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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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11.09.2005
 

Stefan Stirnemann
Chaos oder Katastrophe?

Über Wertungen kann man immer streiten. Der eine steigt noch bei 16 Grad in den Bodensee, dem anderen sind 20 Grad bereits zu herbstlich.

Ich stelle, für Schwimmer und Nichtschwimmer, zusammen, was an der gegenwärtigen Lage nicht gut ist.

1) In der Schule soll unterrichtet und mit Noten durchgesetzt werden: „Ich bin dir Feind.“ Wer so etwas verfügt, mißbraucht sein Amt. Wer es mitmacht, hat die Wissenschaft aufgegeben und müßte sagen, was er sonst noch mitzumachen bereit ist. Natürlich, wird er sagen, nur unwichtige Dinge; hingegen bei wichtigen Dingen wird er den härtesten Widerstand leisten. Deswegen schont er jetzt seine Kräfte.

2) Es gibt eine große Untersuchung zu Zusammensetzungen mit Partizipien. Gesammelt und geprüft worden sind dafür u.a. 2104 Partizip-I-Bildungen: „Diese Basis stellt einen repräsentativen Ausschnitt der deutschen Gegenwartssprache dar und läßt klar erkennen, welchen Mustern die Wortbildung mit Adjektiven und Partizipien folgt.“ Was 1992 noch galt, wurde 1996 außer Kraft gesetzt und wird auch nach dem Vorschlag des Rates für Rechtschreibung nicht wiederhergestellt. Theo Ickler muß sich in einem Sondervotum dafür einsetzen, daß „fleischfressend“ etwas anderes ist als „Fleisch fressend“. Die deutsche Sprache versucht, sich mit einem Sondervotum für ihr Recht zu wehren; man wird sie natürlich abweisen. Peter Gallmann lehrt als „Richtiges Deutsch“: „In Verbindung mit dem Verb ‚sein‘ ist die Zusammenschreibung vorzuziehen: Dieses Vorgehen ist zeitsparend (Zeit sparend).“ Was sehr selten vorkommt, muß als Klammer erwähnt werden, weil man die eigene und eigensinnige Theorie retten will. Roman Looser, wie Gallmann im Rat für Rechtschreibung, meinte: „Mir ist es egal, ob ich ‚Gämse‘ oder ‚Gemse‘ schreibe, ‚Aufsehen erregend‘ oder ‚aufsehenerregend‘. Der Text wird nicht besser, ob ich die eine oder andere Variante verwende. Doch ich stehe für die neuen Rechtschreibregeln ein, auch weil die Erziehungsbehörden in den deutschsprachigen Ländern das so beschlossen haben.“ Das sind zwei Beweggründe, die sich sehen lassen: Gleichgültigkeit und Gehorsam.

3) Ulrich Knobel läßt in seinem Heft „Übungen zur Rechtschreibung“ die Schüler einüben, daß nur „Es tut mir Leid“ richtig ist. Das Heft ist heute noch im Gebrauch, und es ist teuer: es sind 62 Seiten, eine Seite kostest fast einen Franken. Peter Gallmann vermerkt trocken in einer Liste „gebräuchlicher Verbindungen“: „leidtun (daneben auch: Leid tun).“ Er unterrichtet die Käufer seines Buches nirgends davon, daß er und seine Kollegen diese gebräuchliche Verbindung bis vor kurzem noch ganz anders bestimmten. Im Vorwort schreibt er: „Der Zweck des Buches ist unverändert geblieben: ein Lehrmittel zu sein, das genau und zuverlässig über grammatisch-orthographische Erscheinungen unserer deutschen Sprache Auskunft gibt. Dass das Buch über seinen zuerst engeren Benützerkreis hinaus heute auch in Schulen gebraucht wird, in ungezählten Büros der Verwaltung und von Betrieben, dass es Redaktionen und Redaktionssekretariaten Hilfe bietet, erfüllt uns mit Dankbarkeit.“ Dankbarkeit ist ein schönes Gefühl, man könnte sich aber auch verpflichtet fühlen, von Schule, Verwaltung und Betrieben Unsinn fernzuhalten.

4) In den Mitteilungen 2/2005 des Sprachkreises Deutsch (SKD) stellte ich den Erziehungsdirektoren sechs Fragen. Die letzte lautete: „Sind die Erziehungsdirektoren bereit, zum Wohle der Schüler und entgegen dem Beschluss der Kultusminister die ganze Neuregelung auszusetzen, bis eine tragfähige Grundlage gefunden ist?“ Die bisher beste Antwort hat der Kanton Bern gegeben.
Die Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich, Frau Aeppli, antwortete: „Sprache lebt! Das zeigt sich auch in der gegenwärtig vor allem von Deutschland beherrschten Diskussion über die Reformen der Rechtschreibung.“ Wir besprechen ernsthaft, ob man das Wort ‚sogenannt‘ als Wort anerkennen soll und ob ‚8fach‘ einen Bindestrich verdient – was hat das mit dem Leben der Sprache zu tun? Und was hat eine Erziehungsdirektorin mit dem Leben der Sprache zu tun? In den neuen Wörterbüchern, welche auch Frau Aeppli als „Quellen“ der jetzt notenwirksamen Rechtschreibung empfiehlt, gewinne ich keine Klarheit darüber, ob „unter Anderem“ und „vor Allem“ richtig ist. Und solcher Fragen wegen braucht man diese Bücher, nicht wegen „Fisch“, „Vogel“ und „Esel“. Im Kanton Zürich, wohl nicht zufällig dort, ist die ganze Neuregelung notenwirksam geworden, also auch das, was „strittig“ ist. Frau Aeppli schrieb dazu: „Der ‚Rat für deutsche Rechtschreibung’ arbeitet an Änderungsvorschlägen. Es ist davon auszugehen, dass einige dieser Vorschläge umgesetzt werden, allerdings im Sinne einer Erweiterung der zugelassenen Varianten. Ein Zurück ausschliesslich zur alten Rechtschreibung ist jedoch nicht geplant.“ Wenn doch bei der Sache überhaupt etwas geplant wäre! Wir erinnern uns, was das Haus Duden über die angebliche Verminderung der Regeldichte schrieb: „die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel“. Dazu ist Politik geworden: Wirksamkeit ohne Inhalte.

5) Man hört immer wieder von der Schwierigkeit der sogenannten alten Rechtschreibung. Sogar die Bildungskommission des Schweizer Nationalrates weiß von ihren Mängeln (so daß man fragt, warum sie nicht lange vor 1996 wirksam dagegen einschritt: Steuern erhöhen, Notstand ausrufen, das Heer mobilisieren). Auf diesen Netz-Seiten ist es Herr Jochems, der in großer Treue und Eindringlichkeit immer wieder schreibt, daß wir vor 1996 eigentlich gar nicht richtig schreiben konnten. Nehmen wir das einmal als gegeben, so ist die einzige Frage, ob der Schaden behoben wurde.

Es regnet immer noch ins Haus. Der Handwerker entschuldigt sich: „Vorher war es ja auch nicht in Ordnung.“ Eine andere Entschuldigung brachte Roman Looser vor: „Ich bin nicht der Meinung, dass die neuen Rechtschreibregeln perfekt sind, eben weil sie so wie jede Regelung, die nicht von einer Person allein gemacht wird, ein Kompromisswerk sind.“ Kürzlich kam Hänslein zum drittenmal zu spät zur Schule: „Unterwegs hat mich eine Kuh angehalten, meinen Rucksack durchsucht, mein Pausenbrot beschlagnahmt und sogleich aufgegessen. Dabei hat sie sich verschluckt, sie mußte furchtbar husten, und ich mußte ihr den Rücken klopfen – so habe ich die entscheidenden fünf Minuten verloren und bin zu spät.“ Warum etwas schlecht herausgekommen ist, spielt in zweiter und dritter Linie eine Rolle. In erster Linie muß man festhalten, daß es schlecht herausgekommen ist und daß es gründlich verbessert werden muß. Wer gäbe den Auftrag dazu nochmals denselben Handwerkern? Das macht nur der Politiker, der nicht sein eigenes Geld ausgibt.

6) Zur ‚Norm‘ von 1901: sie ist im ganzen neunzehnten Jahrhundert erkämpft worden. Man mußte wählen zum Beispiel zwischen ‚Es ist Schade/es ist schade‘, ‚stetig/stätig‘, ,bischen/bißchen‘, ‚Schaar/Schar‘, ‚das Kissen/Küssen‘. Für alle, die es anders gewohnt waren, war die amtliche Festlegung ein Höllenzwang und Ärgernis. Gottfried Keller schrieb in einem Brief: „Aber freilich blutet mir das Herz dabei, wenn ich in dem verwüsteten Buchstabengärtlein meiner Kindheit so einsamlich dastehe.“ Er war dabei, in seinen Gedichten das ‚d‘ aus ‚todt‘ zu entfernen. Die Rechtschreibkommission von 1876 hatte diese Festlegung mit dem Hinweis gestützt, daß August von Platen und Gustav Freytag ‚tot‘ bevorzugten. Ein Trost? „Aber etwas anderes ist es, wenn eine beliebig zusammengezogene Konferenz von Fachmännern eine neue Wörterschreibung ausheckt, und wenn dann versucht werden soll, von der Schulverwaltung her durch die mehr oder weniger unwiderstehlichen Einflüsse, die sich da geltend machen, der Nation als solcher an Stelle des alten einen neuen Brauch aufzudrängen oder einzuschmuggeln“ - so lautet eine Stellungnahme aus dem neunzehnten Jahrhundert. Und doch: wenn man sieht, was möglich gewesen wäre, wenn sich Jacob Grimm, Konrad Duden und der ‚Algemeine ferein für fereinfahte Deutse rehtsreibung‘ mit ihren Vorstellungen durchgesetzt hätten, so kann man mit der ‚Norm‘ von 1901 zufrieden sein. Ich setze Anführungszeichen, weil 1901 eigentlich Wegweiser in gute Richtungen und Verbotstafeln für schlechte gegeben wurden. Heute leisten wir uns das Vergnügen, die Auseinandersetzung des neunzehnten Jahrhunderts zu wiederholen. Wer kann sich dieses Vergnügen leisten? Wieder der Politiker, der nicht das eigene Geld dafür ausgeben muß. Es sind ja die Eltern, die den Duden 2004 und den Wahrig 2005 kaufen.

Was ist jetzt zu tun? Wer denkt, daß es so, wie es ist, nicht gut ist, muß handeln. Da der Anspruch, die deutsche Rechtschreibung zu beschreiben, einmal gegeben ist, muß er auch erfüllt werden. Der Rat für Rechtschreibung ist dazu nicht in der Lage; hier muß man mit der Arbeit ansetzen. Natürlich kann man auch Begriffsbestimmungen durchführen und darüber reden, ob eine ganze oder eine halbe Katastrophe vorliege. Und natürlich kann man von ferne mit mildem Blick aufs Getümmel schauen und schmunzelnd alles für nicht so wichtig erklären. Man kann auch denen, die es wichtig nehmen, zurufen, daß alles oder vieles keinen Sinn habe, daß es zu spät sei und was es sonst noch für Aufmunterungen gibt. Vor Troja rief der zeitweise mutlose Thersites den Griechen zu: „Laßt doch heim in den Schiffen uns gehn!“ Ihm gab Odysseus die verdiente Kopfnuß und riet ihm, nicht auf die Heimfahrt zu hoffen: „Denn noch wissen wir nicht, wohin sich wende die Sache.“ (Homer, Ilias, Zweites Buch, ab Vers 211, Übersetzung von Johann Heinrich Voß) Und sogleich besann sich Thersites eines Besseren, war er doch auch ein Grieche: „Edler Odysseus, ich sehe es ein, du kündest es richtig. Wenn die Götter sogar wie wir dem Schicksal erliegen, wieviel mehr wird dann der Duden das Schicksal erleiden, das das weise Geschick, wie alle hoffen, ihm zuwog. Auch den Ministern sind wohl die schwersten Prügel verheißen. Sei’s so oder auch nicht: wir wollen die Sache befördern, daß wir einst in ferneren Zeiten, zurück in der Heimat, Heldentaten berichten und nicht von seligem Schlummern.“

Wohin wendet sich die Sache? Blicken wir nach Bern: Dort hat ein Einzelmensch, Großrat Christoph Stalder (FDP) in voller Unabhängigkeit, allein mit seiner Überzeugungskraft und seinem Ansehen, einen ganzen Regierungsrat und ein ganzes Parlament zu einem guten Entschluß gebracht. Er hat nichts angekündigt, nichts versprochen, nicht geschimpft: er hat gehandelt. Wer hätte das erwartet? Freuen wir uns auf das Unerwartete und tun wir etwas.



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Kommentare zu »Chaos oder Katastrophe?«
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 11.09.2005 um 17.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1679

Kleine Berichtigung

Obiger schätzt wie die anderen Freunde von "Schrift & Rede" jeden Beitrag von Stefan Stirnemann, so natürlich auch diesen. Eine kleine Berichtigung scheint trotzdem nötig:

Auf diesen Netz-Seiten ist es Herr Jochems, der in großer Treue und Eindringlichkeit immer wieder schreibt, daß wir vor 1996 eigentlich gar nicht richtig schreiben konnten. Nehmen wir das einmal als gegeben, so ist die einzige Frage, ob der Schaden behoben wurde.

Der hervorgehobene Gliedsatz ist mißverständlich. Gemeint ist offenbar nicht, daß die Fähigkeit zum richtigen Schreiben im argen lag, sondern daß die Voraussetzung dazu in Form einer leicht einzusehenden unwidersprüchlichen Norm fehlte. Wenn aber an der Schreibnorm etwas nicht stimmt, dann läßt sich auch die Richtigkeit des Schreibens nicht bestimmen.

Was ich mit Treue und Eindringlichkeit hier immer wieder schreibe, ist dagegen dies: In zwei für das alltägliche Schreiben wenig bedeutsamen Randbereichen war vor 1996 eine solche in sich widersprüchliche Einzelfallregelung eingetreten, daß absolute "Normgerechtigkeit" nur durch den beständigen Griff zum amtlichen Rechtschreibwörterbuch zu erreichen war. So etwas ist niemandem zuzumuten, auch der Schreibelite nicht. Wie immer die Auseinandersetzung mit der Neuregelung ausgeht, die Rückkehr dorthin sollte man der Schreibgemeinschaft nicht antun.

Ansonsten verwirren die Nachrichten aus der Schweiz. Schon am 4. 8. schrieb "Der Bund": Ab dem neuen Schuljahr dürfen nur noch Berner Schülerinnen und Schüler im dunkeln tappen. Solothurner Kinder müssen hingegen «im Dunkeln tappen» schreiben, sonst wird ihnen ein Fehler angestrichen. Der Berner Erziehungsdirektor Mario Annoni (fdp) hat am Dienstag entschieden, die neue deutsche Rechtschreibung frühestens in einem Jahr definitiv einzuführen («Bund» von gestern). Bis dahin wird zwar weiterhin nach den neuen Regeln unterrichtet, alte Schreibweisen werden jedoch nicht als Fehler gezählt.

Wollen wir wetten, daß weder "im dunkeln tappen" noch "im Dunkeln tappen" zum Schreibwortschatz von Schülern gehören, und "jemandem feind/Feind sein" und "not/Not tun" schon gar nicht. Welcher Sprachteilhaber – alt oder jung – wird nach den Flutkatastrophen dieses Jahres noch den traditionellen (negativen) Sinn mit "auf dem trockenen/Trockenen sitzen" verbinden? Wir führen Phantomdebatten, wenn wir unsere Kritik an Scheinproblemen festmachen. Die Qualität einer Rechtschreibung ist an dem zu messen, was tatsächlich in den Texten erscheint. Was der fehlgeleitete Linguistenfleiß der einen oder der anderen Sorte noch in der Abstellkammer bereithält, interessiert nicht.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 11.09.2005 um 19.25 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1681

Lieber Herr Jochems,
Stefan Stirnemann gebraucht ein recht witziges Bild, das mir gefällt:

»Es regnet immer noch ins Haus. Der Handwerker entschuldigt sich: ›Vorher war es ja auch nicht in Ordnung.‹«

Bei dem Bild möchte ich bleiben und fragen: Wenn von unserem alten Dach zwei Ziegel fehlten und es ein wenig hereinregnete, dann brauchten wir doch nicht sämtliche Ziegel und den ganzen Dachstuhl von einem Handwerkerteam abtragen und durch ein neu konstruiertes ersetzen lassen! Es regnet nämlich jetzt an Dutzenden von Stellen herein! Das alte Dach steht noch unversehrt in der Wiese, den meisten ist es wohlvertraut.
Was Ihrem Wunsch entspricht, ist – anders kann es doch gar nicht sein – ein Auskämmen der wenigen willkürlichen Festlegungen im Duden von 1991. Das geht aber doch nur, wenn wir auf den Resetknopf drücken und zum Ausgangspunkt zurückkehren. Andernfalls läuft es auf ein nimmerendenwollendes Herumflicken an der Schriftsprache hinaus.
Persönlich habe ich nicht unter der angeblich willkürlichen vorreformatorischen Rechtschreibung gelitten. Obwohl ich beruflich immer viel und möglichst richtig habe schreiben müssen, stand mein Duden selten genutzt im Regal. Also lassen wir doch gemeinsam dafür einstehen, das ansonsten intakte Dach wieder aufzurichten und zu flicken, sprich: die fehlenden zwei Ziegel zu ergänzen. Und schon sitzen wir behaglich im Trockenen.

Vom Rat für Rechtschreibung können wir nichts erwarten. Das war zu befürchten. Handeln wir, ein jeder dort, wo er gerade steht!



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.09.2005 um 06.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1684

Das Übel scheint darin bestanden zu haben, daß "richtiges Schreiben" definitorisch (durch den normsetzenden Akt der sich für zuständig haltenden KMK) mit "dudengemäßer Schreibung" gleichgesetzt war. Sobald man dies aufhebt, verschwindet das Problem. Niemand würde ja wohl behaupten wollen, daß vor der Neuregelung kein Mensch so schreiben konnte, wie es üblich war.
Wir stoßen also immer wieder auf den Dudenfetischismus. "Den Duden braucht jeder" - dies als Werbespruch und nicht als Verdammungsurteil aufgefaßt zu haben muß sich die deutsche Sprachgemeinschaft vorwerfen lassen.



Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.09.2005 um 09.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1685

Wir stoßen also immer wieder auf den Dudenfetischismus. "Den Duden braucht jeder" - dies als Werbespruch und nicht als Verdammungsurteil aufgefaßt zu haben muß sich die deutsche Sprachgemeinschaft vorwerfen lassen.

Komisch, fehlt hier nicht ein logisches Minuszeichen, wenn wir unsere eigene Auffassung darstellen? Also: "Den Duden braucht jeder" - dies nicht als Werbespruch, sondern als Urteil von Gesetzesrang aufgefaßt zu haben muß sich die deutsche Sprachgemeinschaft [mit ihrem Dudenfetischismus] vorwerfen lassen.

Die Version von Professor Ickler "macht Sinn", wenn man den Standort umdreht: "Den Duden braucht jeder" - dies als Werbespruch und nicht als Verdammungsurteil aufgefaßt zu haben muß sich die deutsche Sprachgemeinschaft nach der Vorstellung der Dudenfetischisten bzw. zur Begründung des Reformbedarfs vorwerfen lassen.



Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 12.09.2005 um 10.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1686

Bleibt es nun eigentlich dabei, daß alle im Zuge der Reform eingeführten Schreibungen als gültig erhalten bleiben? Dann läuft ja die ganze Tätigkeit des "Rates" nur auf Vermehrung der zulässigen Varianten hinaus.



Kommentar von nos, verfaßt am 12.09.2005 um 14.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1695

Chaos in der Kinderstube

Vielleicht ist es wichtig, einen Begriff herüberzuholen, den Herr Prof. Jochems im Leitfaden „Hoher Lerneffekt oder Katastrophe“ in seinem letzten dortigen Beitrag verwendet hat. Er heißt Universalorthographie, und dieses Reizwort paßt vermutlich sehr gut in die hier zugespitzte Betrachtung von Herrn Stirnemann, die sich um eine Beurteilung und Einschätzung der Rechtschreibreform bemüht: „Chaos oder Katastrophe?“

Unabhängig von Prof. Jochems – meine Eigendefinition ist bzgl. der eventuellen Mißverständnisse korrigierbar – bezeichne ich „Universalorthographie“ als eine Methode, die versucht, sämtliche Begriffe – die z.B. im deutschen Sprachraum (als Eigenschöpfung, Entlehntem oder aus Fremdsprachen Übernommenem) vorkommen – darzustellen und zu normieren. Sichtbar wird das Volumen der dabei entstehenden Wörterliste in einem von Ausgabe zu Ausgabe zwangsläufig umfangreicher werdenden Nachschlagewerk.
Die naturgemäße Einschränkung dabei: Kein Mensch spricht alle Sprachen, kein Mensch kommt je in Berührung mit einer der Persönlichkeit unangemessenen Terminologie. Kein Mensch braucht alles!
Keiner braucht Universalorthographie, sondern allenfalls Hilfe - oder aber Souveränität - im eigenen Sprachrevier.

Als Lehrer denke ich von der anderen Seite her. Mich interessiert das Nahe, Begrenzte, Kindgemäße.
Als Grundschullehrer erscheint es mir nötig, zunächst einen „Laufstall“ zu bauen, wobei ich auf die Vorübungen der Eltern angewiesen bin. Sie haben bis zu dem Zeitpunk, an welchem ich die Sprachpflege übernehme, das Kind in der Sprachwiege geschunkelt, haben die ersten Krabbelübungen durchgeführt, und erst jetzt, wenn sich das Kind allmählich aufrichtet, beginne ich, als staatlich vorgesehenes Überlieferungsmedium, sozusagen als ausgebildeter Sprachorthopäde, mit der Ausbildung der Muskulatur, der Formung der Sprech- und Schreibabsichten, dem Ausmerzen des Ungenormten, dem Hinterherschnüffeln nach den spracherzieherischen Fehlern ...
Dem Hauptschullehrer entsteht die Pflicht, das Revier zu erweitern, und dabei muß im heutigen Zeitalter der angeblich geförderten Individualität sehr wohl darauf geachtet werden, daß es Individuen gibt, die keine Anstalten machen, den Laufstall zu verlassen, daß es jede Menge Sprachzöglinge gibt, die sich prinzipiell in anderen Laufställen aufhalten oder auf anderen Weiden grasen – und auch solche, die mit einer gewissen Sicherheit bis zu den Grenzen des Horizonts ausschreiten. Es ist schwer, all diese Zöglinge unter einen Hut zu bringen. Man muß es wahrscheinlich auch nicht, denn jeder mag nach seiner Fasson selig werden!

Ich, als ehemaliger Lehrer, habe ein gewaltiges Problem mit der sachlichen Einschätzung der Rechtschreibreform. Jahrelang habe ich in Grund- und Hauptschulen Deutschunterricht erteilt und selbst Legasthenikerkurse geleitet.
Dabei habe ich mich in der Grundschule streng daran gehalten, eine sog. Wörterliste (diese entsprach aufgrund von empirischen Untersuchungen den etwa 1000 häufigst vorkommenden Begriffen im kindlichen Grundwortschatz) zu vermitteln. Ich habe diese Wörterliste gerne, mit Ehrgeiz, zudem umfassend, nebst der zu bildenden Wortfamilien, Wortzusammensetzungen, Analogien etc., an Bub und Mädchen gebracht, weil sie genau jener Arbeitshypothese entsprachen, die ich oben als „Laufstall“ bezeichnet habe, und die zudem in den zweiten Bereich hineinlappten, den ich als Reviererweiterung definierte.

Ich komme nun nicht mehr damit zurecht, daß eine neue Laufstallverordnung ins Leben gerufen wurde, und neuerdings Laufställe gebaut werden, die handwerkstechnisch derart instabil erscheinen, daß man zwar nicht um Leib und Leben der Kinder fürchten, aber doch immerhin schwerste Beulen, ggf. Gehirnerschütterungen oder chronische Kopfschmerzen befürchten muß.

Ich bezeichne die Zugriffmethode der Rechtschreibreform als ein gewaltiges „pädagogisches Chaos“, denn sie hat vergleichbar mit dem Ansatz der Mengenlehre die natürlichste aller dualen Beziehungen Elternhaus/Kind zum Angriffspunkt genommen. Sie hat jenen wichtigsten Erziehungsfaktor, der möglicherweise als Grundlage der Intuition anzusehen ist, abgenabelt. Sie hat ihm die Bescheinigung der Untauglichkeit ausgestellt.
Ob es nötig war, gerade diesen Bruch zu initiieren – selbst wenn er 1000fach durch fachwissenschaftliche (darunter auch widersprüchliche) Erkenntnisse notwendig erschien –, wage ich zu bezweifeln. Somit gerät auch die Wissenschaft in den Verdacht, ein Chaos ausgelöst zu haben.



Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 12.09.2005 um 23.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1703

Mit vergleichenden Bildern läßt sich immer wieder nur unbefriedigend argumentieren. Daß sie zwangsläufig hinken, entschuldigt nichts, sondern zeigt, wie wenig tauglich sie sind.

Wenn ein Dach abgetragen ist, steht der Dachstuhl nicht intakt mit allen Ziegeln drauf nebenan in der Wiese. Man kann vielleicht die Balken und die Ziegel wiederverwenden, aber ansonsten entsteht eben ein neues Dach. Ins Dach vor 1996 mag es an einigen Stellen hereingeregnet haben, aber die paar Tropfen liefen irgendwo ins Leere oder sind verdunstet, jedenfalls hat es niemand gemerkt, und darunter gelitten hat erst recht keiner. Auch die Reformer natürlich nicht. Das Beispiel gefällt mir trotzdem. Durch ein ehemals kleinbürgerliches Münchner Wohngebiet mit vielen schnuckeligen »Eigenheimen«, wie sie im Dritten Reich für das einfache deutsche Volk so musterhaft entstanden und die heute noch von nach wie vor eher einfachen, aber inzwischen begütert gewordenen Leuten bewohnt werden, zogen neulich Trupps von »Dachdeckern«, die den unbedarften Bewohnern - bevorzugt »so genannten SeniorInnen« - anboten, kostenlos ihr Hausdach auf eventuelle Mängel hin zu inspizieren. Die kostenlose Inspektion führte natürlich regelmäßig zu dem eindringlichen Rat, das Dach neu zu decken, und es gab Einfältige genug, die einen solchen Auftrag in gutem Glauben, ohne Gegengutachten oder Gegenangebote einzuholen, erteilt haben. Ein gutes Geschäft für die schlitzohrigen ambulanten Dachdecker. Die Auftraggeber sind jetzt natürlich stolz auf ihre neuen Dächer und beleidigt, wenn man ihnen bedeuten will, sie hätten sich übers Ohr hauen lassen.

Ob Dach oder nicht Dach – auch in unserem Fall werden diejenigen, die für die Auftragsvergabe verantwortlich sind, auf keinen Fall zugeben, daß sie sich haben nasführen lassen, sondern die Errungenschaft wird mit Zähnen und Klauen verteidigt, und wenn sie noch für jeden erkennbar so schlecht ist und auf Jahre hin absehbar immer wieder nachgebessert werden muß.

Und leider können wir darüber noch so kluge und richtige oder abwegige Betrachtungen anstellen, Norm oder nicht oder was Norm überhaupt ist, zum alten Duden zurück oder ganz was anderes, das ist diesen Leuten, auf die es derzeit leider ankommt, völlig egal. Wenn sich an den »Machtverhältnissen« nichts ändert, wird unsere noch so leidenschaftliche und intelligente Diskussion an den Rechtschreibverhältnissen nichts ändern.

Professor Jochems wird seltsamerweise von vielen, obwohl wir es – im Gegensatz zu den von ihm immer noch freundlicherweise als »befreundete Seiten« bezeichneten Diskutanten – bei uns mit ungewöhnlich klugen und kenntnisreichen Reformgegnern zu tun haben, wenig verstanden. Auch ich bin in manchem anderer Ansicht als er, aber ich glaube, er wird zu schnell als nicht streitbar genug oder als zu kompromißbereit eingeschätzt. Aber er mahnt doch hauptsächlich dazu, die Augen vor den Tatsachen nicht zu verschließen. Was tun, wenn die Reform die überwältigende Mehrheit der Deutschen kein bißchen mehr aufregt und die Leute sich mit dem Zustand abfinden?

Unser Eifer stößt doch bei viel zu vielen Menschen, auch wenn sie durchaus erkannt haben, daß die Reform ein Schuß in den Ofen war, auf Unverständnis. Mit Empörung ist niemand mehr hinter diesem Ofen hervorzubringen. Den Leuten ist das inzwischen gleichgültig. Sie wollen von den Reformern und von uns gleichermaßen in Ruhe gelassen werden.

Um das zu retten, was uns wichtig ist, müßte man eben erst einmal herausfinden, was wir eigentlich retten wollen, und zum andern, welche Möglichkeiten es dafür gibt.

Ich glaube, dies ist der Stand der derzeitigen Diskussion. Die Antworten auf diese Fragen habe ich natürlich auch nicht.

Heute haben wir unseren Kater mit einem Augenleiden in die Tierklinik gebracht. Momentan – das gebe ich zu – ist mir das, auch angesichts aller in der Welt vorhandenen Unbill von New Orleans bis Burkina Faso, viel wichtiger als irgendwelche Erörterungen um Normen oder Dächer, die keinen Einfluß auf die Ereignisse haben. Zuständig bin ich nur für das in meiner Reichweite liegende – oder Liegende? Das hätte ich auch vor der Reform nicht gewußt.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 13.09.2005 um 13.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1708

Ebenen

Es ist schon oft gesagt worden: Der unerquickliche Zustand der augenblicklich praktizierten deutschen Rechtschreibung treibt "das Volk" ganz gewiß nicht auf die Barrikaden. Er wird nicht einmal wahrgenommen. Hier knüpft die realistische Betrachtungsweise Prof. Jochems´ an, der uns alle vor übertriebenen Hoffnungen auf rasche Besserung, gar Rückkehr zum status quo ante bewahren möchte. Soll man sich also resignierend mit der Misere abfinden? Ich meine, die geistige Elite hat die Pflicht, unermüdlich zu mahnen und auf das Schlechte, Verfehlte einer rückschrittlichen, reaktionären Reform hinzweisen. Pflicht der Sprache gegenüber, aber auch den nachfolgenden Sprachteilhabern gegenüber. Da sind kämpferische Idealisten gefragt, die trotzdem nicht realitätsblinde Träumer sein müssen. Fortiter in re... Wer hat noch an die deutsche Wiedervereinigung geglaubt außer einigen unbeirrbaren, weitblickenden, geschichtlch denkenden Politikern? Am Ende waren sie die wahren Realisten. -

Norbert Schäbler ist zu danken, daß er immer wieder die schulische Perspektive ins Spiel bringt. Die Sorgen und Nöte eines Grund- und Hauptschullehrers sind gänzlich anders geartet als die Beschwerden, die einen hochtrainierten sprachlichen Leistungssportler umtreiben. Umso bemerkenswerter, daß auch Herr Schäbler in der reformierten Schreibung keinen Gewinn für die Schule sieht.



Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 13.09.2005 um 16.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1710

Empirissimus

Ich verstehe zu wenig von der Empirie, kenne lediglich die hoch trabenden (hochtrabenden?) Begriffe Verifikation und Falsifikation, und gerade deshalb traue ich dem ganzen Frieden nicht, weil mich schon die Grundbegriffe verwirren.

Wenn mich als Lehrer und Übermittler einer Tradition (als da sind: Sitten, Gebräuche, Veränderung in der Zeit, unterschiedliche Gewohnheiten in den Zeiten, und auch der letztgeübte Usus aus der Not) meine Berufspflicht stichelt, dann muß ich doch nichts anderes tun als zu tradieren, bzw. zu vermitteln: zwischen einer älteren („gefälleartig“) hin zu einer jüngeren Generation. Um Verständnis muß ich werben und mich wappnen gegen die allzu kritische Betrachtung meiner Ansprechpartner.

Man denke sich nun einen Lehrer, der das tut, der sich gründlich vorbereitet, der den Zeitgeist und den jugendlichen, hinwegfegenden Elan einkalkuliert bei seinen Stundenvorbereitungen. Man denke sich diesen Pädagogen, letztlich Meinungsführer und Dirigenten, bis in die kleinsten charakterlich notwendigen Wesenszüge durch ... Und man überlege sich genau, an welchen Zielvorstellungen er bastelt, welches Quellenmaterial er auswertet, welches statistische und empirische Gerüst ihm zur Verfügung gestellt wird.

Ich will an dieser Stelle die Überlegungen tief greifend (tiefgreifend?) beeinflussen, denn eines ist ziemlich sicher: Der Lehrer findet in erster Linie das vor, was ihm die Schüler bieten, und er hat, wenn ihm der Tradierungsgedanke und die sinnvolle vorantreibende Entwicklung (meinetwegen Evolution und Emanzipation) wirklich wichtig sind, den verdammten Konflikt zu verinnerlichen, und er hat die gottverdammte Pflicht, einzugreifen, um eine wie auch immer geartete Verbesserung zu erreichen. Er kann und darf sich niemals der sog. „Verzärtelungspädagogik“ anschließen, denn das bedeutet nicht nur Stillstand, sondern den krassen Rückschritt, weil diese Form der Pädagogik sämtliches vorhergehende Schaffen entwertet und für null und nichtig erklärt.

Wir können doch in unserem begrenzten Dasein nur hinzulernen, wenn wir auf dem Vorbedachten aufbauen! Und wir müssen doch auch anerkennen, daß unsere Jugend mindestens so leistungfähig und auch leistungswillig ist, wie unsereins vor x Jahren.

Es ist ein Chaos, die Jugend zur Bequemlichkeit zu erziehen, und man darf den empirischen Erhebungen keinen Glauben schenken, die uns eine Degenaration des Nachwuchses suggerieren wollen! Wir, die Erwachsenen, sind und bleiben die Weichensteller, die schuldig werden!



Kommentar von Stefan Stirnemann, verfaßt am 15.09.2005 um 23.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1749

Scheindebatte

Es ist eine Ehre, mit Herrn Jochems zu streiten. Der Ritter klopft sich höflich auf die blecherne Brust (Blech ist leichter als Eisen), zieht das Schwert und haut es dem Gegner funkensprühend auf die behelmte Birne. Der aber dankt in edler Haltung, schlägt seinerseits dröhnend zu – und das ist das Leben der Ritter.

Den Vorwurf, an einer Scheindebatte mitzumachen, nehme ich an und weise ich zurück. Die ganze Reform ist Schwindel und Schein; wer etwas dazu sagt, steckt im großen Unsinn: aber er ist nicht schuld daran. Es waren die Reformer, die sich über „Ich bin dir feind“ und „es tut mir leid“ den Kopf zerbrochen haben. Wenn ihnen gesagt wird, daß sie ihrem Kopf und der Sprache Gewalt angetan haben, so ist es eine besonders schlechte Ausrede, das alles nicht so wichtig zu nennen. Gerhard Augst und Burkhard Schaeder haben zu ihrem Blödsinn mit „er ist ihm Feind“ aber „spinnefeind“ 1997 festgehalten: „Das ist in der Tat ärgerlich, selbst wenn die Schreibenden außerhalb des RS-Unterrichts diese Wendung sehr, sehr selten schreiben werden.“

Ich wünsche Herrn Augst und Herrn Schaeder nichts Böses, bin aber der Meinung, daß sie über die deutsche Sprache hätten schweigen sollen. Und Klaus Heller?

In der neuen Ausgabe des amtlichen Wörterverzeichnisses wird immer noch gewissenhaft unterschieden zwischen „ansträngen“ und „anstrengen“, „Kardätsche“ und „Kartätsche“: das sind Schulmeister-Kunststücke des 19. Jahrhunderts, die Herr Heller abschrieb, als er in großer Eile das Reform-Wörterverzeichnis zusammenstellte. Dem Verzeichnis ist seit neuestem zu entnehmen, daß „kennen gelernt“ zusammen geschrieben werden kann, wenn es „adjektivisch“ verwendet wird. Das gilt auch für „verloren gegangen“, aber offenbar nicht für „bekannt gegeben“. Auf dem Rückendeckel wird behauptet: „Allen, die professionell mit Schreiben zu tun haben, bietet der hier vorliegende authentische Text der amtlichen Verordnung nun die notwendige Sicherheit, die sie für ihre Arbeit brauchen.“

Wozu unterhalten wir Universitäten, wenn wir nicht einmal einfache Tatsachen unserer Muttersprache auf den Punkt bringen können? Und wer bezahlt den nächsten authentischen Text der amtlichen Verordnung?

Die Reformer und ihre Helfer in Ämtern und Ministerien sind heilfroh, wenn sie sogar von ihren Widersachern die Beschwichtigung hören, daß Rechtschreibung eigentlich nicht so wichtig und schon immer sehr schwierig gewesen sei. Sie wollen ungeschoren davonkommen. Wenn man sie davonkommen läßt, werden sie weitermachen.

Von den Nachrichten aus der Schweiz braucht sich niemand verwirren zu lassen. Der Kanton Bern hat entgegen der Empfehlung der Erziehungsdirektoren die Übergangszeit für die ganze Reform verlängert. So etwas erreicht nur ein Politiker, der Ansehen und Vertrauen genießt.

Es ist beruhigend zu wissen, daß Großrat Christoph Stalder (FDP) sich der Reform angenommen hat.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.09.2005 um 11.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1754

Einzelfestlegungen, Spitzfindigkeiten, Duden: Das ist ein Streit um Kaisers Bart. Da unsere Sprache ein lebender Organismus ist – das werden beide Seiten nicht müde zu betonen – wird es nicht möglich sein, alle Zweifelsfälle zu beseitigen, durch keine wie auch immer geartete Rechtschreibreform. Mir scheint, daß hier dasselbe Phänomen wirksam ist wie bei einer Überschuldung: für jedes gestopfte Loch reißen zwei neue auf.

Darin sind wir uns einig: Seit eine Reform der Rechtschreibung versucht wurde, haben sich die „verzwickten“ Fälle durch spitzfindige Einzelfestlegungen um ein Vielfaches vermehrt (ein Loch zu, fünf neue auf ...). Wie kommen wir da heraus? Wäre für uns als Passagiere nicht ein Boot mit „einem Loch“ demjenigen vorzuziehen, durch dessen „viele Löcher“ das Wasser hereinsprudelt? Was soll denn als Ausgangsbasis für eine Verbesserung dienen? Wer kritisiert, muß auch darauf eine Antwort geben. Ist die vorreformatorische Rechtschreibung nicht in Millionen von Schriftstücken aufbewahrt, die uns allen noch immer – und vermutlich noch lange – zugänglich sind? Und ist sie nicht – darauf kommt es eigentlich an! – in Millionen von Erwachsenenhirnen gespeichert? Fast alle Erwachsenen verfügen über ein intuitives Rechtschreibwissen, das der Darstellung im Duden von 1991 ziemlich nahe kommt! Wozu also diese ständige Duden-Schelte?

Was ist der Grund für das Starren auf „Spitzfindigkeiten“ und angebliche Duden-Willkür? Mir kommt dabei das Bild der autoritätsgläubigen Schulkinder in den Sinn, die jubeln, weil sie den alten Pauker losgeworden sind, den sie nicht mochten (obwohl sie bei ihm viel gelernt haben und eher das Bild fürchteten, das sie sich von ihm gemacht haben, nicht sein Wesen). Auch wenn der neue Lehrer gar nicht gut ist: den „alten“ wollen sie keinesfalls zurückhaben.
Dudengläubigkeit ist es, die ihrerseits Dudenschelte hervorruft. Wer sich vom Duden distanzieren will, kann das auch tun, ohne ihn zu verdammen. Der Duden selbst ist eine Krücke, eine dürftige Gehhilfe, nichts anderes als Menschenwerk, unvollkommen in seinem Versuch, schriftsprachliche Phänomene umfassend darzustellen und zu ordnen. Und doch wiederum wichtig, denn dieser Versuch entspricht dem tiefen Bedürfnis aller Lesenden und Schreibenden! Niemand muß sich der Norm unterwerfen, und doch tun die meisten es freiwillig. Haben wir denn eine andere Zusammenschau der Rechtschreibung? Es muß wirklich nicht der Duden sein. Aber gibt es etwas Vergleichbares? Worauf könnte man sich stützen?

Und noch einmal: Wenn wir die Dudenschreibung von 1991 nicht als Basis für Aufräumarbeiten akzeptieren: Was sollen wir zugrundelegen? Diese Antwort bleiben uns die Kritiker des Duden schuldig.
Wer schreibt, will und braucht keine Alternativen. Wer liest, wünscht sich ein einheitliches Bild ohne irritierende Abweichungen. Wer Auskunft sucht, möchte etwas Verbindliches hören. Wir haben eine natürliche Scheu vor Beliebigkeiten – und das mit Recht! Das So-oder-anders verstört nicht nur Kinder beim Lernen, sondern auch uns Erwachsene. Wir wollen uns auf eine einheitliche Schreibweise einigen; ohne daß es uns bewußt wäre, arbeiten wir im Einklang mit den übrigen Sprechenden und Schreibenden auf eine (sich ständig verändernde) Einheitlichkeit zu: wir schauen, wie es der andere macht und ahmen ihn nach. Gibt es viele unterschiedliche Vorbilder, driften die Teile auseinander – zumindest für eine gewisse Zeit. Vorausgesetzt, willkürliche Eingriffe durch den Staat unterbleiben, wird alsbald eine Tendenz zur Vereinheitlichung spürbar werden. Und am Ende stünde – da können wir sicher sein – ein Wörterverzeichnis (egal, von wem erstellt) mit neuen „verzwickten“ Einzelfestlegungen, gegen die wir dann wieder wie Schulkinder rebellieren dürfen. Es geht aber auch anders: in solchen Einzelfällen soll man selbst souverän entscheiden. Es leuchtet mir nicht so recht ein, weshalb man den Duden insgesamt ablehnen muß, nur einiger weniger, nicht zu beseitigender Fragwürdigkeiten wegen. Viele Löcher machen Angst. Mit einem wird man fertig.
„Strittige“ Einzelfestlegungen sind kein Indikator für die Funktionstüchtigkeit eines Gesamtsystems. Gerade die Reformer haben solche Fälle wie „radfahren“ und „Auto fahren“ mutwillig hochgespielt (obwohl auch diese Differenzierung nicht ganz und gar willkürlich ist). Wir können diese Kritik – sehr zum Vergnügen der Reformfreunde – weiter vorantreiben. Im Grunde fordern wir damit nichts anderes als die Reformer selbst: eine Reform der angeblich insgesamt mangelhaften deutschen Rechtschreibung. Tut mir leid, aber diesen Anachronismus zu begreifen, fällt mir schwer.

PS: Wir benutzen in diesem Forum alle die vertraute Rechtschreibung. Es ist nicht zu erkennen, daß sie ihren Zweck nicht erfüllen sollte. Sie erfüllt ihn hervorragend.



Kommentar von H. J., verfaßt am 16.09.2005 um 13.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1755

Nachtrag: Schauen wir uns die "Wiederherstellung der Einheitlichkeit" etwas näher an. Wenn es bei der staatlichen Regelungsgewalt in Rechtschreibfragen bleiben soll, läuft die Forderung auf die Rücknahme der Rechtschreibreform hinaus. Da die Regelung von 1901 zum Schluß in der von den Dudenredaktionen stark ausdifferenzierten Fortschreibung galt, müßte eben diese wieder in Kraft gesetzt werden. Es wäre aber auch eine andere Lösung denkbar. Die staatlichen Stellen könnten eine unabhängige Rechtschreibkommission bestellen, die in absehbarer Zeit ein völlig neues Regelwerk vorlegen müßte. Zur Mitarbeit darin ist aber kaum jemand unter den Sprachwissenschaftlern bereit, und eine politische Mehrheit für diese Lösung ist ebenfalls nicht vorstellbar. Im übrigen wäre nicht ausgeschlossen, daß die neue Kommission Teile des 1996er Regelwerks übernehmen würde. Hinter die Forderung, daß die "allgemein übliche" Rechtschreibung nicht einen Schwierigkeitsgrad aufweisen dürfe, der für die Mehrheit der Schreiber nicht in toto beherrschbar ist, führt ja wohl kein Weg zurück. "Üblichkeit" bedeutet eben immer "Konsens", d. h. "Mehrheitsentscheidung". Fazit: Vom Staat als Problemlöser ist wohl nicht mehr zu erwarten, als was jetzt geschieht: Beseitigung der schlimmsten Ungereimtheiten sofort, Berücksichtigung des beobachtbaren allgemeinen Schreibgebrauchs über einen längeren Zeitraum hinweg.

Bliebe also die Aufhebung der staatlichen Regelungsgewalt. Die zwei oder drei lexikographisch kompetenten verlagseigenen Wörterbuchredaktionen würden sich an den Schreibgebrauch halten und ihn entweder unter Einschluß der im Usus anzutreffenden Varianten dokumentieren oder aber eine einheitliche Schreibung als Empfehlung vorstellen. In den unfesten Randbezirken der deutschen Rechtschreibung würden diese Wörterbücher leicht voneinander abweichen. Die Schreibgemeinschaft würde sich aber daran gewöhnen, einen leichten Grad von Varianz zu tolerieren, und das würde auch auf die Beurteilungspraxis der Schulen durchschlagen. Dieser Vorschlag enthält für die Traditionsbewußten unter den Verteidigern der üblichen deutschen Rechtschreibung ein nicht zu unterschätzendes Risiko: Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Heysesche s-Schreibung inzwischen so viele Anhänger in der Schreibgemeinschaft gefunden hat, daß ihre Zurückdrängung ausgeschlossen ist.

Diese Möglichkeit wird in der Öffentlichkeit nicht einmal diskutiert. Wahrscheinlich wird es also beim jetzigen Zustand bleiben: "neue Rechtschreibung" in den Schulen und bei den Behörden, "alte Rechtschreibung" in individuellen Abstufungen bei der Mehrheit der privaten Schreiber, "alt" oder "neu" bzw. eine Mischung aus beiden in den meisten freien Druckerzeugnissen. Herr Wrase hat recht: Sich Gedanken darüber zu machen, wie eine konsensfähige deutsche Rechtschreibung aussehen könnte, mündet in eine Phantomdebatte.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.09.2005 um 15.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1757

Zitat H. J.: "Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Heysesche s-Schreibung inzwischen so viele Anhänger in der Schreibgemeinschaft gefunden hat, daß ihre Zurückdrängung ausgeschlossen ist."

Wenn dies und ähnliches oft genug von Ihnen, lieber Herr Jochems, behauptet wird, gewinnt man den Eindruck, Sie möchten etwas herbeireden, was in keiner Weise untersucht ist und was niemand wissen kann. Solch unbewiesene Behauptungen sollten wir nicht in den Raum stellen, wozu auch. Akzeptanz kann man ohnehin nicht herbeireden. Entweder die Sache funktioniert, dann wird sie akzeptiert. Oder sie funktioniert nicht, dann wird sie abgelehnt.

Wäre es nicht besser, ab und zu an die einzige wissenschaftliche Untersuchung von Harald Marx zu erinnern, der festgestellt hat, daß jetzt Kinder vor allem beim s-Laut mehr Fehler machen?
Meine Meinung: Noch besitzt die ss-Schreibung den Zauber des Neuen und hat den Strahlkranz einer "Reform". Sie strömt den erregenden Duft des Modernen aus, dem so viele anfangs erlegen sind. Aus meiner Umgebung aber äußern inzwischen viele Personen - natürlich nicht öffentlich - ihre Bedenken wegen der zunehmenden Unsicherheiten beim Schreiben.

Lieber Herr Jochems, es wäre fein, wenn Sie immer unter Ihrem richtigen Namen schreiben würden. Pseudonyme erwecken einen falschen Eindruck. Das hatten wir schon einmal. Ich kann mich zwar irren, aber möglicherweise teilen nicht sehr viele Ihre Meinung. Wir setzen uns für die Wiederherstellung einer einheitlichen Orthographie auf der gut funktionierenden Basis der klassischen Rechtschreibung ein. Mir ist nicht ganz klar, worauf Sie hinauswollen.



Kommentar von Martell, verfaßt am 16.09.2005 um 16.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1758

Vor einigen Tagen stellte ich mir einmal die böse Frage, welchen Preis die meisten Mitstreiter dieses Forums wohl zu zahlen bereit wären, wenn es darum ginge, bei der Getrenntschreibung einhellig zum Kenntnisstand von 1901 zurückzukehren. Weder ist 1901 hierbei zynisch gemeint noch ironisch noch sonst irgendwie unernst, sondern bedeutet lediglich: Finger weg lassen von dem, was einfach zu heiß ist.

Wir können doch nicht leugnen, daß zu viele viel zu lange gewartet haben, ehe sie dann um so lauter Nein riefen. Ich selbst bin erst vor einem Jahr aus meinem rechten Schreibschlaf aufgewacht. Wenn aber ein Bein erst mal ab ist, muß man zukünftig entweder mit einer Prothese leben, oder im Rollstuhl fahren. Vielleicht ist das Bein ja auch noch gar nicht ab, und es hat nur den Anschein, es sei so. Vielleicht gibt ja es irgendwann ein Aufwachen aus einem seltsamen Traum. Wenn die Heysesche s-Schreibung die schlechtere ist, dann wird sie auch wieder verschwinden.

Die große Anhängerschaft der neuen ss-Schreibung mag durchaus auch aus nichtsprachlichen Quellen gespeist sein. Aber keiner kann doch prognostizieren, ob die neue ss-Schreibung früher oder später Usus sein wird. Soviel Realitätssinn sollte aber jedem zugestanden werden, Fragen der Art nicht nur zu denken, sondern auch zur Diskussion stellen zu dürfen. Schließlich schrieb selbst Theodor Ickler vor vielen Jahren an Herrn Zimmer, daß seiner Ansicht nach von det ganze nur das ss übrigbleiben würde.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 16.09.2005 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1759

"...die allgemein übliche Rechtschreibung nicht einen Schwierigkeitsgrad aufweisen dürfe, der für die Mehrheit der Schreiber  i n  t o t o  nicht beherrschbar ist..." Warum soll die Mehrheit der Schreiber die Rechtschreibung in toto beherrschen können, sehr verehrter Herr Prof. Jochems? Sehen Sie da ein Demokratiedefizit? Die Mehrheit der Schreiber (deren Produkte wir übrigens niemals kennen werden) braucht nur einen winzigen "Kernbestand" an Orthographie. "Konsens", "Mehrheitsentscheidung", schön und gut, aber diese ergeben sich aus der Praxis selbst und nicht aus Abstimmungen in irgendwelchen staatlichen oder nichtstaatlichen Gremien. Das war doch ein Hauptargument gegen die Neuregelung - ihr Zustandekommen und die Art und Weise ihrer Durchsetzung -: Niemand, kein Kultusminister, keine Expertengruppe, hat das Recht, eine "richtige" Rechtschreibung zu etablieren. Ganz einfach gesprochen: Finger weg! Sie können die Rechtscheibung noch so sehr "vereinfachen", "logischer" machen - es wird sich früher oder später wieder eine Differenzierung herausbilden zwischen oben und unten. Ich habe ja schon einmal von "abgestufter Kompetenz" gesprochen. An den Maßstäben muß man ansetzen, wenn man in der Tatsache der ungleichen Beherrschung ein Problem sieht.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.09.2005 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1760

Um den Einwand von kratzbaum noch konkreter zu fassen: Wie kommt man überhaupt dazu, von jemandem, der "ernstnehmen" oder "beiseiteschieben" schreibt, zu behaupten, er beherrsche die deutsche Rechtschreibung nicht? Doch nur, weil man sich selbst schon dem Dudenwahn angeschlossen hat. Nach der Neuregelung ist "freisprechen" weiterhin richtig, aber "heiligsprechen" falsch. Wieso? Dieselbe Antwort, mutatis mutandis.

Dies waren Beispiele aus dem Kernbereich, wo man mit einigem Recht sagen könnte, das sollte dem Durchschnittsgebildeten nicht unerreichbar sein, und das war es ja auch nicht, wenn man sich am Üblichen und nicht am Düdlichen orientiert. Jetzt zur abgestuften Kompetenz. Die Fach- und Fremdwörter wird man niemals jedermann zumuten können. Ich kenne Sprachwissenschaftler, die stets "Diphtong" schreiben. Man muß kein Griechisch lernen, um das zu vermeiden, man muß sich aber kundig machen, wie es richtig geschrieben wird. Die Fachterminologie in Wort und Schrift ist Teil des Faches.

Meiner Ansicht nach ist der Kernbereich des Deutschen orthographisch sehr einfach. Man kann weitgehend nach Gehör schreiben, diese Grundlage ist nur durch wenige, durchaus nützliche Abweichungen gleichsam überbaut, also Stammschreibung und ein bißchen Unterscheidungsschreibung, dazu textsemantisch motivierte Groß- und Kleinschreibung. Man lernt das stufenweise, wie es die Volksschullehrer seit je gemacht haben.

Auch ich bin der Meinung, daß wir den alten Duden endlich ruhen lassen sollten. Er war mal die Rechtschreibung, zugegeben, aber es hätte anders sein sollen und muß anders werden.



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.09.2005 um 17.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1762

Also, liebe Frau Pfeiffer-Stolz, die guten alten Tage der Pseudonyme aus dem schönsten Wiesengrunde sind vorbei. Von Johannes Hauberger, Karsten Giersberg, Hans Busch, Uwe Putlos, Jan z Lasu, Joao da Silva, Juan Selva, John Woods, Jan Bosch (und wie sie alle hießen) wird man nichts mehr hören. Der gute Kratzbaum vom Ewigen Meer und der nachdenkliche Wanderer H. J. aus den Siegerländer Haubergen freuen sich zwar immer wieder, wie dicht ihre Ansichten beieinander liegen, sind aber zwei unterschiedliche Personen. Wenn am Tage des Jüngsten Rechtschreibgerichts Kratzbaum seine Identität preisgibt, wird die Verwunderung groß sein. Bis dahin streiten wir weiter, wie es unserem Naturell entspricht.



Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 16.09.2005 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1763

1.) Im Gegensatz zu den Schülern, Schülereltern und Schülerelternvertretern, denen es aus verständlichen Gründen nur auf möglichst leicht erreichbare gute Noten ankommt, weil Absolventen nach Zeugnisnoten klassifiziert werden, sind die übrigen mündigen Bürger sehr wohl überzeugbar, welches die beste und zweckmäßigste Rechtschreibung wäre. Die meisten Bürger haben nur deswegen resigniert, weil bisher auch die besten Argumente nichts bewirkt haben. Man muß daher den Ministerialbeamten, Ministern und Politikern die Entscheidungsgewalt über die Inhalte der Rechtschreibung entziehen und stattdessen die Schreibpraxis der Bürger entscheiden lassen.

2.) Die Vergröberung der Rechtschreibung, die Erfindung von unbegreifbaren Regeln und die Forderung, dauernd in Wörterbüchern nachzusehen, haben sich als Irrweg erwiesen. Das Sprachgefühl hat sich als der beste Maßstab erwiesen. Das Sprachgefühl baut auf Analogiebildungen auf, daher sollten möglichst viele Analogiebildungen ermöglicht werden.

3.) Das Leseverständnis muß wieder seinen früheren höheren Wert bekommen.

4.) Entwicklungstendenzen der Schriftsprache dürfen nicht als Fehlentwicklungen beurteilt werden, sondern müssen als Weiterentwicklung zugelassen werden, soweit sie nicht grammatikwidrig oder sinnentstellend sind.



Kommentar von nos, verfaßt am 16.09.2005 um 20.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1764

Ein Stückchen „Wir“ tut nicht Not, sondern not!

Es soll so etwas geben wie eine Sprachintuition, der „wir“ uns annehmen, und es soll auch Einrichtungen geben, die diese Bauchentscheidungen zu beeinflussen versuchen.
(Befinde ich mich noch im Kontext? Ist das eine „Wir-Angelegenheit“?)

Es gibt bei „uns“ auch die Einschätzung, daß die Rechtschreibung bis 1991 ff. weniger Konflikte auslöste als die nach 1996. Durch zahlreiche Beobachtungen und Argumente wird diese Einschätzung gestützt.
(Befinde ich mich noch im Kontext? Ist die Gruppe, die sich um diese „Wir-Angelegenheit“ kümmert, mit dieser obigen Aussage „kleiner“ oder „größer“ geworden?)

Es gibt auch persönliche Einschätzungen, eigene Urteile, Minimal- und Maximalforderungen; und als Ich-Schreiber, Nonkonformist und Individualist darf ich gleichwohl davon ausgehen, daß ich den Schreibusus von 1991 bis 1996 zu annähernd 95 Prozent innehatte.
Nach dem sog. Paradigmenwechsel habe ich mich weiterentwickelt. Zwar kann ich seitdem nur noch etwa 70 Prozent des „Geforderten“ richtig wiedergeben, aber ich behaupte, einer von jenen vier (ggf. gar drei Prozent) zu sein, die sich bei einem Leistungstest neben der Berufsgruppe der Professoren, Lektoren und sonstigen Bildungsdurstigen in der absoluten Spitze der Rechtschreibliga behaupten könnten.
Dabei ist der Sachverhalt absolut paradox. Mir selbst wäre es lieber, 95 Prozent der gesamten Rechtschreibung zu beherrschen, als behaupten zu können, daß ich einer der „Meisterschaftsfavoriten“ des gesamten Sprachraums bin, obwohl er seine Schriftsprache nur noch zu zwei Dritteln beherrscht.
(Habe ich mit dieser Ich-Darstellung das „Wir“ demontiert, mit dem „Ich“ die Gruppe entgruppt?)
Dazu sofort ein Versöhnungsappell: Stellt die alte Rangordnung wieder her, in der die spezifische Leistung, bestehend aus „Pflicht“ (Begriff aus dem Eiskunstlaufen) belohnt wird, und nehmt meinetwegen hinzu, daß die „Kür“ (ebenfalls ein Begriff aus dem Eiskunstlaufen) höher gewertet wird.

Stefan Stirnemann, der diese Diskussion initiierte, hat in seinem heutigen Beitrag klargemacht, daß die Wettkampfrichtlinien verschoben/verschroben sind. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wäre es wichtig, die Gedanken der praktizierenden Sprachliebhaber und Sprachtrainer (Lehrer) einzubeziehen. Es wäre wichtig, dem Gremium der Begutachter und Richtliniengestalter etwas entgegenzusetzen, was man als Praktikerkompetenz bezeichnen kann.
Die Phrasen „Univerbierung, adverbial, attributiv, prädikativ, skalar, nonskalar, metaphorisiert, ...“ können nicht unkommentiert, uneingedeutscht und sich gegen alle Über- und Vermittlungsversuche widerspenstig verhaltenden Zöglingsakt- und -reaktionen stehenbleiben, denn von der Finte bis zum Treffer (Begriffe aus der Fechtersprache) ist ein gewaltig Stück Arbeit und Spontanentscheidung zu leisten, wobei letztlich die Qualität innerhalb der „Longe“ (Laufleine für Pferde/Fechter) obsiegt.

Was die Rechtschreibreformer anbelangt, so haben die bisher keinen einzigen Treffer gelandet, haben aber im Gegenteil jede Menge Gegentreffer einkassiert. Zum Glück sind sie („gefechtstechnisch“/staatlich) geschützt und hoch gejubelt, doch sollte man sie (vor allem aber ihr Gedankengut) völlig aus dem Verkehr ziehen; einkassieren! Deren Fechtkunst ist allerhöchstens viertligareif, und es ist nicht unsere Arbeit, deren mißlungenen Prototyp zu einem akzeptanzfähigen, vermittelbaren und patentreifen Verkaufsschlager fortzuentwickeln.

Stattdessen sollten „Wir“ – wer immer das ist – beweisen, daß wir erstligatauglich sind!



Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 16.09.2005 um 20.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1765

Ich stelle hier mal wieder - wahrscheinlich wie immer vergebens - eine Frage in den Raum zu der zumindest vor der Reform geltenden Feststellung, "man kann weitgehend nach Gehör schreiben." Genau, das tue ich auch, weil es sehr viel einfacher ist als in Wörterbüchern nachzuschauen. Was aber nun, wenn sich die gesprochene Sprache aufgrund der reformierten (oder auch fälschlicherweise so verstandenen) Rechtschreibung ändert?

Das ist durchaus keine unbegründete Befürchtung, sondern offensichtlich schon Wirklichkeit an deutschen Schulen. Diese Woche gab es eine kurze Information zur "nunmehr verbindlichen" Reformschreibung im Südwest-TV, und man konnte einen Lehrer beim Diktat für seine Klasse sehen - und leider auch hören. Er diktierte "ratsuchend", betonte aber sehr sorgfältig auf beiden Wörtern und suggerierte den Schülern damit die Schreibweise "Rat suchend" (.... die Rat suchenden Menschen usw.). Ich habe bisher niemand - außer diesem Lehrer - so sprechen gehört.

Gibt es nunmehr auch Aussprachekurse für Lehrer (vielleicht von der GEW), damit diese die Aussprache an die reformierte Schreibung anpassen? Und was nützt die Rücknahme der GZS-Regelungen, wenn Lehrer, die offensichtlich ihre Muttersprache nicht (mehr) beherrschen bzw. bezüglich der Reform nicht ganz auf dem neuesten Stand sind, auf die Schüler losgelassen werden?

Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden - es geht mir hier nicht um einen einzelnen Ausdruck - vielleicht paßt ja "Rat suchend" in manchen Zusammenhängen, das Fatale an dieser Art von Getrenntsprechungen und demzufolge -schreibungen sind die Analogiebildungen und vor allem die Unmöglichkeit der Substantivierung. Ich habe nun schon des öfteren "Die Rat Suchenden ...." lesen müssen. Man sollte doch vermeiden, Schüler auf solche Abwege zu führen.



Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 16.09.2005 um 22.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1766

Rat suchende Menschen, also Menschen, die Rat suchen, gibt es immerhin, Fleisch fressende Pflanzen hingegen nicht, denn die Tätigkeit des Fressens ist den Pflanzen nun mal nicht möglich.

Selbstverständlich hat die geschriebene Sprache eine Wirkung auf die gesprochene, in der einen wie der anderen. Ich z.B. spreche das unsägliche "platziert" jetzt prononciert als "plaßiert" aus, um die Schreibung "placiert" zu implizieren.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 16.09.2005 um 23.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1767

Lieber glasreiniger, machen Sie es einfach wie der "Strasburger": Der spricht von "tierfangenden Pflanzen". Der Fachausdruck heißt Carnivoren. Und was heißt das auf deutsch? Fleischfressende Pflanzen!



Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 17.09.2005 um 00.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=337#1768

Für wissenschaftliche Diktatvergleiche müßten grundsätzlich Tonaufnahmen in einwandfreier hochdeutscher Aussprache verwendet werden, damit Verzerrungen dieser Art ausgeschlossen sind. Beim amerikanischen TOEFL (Test of English as a Foreign Language) wird das seit vielen Jahren so gehandhabt.



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