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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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19.05.2005
 

Reinhard Markner
Unstrittiger Missstand

Wie in Poes Erzählung vom versteckten Brief lag das Verborgene offen zutage. »Hatte Freud doch recht?« titelte letztens der Spiegel.

Und eine Woche später: »Kapitalismus total global. Der rauhe Wind der Weltwirtschaft«.

Da war also doch noch die Rückkehr zur »klassischen« Rechtschreibung, die man im letzten Sommer angekündigt hatte. Demonstrativ und beinahe unsichtbar zugleich. Hatte Duden doch recht? Deutschlands namhaftester Orthograph war einst für die Kleinschreibung von recht haben eingetreten. Oder doch Heyse? Auf den Grammatiker August Heyse geht jene Regelung zurück, die den Kernbestand der Reformschreibung ausmacht: die partielle Ersetzung von ß durch ss.

Wer dass schreibt und nicht daß, schreibt reformiert. Diese Faustregel gilt auch für den Spiegel, ungeachtet aller sonstigen Korrekturen. Gelänge es den Reformern und ihren politischen Verbündeten, wenigstens diese eine Änderung zur allgemeingültigen Norm zu machen, hätten sie ihr einziges noch verbliebenes Ziel erreicht.

Rechtschreibreformen sollen gewöhnlich der Anpassung der Schreibung an die Lautung dienen. Alle weiteren Zielsetzungen sind dem untergeordnet oder daraus abgeleitet. Nun ist die deutsche Rechtschreibung, gemessen an der Hochlautung, bereits recht lautgetreu, was zum Teil daran liegt, daß sich die Hochlautung überhaupt erst aus der Schriftform entwickelt hat. Die Reformer wollten aber eine noch »flachere« Schreibung einführen, wie sie z. B. das Finnische und das Türkische besitzen. Deshalb forderten sie eine Reduzierung des Konsonan-tenbestandes (f statt v, ks statt x usw.), den Verzicht auf Vokallängenbezeichnungen (Bot statt Boot, Sene statt Sehne usw.) und die Eindeutschung aller Fremdwörter (Rütmus, Schangdarm usw.). Die Abschaffung der Substantivgroßschreibung gehört auch zu diesem Programm, hat sie doch in der Aussprache keine Entsprechung.

Die 1996 beschlossene Reform erinnert nur entfernt an diese Ziele. Schreibungen wie nichts sagend und selbstständig, Trennungen wie Fotos-phäre und Tee-nager bilden die korrekte Aussprache gerade nicht angemessen ab. Immerhin jedoch gehört die veränderte ss/ß-Schreibung in den Zusammenhang der Systematisierung und der Steigerung der Lauttreue. Vor allem aber verändert sie als einzige Änderung die Schreibung des Deutschen in unübersehbarer Weise. Das macht sie so bedeutsam.

Als Heyse die zugehörigen Regeln in den 1820er Jahren vorstellte, erklärte er die Verwendung des ß am Silbenende (müssen, aber muß) für »mißbräuchlich«. Natürlich bezog sich seine schrifthistorische Argumentation auf den Schreibgebrauch in den damals ganz überwiegend verwendeten Bruchschriften. Für den Fraktursatz seiner Grammatik ließ er sogar ein eigenes Zeichen gießen, das die wichtigste Funktion des ß übernahm, nämlich die Bezeichnung des Silbenschlusses. Mit zwei langen s ersetzte er nur das ß vor t (hasst statt haßt). In Wörtern wie Haß kam das neue Zeichen zur Anwendung, eine Ligatur aus langem und rundem s.

In der Antiqua ist das lange s schon lange ungebräuchlich. Es überlebt nur im ß, das anders gebildet ist als das Fraktur-ß. Letzteres ist nämlich aus einem langen s und einem epigraphischen Kürzel entstanden. Beim Antiqua-ß hingegen handelt es sich um eine Ligatur aus langem und rundem s, ganz wie bei dem von Heyse entworfenen Zeichen.

Verzichtet man auf diese Ligatur, sind Leseerschwernisse die Folge, weil die Wortfugen verschleiert werden: Flussaue, Messergebnis. Ferner kommt es zu ästhetisch unbefriedigenden und mühsam zu lesenden Wortgebilden mit Dreifach-s: Missstand, Schlusssatz. Heyses Regeln sind Umlernern relativ leicht zu vermitteln. Dennoch zeigt der öffentliche Sprachgebrauch eine hohe Fehlerquote: Grüsse, Strasse. Offensichtlich verstehen viele nicht, wo das ß bleiben soll. Statistische Untersuchungen zeigen, daß es den Schülern nicht anders geht.

Die Mängel der Heyseschen Schreibung sind also keineswegs unbedeutend. Die Kritik an der Reform hat sich auf deren eklatantesten Mängel konzentriert, insbesondere auf die forcierte Getrenntschreibung. Daraus zu folgern, daß die ss-Schreibung »unstrittig« sei, ist allerdings Wunschdenken der Kultusministerkonferenz.

Natürlich war der Rückgriff auf ein steinaltes Konzept keine Reform im landläufigen Sinne. Aber selbst wenn es am Ende nur bei diesem einen Eingriff bliebe, hätten die Reformbetreiber doch eines erwiesen: daß eine staatlich organisierte Veränderung der deutschen Orthographie überhaupt möglich war.


Quelle: Ossietzky 10/2005


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