexikographen und Grammatiker nachgeholfen, um ein wenig Ordnung in diese eher diffuse Entwicklung zu bringen? Sind solche Eingriffe nicht gelegentlich übers Ziel hinausgeschossen - nicht erst im Zeichen der Rechtschreibreform?

"Widersprüche im Schreibusus", "Zweifel an der richtigen Schreibung" und "Vereinfachungsgründe" rechtfertigen in der Sicht des BVerfG den regulierenden staatlichen Eingriff. Dies ist juristisch, nicht aber sprachwissenschaftlich gedacht. Da die Sprache als System zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung voll funktionstüchtig ist, können sich Kommunikationserschwernisse nicht eingeschlichen haben. Sie wären im praktischen Gebrauch wieder verschwunden. Dem steht nicht entgegen, daß sich die Einzelheiten dieses Systems beständig weiterentwickeln, wobei gelegentliche Abweichungen vom Üblichen allmählich um sich greifen, um schließlich Allgemeingut zu werden. Das hat zur Folge, daß in keinem Bereich mit absoluter Einheitlichkeit zu rechnen ist.

Daß ein Teil der Schreibgemeinschaft "recht bekommen" mit kleinem "r" schreibt, ein anderer (der sich offenbar etwas dabei denkt) dagegen mit großem "R", ist kommunikativ und im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Rechtschreibung das Natürlichste der Welt. Problematisch wird die Sache erst, wenn der Staat sich einmischt bzw. wenn die Abweichung von der Tradition mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt wird. Relikte aus älteren Stadien der Sprachgeschichte weiterzutradieren macht den Umgang mit natürlichen Sprachen reizvoll, obwohl die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, daß einige Sprachteilnehmer es als eine Zumutung empfinden, wenn sie sich kontraintuitiv verhalten sollen. So etwas kommt aber ohnehin nur an der Peripherie vor, so daß man lieber von Konfliktmöglichkeiten, nicht jedoch von wirklichen Konflikten sprechen sollte.



Kommentar von Jörg Metes, verfaßt am 14.10.2005 um 00.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2016

Helmut Jochems: Toleranz in Rechtschreibfragen (...) hat es in Deutschland seit 1901 nur spurenweise gegeben.

Das Umkippen von Toleranz in Intoleranz wäre also zurückzuführen auf diese wenigen Änderungen? - Ich kann es nicht recht glauben.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 14.10.2005 um 01.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2017

Das ist nun vielleicht wirklich "rechthaberisch" (oder "Recht haberisch"), aber wenn ich - wie neulich - ein Buch lese, bei dem auf jeder zweiten Seite "er hat Recht" steht, dann fällt mir unvermittelt immer ein: "er hat Auto" .... wie kommt das nur?


Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 14.10.2005 um 07.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2018

Müßte man denn dann nicht auch schreiben "ich habe (von etwas) Genug"?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 14.10.2005 um 10.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2019

Wer ernsthafte Darlegungen zum Problemfall "recht haben" mit der Frage beantwortet, ob damit auch "Auto haben" oder "Genug haben" befürwortet würden, disqualifiziert sich in unserem Diskussionskreis. Obwohl mein Name im Impressum dieser Netzseite als Mitglied des Beirats erscheint, nehme ich an unserer Aussprache wie alle anderen nur als Gast teil. Auf die weitere Entwicklung des deutschen Rechtschreibdilemmas haben wir ohnehin keinen Einfluß. Es wäre aber nicht unwichtig, wenn wir in diesem Stadium uns nüchtern Rechenschaft darüber ablegten, ob nicht auch andere als ideologische Gründe den staatlichen Eingriff von 1996 provoziert haben könnten, und als Konsequenz daraus Überlegungen anstellten, wie unsere Rechtschreibung behutsam aus der angeblichen Krise zu herauszuführen wäre. Daß an ihren Rändern etwas in Unordnung geraten ist, sollte uns jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß unsere Rechtschreibung weiterhin kerngesund ist. Kein gedruckter Text - ob traditionell, reformiert oder gemischt - macht irgend jemandem Schwierigkeiten. Jungen und älteren Lesern fällt zwar Unterschiedliches als ungewöhnlich auf, aber das ist es denn auch. Sprachen, die unser geistreiches Spiel mit der Getrennt- und Zusammenschreibung bzw. der Groß- und Kleinschreibung nicht kennen, benötigen keine Reglementierungsinstitutionen. In dieser Hinsicht stehen wir alleine da. Statt zu reglementieren, könnte man aber auch hierzulande der peripheren Varianz mit Duldsamkeit begegnen. Wenn das der Ausgang des deutschen Rechtschreibstreits dieser Jahre wäre, hätten wir nicht nur orthographisch ein weiteres Überbleibsel aus unserer unguten Vergangenheit hinter uns gelassen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.10.2005 um 10.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2020

Auf die Gefahr hin, auf einige hier "Nerv tötend" zu wirken - ich wiederhole es zum x-ten Male: Nach meiner Ansicht gäbe es keine Rechtschreibreform und folglich auch nicht diese endlose Diskussion um richtig/falsch, üblich/normiert usw., wenn Rechtschreibung nicht bewertet würde in diesem unserem Lande. Berufsmäßige Verfasser von Texten (damit meine ich nicht die Schriftsteller - die gerade nicht!) und Schüler müssen wissen, wie man richtig schreibt. Fehler haben Folgen, die bis zur Berufsuntauglichkeit reichen können. Nur deswegen konnte auch das BVG dem Staat eine gewisse Kompetenz in sprachlichen Dingen zugestehen. Wie Prof. Jochems richtig sagt: Es hat nicht sprachwissenschaftlich, sondern juristisch geurteilt. Solange Rechtschreibfehler geradezu existenzielle Konsequenzen haben können, kommt man um eine Nornierung nicht herum. "Nulla poena sine lege". Erst wenn Toleranz in Rechtschreibdingen einkehrte, würde sich das Problem fast ganz von selbst erledigen. Dazu wird es aber in Deutschand nicht kommen.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 14.10.2005 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2021

Es ist aber nun mal nicht sinnvoll, Rechtschreibfehler nicht zu bewerten - Toleranz hin oder her.

Es gibt vernünftige Kriterien, mit denen man die meisten Rechtschreibfragen entscheiden kann. Nur die sog. Reform hat genau dies nicht geleistet, sondern im Gegenteil das für die Gewinnung von Rechtschreibsicherheit notwendige Sprachempfinden systematisch zu stören versucht. Heute sah ich in der SZ die - m.E. sprachrichtige- Trennung Lei-stung. Das irritiert mich inzwischen genauso wie die blödsinnigen Superlativtrennungen wie schöns-te. Im Fall "recht haben" verstehe ich H.J. mal wieder überhaupt nicht. Es ist doch völlig klar, daß das Wort "recht" doch nicht als Akkusativobjekt in dieser Fügung fungiert. Daß das sprachliche Empfinden dieses Umstands nicht in jeder Sekunde präsent ist, und somit der eine oder andere Feherl passiert, ist doch nicht schlimm. Schlimm ist, wenn der Fehler erstens vorgeschrieben wird, und zweitens die Lektüre der Zeitung damit ständig zum Ärgernis wird.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 14.10.2005 um 12.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2022

Kerngesund? Lieber Herr Jochems, das empfindet wohl nicht jeder so.
Sicher haben wir hausgemachte Probleme etwa gegenüber den Slawen, die mit GKS und GZS keinen Ärger haben. Aber die Reformer haben ja nicht nur daran herumgefummelt und Probleme erst geschaffen, wo vorher wirklich nur "an den Rändern etwas in Unordnung" war. Und wir wissen inzwischen, daß die erzwungenen Änderungen neue Fehler nach sich ziehen, die vorher auch an den Rändern nicht bekannt waren.
Zumindest die gefühlte Unordnung ist jetzt erheblich größer als vorher, sonst wäre doch die Aufregung inzwischen wirklich abgeflaut.
Ja gut, viele empfinden keine Unordnung und wollen nichts mehr davon hören, das wissen wir auch alle. Aber Sie reden doch nicht etwa einer neuen Wurschtigkeit das Wort? Anders könnten wir den momentanen Zustand nicht als "kerngesund" empfinden. Einer "peripheren Varianz mit Duldsamkeit zu begegnen", das wollen wir schon gerne tun. Aber genau darum gehts ja, daß die Reform sich von einer solchen Haltung weit entfernt hatte, statt sich mit peripheren Glättungen zu begnügen. Es sollte ein großer Wurf werden, endete aber als Schlag ins Wasser, dessen Wellen sich gleichwohl nicht leicht wieder glätten wollen.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 14.10.2005 um 13.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2023

"Erst wenn Toleranz in Rechtschreibdingen einkehrte, würde sich das Problem fast ganz von selbst erledigen. Dazu wird es aber in Deutschand nicht kommen."

Und das hauptsächlich deswegen, weil eine Rechtschreibreform gemacht worden ist. Sie ist die Ursache für Beckmesserei und Häme - und ein noch nie dagewesenes Maß an Intoleranz.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.10.2005 um 13.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2024


Man muß die Reform an ihren eigenen Zielen messen

Ist die neue Rechtschreibung besser = leistungsfähiger als die alte? - Nein. Verbesserung war auch nicht das Ziel, sondern "Erleichterung".

Hat die Zahl der Fehler insgesamt abgenommen? - Nein. Wegen der Gemengelage werden in summa mehr Fehler gemacht, und das noch auf unabsehbare Zeit.

Sind wenigsten die ausschließlich reformiert Unterrichteten in der Rechtschreibung sicherer? - Aussagekräftige Untersuchungen stehen aus, aber es ist wenig wahrscheinlich. Die typischen Stolpersteine, die den Anfänger betreffen, sind gerade nicht beseitigt worden.

Was also hat die Reform gebracht? Wem nützt sie wirklich, von Kriegsgewinnlern mal abgesehen?

Vor allen sprachwissenschaftlichen und obrigkeitskritischen Einwänden sollte man diese simplen Fagen immer wieder stellen. Es ist anzunehmen, daß auch die zuständigen Politiker die Augen vor den schlichten Tatsachen auf die Dauer nicht verschließen können. Die reformierte Rechtschreibung wurde gleichsam wie ein neues technisches Verfahren eingeführt. Wie auch sonst ist zu prüfen, ob es sich bewährt und eventuell unerwünschte Nebenwirkungen erzeugt hat. Und dann muß nur noch gehandelt werden. Ay, there´s the rub.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 14.10.2005 um 15.24 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2025

Kerngesund? Lieber Herr Jochems, das empfindet wohl nicht jeder so.
Sicher haben wir hausgemachte Probleme etwa gegenüber den Slawen, die mit GKS und GZS keinen Ärger haben. Aber die Reformer haben ja nicht nur daran herumgefummelt und Probleme erst geschaffen, wo vorher wirklich nur "an den Rändern etwas in Unordnung" war. Und wir wissen inzwischen, daß die erzwungenen Änderungen neue Fehler nach sich ziehen, die vorher auch an den Rändern nicht bekannt waren.
Zumindest die gefühlte Unordnung ist jetzt erheblich größer als vorher, sonst wäre doch die Aufregung inzwischen wirklich abgeflaut.
Ja gut, viele empfinden keine Unordnung und wollen nichts mehr davon hören, das wissen wir auch alle. Aber Sie reden doch nicht etwa einer neuen Wurschtigkeit das Wort? Anders könnten wir den momentanen Zustand nicht als "kerngesund" empfinden. Einer "peripheren Varianz mit Duldsamkeit zu begegnen", das wollen wir schon gerne tun. Aber genau darum gehts ja, daß die Reform sich von einer solchen Haltung weit entfernt hatte, statt sich mit peripheren Glättungen zu begnügen. Es sollte ein großer Wurf werden, endete aber als Schlag ins Wasser, dessen Wellen sich gleichwohl nicht leicht wieder glätten wollen.


Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 14.10.2005 um 15.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2026

Lieber Herr Jochems, ich würde Ihnen in bezug auf die eingeforderte Toleranz ja gerne Recht geben. Nur was machen wir mit den Reformanhängern (Herausgeber, Verleger und Wörterbuchmacher), die fertig daliegende einwandfreie Schriften in einen Reformschreib ummodeln? Ihr ureigener Satz "Statt zu reglementieren, könnte man aber auch hierzulande der peripheren Varianz mit Duldsamkeit begegnen." wird zu "Statt zu reglementieren, könnte man aber auch hier zu Lande der peripheren Varianz mit Duldsamkeit begegnen." Wie kann man demjenigen entgegentreten, der mit Berufung auf diese Reform in bestehenden, bisher unreformierten Texten ein "unterderhand" in "unter der Hand", ein "handvoll" in "Hand voll" zersägt und sich darauf beruft, das schriebe man jetzt so. Ich erkenne Ihre Diskussionsbeiträge zu "Recht / recht haben" usw. selbstverständlich unstreitig an, nur kann die Güthertsche Liste uns hier doch nicht das Tor zur Toleranz öffen.
Ich möchte Herrn Eversbergs Satz hier besonders unterstreichen: "Einer 'peripheren Varianz mit Duldsamkeit zu begegnen', das wollen wir schon gerne tun. Aber genau darum gehts ja, daß die Reform sich von einer solchen Haltung weit entfernt hatte, statt sich mit peripheren Glättungen zu begnügen."


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2005 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2027

Wenn ich einen Husten habe, mag ich ja im übrigen kerngesund sein, aber besser wäre es doch, keinen Husten zu haben. Die deutsche Rechtschreibung hat sich erkältet, einverstanden? Wir hoffen, daß sie sich bald davon erholt. Mir geht es in erster Linie nicht um die Toleranzfrage, d. h. einen primär schulischen Belang, denn das wäre am falschen Ende angefangen. Das richtige Ende ist der Zustand deutscher Texte. Vor der Reform waren sie einfach besser. Das hat überhaupt nichts mit Intoleranz zu tun. Der Duden war ziemnlich wichtig, aber die Texte sind trotzdem ihre eigenen Wege gegangen, zu ihrem eigenen Besten.
Die neuen Kinderbücher sind einfach furchtbar schlecht, das kann doch niemand bestreiten. Aber sehen wir uns Bücher aus dem Hause Duden an. Gerade lese ich auf S. 432 der neuen Grammatik (2005): "Reihen bildende Differenzierungen". Das ist, zugegeben, nicht einmal im Sinne der Reform richtig, obwohl von Reformern so gedruckt und auch Schriften der Reformer vielfach zu finden. Was Reihen bildet, ist Reihen bildend, so haben die Herrschaften gedacht. In früheren Dudenbänden gab es so etwas nicht.
(Für nicht so Versierte: Verben sind "reihenbildend", wenn sie eine oder mehrere Reihen bilden, während sie, wenn sie mehr als eine Reihe bilden, allenfalls "Reihen bildend" genannt werden können, aber möglichst nicht im Prädikat: "sind Reihen bildend", weil dies, wie die Dudengrammatik früher selbst vermerkte und Gallmann heute noch ganz richtig festhält, eine grammatische Härte wäre, beinahe richtig falsch.)
Wenn nun feststeht, daß die bisher übliche Schreibweise zu guten Texten führte, dann ist die Schule gehalten, diese Schreibweise den Schülern zu vermitteln, soweit es eben in der begrenzten Zeit möglich ist. Was die Regeln betrifft, habe ich das Schulpensum in der Kurzfassung der "Normalen deutschen Rechtschreibung" ungefähr umrissen, aber die Hauptsache ist natürlich ein angemessener Wortschatz, den man durch Lesen erwirbt. Das alles kann man doch nicht unzumutbar nennen. Wenn ich sehe, was die Kinder in Mathematik und Biologie alles lernen müssen!
Ich möchte auch behaupten, daß die Reform in keinem Punkt "toleranter" als der alte Duden ist. Die Freiheit der Kommasetzung, allgemein abgelehnt, ist nicht tolerant, sondern verachtungsvoll, was bei der ressentimenthaften Herkunft (Mentrup) auch nicht verwundert. Es war äußerst einseitig, die Kinder aus der Dudenknechtschaft befreien zu wollen und sonst nichts. Ohne Liebe zur Sprache geht so etwas nicht, und gerade daran fehlte es hier von Anfang an. Näheres bei Munske.


Kommentar von H. J., verfaßt am 14.10.2005 um 17.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2028

In den Vereinigten Staaten geschah 1961 orthographisch etwas Revolutionäres: Das Wörterbuch Webster's Third New International Dictionary of the English Language druckte alle Varianten ab, die für ein Wort in publizierten Texten anzutreffen waren. So wurde die englische Rechtschreibung um Formen wie caligraphy, ecstacy, idiosyncracy, supercede und surprize bereichert. Die Herausgeber rechtfertigten ihre Entscheidung mit der Feststellung, daß die neu aufgenommenen Schreibungen als "secondary variants" ebenfalls zum "standard usage" zu zählen seien. So funktioniert empirische Lexikographie, wie Prof. Ickler zu wiederholten Malen auf dieser Netzseite erläutert hat. Das war natürlich lange vor seiner Zeit und der des Aufkommens der Texterstellung auf dem Computer mit der Rechtschreibkontrolle im Hintergrund. Die tatsächliche Rechtschreibkompetenz der Schreiber zu ermitteln ist heute schwieriger. Der Blick ins Rechtschreibwörterbuch war früher ein Beweis dafür, daß jemand einer bestimmten Schreibsituation nicht gewachsen war, aber das Nachschlagen hielt sich bekanntlich in Grenzen. Der Computer kennt diese Zurückhaltung nicht, und so schreiben gegenwärtig viele bei den Behörden einwandfrei reformiert, ohne diese Schreibform auch nur annähernd zu beherrschen. Immerhin wäre die Freigabe der Rechtschreibung des Versuchs wert. Zehn oder zwanzig Jahre lang dokumentiert der Duden alles, was ihm vor Augen kommt: Wäre das nicht die Lösung unserer Probleme? Keineswegs, werden viele sagen. Immerhin würde alles ausscheiden, was weder vor noch nach 1996 Freunde unter den Schreibenden hatte. Darunter würde viel "Reformiertes" sein, aber auch Schreibungen, die einige Kritiker der Rechtschreibreform jetzt verbissen verteidigen. Kratzbaums Kernbestand würde dabei auf alle Fälle glänzend abschneiden, denn der ist getreu seinem Namen weiterhin "kerngesund". Am Ende würden Schreibungen übrigbleiben, die die Schreibgemeinschaft für intuitiv richtig hält. Wenn Intuition und Einsicht orthographisch das Maß alle Dinge wären, hätte auch das beckmesserische Bestehen auf Normen um ihrer selbst willen keine Chance mehr. Vielleicht wäre das ja fast ein Rechtschreibparadies - in Deutschland!


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2005 um 17.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2029

Lieber Herr Jochems, Sie wissen doch selbst, was dann folgt: Hausorthographien allerorten. Wollen wir das wirklich? Wollen das die Leute? Im übrigen ist die Rechtschreibung ja frei. Außerhalb der Schule kann jeder machen, was er will. Aber macht er es auch? Natürlich nicht. Gerade deshalb kann die Schule nicht zurückstehen und den Kindern das verweigern, worauf sie meiner Ansicht nach ein Recht haben. Bisher hatte ich in Bayern keinen Grund, vor Gericht zu ziehen, aber wenn die Schule meine Töchtern die Rechtschreibung vorenthielte, müßte ich wohl klagen. Sie sollen richtig rechnen - und richtig schreiben, was denn sonst!

Noch eine neugierige Frage: Wie ist denn das Experiment ausgegangen? Erklärt es am Ende, "why Johnny can't write"?


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.10.2005 um 18.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2030

Wenn der RSR sich mit seinem Vorschlag zur GZS durchsetzt, hätten wir ja schon sehr viel Toleranz, da er das meiste offen läßt (offenläßt).
Es bleibt abzuwarten, was die Wörterbücher daraus machen. Da das Duden-Monopol ja wohl unwiederbringlich ist, werden Abweichungen zwischen den Wörterbüchern und Hausorthographien kaum zu vermeiden sein.
Eine ähnliche Toleranz bei der GKS wäre auch nicht schlecht.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 14.10.2005 um 19.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2033

Wenn Toleranz bedeutet, daß ich die miese Rechtschreibung in Kinder-, Jugend- und Schulbüchern klaglos hinnehmen muß, mag das ja noch angehen. Mehr stinken tut mir diese Art von Tolleranz bei übersetzter Literatur (denn die ausländischen Autoren können sich nicht wehren wie die deutschen). Ich kann auch die SZ abbestellen und statt derer die FAZ oder Welt abonnieren. Gänzlich inakzeptabel wird es aber, wenn - wie geschehen - meine eigenen schriftlichen Produktionen in Neuschrieb verfälscht werden.

Die gegenwärtig praktizierte Tollerantz läßt mir die freie Wahl zwischen ordentlicher Rechtschreibung für den Papierkorb und Neuschrieb für die Veröffentlichung. Bestens. Und die Kommunikation ist im H.J.schen Sinn nicht einmal zusammengebrochen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.10.2005 um 22.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2035

Pflicht und Kür

In den Regeln selbst darf es überhaupt keine Toleranz geben. Im Wörterbuch muß ein einzige Schreibweise als die richtige stehen. Alle "Varianten" usw. haben da nichts zu suchen. Die Weiterentwicklung in den Übergangszonen ist den Pionieren der Rechtschreibung zu überlassen. Toleranz ist allenfalls gegenüber Rechtschreibfehlern zu üben, je nach Schweregrad und billigerweise unterstelltem Vermögen des Schreibers.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.10.2005 um 23.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2038

Dsd Beispiel von Glasreiniger (Toleranz, Tolleranz, Tollerantz) bezieht sich – grob gesagt – auf die Laut-Buchstaben-Zuordnung. Dabei ist Toleranz nur selten gerechtfertigt. Wer "Fater" an Stelle (anstelle) von "Vater" schreibt, irritiert den Leser unnötigerweise, obwohl die Schreibung "Vater" eigentlich eine Ausnahme ist.
Anders liegt es bei der GZS und vor allem bei der GKS. Ob man "im Großen und Ganzen" oder "im großen und ganzen", "im Einzelnen" oder "im einzelnen" schreibt, ist ziemlich gleichgültig und stört nicht nennenswert den Leser, wenn er den Unterschied überhaupt bemerkt. Ich empfinde z.B. die vom Duden vorgeschriebene Schreibweise "nichts Besonderes" als grammatisch falsch. Warum "darf" ich nicht schreiben "nichts besonderes"? Würde irgendein Leser das mißverstehen?
Komplizierter ist die Lage bei der GZS, deren "Reform" ja auf den schärfsten Widerstand gestoßen ist. Dennoch gibt es auch bei der GZS viele Grenzfälle, die Toleranz verlangen. Auch Prof. Ickler verstehe ich in diesem Sinn.
Im Gegensatz zu kratzbaum meine ich, daß gerade die "Regeln" Toleranz verlangen, denn alle Regeln haben Ausnahmen und "Übergangszonen". Es ist vielmehr die rein konventionelle oder historisch bedingte Schreibweise, die keine Toleranz verträgt, z.B. die Unterscheidung zwischen "Lid" und "Lied", "malen" und "mahlen".


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 15.10.2005 um 01.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2039

"Ob man 'im Großen und Ganzen' oder 'im großen und ganzen', 'im Einzelnen' oder 'im einzelnen' schreibt, ist ziemlich gleichgültig und stört nicht nennenswert den Leser, wenn er den Unterschied überhaupt bemerkt." (Achenbach) — Naja, was ist hier "nennenswert"? Ich bin für "im Zweifelsfalle klein", einfach weil ein Hauptwortcharakter in diesen adverbialen Ausdrücken fast gar nicht zum Tragen kommt (Desubstantivierung) und deshalb ja der Zweifelsfall eintritt. Darum ist unerwartete plötzliche Großschreibung durchaus störend: Auf einmal kommt etwas "im Einzelnen" daher, was immer auch das Vehikel oder der Umstand hier genau sein mag. Deswegen ist auch *"heute Abend" unangebracht. Und die Unterscheidung zwischen "dem Anderen" und "dem anderen" und "dem Folgenden" und "dem folgenden" ist willkommen, und deshalb sollte man sie nicht so mir nichts, dir nichts aufgeben; man braucht sie doch! Und unsere Verschriftungsgeschichte hat sie uns Gott sei Dank (gottseidank) zur Verfügung gestellt. Das vorgeschriebene "nichts Besonderes" läßt die vernünftige Tendenz zur Kleinschreibung bei "nichts besonderes" völlig außer acht; ich ordne für mich jedenfalls "nichts besonderes" unter Pronomen ein. Aber "viel/wenig/etwas/nichts Gutes" und "alles/manches/vieles Gute" sehe ich — wie jeder andere wohl auch — substantivisch, als Hauptwort. Wie wär's dann mit "manches Besondere"? — Ja, wenn es das gibt, dann wird's wohl groß geschrieben. Oder?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2005 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2040

Mit dem schönen Wort "Toleranz" wird viel Schindluder getrieben. Man setzt, wenn man die Toleranz preist, eigentlich die Norm voraus. Die Rundbögen in meinem Wörterbuch sind nicht so gemeint. Ich bin also nicht der Meinung, daß "um so" richtig und "umso" allenfalls hinzunehmen ist.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal auf die beiden Grundirrtümer der Reformer, aber auch vieler Reformkritiker hinweisen: Sie setzen die Groß- und Kleinschreibung mit wortartbezogener Kennzeichnung, also Substantivgroßschreibung gleich, und sie schließen Getrennt- und Zusammenschreibung mit Wortgruppe vs. Wort kurz. Dabei wird aber übersehen, daß die Substantivgroßschreibung nur eine Übergangserscheinung war, sozusagen nur ein Augenblick in der deutschen Sprachgeschichte, bei Luther angebahnt und etwa 200 Jahre später vollendet, aber dann sogleich überformt oder neu funktionalisiert. Ähnlich war es mit der GZS, die in den Sog der zunehmenden Verbzusatzkonstruktionen geriet und ebenfalls neue Funktionen zu übernehmen hatte. Diese Einsicht trägt ungemein zu einem besseren Verständnis und damit zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung bei.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 15.10.2005 um 07.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2041

Ich meine es genau wie Prof. Ickler: Toleranz setzt die Norm voraus.Die Sprache, und damit auch die Rechtschreibung, hat ein Doppelgesicht: Sie unterliegt Normen oder wenigstens Konventionen. Diese stehen im Dienste einer reibungslosen Kommunikation. Außerdem ist der Sprachbenutzer aber auch frei im Gebrauch der Mittel, die ihm die Sprache zur Verfügung stellt. Einmal kann ihm an Verständigung überhaupt nichts liegen. Beispiel: Bestimmte Arten von Lyrik. Zum anderen kann er die Grenzen, die die Norm setzt, gerade im Sinne einer präziseren, differenzierteren Kommunikation ausdehnen und überschreiten.

"Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben."


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 15.10.2005 um 11.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2044

Vor einiger Zeit habe ich den Freundinnen und Freunden hier erläutert, wie der französische Philosoph Henri Bergson zu verstehen suchte, warum wir über kleine Ungeschicklichkeiten unserer Mitmenschen lachen. Wir sähen darin, wenn auch manchmal fälschlich, Verletzungen der Gruppennorm, und unser Lachen habe in solch einer Situation eine remediale Funktion. (Le rire, 1900) Wer über die Rechtschreibfehler anderer lacht, zeigt nach dieser Deutung keineswegs Überheblichkeit, sondern fordert lediglich angepaßtes Sozialverhalten. Wenn es aber nur beim Lachen bliebe. Tatsächlich ziehen Verstöße gegen die Rechtschreibnorm Sanktionen nach sich, die in einer aufgeklärten Gesellschaft eigentlich als sittenwidrig gelten müßten. Toleranz nenne ich den nachsichtigen Umgang mit den orthographischen Ungeschicklichkeiten anderer, plädiere also keineswegs für die Geringschätzung eines einheitlichen Schreibgebrauchs als Leitinstanz des Rechtschreibunterrichts und des professionellen Schreibens. Was aber als üblich zu gelten beansprucht, sollte bitte aus der Schreibpraxis der Sprachgemeinschaft erwachsen sein und nicht aus wie auch immer gearteten Tüftlerzirkeln stammen.

Wie schwierig es im Deutschen ist, zwischen diesen beiden Quellen unserer amtlichen Rechtschreibung zu unterscheiden, erläutert Prof. Ickler in seinem Beitrag: Dabei wird aber übersehen, daß die Substantivgroßschreibung nur eine Übergangserscheinung war, sozusagen nur ein Augenblick in der deutschen Sprachgeschichte, bei Luther angebahnt und etwa 200 Jahre später vollendet, aber dann sogleich überformt oder neu funktionalisiert. Ähnlich war es mit der GZS, die in den Sog der zunehmenden Verbzusatzkonstruktionen geriet und ebenfalls neue Funktionen zu übernehmen hatte. Diese Einsicht trägt ungemein zu einem besseren Verständnis und damit zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung bei. Wer sich in den letzten Jahren gründlich mit Prof. Icklers Arbeiten beschäftigt und seine Internetbeiträge verfolgt hat, kann sich hierunter etwas vorstellen. Es ist aber bis jetzt Geheimwissen geblieben, auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt. Wenn die germanistischen Kollegen Prof. Icklers diesen Erkenntnisstand besäßen, unternähmen sie vermutlich etwas gegen die laienhaften Reformereien einiger Randfiguren ihrer Innung. Der Deutschdidaktik würde es gut anstehen, hieraus Vorschläge für einen Rechtschreibunterricht abzuleiten, der das Verständnis vertiefte und nicht die Schreibung simplifizierte. Der Schreibgemeinschaft insgesamt ist Prof. Icklers Sicht jedoch schwer zu vermitteln. Sie hält sich notgedrungen an das Erscheinungsbild gedruckter Texte. Was ja auch sein Gutes hat. Auf diese Weise kann sich die Neuregelung nie und nimmer im Schreibvolk durchsetzen.

An dieser Stelle sollten wir uns eingestehen, daß ein ganzes Faktorengeflecht die unkomplizierte Auflösung des deutschen Rechtschreibdilemmas verhindert - nicht nur der schlechte Wille einiger Beteiligter. Dabei haben wir noch gar nicht bedacht, daß selbst eine adäquate Theorie unserer Rechtschreibung vielen ihrer Einzelheiten gegenüber machtlos ist. Heute morgen lese ich in unserer Zeitung: "H5N1 macht an Grenze nicht Halt". Duden 1991 kennt nur "halt", die Neuregelung 1996 nur "Halt", Normale deutsche Rechtschreibung 2004 kennt beides. Wollen wir Prof. Ickler vorwerfen, er sei von Webster's Third New International Dictionary angesteckt und werde schon dafür sorgen, daß es den deutschen Kindern bald wie Johnny ergeht? Der gute Dr. Winterhager von der Siegener Zeitung folgt hier zwar den Vorgaben der Reformer, doch wollen wir ihn deshalb verachten? Meine Frau sagt übrigens, sie hätte das auch so geschrieben. In meinen aktiven Jahren war sie die Garantin der (relativen) orthographischen Richtigkeit meiner Aufsätze.




Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 15.10.2005 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2045

Sehr geehrter Herr Professor Jochems,

zur genaueren Beurteilung fehlt uns noch die Auskunft, wie Sie und/oder Ihre Frau bei folgender Wortstellung geschrieben hätten.

(A) Weil H5N1 an Grenze nicht Halt machen wird.
(B) Weil H5N1 an Grenze nicht haltmachen wird.

Im Fall einer spontanen Schreibung würde ich erfahrungsgemäß auf (B) tippen, was zusammen mit der schon vorliegenden Auskunft dem Gebrauch der Allgemeinheit entspricht, den Professor Ickler im Wörterbuch festgehalten hat.


Kommentar von H. J., verfaßt am 15.10.2005 um 13.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2046

Ickler 2004 registriert sowohl die Getrennt- und Zusammenschreibung in Kontaktstellung wie auch die Groß- und Kleinschreibung in Distanzstellung. Ich schreibe - inkonsequent - haltmachen/mache Halt. In Schreiben an die Reformer habe ich früher spricht hohn geschrieben, ohne Überzeugung, nur um Flagge zu zeigen. Es geht aber in diesen Fällen nicht um die persönliche Praxis von Schreibern, die es besser wissen müßten, sondern um die nachsichtige Hinnahme von abweichenden Schreibungen bei Schreibern, die es nicht besser wissen können. Hier ist an kratzbaums abgestufte Kompetenz zu erinnern, die schreibdidaktisch ihr Pendant in einer abgestuften Obligatorik haben müßte. Wir sind uns alle einig, daß das nicht für kratzbaums "Kernbereich des Richtigen" gelten kann. Übrigens fehlt haltmachen/Halt machen in der Güthert-Liste. Wie recht tun zu schreiben ist, verrät uns nicht einmal Duden 2004. Dort verzeichnetes du hast recht daran getan ist etwas anderes.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2005 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2047

Der überkommene Begriff von Rechtschreibnorm (= Duden) hat dazu geführt, daß in einigen Fällen eine nutzloses und lächerliche Kasuistik möglich war. Dazu gehört die Sache mit dem Radfahren und Haltmachen. Warum soll man nicht Rad fahren und Halt machen können? Fürs Radfahren habe ich etwas ausführlicher dargelegt, daß seit hundert Jahren die "Lizenz" bestand, in Kontaktstellung auch zusammenzuschreiben dann natürlich klein. Dasselbe gilt für Halt machen/haltmachen. Insofern sehe ich keinen Widerspruch in Herrn Jochems' eigener Schreibpraxis.
Es ist nur eine Frage der Gewohnheit und des künftigen Deutschunterrichts, bis sich die vermeintlich esoterische Einsicht durchsetzt, was es mit den Verbzusätzen wirklich auf sich hat. Immerhin geht es um ein Kernkapitel der deutschen Grammatik, das endlich mal vom Kopf auf die Füße gestellt werden muß, wie schon Erich Drach vor 70 Jahren gefordert hat. Die begrifflichen Eiertänze um die "trennbaren Verben" sind ja kein schöner Anblick.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.10.2005 um 20.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2048

Leider bin ich nicht "jeder andere" (oder vielleicht "jeder Andere"?) im Sinne von Herrn Ludwig. Auch "nichts Gutes" empfinde ich nicht nur nicht als substantivisch, sondern als grammatisch falsch. Das Wörtchen "nichts" wird im Deutschen in der Regel nicht mit Substantiven verbunden (außer im Pidgin-Deutsch: "nix Brot").
Ich ziehe auch "etwas gutes" eindeutig vor. Das Wörtchen "etwas" wird mal als unbestimmte Mengenangabe ("Ich möchte etwas Brot."), mal als Pronomen ("Es muß etwas geschehen!") gebraucht. Wenn ich sage: "Es muß etwas wirkungsvolles geschehen!", will ich doch nicht sagen, daß eine unbestimmte (kleine) Menge des Wirkungsvollen geschehen muß, sondern daß etwas geschehen muß, das wirkt.



Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 15.10.2005 um 20.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2049

H.J.: Der gute Dr. Winterhager von der Siegener Zeitung folgt hier zwar den Vorgaben der Reformer, doch wollen wir ihn deshalb verachten?

Ja, das sollten wir. Wenn der Satz so zu verstehen ist, daß er den Vorgaben gegen sein besseres Wissen folgte. Wir verachten ihn nicht, weil er so schreibt, sondern wegen des Motivs, warum er so schreibt.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 15.10.2005 um 21.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2051

Lieber H.J. - Vielleicht habe ich mich ja schon des öfteren in diesem erlesenen Kreis mit meinen dummen Fragen disqualifiziert (ich weiß allerdings nicht, ob Sie das zu entscheiden haben), aber Sie haben meine Frage offensichtlich mißverstanden. Ich hatte gefragt, weshalb mir der Ausdruck "ich habe Auto" in den Sinn kommt, wenn ich "ich habe Recht" lese. Das war eine ernsthafte Frage.

Ich bitte Sie, diese nochmals zu lesen, bevor Sie mich disqualifizieren. Es steht nirgends, daß ich den Ausdruck "Ich habe Auto" befürworten würde. Ich hatte mir nur angesichts des hier versammelten Sachverstands (ich bin Praktiker und nicht Theoretiker) gedacht, es könnte mir jemand mit den Hintergründen für diese Frage etwas auf die Sprünge helfen.

Ja, so ist das, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht ... bevor Sie mich disqualifizieren, bemühen Sie sich doch bitte, meine Frage zu verstehen. Es könnte ein ganz interessantes Gedankenspiel werden und auch beleuchten, weshalb uns die reformierte Schreibweise ständig irritiert (rein praktisch).




Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 15.10.2005 um 22.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2054

Was hat "Recht haben" mit "Auto haben" gemeinsam?
Wenn "haben" mit einem Substantiv ohne Artikel oder Zahlenangabe steht, muß dieses Substantiv vom Typ sein wie "Zeit", "Muße", "Gelegenheit", "Geld", "Macht" usw.
Das ist bei "Auto" nicht möglich. Dasselbe gilt für "Recht".
Aber wenn das Substantiv ohne Artikel im Plural steht, handelt es sich um eine unbestimmte Mengenangabe: "Rechte haben" und "Autos haben" ist grammatisch möglich.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 15.10.2005 um 23.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2055

Das Problem im Fall des Rechthabens besteht weniger darin, zu erkennen,daß "du hast Recht" falsch ist - denn das ist es offensichtlich: Recht ist nicht etwas, das man schlechthin haben kann, man kann bestenfalls ein Recht oder mehrere haben - sondern zu erkennen, warum "du hast recht" richtig ist.

Das Wort "haben" kommt nun mal sonst nicht (oder selten?) intransitiv vor, außer als Hilfsverb ("du hast geredet"). Vielleicht ist es eine Ellipse aus einem Bündel möglicher Fortsetzungen: "du hast recht gehandelt/gesprochen/..."


Kommentar von Stefan Stirnemann, verfaßt am 15.10.2005 um 23.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2056

Ich habe Recht / Genug / Auto

Herr Bluhme und Frau Morin haben sich mit ihren Überlegungen zum Rechthaben „in diesem Diskussionskreis“ nicht „disqualifiziert“. Ihre Beiträge sind im Gegenteil willkommen. Herr Jochems, der das selbstbewußte Urteil fällte, ist, wie er richtig schreibt, hier nur Gast; wenn ein Gast andere Gäste ausschließen will, so kann er sich dafür wenigstens nicht auf Knigge berufen.

„Ich habe Genug“

Herr Bluhme hat mit seinem Hinweis auf ‚Genug’ etwas Wesentliches gesagt.
In einem Regelwerk von 1873 steht: „Doch werden fast durchgängig mit kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben das immer flexionslose ‚genug’, und, wenn sie ohne weitere Flexionsendung stehen, die Wörter ‚viel, mehr, wenig, weniger’, auch wo die genannten Wörter substantivisch gebraucht sind.“
‚Fast durchgängig’: es gab also auch das groß geschriebene ‚Genug’. Wenn Herr Jochems das Nebeneinander von ‚recht bekommen’ und ‚Recht bekommen’ für ‚das Natürlichste der Welt’ hält, warum sollte dann ‚Ich habe Genug’ neben ‚Ich habe genug’ nicht ebenso natürlich sein?
Ein Beispiel für weitere solcher Natürlichkeiten aus dem genannten Regelwerk: „Jemand (oder Etwas) ist ‚Schuld’ (oder ‚schuld’) daran, Einem (oder Etwas) ‚Schuld’ (oder ‚schuld’) geben usf., in welchen Fällen der große Anfangsbuchstabe den Vorzug vor dem kleinen zu verdienen scheint.“
Im neunzehnten Jahrhundert hat man überlegt, wo der große oder der kleine Anfangsbuchstabe den Vorzug verdiene. Das muß man tun, sofern man nicht entscheiden will, daß in allen Fällen beide Möglichkeiten richtig sind.
In einer Untersuchung von 1863 (Konrad Duden war damals noch ein unbekannter Lehrer in Soest, Westfalen) steht: „Nicht ‚es thut mir großes Leid’, sondern ‚es thut mir sehr leid’; nicht ‚es thut große Noth’, sondern ‚es thut sehr noth’; nicht ‚es findet keine Statt’ sondern ‚es findet nicht statt’; nicht ‚in gute Acht nehmen’, sondern ‚gut inachtnehmen’.“

1877 schrieb Wilhelm Wilmanns dazu: „Auch ‚theil nehmen, haus halten, acht geben, überhand nehmen’ werden vielfach zusammen geschrieben; zum theil wohl deshalb, weil das Gefühl sich sträubt, diesen nicht recht als Substantiva empfundenen Wörtern große Anfangsbuchstaben zu geben.“

Bemerkenswert ist hier der Hinweis auf das Sprachgefühl, das sich in der Schreibweise zeigt. Karl Ferdinand Becker hatte 1839 noch geschrieben: „Man schreibt jedoch in andern Ausdrücken dieser Art, wie: ‚Acht’ geben, ‚Statt’ finden, ‚Überhand’ nehmen, und besonders, wenn mit dem Substantiv eine Präposition verbunden ist z. B: ‚in Acht’ nehmen, ‚zu Grunde’ gehen, ‚zu Stande’ bringen, insgemein einen großen Anfangsbuchstaben.“

Will man ein altes Sprachgefühl auffrischen, so stellt sich die Frage, wo überall: Teil nehmen? Preis geben? Kehrt machen? – Mit ein wenig gutem Willen läßt sich ein Substantiv ‚die Kehrt’ denken.
Kürzlich mußten meine Untergymnasiasten das lateinische Verb ‚observare’ (‚achtgeben’) übersetzen, und mehr als einer bildete, frisch in neuer Rechtschreibung unterrichtet, den Satz: „Er hat große Acht gegeben.“ Edurad Engel schrieb noch um 1930: „Jakob Grimm hatte großes Unrecht, zu klagen …“ Zu solchen Sätzen führt der Großbuchstabe. Es sind sehr ungewohnte Sätze.

Auch Frau Morin hat mit ihrem kleinen Spaß „Ich habe Auto“ einen Denkanstoß gegeben. Bei ‚recht haben’ und ähnlichen Fügungen geht es um Gewicht und Kraft des ersten Bestandteils, am Ende geht es um das Sprachgefühl.

Etwas Grundsätzliches

Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache ist nach meinem Verständnis nicht ein Zusammenschluß derer, die denken, daß wir in der Rechtschreibung eine „angebliche Krise“ haben oder daß die Rechtschreibung „an ihren Rändern etwas in Unordnung geraten“, sonst aber „kerngesund“ sei. Es arbeiten in ihr auch nicht Reformgegner zusammen, die ebenso „von ihrer Palme hinabsteigen“ müssen wie die Reformer, worauf dann der Streit unentschieden ausgeht wie die Bundestagswahlen.

In der Schweiz finden sich immer mehr Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Schule, die den wachsenden Schaden erkennen und ihn beheben wollen. Der Sprachkreis Deutsch hat für seine letzten Mitteilungen ein kleines Vermögen ausgegeben; besonders teuer war der Versand nach Deutschland. Der Vorstand ist bereit, in absehbarer Zeit noch einmal viel Geld auszulegen. Warum? Er will Einfluß nehmen.

„Auf die weitere Entwicklung des deutschen Rechtschreibdilemmas haben wir ohnehin keinen Einfluß,“ schreibt Herr Jochems. Wenn er diese mutlose Haltung vertreten möchte, dann doch in der ersten Person der Einzahl: so kommt die Verzagtheit zu besserer Geltung.



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.10.2005 um 01.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2057

Aus gegebenem Anlaß noch ein Nachtrag zu "recht/Recht haben":

Obwohl die durchgehende Kleinschreibung im Grimmschen Wörterbuch das orthographische Problem entschärft, bleibt auch dort die Frage nach der grammatischen Bestimmung. Wir lesen:

In andern verbindungen mit verben schwankt recht, indem es das richtige theils in bezug auf handlung, theils auf urtheil und meinung hervorhebt, zwischen der stellung eines substantivs und eines starr gewordenen adjectivs.

Im DDR-Duden 1967 steht recht haben beim Adjektiv "recht", recht behalten, bekommen, erhalten, geschehen dagegen beim Substantiv "Recht" - mit Kleinschreibung. Großschreibung ("als wirkliches Substantiv") gilt für Recht finden, sprechen, suchen.

Hilfreich ist der Blick in zweisprachige Wörterbücher. Harrap's praktisches Wörterbuch sieht vor:
recht haben: to be right
recht behalten: to turn out to be right
ich muß dir recht geben: I am forced to admit that you are right.

Langenscheidts Taschenwörterbuch D/F zeigt:
recht haben: avoir raison
recht geben: donner raison à

Im Englischen und im Französischen bereitet die Wortartbestimmung der Entsprechungen für "recht/Recht" keine Schwierigkeiten. Ob es sich bei "recht haben" vielleicht doch um eine Lehnübersetzung aus dem Französischen handelt, kann ich leider mit Bordmitteln nicht feststellen.

Zu diesem Problem äußert sich nun Herr Stirnemann: Auch Frau Morin hat mit ihrem kleinen Spaß „Ich habe Auto" einen Denkanstoß gegeben. Bei ‚recht haben’ und ähnlichen Fügungen geht es um Gewicht und Kraft des ersten Bestandteils, am Ende geht es um das Sprachgefühl. Diese Feststellung ist anthologiereif und könnte uns, wenn sie denn allgemein akzeptiert würde, manche Auseinandersetzung ersparen.

Bei allem Respekt vor den Bemühungen des Schweizer Sprachkreises Deutsch: Wer etwas mehr als acht Jahre lang ähnliche Anstrengungen mitgemacht hat und nun das Ergebnis sieht, hat wohl ein Recht darauf, den weiteren Fortgang der Angelegenheit skeptisch zu beurteilen. Natürlich stört die kühle Bestandsaufnahme, wo doch Siegesgewißheit erwartet wird. Aber selbst dabei gibt es Verhaltensregeln. In meinem Diskussions-Knigge steht dies: "Wem zu einem ernsthaften Argument weiter nichts einfällt, als es lächerlich zu machen, sollte lieber schweigen."



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2005 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2058

Schon Konrad Duden weist auf die grammatischen Indizien hin, die bei "recht haben" eine hinreichend weitgehende Desubstantivierung belegen. Einigen wir uns doch darauf, daß die obligatorische Großschreibung, wie verordnet, nicht haltbar ist. Meinetwegen soll man es wieder freigeben, dann wiederholen wir eben die Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts, denn die Tendenz ist ja unverändert.
Der scharfe Ton, der sich hier unpassenderweise eingeschlichen hat, geht sicherlich zum Teil auf die stockende Entwicklung an der Rechtschreibfront zurück (die ich freilich nicht als solche empfinde, weil die Reformerseite schon durch die jüngste Denunziationskampagne für Belebung sorgt), teils auch auf Temperamentunterschiede. Lassen wir's doch, ich bitte darum, auch im Hinblick auf meine eigene Aufgabe.


Kommentar von H. J., verfaßt am 16.10.2005 um 08.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2059

Lieber Herr Ickler, ich rede doch überhaupt nicht der Rückkehr zu "Recht haben" das Wort, sondern rate nur dazu, diese Form zu tolerieren, wenn sie gelegentlich - besonders in privaten Texten - auftaucht. Man kann nämlich davon ausgehen, daß der Schreiber sich etwas dabei gedacht hat. Der unbefriedigende Zustand der Erklärung selbst in wissenschaftlichen Wörterbüchern gibt ihm ja in gewisser Weise - recht.


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 16.10.2005 um 10.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2061

Ist "Recht" ein Begriffswort, das ohne Artikel mit "haben" verbunden werden kann wie Angst, Glück, Ruhe?


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.10.2005 um 10.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2062

Es dürfte doch allen klar sein, daß Sprache kein nach mathematischen Begriffen logisches System ist - ich habe aus meinem Gedankenschatz dafür den Begriff "Gefühlslogik" geprägt - sicher ist das schon von anderen treffender gesagt worden. Wenn wir uns am "haben" stören, das mit dem Adverb "recht" Hand in Hand geht, dann wohl nur deshalb, weil es scheinbar eine (logische) Ausnahme bildet. Eventuell ist es ein Überbleibsel aus früheren Wendungen, mir fehlt dazu das linguistische Wissen. Doch kommt mir dazu das italienische "io ho freddo" in den Sinn. "Ich habe kalt." Das ist doch wohl mit "Ich habe recht" verwandt. Was soll also dieser auf reißbrettlogische Zusammenhänge reduzierte Streit um des Kaisers Bart? Freuen wir uns doch darüber, daß unsere Sprache nicht völlig logisch ist! Und haben wir doch ein bißchen mehr Ehrfurcht vor den gewachsenen Strukturen, auch wenn wir sie nicht bis ins letzte durchschauen! Muß man denn das? Lernen kann man es allemal. Das ist doch vor 1996 zur Genüge bewiesen worden.
Was uns doch alle am meisten ärgert: daß eine Handvoll Personen sich als Herren über unsere Sprache aufschwingt. Und sie nach ihrem Gutdünken verändern will, wider Gefühl und Wollen einer Millionensprachgemeinschaft. Das ist doch der eigentliche Skandal!


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2005 um 10.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2063

"Auto haben" sagt man nicht, daher erübrigt sich die Frage, wie man es schreibt, das hat Herr Nemec schon geklärt. Bei "Recht" ist die Sache etwas schwieriger, weil es immerhin möglich ist, hier ein Kontinuativum anzunehmen und damit den artikellosen Gebrauch, der dann erst die Zweideutigkeit der Wortart nach sich zieht. Allerdings gibt es die Konstruktionsunterschiede. Recht wird gesprochen, aber nicht getan. Die berühmteste Stelle mit "unrecht tun" ist ja wohl der erste Satz von Beethovens Heiligenstädter Testament. Er schreibt: "wie unrecht thut ihr mir", also klein, man kann es sich ansehen: http://en.wikipedia.org/wiki/Heiligenstadt_Testament. Inzwischen hat sich der Brauch immer deutlicher herausgebildet. "Tolerieren" tun wir ja alles, aber darum geht es nicht. Was wollen wir unseren Kindern beibringen? Ich plädiere für "du hast ganz recht" usw. - und nichts anderes. Der Umgang mit anderen Schreibweisen ist eine ganz andere Frage.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.10.2005 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2064

Nachtrag: Pessimismus ist nicht angebracht. Wie war das noch mit der Wiedervereinigung Deutschlands? Was ist da nicht alles gesagt worden!
Die Reform der Rechtschreibung wird scheitern, denn es wird auf Dauer nicht funktionieren, was nicht funktionieren kann. Dahinter stecken mächtige Naturgesetze, denen wir uns als kleine Menschen beugen müssen - auf beiden Seiten der Front.
An H.J: Wer unbedingt unkenrufen will, möge das bitte zu Hause unter der Dusche tun. Vielleicht mit ein wenig Gesang, falls die Begabung dazu vorhanden ist. Das erheitert die eigene Seele. Hier aber sei nicht der Ort, nach Art der Flagellanten zu wiederholen, daß alles sinnlos sei.
Die Sprache ist mächtiger, als wir denken. Unser eigenes Wollen und Tun ist dagegen ein Hauch. Die Sprache hilft sich selbst. Wir können Ihre Genesung begleiten, nichts weiter. Das aber bitte mit Optimismus, nicht mit bellendem Sarkasmus und eitler Besserwisserei.

Das Wort zum Sonntag sprach Karin Pfeiffer-Stolz.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.10.2005 um 12.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2065

Freuen wir uns doch darüber, daß unsere Sprache nicht völlig logisch ist! Und haben wir doch ein bißchen mehr Ehrfurcht vor den gewachsenen Strukturen, auch wenn wir sie nicht bis ins letzte durchschauen! [...] Die Sprache ist mächtiger, als wir denken. Unser eigenes Wollen und Tun ist dagegen ein Hauch. Die Sprache hilft sich selbst. Wir können ihre Genesung begleiten, nichts weiter. (Frau Pfeiffer-Stolz)

Nein, völlig logisch ist die Sprache nicht, aber sie ist durch und durch systematisch, denn sonst würde sie im kommunikativen Gebrauch versagen. Jeder einzelne von uns, der seine Sozialisation erfolgreich durchlaufen hat, trägt seine Muttersprache und vielleicht noch einige andere dazu als Handlungsdispositionen in sich. Wie diese konkret gespeichert sind, weiß auch die Psycholinguistik nicht zu sagen. Noam Chomsky spricht leicht irreführend von "Competence", bezeichnet so aber auch die systematische Darstellung der sprachlichen Strukturen, die nur aus dem individuellen Sprachgebrauch, also aus der "Performance", ableitbar sind. Einen eigenen ontologischen Status hat die Sprache nicht, und darum reden wir lediglich in Metaphern, wenn wir ihr einen naturhaften Charakter zuschreiben. Als System von Handlungsdispositionen ist die Sprache in der Kommunikation beständig leichten Veränderungen unterworfen, die - wenn sie von genügend vielen Sprachteilhabern aufgegriffen werden - auch Systemveränderungen hervorrufen. Der große Romanist Walther v. Wartburg nennt deshalb die beiden Achsen der Sprachbetrachtung "Evolution" und "Struktur". Daß die Sprache für den einzelnen mehr ist als ein reines Kommunikationsmittel, steht auf einem anderen Blatt. Sein Weltbild wird von ihr geprägt, und durch die Beschränkung auf eine meist ethnische Gruppe bewirkt sie auch die Identifikation mit dieser Gemeinschaft. Das alles hat aber mit unserem Problem, nämlich dem Umgang mit einer mißratenen Rechtschreibreform, herzlich wenig zu tun.

Bei "Recht" ist die Sache etwas schwieriger, weil es immerhin möglich ist, hier ein Kontinuativum anzunehmen und damit den artikellosen Gebrauch, der dann erst die Zweideutigkeit der Wortart nach sich zieht. Allerdings gibt es die Konstruktionsunterschiede. Recht wird gesprochen, aber nicht getan. [...}Was wollen wir unseren Kindern beibringen? Ich plädiere für "du hast ganz recht" usw. - und nichts anderes. (Prof. Ickler)

D'accord. Immerhin gibt mir zweierlei zu denken: Thibauts Wörterbuch der Französischen und Deutschen Sprache von 1859 schreibt "Recht haben", was es nahelegt, den Übergang zu "recht haben" nicht vor dem 19. Jahrhundert anzusetzen. Nach dem Leipziger Duden von 1967 war noch bis 1991 zu schreiben: "Er hat Recht gesucht und Recht gefunden. Wer recht bekommen hat, wird sich zu Recht bemühen, daß er auch weiterhin recht behält. Mit diesem Problem muß er so gut es geht zurechtkommen." Solch einem künstlichen Satz begegnet man natürlich nirgendwo in der Sprachwirklichkeit, aber er zeigt doch die isolierte Stellung von "recht/Recht" im Kapitel Desubstantivierung. Die Leitbildung "recht haben" mag ja, wie Frau Pfeiffer-Stolz mit ihrem italienischen Beispiel zeigt, noch am wenigsten kontraintuitiv empfunden werden. Bei "recht bekommen, erhalten, behalten, geben" ist das anders. Phraseologismen entziehen sich eben der eindeutigen Erklärung, und irgendwann wird eine Lexikographenhand für Einheitlichkeit gesorgt haben. Das ist kein weltbewegendes Problem, wenn wir hier kratzbaums "abgestufte Kompetenz" gelten lassen.

Ach ja, die deutsche Wiedervereinigung. Einen Eisernen Vorhang gibt es in der deutschen Rechtschreibung nicht, und wegen "daß" oder "dass" wird gewiß kein Bürgerkrieg zwischen Alt- und Neuschreibern ausbrechen.



Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 16.10.2005 um 17.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2066

Auf die Gefahr hin, penetrant zu wirken: Herr Nemec und Professor Ickler haben natürlich recht - "Ich habe Auto" kann man nicht sagen (was ich übrigens auch nicht vorgeschlagen hatte). Es ging mir darum aufzuzeigen, weshalb gewisse "Schiefheiten" in der neuen Rechtschreibung zu ebenso "schiefen" Analogien Anlaß geben können. Und "ich habe Glück" ist etwas ganz anders, denn Glück kann man besitzen, Recht aber nicht (und ich hoffe, es kommt nun keiner und meint das Gegenteil von dem, was ich gesagt habe: Ich habe NICHT gesagt, man könnte sagen "ich habe Auto", weil man nun einmal ein Auto auch besitzen kann). Mir ging es einzig und allein um die störenden Analogien, die bei mir (und sicherlich auch anderen Lesern) auftauchen, wenn ich den Neuschrieb zu Gesicht bekommt.
Ich halte die Bildung falscher Analogien für einen der schlimmsten Aspekte der Rechtschreibreform und für eine der Hauptursachen der erbärmlichen Qualität neuerer deutscher Druckerzeugnisse. Und darauf können wir uns doch alle einigen, oder?

Noch ein Nachtrag: Mit der Wahrheit ist es bei der Rechtschreibung wie bei anderen Bereichen. Je mehr man nach ihr sucht, desto mehr entzieht sie sich dem Zugriff. Und was denn nun die Wahrheit sei, darüber läßt sich trefflich streiten. Besser schreiben werden unsere Schüler (und auch die meisten Journalisten) deswegen aber nicht. Und darum geht es doch eigentlich ... meine ich.




Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 16.10.2005 um 18.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2067

Prof. Jochems: "Wer ernsthafte Darlegungen zum Problemfall "recht haben" mit der Frage beantwortet, ob damit auch "Auto haben" oder "Genug haben" befürwortet würden, disqualifiziert sich in unserem Diskussionskreis."

Lieber Herr Prof. Jochems,

ich schätze Ihre Meinung, und sicherlich haben Sie in diesem Fall durchaus recht.

Was aber bei der Diskussion um die Rechtschreibreform (meiner Meinung nach) gerne vernachlässigt wird sind diejenigen Menschen, die mit den Diskussionen der gelehrten Köpfe nichts anfangen können. Nicht jeder kann sich unter einem Adverb oder einem direkten oder indirekten Objekt etwas vorstellen. Und auch diesen Menschen müssen wir verdeutlichen, daß die Rechtschreibreform den Teufel im Detail der "alten" Rechtschreibung mit einem Beelzebub austreiben möchte - sprich: daß man sich mehr Schwierigkeiten einhandelt als man löst.

Es ist nicht auszuschließen, daß auch solche Menschen im Zuge der aktuellen allgemeinen Diskussion hier vorbeischauen oder mal einen Artikel von Prof. Ickler in irgendeiner Zeitung lesen. Ich könnte mir vorstellen, daß dann eher einfache Beispiele der Absurditäten der Reform zum denken anregen als fachlich tiefschürfende Darlegungen.

Bitte denken Sie auch daran, daß es sich bei diesem Personenkreis um die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung handeln wird. Momentan ist es noch einfacher, den Versprechungen der Politiker zu glauben. Wir müssen den Einstieg in eine Kultur des Zweifelns mindestens ebenso einfach gestalten.



Kommentar von H. J., verfaßt am 16.10.2005 um 21.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2068

Frau Morin und Herr Bluhme schneiden in ihren neuesten Beiträgen ein Thema an, das in der bisherigen Diskussion vernachlässigt worden ist: Wieviel Wissen über Struktur und Funktionieren der eigenen Sprache gehört unbedingt zur Allgemeinbildung? Vor einiger Zeit wurde eine Dissertation bekannt, in der die grammatische Terminologie der Neuregelung mit den vorher üblichen Beschreibungen der Rechtschreibung verglichen wurde. Dabei schoß die Rechtschreibreform natürlich den Vogel ab - sogar auf "prädikativ" sei verzichtet worden. Tatsächlich fragt es sich, wie fachlich Rechtschreibregeln formuliert sein müssen, um bei der Anwendung keine Zweifel aufkommen zu lassen. Prof. Ickler kritisiert die Reform der Reform, die im Paragraphen 36 vom "adjektivischen" Gebrauch zusammengeschriebener Verbindungen mit Partizipien spricht. "Attributiv" müsse es heißen, denn "prädikativ" seien sie nicht verwendbar. Beispiel: "der grenzüberschreitende Verkehr", aber unmöglich: "der Verkehr ist grenzüberschreitend". Anderseits ist es gang und gäbe, "besorgniserregend" prädikativ zu verwenden: "diese Entwicklung ist besorgniserregend". Einfache Erklärung: Ein Teil dieser Verbindungen ist zu echten Adjektiven geworden. Man erkennt das daran, daß man sie steigern kann: "besorgniserregender". Muß so etwas aber der gewöhnliche Schreiber wissen? Kaum. Verbindungen mit Partizipien werden so gut wie immer zusammengeschrieben, und vor die fälschliche Verwendung im Prädikat schiebt schon die Bedeutung einen Riegel. Eine volkstümliche Rechtschreiblehre könnte also so einfach sein. Bei Verbindungen mit dem Partizip II kommt scheinbar eine Komplikation hinzu: "eine dichtbesiedelte Gegend", aber: "diese Gegend ist dicht besiedelt". Jeder Schreiber "hört" innerlich den Unterschied: attributiv Anfangsbetonung, prädikativ schwebende Betonung. Auch Schreiber ohne vertiefte Grammatikkenntnisse kommen damit zurecht. Sprachwissenschaftler möchten es natürlich genauer wissen, indem sie eine Regularität nicht nur beschreiben, sondern auch erklären. So sind die "resultativen Prädikative" und die "idiomatisierte Gesamtbedeutung" in die Neufassung des Paragraphen 34 gekommen. Das kann man sehr viel einfacher sagen, und am Ende entdecken die Schreiber selber die Kriterien, nach denen sie sich richten sollten. Niemand braucht sich also zu schämen, wenn er den Fachjargon der "Experten" nicht versteht. Unter uns: Manchmal überdeckt die hochgestochene Sprache nur die mangelnde Einsicht.

Andererseits sind die "falschen Analogien", von denen Frau Morin spricht, in den meisten Fällen "Übergeneralisierungen". Niemand macht sich normalerweise die Mühe, das der Rechtschreibung zugrunde liegende Regelwerk in allen Einzelheiten durchzuarbeiten. Vielmehr orientiert man sich an den Schreibungen, die man in sorgfältig redigierten Texten vorfindet. Dabei verführt die Unkenntnis der eigentlichen Kriterien leicht zu analogen Weiterbildungen, die aber über den für die Regel vorgesehenen Bereich hinausgehen. Seit der Rechtschreibreform mit ihren zahlreichen kontraintuitiven Schreibungen ist die Gefahr heute größer als früher. Wenn man eine Rechtschreibung so kompliziert macht, wie das bei uns üblich ist, darf man sich darüber nicht wundern. Das ist eine wichtige Lehre,die aus dem gegenwärtigen Rechtschreibdilemma zu ziehen ist.



Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 16.10.2005 um 21.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2069

Kleiner Versuch einer Begriffsklärung im Disput zwischen Herrn Jochems und Frau Pfeiffer-Stolz:

Völlig logisch ist nur die Sprache der Logik. "A = A", der Identitätssatz, ist der Ausgangspunkt jedes Logikkalküls, dessen Ergebnis nur dann zu dieser Voraussetzung in Widerspruch geraten kann, wenn entweder der Logiker als Logiker einen Fehler gemacht oder aber sich auf Dinge eingelassen hat, die mit Logik zunächst einmal nichts zu tun haben - nämlich auf Bedeutungen. Umgekehrt lassen sich Bedeutungen nur um den Preis ihrer Trivialisierung auf Logik reduzieren. Davon leben ganze Systeme, nicht nur in der Philosophie.

Sprache ist zunächst einmal nicht etwas Logisches, sondern etwas Semantisches und dann etwas Grammatisches. Als letzteres ist sie auch etwas Systemisches. Deshalb jetzt aber zu folgern, sie "habe" eine Systematik, ist ontologisch schon ziemlich riskant. Auf der sicheren Seite ist man mit der Aussage, der Grammatiker sei der Systematiker der Sprache.

Kein System ohne Logik. Insofern muß auch der Grammatiker Logiker sein. Diese Aufgabe meistert er entweder so brillant wie Professor Ickler mit seinem deskriptiven Ansatz, oder er geht sie so stümperhaft an wie die Reformer, die versuchten, der Sprache ein künstliches logisches Rückgrat einzuziehen. Weil sie die Sprache nicht verstanden, wollten sie sie nach ihrem eigenen Verstand ummodeln.

Verstehen heißt, Bedeutungen erkennen. Da ist der Sprachwissenschaftler qua Sprachwissenschaftler nicht gescheiter als andere Leute. Oft ist er sogar dümmer. Zum Beispiel ist der Sachbearbeiter im Sozialamt seit der Abschaffung des Kuppeleiparagraphen ebenso auf das Wort "alleinstehend" angewiesen wie vorher schon ein Rettungssanitäter, ein Feuerwehrmann oder ein Polizist auf den "Schwerverletzten" oder den "Leichtverletzten" als Terminus technicus. Das hatten auch die Reformer eingesehen, als sie die Zusammenschreibung in "Fachsprachen" wieder erlauben wollten.

Die Frage ist nur, wo die Grenze zwischen fachsprachlichem und nichtfachsprachlichem Sprachgebrauch verlaufen soll. Sie zu ziehen haben die Reformer wohlweislich unterlassen, weil dies den Kern ihrer Anmaßung bloßgelegt hätte: nämlich sich zum Herrn nicht einfach der Sprache, sondern, präziser, der Bedeutung aufzuschwingen.

Wer spricht, läßt sich auf Bedeutungen ein; sie sind immer schon da. Es handelt sich um Verweisungen auf Verweisungen, die als "System" zu bezeichnen schon deshalb lächerlich wäre, weil niemand es vollständig darstellen könnte - schon gar nicht logisch.

Ich glaube, daß Frau Pfeiffer-Stolz dies meinte, als sie Ehrfurcht vor "gewachsenen Strukturen" forderte, auch wenn diese sich nicht bis aufs letzte durchschauen ließen. Und der Rede von einer Naturwüchsigkeit sprachlicher Entwicklungen (oder auch von "Gefühlslogik") kann man vielleicht entgegenhalten, daß ihre Metaphorik schief sei, aber nicht, daß sie metaphorisch ist. Anders geht es nun einmal nicht, wenn man sich auf Bedeutungen einläßt. In "Fachsprachen" verhält es sich übrigens nicht anders.


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 16.10.2005 um 23.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2070

In Verbindung mit "bekommen" und "sprechen" ist beides möglich: Vor Gericht bekommt man Recht, und in einer Diskussion bekommt man recht. Oder: Der Richter hat Recht gesprochen, und der Diskutant hat recht gesprochen. Also: "Recht" bedeutet die Erlaubnis zu etwas, "recht" die Zustimmung zu etwas.


Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 16.10.2005 um 23.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2073

Vor Gericht bekomme ich recht, d.h. es gibt mir in meiner Sache recht, sofern es zu meinen Gunsten Recht spricht. Oder kann das Gericht selbst in Sachen Grammatik und Rechtschreibung mehr als andere Leute?


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.10.2005 um 03.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2074

Er bekam vor Gericht *Recht:
Das ist theoretisch konstruierbar, und die begriffliche Nähe von Gericht und Recht läßt es auf den ersten Blick plausibel erscheinen, aber es ist nicht gemeint. Vielleicht hilft eine Ersetzungsprobe: *Er bekam vor Gericht Jura.

Vielleicht möchte man auch ersetzen: Er bekam vor Gericht Gerechtigkeit. Hier kann man kein Sternchen mehr setzen, denn es ist durchaus möglich, Gerechtigkeit zu bekommen, sogar vor Gericht. Aber es ist wiederum nicht gemeint, sondern gemeint ist, wie Herr Herter richtig sagt, nichts anderes als sonst: Man stimmte der Auffassung des Betreffenden zu, das Gericht sprach ein Urteil zugunsten des Betreffenden.

Oder noch anders begründet: Falls wirklich gemeint wäre: *Er bekam Jura, *Er bekam Gerechtigkeit, dann müßte man dasselbe auch über die unterlegene Seite sagen können, was allerdings nie vorkommt. Auch die unterlegene Seite bekommt nämlich "Recht" - das in ihrem Fall leider so aussieht, daß sie nicht recht habe. Kurz: Sie bekommt vor Gericht "Recht" [schlechtes Deutsch], aber sie bekommt nicht recht [gutes Deutsch].


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 17.10.2005 um 04.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2075

Nochmal zur Achenbach-Kleinschreibung (#2048), die ich also nicht immer ganz mitmache ("nichts Gutes" vs. nichts gutes, etwas Gutes vs. "etwas gutes" u. ä.): Es handelt sich hier um Adjektivsubstantive wie in "Ins Krankenhaus, ein Haus also für Kranke, geht ein Kranker hinein, und da läßt er sich etwas Krankes herausschneiden, weil er nichts Krankes ist sich haben sollte. Das hat ihm mal eine Kranke gesagt, die an Krankem sehr litt. Denn Krankes sei eben nicht gut." Adjektivsubstantive sind insofern interessant, als sie alle drei Geschlechter haben können, Singular- und Pluralformen haben und erweitert andere Formen haben als unerweitert ("Die Kranken müssen hier weg" — "Kranke müssen hier weg", "Einiges Kranke können wir hier dulden" — "Krankes dürfen wir hier nicht zurücklassen"). Einige dieser formal durchaus als Adjektivsubstantive einzuordnenden Wörter haben aber in einigen Situationen offenbar keine Substantivbedeutung mehr. Wo sie die nicht mehr haben (vor allem im möglichen Gegensatz, "der andere" vs. "der Andere", "ich hätte noch folgendes hinzuzufügen" vs. "die Anordnungen von oben immer gleich Folgenden", welch letzteres ja neben Achenbachs "Menge des Wirkungsvollen" steht [nicht stilistisch, natürlich, aber der Struktur nach]), sondern eher pronominal zu verstehen sind (wie ich meine), schreibe ich klein. Denn ich wünsche — wie schon vorher gesagt — im Zweifelsfalle der Tendenz zur Kleinschreibung alles Gute — wie Herr Achenbach hier offenbar auch.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 17.10.2005 um 08.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2076

> Er bekam vor Gericht *Recht.

Am einfachsten erkennt man den Unfug dieser Interpretation durch Verneinung: Er bekam vor Gericht Unrecht. Heißt das, daß ein Gericht nur dann Recht spricht, wenn es jedem recht gibt?


Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 17.10.2005 um 11.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2077

Mit der Argumentation von Herrn Achenbach für Kleinschreibung in bestimmten Fällen komme ich nicht klar. Es ist doch fast egal, ob ich von der Politik "Wirkungsvolles" oder "etwas Wirkungsvolles" erwarte. Das Hinzufügen von "etwas" oder "nichts" ändert für mich nicht viel. "Ihm wurde Böses angetan." "Er will ihm nichts Böses tun." "Tue Gutes." "Das verheißt nichts Gutes." Da kann ich doch nicht einmal klein, einmal groß schreiben. Für mich sind das Substantive. "Schreckliches geschah im Krieg." "Nichts Schrecklicheres kann ich mir vorstellen als ..." Das zweite plötzlich klein?


Kommentar von Dr. Konrad Schultz, verfaßt am 17.10.2005 um 11.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2079

Die Verneinung mit "Unrecht" halte ich nicht für glücklich. Aber im Weiteren stimme ich Glasreiniger zu: "Er bekam vor Gericht kein Recht" ist zwar gutes Deutsch, aber inhaltlich etwas anderes als "er bekam vor Gericht nicht recht".


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 17.10.2005 um 11.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2080

> Die Verneinung mit "Unrecht" halte ich nicht für glücklich.

Zugegeben, es ist eine spezielle Art von Verneinung. Worauf ich aber eigentlich hinweisen wollte, ist, daß das Wort "unrecht" ziemlich genau denselben synaktischen Bedingungen unterliegt wie "recht". Man kommt aber mit der Interpretation als etwas, das man "bekommt", deutlicher ins Schleudern als bei "recht".


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 17.10.2005 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2082

Wer spricht, läßt sich auf Bedeutungen ein; sie sind immer schon da. Es handelt sich um Verweisungen auf Verweisungen, die als "System" zu bezeichnen schon deshalb lächerlich wäre, weil niemand es vollständig darstellen könnte - schon gar nicht logisch. (Urs Bärlein)

Wir können auf dieser Netzseite schlecht eine Diskussion über die Grundlagen der Sprachwissenschaft veranstalten. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, daß seit Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916) "System" einer der zentralen Begriffe dieser Disziplin ist - "La langue est un système où tout se tient." Hier hat - um es metaphorisch zu sagen - der Strukturalismus seine Wurzeln, der sich zuerst in der "Phonologie" bewährte und dann die Untersuchung aller Teilgebiete der Sprache prägte. Der "generative" Ansatz Noam Chomskys ist nichts weiter als die konsequente Fortführung dieses Konzepts. Ein Beispiel aus der Wortfeldtheorie: Was ein Wort bedeutet, ergibt sich nicht allein aus den ihm zugrunde liegenden semantischen Merkmalen, sondern weitgehend aus der Opposition zu den anderen Wörtern in seinem semantischen "Feld". Wenn es im Deutschen nur "kalt" und "warm" gäbe, wäre ihr Bedeutungsumfang größer als in der tatsächlichen Opposition zu "eiskalt", "kühl", "lauwarm", "heiß".

Und nun zur Diskussion in diesem Strang: Es geht in der Sprachwissenschaft immer nur um Beschreibung und Erklärung. Eine orthographische Konferenz, selbst wenn staatliche Stellen sie organisieren, wird nicht dadurch zu einer sprachwissenschaftlichen Veranstaltung, daß Sprachwissenschaftler daran teilnehmen. Berlin 1901 und Wien 1996 waren Vorgänge in der "Schreibgemeinschaft" mit "Innovationen", wie sie jeden Tag unorganisiert überall auftreten. Es liegt an der "Schreibgemeinschaft" selber, sie anzunehmen oder zu verwerfen. Dieser normale Prozeß versagt in diesen Jahren in einer Gesellschaft, die ihre Obrigkeitsgläubigkeit nicht los wird. Den Franzosen wollten die staatlichen Stellen vor einiger Zeit vorschreiben, statt "nénuphar" für die Seerose "nénufar" zu schreiben, was etymologisch sogar begründet gewesen wäre. Niemand in unserem Nachbarland hat darauf auch nur einen Gedanken verschwendet.

Ich glaube, daß Frau Pfeiffer-Stolz dies meinte, als sie Ehrfurcht vor "gewachsenen Strukturen" forderte, auch wenn diese sich nicht bis aufs letzte durchschauen ließen. Und der Rede von einer Naturwüchsigkeit sprachlicher Entwicklungen (oder auch von "Gefühlslogik") kann man vielleicht entgegenhalten, daß ihre Metaphorik schief sei, aber nicht, daß sie metaphorisch ist. Anders geht es nun einmal nicht, wenn man sich auf Bedeutungen einläßt. (Urs Bärlein)

Liebe Herr Bärlein, "schiefe" Metaphern sind halt auch nur Metaphern, aus denen man keine Folgerungen ableiten sollte, die auf die Sache nicht zutreffen. Weder die Sprache selbst noch ihr jüngster "Sproß" (Vorsicht Metapher!) Rechtschreibung stellen Biotope dar, für die die Kreisumweltbeauftragte zuständig wäre. Wenn man schon so grundsätzlich sein will: Die Sprache ist Teil der menschlichen "Kultur"; mit "Natur" hat sie nur in der Lyrik und bei festlichen Anlässen etwas zu tun. Orthographie betrifft im übrigen zuvörderst die "physikalische" Seite des dualen sprachlichen Zeichens. Doch in unserer stark überformten "Phonographie" spielt bekanntlich auch die "Bedeutung" eine wichtige Rolle - und bereitet uns die Schwierigkeiten, die wir hier diskutieren.


Kommentar von Jörg Metes, verfaßt am 17.10.2005 um 14.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2083

Da Herr Jochems in einem Atemzug »Berlin 1901 und Wien 1996« nennt, sei gerade noch einmal an die Unterschiede erinnert. Mit der »Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung« (Wien 1996) wurde beschlossen, im Schulunterricht Schreibweisen wiedereinzuführen, die seit hundert und mehr Jahren nicht mehr üblich waren (weshalb Adolf Muschg sie »künstliches Barock« nennt). Die wiederzubelebenden Schreibweisen waren im Unterricht als »neu« zu bezeichnen, die neueren, an ihrer Statt gebräuchlich gewordenen aber als »alt« bzw. »veraltet«. Ganz im Gegensatz dazu begnügte sich die Zweite Orthographische Konferenz (Berlin 1901) mit einer Bestandsaufnahme des Vorhandenen. Sie »vereinheitlichte nur das ohnehin seit langem Übliche« (Theodor Ickler, Die sogenannte Rechtschreibreform, St. Goar 1997, S. 13 - hier als pdf-Datei), und sie ließ Bereiche, in denen sich das Übliche nicht klar feststellen ließ (Getrennt- und Zusammenschreibung) ganz einfach ungeregelt. Einem bayerischen Schulwörterbuch genügten 1903 drei Seiten, um das Ergebnis darzustellen.


Kommentar von H. J., verfaßt am 17.10.2005 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2084

Lieber Herr Metes, in den von Ihnen erwähnten Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Herausgegeben vom Königlich Bayerischen Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten auf Grund Vereinbarung mit den deutschen Bundesregierungen und mit Österreich. Neue Bearbeitung. 4. Auflage. München: Oldenbourg, o. J. [1903] liest man in der Tat Erstaunliches:

"A. Die hauptsächlichsten Unterschiede, welche in Bezug auf die Regeln zwischen der bisher für die bayerischen Schulen vorgeschriebenen und der neuen, einheitlich für das ganze deutsche Sprachgebiet vereinbarten Rechtschreibung bestehen, lassen sich im wesentlichen in folgende Punkte zusammenfassen:
[...]
3. In Zusammensetzungen, in denen drei gleiche Mitlaute zusammenstoßen, kann derselbe zweimal oder auch dreimal geschrieben werden, z. B. Bettuch oder Betttuch, Schiffahrt oder Schifffahrt bisher nur: Bettuch, Schiffahrt.
[...]
C. Bei einer Reihe von Wörtern sind Doppelschreibungen statthaft, von denen bisher nur die eine oder die andere zulässig war. Im einzelnen wird auf das Wörterverzeichnis verwiesen.
[...]
5. Was die Anfangsbuchstaben betrifft, so ist zunächst zu bemerken, daß außerhalb des Briefstils die Fürwörter du und ihr nebst den dazu gehörigen Formen und besitzanzeigenden Fürwörtern in der Regel klein geschrieben werden. Des weiteren ist neben der bisherigen Schreibung abends, mittags, morgens, nachts u. ä. auch die Schreibung Abends, Mittags, Morgens, Nachts zulässig. [...]
[...]
6. Bei der Silbentrennung wird künftighin ck in k-k, tz in t-z aufgelöst und die Buchstabenverbindung ng in n-g getrennt, also Hak-ke, Kat-zen, Fin-ger statt wie bisher Ha-cke, Ka-tze, Fing-er, aber wie bisher La-sten, Fen-ster."

Allein die drei Seiten, die Wolf Busch von flitternikel.onlinehome.de faksimiliert ins Internet gestellt hat, zeigen in Ton und Inhalt, was man vor hundert Jahren in einem deutschen Bundesland unter staatlicher Rechtschreibregelung verstand: Erlaß einer Vorschrift. Bei den "drei Konsonaten" wurde das Rad wieder zurückgedreht, zwar nicht so rigoros wie 1996, aber immerhin. Den Vogel schießt die Großschreibung von "Abends" usw. ab, gewiß nicht der aufgeklärte Usus des Jahrhundertbeginns. Wolf Busch hat ein weiteres Exemplar des bayerischen Regelbüchleins von 1903 antiquarisch besorgen können, das ich demnächst durcharbeiten werde. Dann mehr hierzu.



Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 17.10.2005 um 18.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2085

Das bayerische Regelbüchlein ist in der Tat sehr instruktiv.
Besonders interessant finde ich die Trennungen Ha-cke, Ka-tze und Fing-er. Beruhten sie vielleicht auf Ligaturen der Buchdrucker?
Die Trennungen Hak-ke und Kat-ze sind sicherlich phonetisch vorzuziehen, ebenso wie Kas-ten. Dagegen empfinde ich sing-en als eindeutig besser als die moderne Trennung sin-gen, die mir höchst unnatürlich und unphonetisch erscheint. Sie ist zudem eine uneingestandene Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß Buchstaben, die für einen Laut stehen, nicht getrennt werden. Weder der alte Duden noch die Amtlichen Regeln haben es für nötig befunden, dies Ausnahme ausdrücklich als solche zu kennzeichnen.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 17.10.2005 um 22.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2088

"Besonders interessant finde ich die Trennungen Ha-cke, Ka-tze und Fing-er. Beruhten sie vielleicht auf Ligaturen der Buchdrucker?" Kann sein, zumindest bei "ck" und "tz". Aber vielleicht beruhten sie auch auf der Einsicht, daß die Silbierung in der Sprache gar nicht so einfach einzusehen ist, wie oft angenommen wird. Sie ergibt sich nämlich nicht "bei sehr langsamer Aussprache" von selbst! Irgendwann ist aus dem germanischen [t] unsere Affrikata [ts] geworden, und erst danach war es überhaupt erst möglich, [t] und [ts] in verschiedenen Silben zu sehen! Und wenn in "genommen" das [m] in zwei Silben aufgeteilt werden kann, warum nicht das [x], geschrieben "ch", in "machen"? Doch bloß, weil der Laut mit zwei Buchstaben wiedergegeben wird, und nicht, weil etwa die Silbengrenze so klar wäre! Ich spreche "Kas-ten", aber "Fen-ster" und "am schön-sten", ich spreche "Plät-ze", aber "pla-zieren" (andere sprechen das jedoch offenbar anders, und warum ich es nach meiner Art spreche, weiß ich nicht; aber die Leute verstehen mein Deutsch meist ohne Schwierigkeiten). Als Neunjähriger hatte ich mal "sing-ngen" im Schulheft; das hat mir die Lehrerin aber ausgeredet und statt dessen Aschenbachs uneingestandene Ausnahme vorgeschrieben. (Aber recht hatte ich schon irgendwie: die zweite Silbe beginnt auf keinen Fall mit einem Kehlkopfknacklaut!) Englisch "apron" geht über "an apron" aus "a napron", also dem französischen "napperon" hervor; — und all das zeigt, daß wir bei der Festlegung der Silbengrenze in einigen Fällen nur aus dem Grunde so frech-sicher sind, weil sie uns in der Schule angelernt worden ist, und nicht, weil sie sich aus der langsamen Aussprache natürlich ergäbe. Vielleicht sage auch ich sogar "am schöns-ten", wenn ich schnell und unbeobachtet und natürlich spreche; — aber dann spreche ich ja nicht langsam und klar und beinahe unnatürlich überdeutlich mit dem Zweck, meine Silbengrenzen festzustellen! Wenn also wer [Ha-cke] und [Ka-tze] sagt, mit kurzem [a], finde ich das durchaus akeptabel. Beim Schreiben dieser Wörter ist es allerdings richtig, die jetzt gewohnte Schreibung zu verwenden und nicht weiter daran herumzufummeln, auch nicht, um etwas natürlicher und phonetischer zu machen. Das sah auch das Königlich Bayerische Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten auf Grund Vereinbarung mit den deutschen Bundesregierungen und mit Österreich schon 1903 so. Und natürliche Veränderungen bürgern sich im Laufe der Zeit sowieso von selbst ein. So schreiben viele Werbe- und Kunstgrafiker "Grafik" mit "f", während die, für die Graphisches mit Schreiben und Geschriebenem zu tun hat, das ursprüngliche "ph" beibehalten wollen. Derart macht sich die Sprache natürliche Verschiedenheiten zur Unterscheidung nützlich, — wie sie's ja schon öfter in ihrer Geschichte getan hat.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 17.10.2005 um 23.06 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2089

Zu Rominte van Thiel und Horst Ludwig:

Mir ging es zunächst nicht um die Substantivierung von Adjektiven im allgemeinen, sondern nur um die spezielle Dudenregel, die von den Amtlichen Regeln (§ 57 a) übernommen wurde (allerdings in einem merkwürdigen Einheitsbrei von Artikeln, Pronomen und unbestimmten Zahlwörtern), wonach besonders bei Verbindungen mit bestimmten Wörtern, darunter "nichts" und "etwas", zwingend die Großschreibung der Adjektive vorgeschrieben ist.

In dem Satz "Etwas muß geschehen" fungiert "etwas" als Pronomen, also als Substantiversatz - in diesem Fall als Subjekt des Satzes. In dem Satz "Etwas Wirkungsvolles muß geschehen" würden demnach gewissermaßen zwei Substantive unverbunden nebeneinander stehen, was in der deutschen Syntax eher ungewöhnlich sein dürfte. Was ist denn eigentlich das Subjekt dieses Satzes: "etwas" oder "das Wirkungsvolle"? Daher empfinde ich die Schreibung "Etwas wirkungsvolles muß geschehen" als natürlicher, weil ich "wirkungsvolles" als nähere Bestimmung, als Attribut, zu "etwas", dem Subjekt des Satzes empfinde. Schließlich möcht ich wiederholen, daß "nichts" im Deutschen in der Regel nicht mit Substantiven verbunden wird. Man sagt: "Ich möchte Brot." Man sagt aber nicht: "Ich möchte nichts Brot."

Nun zu den (schein)substantivierten Adjektiven ( ich nehme an, daß diese den "Adjektivsubstantiven" von Herrn Ludwig entsprechen) im allgemeinen :

Ich bin in der Tat der Meinung, daß die Groß- oder Kleinschreibung (scheinbar) substantivierter Adjektive wahlfrei sein sollte. Nicht nur würde dadurch ein Unmenge von Zweifelsfällen mit ein Schlag (des tapferen Schneiderleins) beseitigt werden, sondern es sprechen m.E. auch andere gute Gründe dafür:
Wenn eine Mutter sagt: "Unser jüngster geht noch zur Schule", dann weiß alle Welt, daß damit der jüngste Sohn gemeint ist, daß es sich also um eine Ellipse handelt. Nur die Reformer nehmen das nicht zur Kenntnis, sondern schreiben vor, daß es "unser Jüngster" heißen müsse. Der alte Duden ließ "unser jüngster" zu, allerdings nur dann, wenn es sich auf ein vorangehendes oder nachstehendes Haupwort (in diesem Fall "Sohn") bezieht (zitiert nach Duden 1961).
Ich empfinde diese Regel als sehr kleinlich. Es gibt Fälle, wie das angeführte Beispiel, wo die Ellipse sonnenklar ist. Dann bedarf es keiner vor- oder nachstehender Nennung. In anderen Fällen ist die Ellipse überhaupt nicht ohne weiteres (ohne Weiteres?) rekonstruierbar, etwa in "im allgemeinen", denn wofür könnte "im allgemeinen" wohl stehen: vielleicht für "im allgemeinen Fall"? Das dürfte nicht überall passen. Darin sehe ich aber kein schwerwiegendes Gegenargument, denn derartige feste Redewendungen sind ja häufig nicht rekonstruierbar, woraus sich ja gerade viele Schwierigkeiten der Rechtschreibung ergeben.

Herr Ludwig weist auf eine Besonderheit der "Adjektivsubstantive" hin, wonach diese in allen drei Geschlechtern auftreten könne. Gerade darin sehe ich einen schlagenden Beleg für eine Ellipse. Denn wie kann man das weibliche oder männliche Geschlecht verwenden, ohne sich etwas geschlechtsbehaftetes hinzuzudenken: der alleinstehende (Mann), die alleinstehende (Frau)?

Ich möchte betonen, daß ich nicht für eine generelle Kleinschreibung eintrete. Allerdings meine ich schon, daß man es getrost dem Sprachgefühl des einzelnen überlassen kann, ob er einen bestimmten Ausdruck eher als Ellipse oder eher als Substantivierung empfindet.


Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 18.10.2005 um 12.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2093

Selbstverständlich bin ich nicht dafür, "im allgemeinen" im allgemeinen groß zu schreiben. Denn im allgemeinen hat das nichts mit dem Allgemeinen zu tun, in dem sich Politiker X in seinen Reden so gerne bewegt. (So ähnlich, wie auf diesen Seiten an anderer Stelle der Unterschied zwischen "allem Möglichen" und "allem möglichen" diskutiert wird.)
Nun noch einmal zu "etwas": Ich sehe keine zwei Substantive in dem Satz "Etwas Wirkungsvolles muß geschehen". "Etwas" kann sowohl alleine stehen als auch attributiv gebraucht werden. In dem Satz "Etwas Nahrung täte dem Kranken gut" ist Nahrung das Subjekt. Wenn ich das ändere in "Etwas Nahrhaftes täte dem Kranken gut" habe ich die gleiche Konstruktion wie "etwas Wirkungsvolles". "Etwas" kennzeichnet auch nicht unbedingt eine kleine Menge, sondern ist sehr unbestimmt. "Etwas Brot" ist eine kleine Menge, aber "etwas Gutes", das jemand tut, kann eine kleine Geste, aber auch eine heroische Großtat sein, genauso wie "etwas Schönes" nicht nur ein bißchen schön ist, sondern ein schönes Ding, gleich welcher Art.


Kommentar von taz, 18.10.2005, verfaßt am 18.10.2005 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2098

Wunder gibt es immer wieder – kaum zu glauben, aber wahr: Eins der publizistischen Sturmgeschütze der Rechtschreibreform, die taz, titelt heute orthographisch korrekt:

"Merkel macht es allen recht"

http://www.taz.de/pt/.nf/home


Kommentar von H. J., verfaßt am 18.10.2005 um 18.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2099

Das Regelbüchlein von 1996 kennt diesen Fall zwar nicht, aber Duden 2004 schreibt "- man kann ihm nichts recht machen".


Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 18.10.2005 um 18.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2100

Selbst 'reformiert' wird doch wohl "etw. recht machen" so geschrieben. Also doch kein Wunder, leider, sondern brav staatskonform (es steht ja auch in der "taz")...

Zu Rominte van Thiel: Ein Journalist der "Weltwoche" wehrte sich gegen den Unfug, kurz bevor das Blatt gleichgeschaltet (und er überfahren) wurde, mit u.a. diesem Beispiel: "Nach 20 Uhr bin ich im Allgemeinen zu Hause."


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 18.10.2005 um 18.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2101

Nicht nur, sondern auch:

http://www.taz.de/pt/2004/04/26/a0094.nf/text

"dann wird man von hochqualifizierten Polizeiprofis zu Recht gewiesen"

http://www.taz.de/pt/2001/11/17/a0175.nf/text

"selten kann es ihm die Welt Recht machen"

http://www.taz.de/pt/2005/08/12/a0298.nf/text

"Aber Martin war noch nie einer, der es unbedingt seinen Fans Recht machen wollte"

http://www.taz.de/pt/2005/04/25/a0182.nf/text

"Dem großen, dicken, peinlichen Ehepartner kann das nur Recht sein"

http://www.taz.de/pt/2004/12/17/a0001.nf/text

"Warum aber kann Richard Blömer die "Affäre Schramma", so sie denn überhaupt noch zu einer richtigen werden sollte, besonders Recht sein?"

http://www.taz.de/pt/2001/04/17/a0092.nf/text

"konnte Syrien nur Recht sein"

http://www.taz.de/pt/2001/05/23/a0113.nf/text

"Und was dem Schreiber billig, müsse dem Fernsehmacher Recht sein."

http://www.taz.de/pt/2004/11/04/a0289.nf/text

"Der Science-Fiction-Gemeinde kann diese Liaison nur Recht sein "

Etc. (man suche auf Google unter " "recht sein" site:www.taz.de" resp. unter " "recht machen" site:www.taz.de"). Auf Google finden sich noch einige mittlerweile in der "tageszeitung" korrigierte Sätze wie: "die Chancen der Medizinerin in Luxemburg stehen Recht gut". Nur mal so zum Thema "die Rechtschreibreform erleichtert das Schreiben".



Kommentar von R. H. (Schweiz), verfaßt am 18.10.2005 um 19.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2104

Mein Gott, Matthias! (Ich meine: Da stockt einem der Atem, Herr Künzer.) Er muss mächtig sein, "der betörende Glanz der Dummheit". (Esther Vilar)


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 19.10.2005 um 07.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2110

Zu #2089
Ich stimme zu, daß in den Amtlichen Regeln hierzu ein Einheitsbrei zum zähen Fließen gebracht wurde, der zu nichts Vernünftigem/vernünftigem führt. Gerade die Tendenz zu vernünftiger Kleinschreibung, die ich in manchen adverbialen Ausdrücken sehr begrüße (so schreiben einige meiner besten Freunde sogar "zuhause") und beim Übergang ins Pronominale ebenfalls anerkenne, wird durch die ach so "vereinfachenden" Amtlichen Regeln abgewürgt.
"In dem Satz 'Etwas Wirkungsvolles muß geschehen' würden demnach gewissermaßen zwei Substantive unverbunden nebeneinander stehen, was in der deutschen Syntax eher ungewöhnlich sein dürfte", lesen wir. Wieweit diese zwei Wörter im Satz unverbunden wären, möchte ich dahingestellt sein lassen. Aber wenn im Deutschen ein Substantiv ein anderes Substantiv näher bestimmt, dann schreibt man das Ergebnis zusammen (außer natürlich in "Beas Bistro"). Der geringste Grad der Zusamenschreibung ist die mit dem Bindestrich. Im Englischen ist das meist nicht der Fall; es gibt jedenfalls in dieser Hinsicht keine klare Regel, was die Schreibung angeht. Doch daß hier im Deutschen wie im Englischen zwei Substantive verbunden — wie auch immer verbunden — nebeneinander stehen, ist gegeben; nur die deutsche Schreibung zieht die beiden zusammen (und daran wollten einige Reformer ebenfalls fummeln).
Aber in dem Satz "Etwas Wirkungsvolles muß geschehen" stehen gar nicht zwei Nominalausdrücke nebeneinander. Es ist nämlich nicht das Wirkungsvolle, das das "etwas" näher bestimmt, sondern hier bestimmt "etwas" das Wirkungsvolle näher. Dieses "etwas" ist hier Attribut zum Substantiv "Wirkungsvolles". Wörter sind in ihrer Klassenzugehörigkeit nämlich gar nicht ein für allemal festgelegt; da gibt es eine gewisse Konvertierbarkeit. Wenn wir "du" auch zuerst unter Personalpronomen studieren, dann ist es trotzdem, wenn wir jemandem das Du anbieten, eben ein Substantiv, ein Neutrum. Eine Fünf in Grammatik wird auch nicht dadurch erträglicher, daß hier eine Kardinalzahl zu einem femininen Substantiv konvertiert ist. Nach der Analyse, die Herr Aschenbach vorschlägt, müßten wir zunächst annehmen, daß hier einem Nominalausdruck ein diesen näher bestimmendes Adjektiv folgt, — was jedoch in der deutschen Syntax sonst wirklich eher ungewöhnlich ist. Wir finden das m. E. bei uns nur in dem Einzelfall "Vater unser" (nach dem Lateinischen) und in der Gruppe von "Hänschen klein" und "Röslein rot". Natürlich könnte man auf "alles folgende" hinweisen; aber da meine ich doch, daß "alles" das "folgende" näher bestimmt und nicht umgekehrt. Aber genau hier sehen wir ja die Sache verschieden.
Auch daß wir bei den Adjektivsubstantiven drei Geschlechter und beide Zahlen haben, sehe ich nicht als Zeichen einer Ellipse. Wenn jemand "Die Nackten und die Toten" oder "Die Rote" schreibt oder "alles Kranke" wegschneidet, dann ist nur klar, mit welcher grammatischen Zahl und welchem grammatischen Geschlecht wir es zu tun haben, aber nicht im geringsten, was hier ausgelassen worden sein sollte. Wenn dagegen ein Arzt statt des kranken Beins das gesunde amputiert, da wissen wir, daß eben nur ein Bein verschütt gegangen ist und nicht alles Gesunde am Patienten. Den Adjektivsubstantiven geht man auch nicht an den Kragen, indem man von ihnen als "(schein)substantivierten Adjektiven" spricht und rhetorisch fragt: "Denn wie kann man das weibliche oder männliche Geschlecht verwenden, ohne sich etwas geschlechtsbehaftetes hinzuzudenken: der alleinstehende (Mann), die alleinstehende (Frau)?" Denn wie ließe ich den Arzt in mir "das Kranke" suchen, wenn er vorher schon genau weiß, daß es keinesfalls die Niere oder der Magen sein kann, sondern nur das Herz und anderes grammatisch Neutrale?



Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 22.10.2005 um 22.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2146

Ich möchte die Diskussion nicht unnötig verlängern, aber doch noch gerne unterstreichen, daß es mir keineswegs darum geht, irgend jemanden von der allein richtigen Schreibung von irgend etwas zu überzeugen. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß eine klare Grenze zwischen Substantivierung und Ellipse - und damit zwischen Groß- und Kleinschreibung - nicht zu ziehen ist. Deshalb sollte es dem Sprachgefühl eines jeden überlassen bleiben, ob er einen Ausdruck als adjektivisch oder als substantivisch empfindet.

Eine letzte Bemerkung möchte ich mir aber noch erlauben:
Herr Ludwig verwendet den Begriff "Adjektivsubstantiv". Akzeptiert man diesen Begriff, so muß man aber auch einräumen, daß Adjektivsubstantive sich anders verhalten als "normale" Substantive. So lassen sie sich im Gegensatz zu "echten" Substantiven mit "nichts" verbinden, z.B. "nichts Besonderes". Sie können ihre adjektivische Herkunft trotz aller Verstellungskünste nicht ganz verheimlichen: "alles nur Mögliche", "nichts auch nur im geringsten Auffälliges", "etwas noch so Großes", "das besonders Wichtige". Die Großschreibung in solchen Wendungen widerspricht meinem Empfinden, aber ich möchte niemandem Vorschriften machen: wer es anders empfindet, mag auch getrost anders schreiben. Schließlich: wenn Adjektivsubstantive etwas anderes (Anderes?) sind als Substantive, was rechtfertigt dann den Schluß von der Großschreibung der Substantive auf die Großschreibung der Adjektivsubstantive?



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 26.10.2005 um 21.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#2160

Trübseliges aus Hannover

Aus dem "Editorial" des Mitteilungsblattes der Apothekerkammer Niedersachsen:

...die in einer Höhe angebracht ist, aus der man d e n Fahrer eines Autos die gewünschte Packung Kopfschmerztabletten überreichen kann.

Pommes Frites

D a s ein Autoschalter nunmehr rechtlich kein Problem darstellt...

Doch nun genug d e s T r ü b s a l s , fokussieren wir unser Handeln wieder auf denjenigen, um den es im Gesundheitssystem eigentlich geht. U m den Patienten. -


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 12.12.2019 um 13.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11036

»Sohn von Donald Trump erlegt vom Aussterben bedrohten Bock in der Mongolei

Donald Trump Jr. gilt als großer Fan der Großwildjagd. Nun soll der Sohn des US-Präsidenten in der Mongolei ein gefährdetes Schaf getötet haben - die Abschussgenehmigung besorgte er sich demnach erst im Nachhinein.«

(SPIEGEL ONLINE)

Ein einzelner Bock kann nicht vom Aussterben bedroht sein. Und ein totes Schaf ist auch nicht mehr gefährdet.


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 03.04.2020 um 17.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11093

Ähnlich: »Fast 100 vom Aussterben bedrohte Babyschildkröten in Brasilien geschlüpft« (spiegel.de)


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 26.10.2020 um 19.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11117

Jens Spahn geht es »den Umständen entsprechend ganz gut«. So jedenfalls formulierte er es gestern in einer Videobotschaft. Die Umstände – nämlich die Tatsache, daß er positiv auf das Coronavirus getestet worden ist – sind aber gar nicht so, daß ihnen ein ganz guter Gesundheitszustand entspräche. Genausogut könnte es ihm jetzt ganz schlecht gehen.

Wenn man sagt, es gehe Herrn Müller nach seinem Herzinfarkt »den Umständen entsprechend«, dann meint man damit, daß es ihm so geht, wie es einem halt geht, wenn man gerade einen Herzinfarkt überlebt hat: er springt nicht wie ein junger Gott im Krankenzimmer herum, aber er hat den Infarkt überlebt und wird jetzt weiter behandelt. Es geht ihm nicht gut, aber gemessen an den Umständen könnte es ihm viel schlechter gehen. Anders ausgedrückt: den Umständen entsprechend = gemessen an den Umständen gut.

Insofern ist das »gut« in Spahns Formulierung eigentlich überflüssig. Natürlich kann man weiter differenzieren zwischen Herrn Müller und Frau Schneider, der es bei gleichem Befund etwas schlechter geht als Herrn Müller. Ich vermute aber, daß die Ergänzung mit dem Bedürfnis zu tun hat, die Hauptbotschaft, nämlich daß man im Moment nicht um das Leben des Herrn Müller bzw. Spahn zu fürchten braucht, mit einem eindeutigen Signalwort zu markieren. Daß die Einschränkung »den Umständen entsprechend« in Kombination mit »gut« nicht mehr paßt, wird dabei in Kauf genommen oder gar nicht erst bemerkt.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2020 um 17.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11118

Feine Beobachtung, vgl. auch https://german.stackexchange.com/questions/10217/den-umst%C3%A4nden-entsprechend-gut


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 01.11.2020 um 12.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11119

Spiegel Online titelt: »Was von Trump bleibt – selbst wenn er gehen muss«. Das erschien mir auf Anhieb etwas schräg, denn das Wörtchen »selbst« drückt oft eine Steigerung gegenüber einer gedachten Referenzsituation aus. Hier dachte ich unwillkürlich an den entgegengesetzten Fall, nämlich daß Trump nicht gehen muß, also im Amt bleibt. Dann aber ist die Frage, was von ihm bleibt, unsinnig, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Anders ausgedrückt: »Wenn Trump im Amt bleibt, wird folgendes von ihm bleiben« ergibt keinen rechten Sinn. Deshalb scheint die Steigerung »Selbst wenn Trump nicht im Amt bleibt, wird folgendes von ihm bleiben« in dieser Aussage keine sinnvolle Referenz zu haben.

Hier scheinen mir zwei Aussagen miteinander verschränkt zu sein: 1. Wenn Trump abgewählt wird, bleibt von ihm folgendes, 2. Selbst wenn Trump abgewählt wird, wird nicht alles wieder so sein wie vorher. Bei Aussage 2 liegt die Referenz demnach auf einer anderen Ebene, etwa in der Fragestellung: Was muß geschehen, damit von Trump nichts übrigbleibt? Daß die Demokraten den Senat übernehmen, wird allein zum Beispiel nicht reichen, wenn Trump im Amt bleibt. Aber selbst wenn Trump gar nicht mehr im Amt ist, wird man seinen Einfluß noch spüren, weil seine Politik die amerikanische Gesellschaft nachhaltig verändert hat.


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 01.11.2020 um 12.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=346#11120

Nachtrag: Eine weitere, naheliegende Referenz wäre die Frage, wie wahrscheinlich eine Wahlniederlage Trumps ist. Also etwa so: selbst wenn er gehen muß = selbst wenn es soweit kommt, daß er abgewählt wird (was bisher aber noch längst nicht ausgemacht ist).



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