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26.06.2005
 

Reinhard Markner
Guckomobil auf Lesereise
Zur neuen Rechtschreibung gesellt sich die neue Wissenschaft von der Blickbewegung

Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ. Die Gültigkeit dieses bewährten Leitsatzes der deutschen Sprachlehre haben jetzt Psychologen der Freien Universität Berlin experimentell nachgewiesen.

Gegenstand ihrer Studie waren allerdings nicht die Fälle des Deutschen, sondern seine reformierte Rechtschreibung.

Professor Arthur Jacobs und seine Mitarbeiter Verena Engl und Florian Hutzler betreiben empirische Leseforschung. Dazu verfügen sie über eine Apparatur, die es ihnen ermöglicht, Blickbewegungen lesender Kinder auf Millisekunden genau aufzuzeichnen. Eingebaut in einen „Guckomobil“ getauften Kleinbus, wurde die Technik im Februar auf dem Hof einer Berliner Grundschule erprobt.

Weit hatten es die Forscher nicht – die Schule liegt von ihrem Institut keine zwei Kilometer entfernt. Die ausgewählten Probanden waren sämtlich Kinder deutscher Eltern aus dem vornehmen Stadtteil Dahlem. Das macht sie nicht unbedingt repräsentativ für die Schülerschaft in Berlin insgesamt. Den 39 Schülern der sechsten Klasse wurden kurze, bebilderte Texte vorgelegt, die Wörter sowohl in der herkömmlichen („Faß“, „Stengel“) als auch in der reformierten Schreibung („Fass“, „Stängel“) enthielten. Die Kommasetzung blieb unberücksichtigt.

Das politisch erwünschte Ergebnis der jetzt abgeschlossenen Untersuchung stand bereits zu Beginn der Arbeit fest. Hutzler sagte seinerzeit der „Berliner Zeitung“, bei den Dahlemer Schülern sei zu beobachten, „daß viele bei Wörtern der alten Rechtschreibung irritiert reagieren“. Eine im selben Bericht zitierte Schülerin nahm es gelassen: „Manche Wörter in dem Text kamen mir komisch vor, aber den Sinn habe ich verstanden.“

Sie und die anderen betroffenen Kinder ihres Jahrgangs sind mit Lehrbüchern in reformierter Rechtschreibung aufgewachsen. Die ihnen vertrauten Schreibweisen sind ihnen vertraut, unvertraute hingegen nicht. Man hätte es sich denken können. Aber jetzt erst ist es auch nachgewiesen, mit beachtlichem technischen Aufwand.

Allein die „Balletttänzerin“ mit drei t bereitet auch den Kindern weiterhin Kopfzerbrechen. Bei Wörtern dieses Musters sei eine markante Verringerung des Lesetempos zu beobachten, räumte Hutzler ein, als er die Ergebnisse der Berliner Studie kürzlich der Presse vorstellte. Er plädierte gleichwohl im Namen des Teams für die „Beibehaltung und konsequente Umsetzung“ der Reformorthographie, wovon er die Drei-Buchstaben-Regel nicht ausnahm.

Das war nicht anders zu erwarten, hatten doch die Forscher laut Projektbeschreibung herausfinden wollen, „welche Änderungen der Rechtschreibreform ganz objektiv eine Erleichterung gebracht haben“. Unglücklicherweise fehlen allerdings Vergleichsdaten aus der Zeit vor 1996. Daher handelt es sich bei der Berliner Untersuchung nicht um eine Vorher-nachher-Studie, wie sie zur Beantwortung der Ausgangsfrage anzustellen wäre, sondern um eine reine Nachher-Studie. „State of the art“ sei das, meint Hutzler trotzdem. Wenn das zutrifft, macht die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie und Pseudologie offenbar Fortschritte.

Mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, müssen nun auch Erwachsene ihre Vorurteile und Vorbehalte gegenüber der Schulrechtschreibung selbstkritisch überprüfen. Liest sich nicht „Inkrafttreten“ stockend im Vergleich zum flüssigen „In-Kraft-Treten“? Wirkt nicht „Meßergebnis“ undeutlich im Vergleich mit „Messergebnis“? „Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu“: Ist der Satz aus dem amtlichen Regelwerk nicht eigentlich wunderbar klar? Und sollte man nicht endlich buchstabensparend „Filosofie“ schreiben, um Voraussetzungen für eine weitere Erhöhung der Lesegeschwindigkeit zu schaffen?

Im Ernst: Die Rechtschreibreform sollte das Schreiben erleichtern, nicht das Lesen. Als sie nach 1996 an den Schulen eingeführt wurde, hofften die verantwortlichen Politiker und die von ihnen bestallten Experten auf eine wesentliche Verbesserung der Rechtschreibleistungen. In Aussicht gestellt war die Einsparung von vielen Millionen dröger Deutschstunden. Bisher ist keine wissenschaftliche Studie bekannt, welche die Richtigkeit dieser Annahmen auch nur annähernd bestätigt hätte. Im Gegenteil mußte der Leipziger Psychologe Harald Marx im langjährigen Vergleich erhöhte Fehlerzahlen im zentralen Bereich der ss/ß-Schreibung feststellen. Nachweislich werden auch in der orthographisch umgestellten Presse seit 1999 mehr Fehler gemacht als zuvor, obwohl man sich hier technischer Hilfsmittel bedient, die Schülern beim Diktat nicht zur Verfügung stehen.

Vor diesem für die Kultusminister und ihre verbliebenen Freunde ungünstigen Hintergrund kommt eine Untersuchung recht, die wenigstens einen gewissen Gewöhnungseffekt bei denjenigen Schülern konstatiert, die keine andere Schreibung gewohnt sind. „Die Rechtschreibreform ist ein voller Erfolg – zumindest, wenn es um das Lesen geht“, jubelte denn auch der Berliner „Tagesspiegel“, der in dieser Frage seit Jahren einen zähen Kampf gegen die Mehrheit seiner Leser führt.

Professor Jacobs erhofft sich nun eine Förderung weiterer Projekte durch Ministerin Bulmahn. „Es sei absehbar, daß sich alle an die neue Rechtschreibung gewöhnten“, wurde diese schon vor fünf Jahren von der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ zitiert. Diejenige „neue Rechtschreibung“, von der sie damals sprach, gibt es allerdings schon längst nicht mehr. Man hatte eigentlich kaum Zeit, sich richtig mit ihr anzufreunden. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. 6. 2005



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Kommentare zu »Guckomobil auf Lesereise«
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Kommentar von R. M., verfaßt am 27.06.2005 um 09.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1066

Bei der Berliner Morgenpost hatten die Guckometerologen mehr Glück.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 27.06.2005 um 10.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1067

Jetzt haben wir (endlich!) ein richtig gutes Argument gegen das Heyse-s. Klasse.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.06.2005 um 10.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1068

Wir haben schon lange viele gute Argumente gegen die neue ss-Schreibung.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.06.2005 um 11.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1069

Längere Wörter werden schwerer (langsamer) erfaßt als kurze, daher werden auch zusammengeschriebene (vor allem von Ungeübten) langsamer identifiziert. Das ist seit Jahrzehnten bekannt, denn die Länge eines Wortes ist schon immer einer der wichtigsten Parameter bei der Berechnung der Lesbarkeit (readability), zu der es eine immense Forschungsliteratur gibt.
Ich nehme an, daß Schüler auch "sehr Aufsehen erregend" schneller lesen als die grammatisch richtige Zusammenschreibung. Unsere Wissenschaftler würden daraus wahrscheinlich andere Folgerungen ableiten als wir.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 27.06.2005 um 11.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1070

Bevor wir die Guckometerologie als Wissenschaft nehmen, warten wir doch lieber ab, ob die Ergebnisse auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht werden. Auf der Web-Page des Instituts ist das noch nicht erkennbar.


Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 27.06.2005 um 11.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1071

Das Guidomobil soll ja damals in Berlin auf mysteriöse Weise verschwunden sein und ist nie wieder aufgetaucht.

Dieser Tage soll es wieder gesehen worden sein.

[img]http://normalfilter.de/Bilder/guckomobil.jpg[/img]


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 27.06.2005 um 11.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1072

Beim Lesen zusammengesetzter Wörter macht es einen großen Unterschied, ob es ein Wiedererkennen bekannter Wortmuster oder ein erstmaliges Identifizieren mit Suchen der Wortfugen ist.

Merkwürdiger- und unredlicherweise werden bei den Dreifachkonsonannten nur die bereits bekannten, aber relativ seltenen Dreifach-f und -t genannt, aber nicht die durch die Reform erst geschaffenen und an Häufigkeit weit überwiegenden Dreifach-s.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 27.06.2005 um 12.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1073

Ganz aus der Reihe - aber ich mussss einfach fragen:

Ist neben der Augenbewegung auch geprüft worden, inwieweit das sinnerfassende Lesen mit der optischen Erkennung der Wörter Schritt halten kann? Aus eigener Erfahrung kennen wir den Umstand, daß gelegentlich ein Wort oder Satz zweimal gelesen werden muß, nachdem die Reformschreibung für die Verwischung syntaktischer Strukturen gesorgt hat. Und das ist bekannterweise kein Phänomen durch "Umlernern", sondern ein Systemfehler der Reformschreibung. Eine Untersuchung, die dieses außer acht läßt, kann nicht anders als unseriös bezeichnet werden.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 27.06.2005 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1074

Stephan Fleischhauer: Jetzt haben wir (endlich!) ein richtig gutes Argument gegen das Heyse-s. Klasse.

Wolfgang Wrase: Wir haben schon lange viele gute Argumente gegen die neue ss-Schreibung.

Den einen können gute Argumente überzeugen, ein anderer möchte überzeugende Beispiele sehen. Im letzteren Sinne schlage ich eine Sammlung möglichst gebräuchlicher Dreifach-s-Wörter vor. Was ist ähnlich häufig wie Missstand – Essstäbchen, Passstraße, Basssolo, Schlussszene oder Ausschusssitzung?


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 27.06.2005 um 17.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1075

Zum Missstand. Nach der alten 3-Konsonanten-Regel wäre das Wort tatsächlich mit 3 s zu schreiben. Interessanter fände ich zu wissen, ob die Schweizer es vor der RSR mehrheitlich mit 3 oder nur 2 s schrieben. Weiß das jemand?


Kommentar von Martin Piecuch, verfaßt am 27.06.2005 um 17.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1076

Jan-Martin Wagner: Was ist ähnlich häufig wie Missstand, Essstäbchen, Passstraße, Basssolo, Schlussszene oder Ausschusssitzung?

Wie wäre es mit Bassstimme, Bissstelle, Flussstahl, Gussstahl, Kussszene, Messschraube, Messstab, Nussstückchen, Passstelle, Schlusssatz, -sprung, -stein, -stand und -strich?



Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 27.06.2005 um 18.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1077

Glasreiniger: Zum Missstand. Nach der alten 3-Konsonanten-Regel wäre das Wort tatsächlich mit 3 s zu schreiben.

Das gilt nur, wenn man kein ß zur Verfügung hat und es durch ss ersetzen muß, denn die herkömmliche Schreibweise dieses Wortes ist Mißstand.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.06.2005 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1078

Wen die Argumente nicht überzeugen, den können auch die Beispiele nicht überzeugen, auch wenn er beides gleichermaßen "sehen möchte". Das Dreifach-s ist im Reigen der Argumente übrigens eine periphere Sache, gerade was die Häufigkeit betrifft.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.06.2005 um 18.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1079

In der Schweiz wird ss anstelle von ß durchgängig beibehalten, also immer schon Missstand geschrieben.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 27.06.2005 um 20.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1082

Wolfgang Wrase: Das Dreifach-s ist im Reigen der Argumente übrigens eine periphere Sache, gerade was die Häufigkeit betrifft.

Naja: Natürlich gibt es viel tiefgreifendere Argumente als das Dreifach-s, andererseits ist gerade das besonders anschaulich und jedermann vermittelbar, und vor allem berührt es das Herzstück der Reform, die Heyseschreibung. Hat nicht Herr Ickler irgendwann darauf hingewiesen, daß die Reformer die Häufigkeit des Dreifach-s bei weitem unterschätzt haben?

kratzbaum: In der Schweiz wird ss anstelle von ß durchgängig beibehalten, also immer schon Missstand geschrieben.

Für die Schweiz ließe sich das Argument so umkehren: Offenbar wäre es lesetechnisch von Vorteil, wenn die Schweiz das ß wieder einführte. (Ich weiß, daß das keine wirklich neue Erkenntnis ist, aber sie wird durch die Guckometerologie wunderbar belegt.)


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 27.06.2005 um 20.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1083

Natürlich ist "Schluss-Szene" leichter lesbar als "Schlussszene", aber noch leichter lesbar ist "Schlußszene". "ßs" (2 Zeichen) ist auch der halbe Schreibaufwand gegenüber "ss-S" (4 Zeichen). Die Bindestrich-Notlösung erhöht den Schreibwaufwand.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 27.06.2005 um 20.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1084

Hat nicht Herr Ickler irgendwann darauf hingewiesen, daß die Reformer die Häufigkeit des Dreifach-s bei weitem unterschätzt haben?

Vgl. Im Wundergarten der Sprache, S. 78.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 27.06.2005 um 22.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1085

@Jan-Martin Wagner
(Ich weiß, daß das keine wirklich neue Erkenntnis ist, aber sie wird durch die Guckometerologie wunderbar belegt.)

Auch wenn es in unserem Sinn wäre: Solange die Guckometerologen ihr Zeugs nicht anständig veröffentlichen (meinetwegen auch im Internet, aber bitte mit vollständigen Daten und Versuchsdesign, wie bei einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zu fordern), ist deren Getöne nix als Schall und Wahn.

--

Ich bezweifle, daß die Untersuchung, jedenfalls was den RSR-Rechtfertigungsteil betrifft, bei einer seriösen Zeitschrift ankommen kann. Die Wissenschaft ist leider so korrupt, daß man, evtl. sogar seriöse, Forschungsvorhaben eben nur mit Sponsoring hinkriegt.

Um noch einmal auf die Schweiz zurückzukommen: Ich wollte nicht wissen, was die Regel vorschreibt, sondern nur erfahren, was die Praxis seinerzeit hervorgebracht hat.

Zur Erbauung steuere noch folgendes Detail bei. In Schweizer Interpretation der bewährten Rechtschreibung kommt es ja zu folgendem Fall: Bei Trennung vor ß (z.B. Stra-ße) wird bei mechanischer Ersetzung von ß durch ss "Stra-sse". Einige wenige Fälle dieser Trennmethode kann man tatsächlich finden, z.B. habe ich in einer Friedhofsordnung die Trennung "bei-ssen" gefunden. Neuerdings ist die m.E. ohnehin bessere Trennung "beis-sen" statt "bei-ßen" wieder erlaubt, wenn man für diese Trennstelle eben zum Gesinnungs-Schweizer konvertiert.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 28.06.2005 um 03.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1086

Damit man mich in dieser Sache nicht für verbockt hält, versuche ich es einmal andersherum: Ich sage Herrn Fleischhauer, welches aus meiner Sicht das beste Argument für die neue ss-Schreibung ist.

Es ist nicht, daß sie zu einer besseren Wiedergabe der Lautung in der Schrift führt. Denn erstens geht es bei der ganzen Reform ums Schreiben mit möglichst wenig Fehlern, und in dieser Hinsicht ist die neue ss-Schreibung ein Schuss ins Knie, der größte Nachteil der Reform überhaupt, gerechnet in Fehlerzahlen. So deutlich, daß man ohne viel Risiko voraussagen kann, daß sich das auch in zwei Generationen nicht zum Besseren wenden kann, im Vergleich zur ß-Schreibung vor der Reform. Zweitens, wenn man nun trotzdem fragt, wie es beim Lesen aussieht, muß man sagen: Niemand hatte irgendein Problem, Schuß oder groß oder Floß oder Prozeß zu lesen, auch wenn das nun die Guckomobil-Leute suggerieren wollen. Mit der Ausnahme: Ausländer, die in der Schule Deutsch lernen. Für sie ist die neue ss/ß-Verteilung eine Hilfe beim Lernen der richtigen Aussprache und deshalb auch beim Lesen in der Phase des Anfängertums.

Warum wird trotzdem so oft behauptet, auch für uns sei die neue ss/ß-Schreibung besser? Die "Logik" der Ableitung aus der Vokallänge gefällt einfach einigen Leuten, oder recht vielen Leuten, zum Beispiel Herrn Fleischhauer. Das muß man zur Kenntnis nehmen, aber hinzufügen: Diese Leute sollten vielleicht mal anfangen zu fragen, ob sie damit in der Mehrheit sind, anstatt einfach von sich selbst auf eine künftige glückliche Gesellschaft zu schließen. Sonst bleiben sie auf dem Niveau von Gerhard Augst & der Rocky Horror Letter Show. Und sie könnten, wenn sie können, die anderen Argumente sorgfältig prüfen. Leider ist das in diesem Fall selten anzutreffen. Die Verehrung der in lautlicher Hinsicht größeren "Logik" oder "Regelmäßigkeit" der neuen ss-Schreibung hat bei den meisten Anhängern die Gestalt einer Verliebtheit, so daß jedes Argumentieren in der Regel fruchtlos bleibt.

Deshalb ist es mir hier umgekehrt lieber: Der größte Vorteil der neuen ss-Regel ist, daß sie uns Zweifel und ziemlich viel Uneinheitlichkeit an der Nahtstelle zum Englischen erspart: Business, Boss, Dress, Miss usw. Die originalen englischen Begriffe begegnen uns erstens in der Originalsprache ständig, und was man dort sieht, wird unaufhaltsam zu einem gewissen Grad in der Muttersprache nachgeahmt, besonders deutlich etwa beim Genitiv-Apostroph, aber eben auch bei ss. Zweitens importieren wir permanent die ss-Schreibweise über einzelne Fremdwörter, mehrteilige Begriffe und Namen, die zunächst nicht integriert sind oder bei denen die Eindeutschung mit ß sowieso schwierig ist: Selbst wenn es uns gerade noch gelungen zu sein scheint, Busineß oder Miß eingedeutscht zu haben, kommt uns dasselbe in englischen Texten ständig als business oder miss daher, zweitens - innerhalb der deutschen Texte - in Fremdwortgebilden wie etwa Master of Business Administration (MBA) bzw. Miss World oder in Namen wie Harvard Business School, wo es nichts einzudeutschen gibt. Kaum sehen das deutsche Schreiber, ahmen sie es überall nach. Und bei uniqueness oder sexiness will das mit dem ß nicht schön anmuten; wir können höchstens noch ein y in Sexyness unterbringen. Das sind häufige Begriffe, es ist daher im Rahmen der bisherigen ss/ß-Schreibung ein breiter Bereich der Unsicherheit, und das Problem strahlt auch aus auf diejenigen Wörter, die Parallelen im Englischen haben, auch wenn wir sie nicht von dort importiert haben: Prozeß usw. Und wer schon versucht ist, Prozess zu schreiben - durchaus nachvollziehbar -, für den besteht schließlich ein gewisser Anpassungssog, auch Kuss zu schreiben.

Also, wenn man schon für das neue ss argumentieren möchte, sollte man nicht ständig seine persönliche Vorliebe mit einem Argument verwechseln, sondern etwas vorbringen, was für alle relevant ist. Dazu bietet sich obige Erwägung an, die in einer vernünftigen Abwägung der Argumente regelmäßig vernachlässigt wird.

Es geht mir hier aber nicht darum, Herrn Fleischhauer zu bearbeiten oder plötzlich zu unterstützen. Die Frage, welche Schreibung für ss/ß sich durchsetzen wird, wird weder von mir noch von ihm entschieden. Ich habe keine Schwierigkeiten damit, Herrn Fleischhauer seine Vorliebe für die Neuregelung zu lassen und ihn mit Argumenten zu versorgen. Ich bleibe aber meinesteils bei der Bewertung, daß die Argumente für die Rückkehr zur bisherigen ss/ß-Schreibung zehnmal schwerer wiegen als diejenigen für die weitere versuchsweise Durchsetzung der neuen ss-Schreibung, ohne erneut ins Detail gehen zu wollen.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 28.06.2005 um 09.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1088

Die „neue“ Dreikonsonanten-Regel wurde auch nötig durch die „neue“ ss-Regel: „Ess-Aal“ und „Ess-Saal“ würden sonst beide als „Essaal“ dargestellt, und „Flussauen“ würde man eher als „Flusssauen“ lesen.

Lexikalisch sind die Wörter mit neuen „sss“ 1,5 bis 22mal häufiger als diejenigen mit anderen neuen Dreifachbuchstaben. Darin zeigt sich schon der Nutzen des bisherigen ß-Gebrauchs für Lesefreundlichkeit, Einprägsamkeit und Ästhetik. Vor Vokalen verringert das ß Irritationen oder markiert den bedeutungsentscheidenden Stimmeinsatz: Messerwartung - Meßerwartung, Hasserleben - Haßerleben, Esserfolge – Eßerfolge. Schließlich differenziert es unterschiedliche Zischlaute: „Meßstrich", „Mißstand“.

Solchen Fragen sind die Augenblicks-Untersucher offensichtlich aus dem Wege gegangen.



Kommentar von R. M., verfaßt am 28.06.2005 um 10.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1089

Mit Wörtern, die es nicht gibt (*Meßerwartung, *Haßerleben, *Eßerfolge), sollte man lieber nicht argumentieren. Das überlasse man den Reformern (*Zooorchester).


Kommentar von BSP, verfaßt am 28.06.2005 um 11.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1090

"Gestern brachte ich meinen Rasenmäher zur Messerwartung. Die Abnutzung lag deutlich über der Meßerwartung."

Gibt es im Deutschen nicht jedes Wort, das sich aus zwei Worten zusammensetzen läßt? Ich denke da z.B. an die Grasfreßkuh aus der letzten Ausgabe der F.A.S. ...


Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 28.06.2005 um 11.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1091

Wenn es im Deutschen jedes Wort geben würde, das sich aus zwei Worten (Wörtern?) zusammensetzen läßt, so hätte das Deutsche unendlich viele Wörter. Von diesen potentiell unendlich vielen deutschen Wörtern gibt es fast alle (alle bis auf endlich viele) noch nicht.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 28.06.2005 um 12.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1092

Es ist doch ein großer Gewinn, daß unsere Vermutung, die Dreifachkonsonanten wären eine Leseerschwernis, nun empirisch bestätigt ist. Für mich waren die Dreifach-s immer das bedeutendste (eigentlich das einzige) Argument gegen Heyse.
Herrn Wrases Argument, man sollte nach der Bevölkerungsmehrheit gehen, hatte ich schon einmal vorgebracht (auf rr.com). Das wurde damals abgwiegelt.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 28.06.2005 um 12.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1093

"Während der Terminus 'Wort' eine Wortbildungskonstruktion nach ihrer morphosyntaktischen Struktur kennzeichnet, bestimmt sie 'Lexem' als eine im Wortschatz gespeicherte semantische Einheit, die als Benennung einen Begriff repräsentiert und syntaktisch autonom ist. Lexeme gehören zum Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache, da der bezeichnete Begriff stabil ist und nicht erst im Text gebildet wird wie bei okkasionellen WBK. Entscheidend für die Bestimmung einer WBK als Lexem ist demnach ihre Lexikalisierung. Okkasionelle WBK werden nicht zu den Lexemen gezählt. Ihr Anteil ist in bestimmten Texten relativ hoch. In Kochbüchern, in der Belletristik, der Publizistik und der Alltagskommunikation begegnet eine Vielzahl solcher textgebundener WBK. Zwischen Okkasionalismen und Lexemen muß man ein breites Übergangangsfeld annehmen. Nicht alle Okkasionalismen festigen sich im Sprachgebrauch so weit, daß sie gespeichert werden. Lexikalisierung ist primär außersprachlich bedingt und hängt davon ab, ob in der Kommunikationsgemeinschaft eine entsprechende Bezeichnungsnotwendigkeit vorliegt und die WBK akzeptiert wird." Aus Fleischer/Barz, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Kap. 1.5.1.3.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 28.06.2005 um 13.26 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1094

Messerwartung und Messerfassung …
sind übliche, wenn auch weniger häufige Bildungen aus Meß- bzw. Messer-
(Links vom letzten Jahr):

Gartengeräte, 1/2 Tag. pro Tag. Balkenmäher 1 m Schnittbreite (zzgl. Messerwartung), 40 €,...
http://www.seippel-landmaschinen.de

Entspricht der Verlauf Ihrer Messerwartung?
http://www.fh-aargau.ch/

Sind Neutrinos massebehaftet?
In Abb. 7 ist die Messerwartung aufgrund dieser Ereignisse als gelbe Fläche eingezeichnet.
http://presse.fzk.de/

Leichte Handhabung und leichte Messerwartung
http://www.bmh.fi/

Meßerfassungen sind häufig, eine echte Messerfassung fand Google zunächst nur einmal:

... Die justierbare obere Messerfassung sichert, dass ein PCB so in die richtige ... Rollmesser so, dass ein normales Stück Papier die beiden Messer rotieren läßt ...
http://www.namasmt.com/product/cutting/k1000-2000-manual.pdf



Kommentar von R. M., verfaßt am 01.07.2005 um 00.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1109

Siehe auch die Kurzfassung im Neuen Deutschland.


Kommentar von Calva, verfaßt am 01.07.2005 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1110

In der FAZ vom 16.06.05 gibt es einen kurzen Artikel mit der Überschrift "Kernenergie und Kameldung". Ich gestehe, ich mußte mehrfach lesen, um zu erkennen, daß Kamel-dung und nicht Ka-meldung gemeint war. Wie würde ein solches Wort wohl im Guckomobil abschneiden ?


Kommentar von Jürgen Sterzenbach, verfaßt am 01.07.2005 um 11.12 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1111

Kurze Hintergrundinfo: Die Messung von Blickbewegungen der Augen wird in der Werbung schon seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt, um die Wirkung von Werbebriefen, Plaketen usw. zu testen und geht auf Professor Siegfried Vögele zurück. In seinem Institut kann man sich als Proband bewerben, um als Testperson für Augenkamera-Aufzeichnungen mitzuwirken.


Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 01.07.2005 um 11.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1112

Eine sehr hilfreiche, einigermaßen moderne Anwendung: Selbst, wer taubstumm und zusätzlich weitestgehend immobilisiert ist, aber mit den Augen noch Buchstaben (z.B. auf einer Tafel) zu fixieren vermag, kann mit Hilfe dieses Verfahrens noch schreiben.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 08.07.2005 um 22.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1143

J.-M. Wagner: Hat nicht Herr Ickler irgendwann darauf hingewiesen, daß die Reformer die Häufigkeit des Dreifach-s bei weitem unterschätzt haben?

R. Markner: Vgl. Im Wundergarten der Sprache, S. 78.

Oh, Entschuldigung! – Aber hier nun für alle (aus: R. Markner, „Über das Pedantische in der deutschen Lexikographie“, a.a.O.):

»Dafür machte er [= der Chefreformer G. Augst; JMW] später Ernst mit dem Vorsatz, die pedantischen Regeln zu streichen und im Gegenzug die pedantischen Schreibungen sämtlich wiedereinzuführen. Da er sich dabei auf F. W. Kaedings Häufigkeitswörterbuch von 1897 verließ, welches allein Schlussstein als Beleg für das Zusammentreffen von drei s aufführt, ging er von der falschen Voraussetzung aus, „daß auch dieser Fall selten auftritt“. Tatsächlich aber begegnen Wörter wie Abschlussschwäche, Messstelle, Missstand, Nussschinken, Passstraße, Schlussszene zusammengenommen häufig genug [...]«



Kommentar von Süddeutsche Zeitung, verfaßt am 03.08.2005 um 22.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1423

»Zwischenfrage
Wie lesefreundlich ist die neue Orthografie?


An diesem Montag treten die neuen Rechtschreibregeln in allen Bundesländern außer in Bayern und Nordrhein-Westfalen verbindlich in Kraft. Die Psychologen Verena Engl, Florian Hutzler und Arthur Jacobs von der Freien Universität Berlin haben getestet, wie lesefreundlich Texte in der reformierten Schreibweise sind.

SZ: Ist die neue Rechtschreibung lesefreundlich oder behindert sie den Lesefluss?

Jacobs: Die Befunde sind gemischt. Wir haben neue und alte Schreibweisen an 39 Grundschülern und 42 Erwachsenen getestet. Die Kinder haben Wörter, die nach den neuen Regeln verfasst wurden, in einigen Fällen besser gelesen, etwa bei der Getrenntschreibung und der S-Lautschreibung (zum Beispiel ¸¸Fluss" statt ¸¸Fluß"). Anders war es beim Erhalt der Stammschreibung in Zusammensetzungen wie ¸¸Balletttänzerin". In solchen Fällen hatten die Kinder genauso wie die Erwachsenen mehr Probleme, diese Wörter flüssig zu lesen.

SZ: Für die Tests haben Sie das ¸¸Guckomobil" benutzt - was ist das?

Jacobs: Das ist ein mobiles psychodiagnostisches Labor, untergebracht in einem Kleinbus. In dem Bus gibt es ein Gerät, das Blickbewegungen misst. Die Testpersonen haben insgesamt 138 Sätze gelesen, die Testwörter sowohl in der alten als auch in der neuen Orthografie enthielten. Wir haben dann unter anderem analysiert, wie lange die Augen auf einzelnen Wörtern verweilten.

SZ: Sie haben also gemessen, über welche Schreibweisen ein Leser stolpert?

Jacobs: Das ist keine schlechte Metapher. Man kann mit unserem Gerät erfassen, wo der Blick eines Lesers ungewöhnlich lange oder kurz stehen bleibt.

SZ: Wie repräsentativ ist denn Ihre Studie?

Jacobs: Wir wollten erste Daten über das Lesen von Texten in der neuen Schreibung erheben. Wie sich das auswirkt, hat bisher noch niemand untersucht. Unsere Ergebnisse sind für sich genommen statistisch abgesichert, aber es bräuchte noch weitere Studien, um die Befunde verallgemeinern zu können.

SZ: Gibt Ihre Studie Hinweise, wo Korrekturen bei der Rechtschreibreform sinnvoll wären?

Jacobs: Die Verdreifachung von Buchstaben wie in den Wörtern Balletttänzerin oder Seeelefant ist zumindest beim Lesen problematisch. Ob die neue Regel hilft, richtig zu schreiben, ist eine andere Frage. Das müsste man in weiteren Studien prüfen und dann eventuell abwägen, was wichtiger ist. Im erbitterten Streit über die Rechtschreibung wäre es jedenfalls generell gut, mehr empirische Studien zu den Vor- und Nachteilen der neuen Schreibweisen zu haben. Bisher wird die Diskussion ja überwiegend theoretisch geführt.

Interview: Tanjev Schultz«


( Süddeutsche Zeitung Nr.175, Montag, den 01. August 2005 , Seite 8 )


Kommentar von DKZ, verfaßt am 26.08.2005 um 10.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=285#1567

Leseforscher im Kreuzfeuer
Rechtschreibreform war gestern, heute ist Rechthabreform!

»Der Balletttänzer küsst die blond gelockte Gämse.« Kommt Ihnen dieser Satz – mal abgesehen vom Sinngehalt – irgendwie merkwürdig vor? Wenn ja, dann sind Sie vermutlich ein Kind der guten alten Rechtschreibung. Doch ach, die ist seit dem 1. August 2005 offiziell Vergangenheit. Denn mit diesem Datum endete die siebenjährige
Übergangsfrist, in der an den Schulen zwar bereits die neue Orthografi e gelehrt, die alte jedoch noch stillschweigend geduldet wurde. Nun also gelten die reformierten Regeln – in mittlerweile entschärfter Fassung. Nur nicht in Bayern. Und nicht in NRW. Sowie
in so manchem Presseerzeugnis. Weitere Ausnahmen, Sonderwege und Kann-Bestimmungen vorbehalten – Deutschland,
uneinig Rechtschreibland.

Psychologen von der FU Berlin wagten sich nun kürzlich in die Niederungen dieses verbissen geführten Glaubenskriegs. Die Forscher nahmen ein Eye-Tracking-Gerät, das die Blicksteuerung beim Lesen misst, und installierten es in einen bunt bemalten Kleintransporter. Das »Guckomobil« getaufte Gefährt steuerte die Diplomandin Verena Engl sodann auf den Hof einer Grundschule, um dort knapp vierzig Sechstklässler einem halbstündigen Lesetest zu unterziehen. Dieser sollte die Frage klären, bei welcher Rechtschreibung die Kinderaugen schneller über die präsentierten Sätze huschten – bei der ihnen geläufi gen neuen oder der alten.
Sechs verschiedene Kategorien wurden bewertet: vom Doppel-s nach kurzem Vokal (»küsst« versus »küßt«) bis zur Trennung einstmals verschmolzener Adjektive (»blond gelockt« versus »blondgelockt«).

Wie sich zeigte, blieb der Blick der 11- bis 13-jährigen Probanden bei der so genannten Stammschreibung bei Zusammensetzungen (»Balletttänzer« statt »Ballettänzer«) deutlich länger an den Dreifachkonsonanten hängen – für die Leseforscher ein Indiz für lauernde Verhaspelgefahr. Und das, obwohl die Pennäler aus dem Deutschunterricht nichts anderes gewöhnt waren.

Wasser auf die Mühlen der Reformgegner? Mitnichten! Denn in drei der fünf anderen Testkategorien erwies sich die neue Schreibung als leichter lesbar. Eine Rücknahme der Reform würde die Schüler folglich
vor Probleme stellen – so die Forscher, die sich zudem erdreisteten, bundesweit einheitliche Schreibweisen zu empfehlen. Kaum traten die Leseforscher mit diesem Fazit an die Öffentlichkeit, hagelte es bitterböse Kommentare von Reformgegnern: Papperlapapp! Wer aus solchen Daten ein Lob der neuen Rechtschreibung zimmern wolle, der betreibe nicht Psychologie, sondern »Pseudologie«, wie es ein erzürnter Kritiker formulierte.

Ziemlich starker Tobak für eine bescheidene kleine Studie, die über den Wert der neuen Orthografieregeln an sich – über deren Lernbarkeit etwa oder mögliche Folgen fürs Schreiben – gar nichts aussagt. »Eine solche Einmaltestung lässt nur darauf schließen, dass die heutigen Schüler mit der neuen Schreibung schon gut vertraut sind«, sagt Florian Hutzler, der die Diplomstudie betreute.

Der Vorwurf, bei der konstatierten Leseerleichterung handle es sich »bloß« um einen Gewöhnungseffekt, geht somit am Thema vorbei. Dass dieser trotz des nicht enden wollenden Tauziehens um die Orthografie überhaupt eingesetzt hat, ist das eigentlich Bemerkenswerte. Im Übrigen offenbart der Fall des »Guckomobils«, welch schweren Stand die empirische Leseforschung in Fragen hat, in denen ein jeder – schon aus Gewohnheit – steif und fest auf seinem Urteil beharrt. Offenbar scheint es vielen bei der zur Debatte stehenden Reform statt ums Rechtschreiben eher ums Rechthaben zu gehen.


Steve Ayan, Gehirn & Geist 9/2005 Seite 59




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