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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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15.02.2005
 

Gesten lügen nicht
Vorausgesetzt, man hat noch kein Rhetorikseminar besucht

»Wer Seminare über Körpersprache macht und damit die Kommunikation unter Menschen in verschiedenen beruflichen Bereichen nachhaltig verbessern will, braucht eine Ethik.«

Wie die aussieht, geht aus dem Bericht des St. Galler Tagblatts über den Amerikaner Dominic Peter Fischer allerdings nicht hervor. Fest steht jedenfalls, daß seine Seminare sich an Leute richten, die etwas verkaufen wollen – und selbst genügend Geld haben.



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Kommentare zu »Gesten lügen nicht«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.02.2005 um 10.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#291

Getrennt- und Zusammenschreibung

Hier haben wir wieder einmal ein Beispiel für die Zweideutigkeit der Botschaft:
„Der weit gereiste Amerikaner kommt regelmässig in die Schweiz ...“
Ist er in die Schweiz „weit“ angereist (im Sinne von Distanz), weil aus Amerika kommend?
Oder meint der Autor „weitgereist“ im Sinne von „welterfahren“?

Gehen wir einmal davon aus, daß den meisten Journalisten und Redakteuren die Zweideutigkeit solcher anachronistischen, zwangsreformierten Wortbilder durchaus bewußt ist. Bleibt die Frage: Weshalb lassen sie es zu, daß solche Wörter im Druck erscheinen?
Ich habe mir meine persönliche Antwort zurechtgelegt. Die versuchte Kollektivierung der Orthographie, als die man die sogenannte Rechtschreibreform auch sehen kann, erzeugt ein spezielles Verhalten des Einzelnen gegenüber der Schriftsprache. Und dieses heißt Verantwortungslosigkeit. Da die Schrift nun nicht mehr „seine“ ist und er sich darin nicht wohlfühlen kann, verläßt ihn auch die Liebe zu derselben.

Das Schreibvolk rächt sich für die Zwangsmaßnahme der Obrigkeit je nach Temperament, Wissensstand und Charakter auf unterschiedliche Weise. Die Mehrheit der zur Reformschreibung Gezwungenen praktiziert das, was im Umgang mit materiellen Gütern aus sozialistischen Gesellschaftsformen bekannt ist: man legt ihnen gegenüber Gleichgültigkeit an den Tag, ist nicht mehr zu sorgfältiger Pflege und Weiterentwicklung bereit. Niemand fühlt sich individuell verantwortlich.
Genau dies kann auch bei geistigen Gütern eintreten. Die „Enteignung“ und Überführung der Orthographie in das „kollektive Eigentum“ (das Sprachmonopol maßt sich der Staat an) führt schlagartig zu nachlassendem Bemühen der einzelnen Sprachbenutzer um rechtes und verständliches Schreiben. Welche Auswirkungen das auf die nachfolgende Generation haben wird, mag sich jeder selbst ausmalen.

Denkt der Schreiber: Ist es nicht egal, ob weitgereist oder weit gereist? Soll doch der Leser damit klarkommen! Ich tue nur das mir Befohlene, und damit weiß ich mich in guter Gesellschaft ... Weitgereiste Gedanken sind das nicht, schon eher weit gereiste.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 15.02.2005 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#292

Die Krux bei der Zusammenschreibung von Verbindungen mit Partizipien ist die Lexikalisierung: Was zu einem echten Adjektiv geworden ist, ist natürlich zusammenzuschreiben. Oft greift die Syntax jedoch der Lexikalisierung vor. Attributiv sollte "weitgereist" auf alle Fälle in einem Wort geschrieben werden. Aber wie steht es mit diesem Satz: "Dieser Amerikaner ist weitgereist"? Der Ton liegt jetzt anders, was auf Getrenntschreibung hindeutet, also "weit gereist", dies jedoch läßt sich auch als Perfekt von "weit reisen" verstehen. Kann man schließlich sagen, "Der Freund dieses Amerikaners ist noch weitgereister"? So schwierig ist die deutsche Rechtschreibung. Es gibt natürlich eine Schmerzgrenze:

Die Mehrheit der zur Reformschreibung Gezwungenen praktiziert das, was im Umgang mit materiellen Gütern aus sozialistischen Gesellschaftsformen bekannt ist: man legt ihnen gegenüber Gleichgültigkeit an den Tag, ist nicht mehr zu sorgfältiger Pflege und Weiterentwicklung bereit. Niemand fühlt sich individuell verantwortlich.

Aber ist nicht auch die herkömmliche deutsche Rechtschreibung Kollektiveigentum und ihre Befolgung sanfter Zwang? Wo rührte denn sonst die urdeutsche Angst vor dem Fehlermachen her? Seit 1996 hat der Staat zwar seine Hand von der Dudenschreibung abgezogen, aber das kann sich demnächst über Nacht wieder ändern. Wo bleibt ohnehin die individuelle Verantwortung, wenn die Losung lautet: "Was nicht im amtlichen Rechtschreibwörterbuch steht, ist falsch"? Weitgereiste Zeitgenossen wissen, daß hierzulande mehr im Argen/argen liegt als die Rechtschreibung.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.02.2005 um 12.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#293

Herr Jochems, Sie schreiben:
"Aber ist nicht auch die herkömmliche deutsche Rechtschreibung Kollektiveigentum und ihre Befolgung sanfter Zwang?"

WER hat Sie denn gezwungen?


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2005 um 13.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#294

Der Hinweis von Herrn Jochems ist sehr bedeutend, auch im Zusammenhang mit der jüngsten Diskussionen um die Freigabemöglichkeiten innerhalb der GZS. Das ganz läuf eventuell darauf hinaus, daß es noch mehr Ausnahmen von der (Icklerschen) Grundregel Wörter werden durch einen Zwischenraum voneinander getrennt gibt als bloß die Verbzusatz-Konstruktionen. - (Oder es handelt sich in diesen besonderen Fällen eben nicht um Wortgruppen, weil der Schreiber es nicht will.) In Hans Altmann, Wortbildung fürs Examen kann man sich eine guten Überblick verschaffen, welche verschiedenen Regularitäten es in diesem Bereich gibt und welche Bedeutung gerade der Betonung zukommt. Zu weitgereist: Weil bei attributivem Gebrauch erweiterter Adjektive (und Partizipien) die Betonung ohnehin auf das Erstglied fällt, ist eben nicht gesagt, daß es sich um ein Determinativkompositum oder Dergleichen - ;-) - handelt.

Es stellt sich die Frage, ob es in unseren Zweifelsfällen überhaupt um orthographische Varianten geht oder eher um syntaktische. Dies hätte die Folge, daß es auch im Bereich der Syntax möglicherweise Einzelfallfestlegungen gibt, daß eine bestimmte syntaktische Form in einem Einzelfall unüblich und daher falsch ist. Genauso wie Herr Ickler zähneknirschend "iß soviel, wie du willst" zuläßt, müßte er vielleicht "du sollst mich los lassen" zähneknirschend verbieten.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.02.2005 um 15.08 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#296

Herr Jochems, Sie schreiben:
"Aber ist nicht auch die herkömmliche deutsche Rechtschreibung Kollektiveigentum und ihre Befolgung sanfter Zwang?"
WER hat Sie denn gezwungen?


Aber liebe Frau Pfeiffer-Stolz, darin liegt doch gar nicht das Problem. Natürlich wurde es auch vor der Reform sanktioniert, wenn man beim Schreiben gegen die »gültigen« Rechtschreibregeln verstoßen hat, vorausgesetzt, es wurde überhaupt bemerkt.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.02.2005 um 15.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#297

Ach, lieber Herr Lachenmann, bitte verstehen Sie mich doch nicht so miß.
Vom STAAT will ich mir nicht vorschreiben lassen, wie ich zu schreiben habe. Und der hat sich doch wohl früher weitgehend herausgehalten, oder?
Natürlich wurden falsche Schreibweisen früher - werden sie bis heute - durch die Leser sanktioniert: durch die Schule, die Institutionen, den Arbeitgeber usw.
Eine zu rigide Sanktion ist durchaus zu beklagen - was ich schon oft genug hier betont habe. Aber vom Staat – siehe oben ...


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.02.2005 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#298

Die Schule, wo wir mehr oder weniger sanft dazu angehalten wurden, uns an die »gültigen« Rechtschreibregeln zu halten, war auch bisher schon »der Staat«. Und wenn »der Staat« etwas recht macht, was ja vorkommen kann, dann beklagen wir es doch auch nicht, daß er sich einmischt. Nicht daß uns die Reform vom Staat aufgedrückt worden ist, ist das Problem, sondern daß sie so miserabel ist und einen solchen Schaden angerichtet hat.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.02.2005 um 16.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#299

Lieber Herr Lachenmann, möchten Sie mich wirklich nicht verstehen? Niemand KANN so ein kompliziertes, gewordenes, gewachsenes Gebilde wie die Rechtschreibung einfach mirnix dirnix reformieren! Das ist menschliche Hybris! Das gerade IST der Sündenfall!
Nur ein Vergleich: Die Unverbesserlichen unter den Gesellschaftsträumern glauben doch noch immer, die DDR sei nur deshalb gescheitert, weil eine gute und richtige Idee schlecht ausgeführt wurde. Weil schlechte Politiker am Werk waren. Weil das sündhafte Volk einfach nicht tat, was es sollte. (Wie oft sind Versuche, das Volk zu seinem Glück zu zwingen, schon blutig verlaufen – in diesem Fall ging es glimpflich aus!) Sollte man es nun wirklich noch einmal versuchen, mit besseren Politikern, besseren Bürokraten und dem besseren (noch zu erschaffenden) Menschen? Den Ausgang dieses Experiments kann man getrost vorhersagen.

Es gibt Dinge auf dieser Welt, an denen darf sich kein Mensch ungestraft vergreifen. Dazu gehört die Sprache. Ich bezweifle, daß die Reform nur deshalb gescheitert sei, weil sie „schlecht“ war. Es ist doch so gut wie alles an ihr schlecht, was gar nicht anders sein kann. Eine Reform, wie sie reibungslos akzeptiert worden wäre, gibt es nicht. Einer lebendigen Sprache bleibt nur ein Entwicklungsweg: die Evolution. Und genau diesen Weg wird sich auch unsere Sprache wieder bahnen. Daran werden weder Sie noch ich noch der berüchtigte Rat für Rechtschreibung etwas ändern.

Zuletzt: Von schulmeisternden Lehrern, die u.a. in der Orthographie (bis heute) ein Zuchtinstrument sehen, soll hier nicht die Rede sein – sie sind gottlob eine Minderheit. Die Rechtschreibzwänge, die früher durch die Schule ausgeübt wurden, waren vielmehr sachimmanenter Natur. Diese gingen von der Sprache selbst aus, was den meisten Schülern einleuchtete und sie ganz nebenbei auch zu Sorgfalt erzog. Solchen Zwängen unterwerfe ich mich lieber als den lächerlichen Willkürregeln von Menschen, die meinen, sie müßten sich nicht nur über die Gesetze der Evolution, sondern auch über ihre Mitmenschen erheben.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.02.2005 um 16.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#300

Ich habe noch eine Frage an Herrn Lachenmann:
Kindern wird in der Schule das Einmaleins „sanft“ eingetrichtert, auf staatliches Geheiß.
Auch hier gibt es „gültige“ Rechenregeln, an die sich die Kinder halten müssen. Wer das Einmaleins nicht lernt, hat weder in der Schule noch im späteren Leben viel zu lachen. Wollen wir die Schule bzw. den Staat bezichtigen, er habe das Machtmonopol auf das Zählen und Rechnen, nur weil die Mathematik an Schulen gelehrt wird?
Ich glaube, Sie sehen den Sinn von Schule anders als ich. Der Unterricht soll auf das vorbereiten, was in der Gesellschaft als allgemeingültig anerkannt und gepflegt wird. Wir könnten das auch in einer Privatschule lernen. Oder von den Eltern. Daß es in staatlichen Schulen geschieht, läßt nicht den Schluß zu, der Staat mache hier inhaltlich irgend etwas richtig oder falsch. Das hieße den Staat maßlos zu überschätzen.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.02.2005 um 22.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#310

Wir müssen uns doch gar nicht so unterschiedliche Einschätzungen unterstellen, liebe Frau Pfeiffer-Stolz. Wie es dazu kam, daß »der Staat« sich hier betätigt hat, was er besser nicht hätte tun sollen, das ist eine lange Geschichte. Daß es reichlich schiefgegangen ist, weiß »der Staat« heute genauso wie wir. Und um den Unfug wieder aus der Welt zu schaffen, rufen wir jetzt ja wieder nach dem »Staat«. Ist das alles nicht ein bißchen zu anonym? Und führt zu nichts?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2016 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10481

Kürzlich ging eine "Untersuchung" durch die Presse, mit der Zeitungsvolontäre wunschgemäß herausgefunden haben, daß kein Politiker so oft "lügt" wie Frauke Petry.
Hier wird gezeigt, was davon zu halten ist: http://www.achgut.com/artikel/die_petry_taklshow_luegen_studie_eine_ente_aus_dem_maerchenland

Früh übt sich der Nachwuchs der Lügenpresse, und der Zweck heiligt die Mittel.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2016 um 06.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10482

Der Brexit zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, so daß es schwer sein dürfte, den zwanzigsten Jahrestag der Rechtschreibreform gebührend zu feiern. 1998 kam uns auf ähnliche Weise der Kruzifixstreit dazwischen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2016 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10483

Zum Brexit nun Bregret: "Hätten wir gewußt, daß wir in der Mehrhahl sind, hätten wir anders abgestimmt. Darum wollen wir noch einmal abstimmen, aber diesmal richtig!"
Über Volksentscheide kann man sich hinwegsetzen: Von Schleswig-Holstein lernen!


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2016 um 13.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10484

In unserer Regionalzeitung lese ich, die EU müsse nun liefern. Martin Schulz dagegen meint, die Briten müßten liefern:

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) setzt dem Zeitspiel der Briten nun eine konkrete Terminforderung entgegen. Die EU erwarte, "dass die britische Regierung jetzt liefert. Der Gipfel am kommenden Dienstag ist hierfür der geeignete Zeitpunkt", sagte er der "Bild am Sonntag" ("BamS").

Sehr komisch, auch der Sache nach.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 28.06.2016 um 07.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10486

Nun, die Sache ist etwas komplizierter.

Von "Lügenpresse" kann man in Großbritannien, jedenfalls was die Massenblätter betrifft, durchaus reden. Die Situation in Deutschland würde ich eher als journalistische Faulheit bezeichnen. Darüber hinaus muß man die generelle Tendenz zum Vermischen von Berichterstattung und Kommentar berücksichtigen.

Im Fall von Martin Schulz – man könnte auch noch Jean-Claude Juncker, Donald Tusk oder Angela Merkel erwähnen – ist zu berücksichtigen, daß sie und ihre Vorgänger sowie die Staaten, die sie repräsentieren, seit Jahrzehnten von der britischen Boulevardpresse und auch britischen Politikern beleidigt und mit Schmutz beworfen wurden.

Von daher kann ich es gut verstehen, daß Schulz, Juncker und andere nun, nach dem lächerlichen Referendum, bei dem Fakten keine Rolle gespielt haben, sagen: Wir sind es leid. Ihr habt entschieden, nun handelt auch entsprechend. (You made your bed, now you have to lie in it.)

Auch die Gleichsetzung der britischen Abstimmung mit der in S-H halte ich für gewagt, denn die meisten Briten hatten keine Ahnung, wofür oder wogegen sie stimmten, wie jetzt immer deutlicher wird. Das war damals in S-H doch deutlich anders.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.06.2016 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10487

Mit dem Hinweis auf S-H wollte ich nichts gleichsetzen, sondern der britischen Regierung einen ironischen Hinweis geben, wie man Volksabstimmungen übergehen kann, als wären sie gar nicht geschehen. (Inzwischen zeichnet sich zumindest die Möglichkeit ab, daß es tatsächlich so weitergeht.)

Ich bin wie Richard Dawkins und andere der Meinung, daß solche gigantischen Vorhaben wie ein Brexit kein geeignetert Gegenstand für Volksentscheide sind. Bei der Rechtschreibreform war dagegen keine besondere Sachkenntnis erforderlich. Ob er mit der üblichen Orthographie zufrieden ist oder eine andere will, kann jeder gebildete (lesende) Laie ohne Nachdenken sagen.


Kommentar von Marco , verfaßt am 28.06.2016 um 14.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10489

In einer Demokratie ist nun einmal das Volk der Souverän; Grundgedanke der Demokratie ist, daß jeder Bürger in der Lage ist, die Staatsgeschäfte zu führen. Natürlich ist es nicht jeder; aber wer will sich anschicken zu definieren, wer es ist und wer nicht? Deshalb gilt der pragmatische Ansatz, daß ja am Ende die Mehrheit entscheidet und daß bei der Mehrheit und bei der Minderheit die Unfähigen gleich verteilt sind.

Wenn man der Meinung ist, daß bestimmte Fragen nicht vom Volk entschieden werden sollten (ob nun wegen fehlender Sachkunde oder aus anderem Grund), wendet man sich gegen das demokratische Prinzip. Man redet einer Elitenherrschaft das Wort. Auch wenn diese Elite durch eine Wahl demokratisch legitimiert ist, bleibt es eine kleine Auswahl, die dann mehr Rechte hätte als das Volk.
Eine demokratische Wahl aber hat der Idee nach den Sinn, Stellvertreter des Volkes zu bestimmen, die die Rechte des Volkes umsetzen, also nicht mehr Rechte als das Volk haben, also stellvertretend für das Volk das tun, was das Volk in einer direkten Demokratie selbst täte.
Diese Definition der repräsentativen Demokratie kann somit nicht ausschließen, daß bestimmte Fragen von den Repräsentanten an das Volk zurückgegeben und vom Volk direkt beantwortet werden.

Aus der Haltung, daß das Volk bestimmte Dinge nicht selbst regeln kann und regeln sollte, spricht das tiefe Mißtrauen gegen das Volk. Im Falle der Journalisten heute in bezug auf den Brexit schwingt noch eine Menge Überheblichkeit und Anmaßung mit. Auf jeden Fall ist die Haltung zutiefst undemokratisch.

Daß im übrigen beim britischen Referendum Fakten keine Rolle gespielt haben sollen, daß die Briten keine Ahnung gehabt haben sollen, was sie eigentlich tun, ist zwar Credo der deutschen Leitmedien, läßt sich aber nicht anhand britischer Medien bestätigen. Beispielhaft sei der Film "Brexit the movie" erwähnt. Man muß keineswegs einverstanden sein mit den Argumenten, die dort vorgebracht werden; aber es sind Argumente, und die werden mit Fakten abgesichert. Dem muß man wie gesagt nicht folgen; man darf aber nicht behaupten, Fakten hätten keine Rolle gespielt.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.06.2016 um 05.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10490

Dazu wäre viel zu sagen, aber das führt sicherlich hier zu weit. Ich sehe übrigens nicht, daß jemand den Briten unterstellt, sie hätten keine Ahnung gehabt, sondern bloß nicht genug Ahnung, und auf diesen Unterschied kommt eigentlich alles an. Denn genau deshalb haben wir die repräsentative Demokratie und nicht eine ultra-rousseauistisch direkte.

Als junger Mensch neigt man zur Vergöttlichung des Mehrheitswillens und nennt alles andere schnell "zutiefst undemokratisch". Die Athener waren die ersten, die damit ihre Erfahrungen machten: das halbe Volk den ganzen Tag auf der Agora und abstimmen, abstimmen...
Mißtrauen gegen das Volk, in der Tat. Aber das ist ein weites Feld.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 29.06.2016 um 07.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10491

Zu #10489

Wie Herr Ickler schon erwähnt hat, gäbe es dazu viel zu sagen, und man könnte ganze Bibliotheken mit juristischer, politikiwssenschaftlicher oder historischer Litertur zu diesem Thema füllen.

Nur ein paar grundsätzliche Einwände:

Wer ist das Volk (Demos) in einer Demokratie? Das ist eine schwierige Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Man könnte juristisch argumentieren und sagen, daß es die Summe aller Wahlberechtigten ist. In diesem Sinne gehörten die Frauen in der Schweiz bis 1971 nicht zum Volk.

In bezug auf das Referendum im Vereinigten Königreich bestand das "Volk" aus dessen im Land wohnenden Bürgern, im Lande wohnenden Iren und Bürgern der Commonwalth-Staaten sowie britischen Staatsbürgern, die nicht länger als 15 Jahre außerhalb des Landes gelebt haben. Ist dies das "Volk"?

Des weiteren gibt es mindestens zwei verschiedene Ansätze hinsichtlich des Verhältnisses von Volkssouveränität und Recht. Bei den einen steht der Wille des Volkes, wie er sich in Wahlen und Abstimmungen äußert, an oberster Stelle. Beispiele dafür sind die Schweiz oder die Niederlande. Aber selbst hier gibt es Einschränkungen, denn die Frauen im Kanton Appenzell Innerrhoden bekamen ihr Wahlrecht 1991 per Gerichtsbeschluß und gegen den Willen des Wahlvolkes zugesprochen.

Ein anderer Ansatz ist der, daß meist naturrechtlich hergeleitete Prinzipien den Volkswillen nicht nur begrenzen, sondern auch Grundrechte und Minderheiten schützen, nicht zuletzt, um eine Diktatur der Mehrheit zu verhindern. Diesen Weg haben beispielsweise die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland beschritten, indem sie ein oberstes Gericht etabliert haben, das auch demokratisch zustandegekommene Entscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft.

"Aus der Haltung, daß das Volk bestimmte Dinge nicht selbst regeln kann und regeln sollte, spricht das tiefe Mißtrauen gegen das Volk."

Nein, das ist ein Ergebnis historischer Erfahrung, die, wie Herr Ickler bereits erwähnt hat, bis in die Antike zurückgeht. In Großbritannien zeigt sich das Problem in aller Deutlichkeit, weil das staatliche Schulsystem in der Regel unglaublich schlecht ist und die Mehrheit der Schulabgänger über so gut wie gar keine politische Bildung verfügt. Hinzu kommt, daß selbst die meisten britischen Politiker keine Ahnung über die Funktionsweise der EU haben. Gerade im "Leave"-Lager war man sich der unglaublichen Komplexität eines Austritts offensichtlich nicht bewußt (Nordirland, Gibraltar, Schottland). Mutatis mutandis gilt das natürlich für die Journalisten, die einfach zu faul waren und sind, das ordentlich zu recherchieren und zu publizieren.

Ihre Schelte deutscher (Leit-)Medien läuft insofern ins leere, als ich mich auf die britische Medienlandschaft bezogen habe, die ganz überwiegend und sehr gezielt Unwahrheiten über Europa, die EU und europäische Politiker verbreitet, und zwar schon seit Jahrzehnten.

Daß Sie den Film "Brexit – The Movie" als "beispielhaft" erwähnen, stärkt Ihre Argumentation nicht gerade, denn es handelt sich dabei um ein manipulatives Propagandastück, auf das Goebbels stolz gewesen wäre. Vielleicht informieren Sie sich einmal, wer der Produzent war, wer den Großteil der Produktion bezahlt hat und welche wirtschaftlichen Interessen dahinterstehen! Die von Ihnen erwähnten sogenannten "Fakten" sind ebenso wertvoll wie die von Kreationisten.

Im übrigen dürften die wenigsten wegen dieses Propagandafilmchens für den Austritt gestimmt haben. Es war eine reine Protestabstimmung gegen "die da oben", und zwar im Vereingten Königreich, nicht in der EU.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.06.2016 um 09.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10493

Das erinnert ein wenig an die reine Lehre des Wirtschaftsliberalismus, die ja auch sehr überzeugend klingt. Ich möchte Hayek nicht unrecht tun, aber ich war gerade aus diesem Grunde lange von seinen Schriften geradezu betört.
Dann sind Kartellgesetze, Sozialgesetze, Familienlastenausgleich, Umweltschutz usw. Teufelszeug. Aber dann möchte man auch gar nicht mehr leben.

(Wie mir gerade einfällt, habe ich mich über ähnliche Fragen mal in einem Aufsatz verewigt: „Zur Semantik des politischen Schlagwortes (und anderer Wörter).“ (Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 21/1990:11-26))


Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.06.2016 um 12.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10494

Der Begriff "Volk" kommt gerade wieder in Verruf. Es gibt auch Staaten mit mehreren Völkern: In der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei gab es Tschechen, Slowaken und Deutsche; die Polen haben lange zu der Einsicht gebraucht, daß es im Nachkrieges-Polen Polen, Deutsche und Ukrainer gibt. Es wäre richtiger, von Staatsbürgern zu sprechen, wie es bereits im Römischen Kaiserreich der Fall war, siehe Apostel Paulus.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 29.06.2016 um 12.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10495

Naja, so jung bin ich nun auch nicht mehr, und ich habe auch keine reine Lehre der Demokratie gepriesen. Noch weniger habe ich für Rousseau plädiert oder gar den Mehrheitswillen vergöttlicht. Gott bewahre! Und Athen ist nun wahrlich kein Beispiel für eine Basisdemokratie; es ist eine Elitenherrschaft mit interner demokratischer Verfassung. Es war Grundbestandteil der attischen Demokratie, den Pöbel außen vor zu lassen. Eher müßte hier das germanische Thing genannt werden.

Es geht um grundsätzliche Auffassungen von Demokratie und des sie tragenden Volkes. Man muß ja kein Demokrat sein, man kann auch Aristokrat sein – welche Elite auch immer man dabei favorisiert. Als Demokrat aber muß man nicht nur akzeptieren, sondern gutheißen, daß das Volk entscheidet.
Das macht auch nicht vor dem Minderheitenschutz und dergleichen halt. Wäre das so, dürften Verfassungen nicht von Volksentscheiden abhängen. Daß das Grundgesetz nicht vom Volk bestätigt wurde, wird ja gerade als Beweis genommen, daß es keine Verfassung im engen Sinne sei.

Wie ich schon ausgeführt habe, ist es natürlich eine grundsätzliche Frage, wer abstimmen darf. Je größer die Menge der Wähler ist und je allgemeiner die Auswahlkriterien, desto geringer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß das Wahlergebnis von der Auswahl abhängig ist, wer wahlberechtigt ist.

Wenn Sie auf das britische Schulsystem verweisen, sagen Sie zum einen, daß schulische Bildung notwendig ist, um politische Entscheidungen zu treffen, und zum anderen, daß eine Regierung oder ein Staat durch eine geschickte Steuerung der Schulbildung das Wahlvolk in jede beliebige Richtung erziehen kann.
Nun, und wenn das so wäre: Ist nicht die britische Regierungsmehrheit für den Verbleib in der EU? Ist es nicht so, daß vorwiegend die Älteren, die also nicht das jüngere britische Schulwesen durchlaufen haben, für den Austritt sind, und die Jüngeren (sofern sie überhaupt gewählt haben), die also von der jüngeren britischen Schule geprägt sind, für den Verbleib?

Den Film "Brexit the movie" habe ich natürlich als Beispiel für Austrittspropaganda genommen. Ich habe zweimal geschrieben, daß man sich den Ausführungen darin nicht anschließen muß. Ich habe mich damit dagegen ausgesprochen, daß – wie Sie sagen – Fakten keine Rolle gespielt hätten. Die Austrittsbefürworter haben eben nicht (zumindest nicht mehr als jeder Politiker im Wahlkampf) mit Emotionen oder Ängsten gearbeitet – nicht mal in einem Propagandaschinken wie "Brexit the movie" –, sondern mit Argumenten. Die kann man ja zurückweisen; aber es bleibt dabei, daß an die Vernunft appelliert wurde.

Ich habe klar zwischen deutschen und britischen Medien unterschieden. In den britischen wurde frei und sachlich – jedenfalls deutlich sachlicher als in den deutschen Medien – über die Vor- und Nachteile diskutiert. Beide Lager hatten Gelegenheit, sich zu äußern. Es fiel vor allem auf, daß die Befürworter eines Verbleibs vielmals emotional argumentierten und die Angst vor einem ökonomischen Absinken, ja vor dem Ausscheiden des Königreichs aus dem Kreis der zivilisierten Nationen schürten.
Selbst wenn man Unsachlichkeit oder Massenverführung beklagt, müßte man beide Seiten schelten und somit einsehen, daß sich das gegenseitig aufgewogen hat.

Daß sich all die Meldungen, wonach die Briten erschrocken sind über das Wahlergebnis und ein neues Referendum anstreben, in Wohlgefallen auflösen, kommt noch hinzu. Das Meinungsforschungsinstitut Comres sieht gerade mal ein Prozent "Regret" unter der Austrittsbefürwortern.

Was die Komplexität der EU angeht, ist das nun wahrhaftig kein Ruhmesblatt für die EU und auch nichts Erstrebenswertes oder ein Grund, in der EU zu bleiben. Ich habe gerade ein halbes Jahr damit zugebracht, Neuntkläßlern die EU mit ihren Institutionen und Zuständigkeiten zu vermitteln. Ein dickes Brett, fürwahr. Glauben Sie, das hat bei den Schülern Begeisterung für Europa, für die EU geweckt?

Die Norweger haben gegen den Beitritt gestimmt. Die Briten sind bislang die einzigen, die über einen EU-Austritt abgestimmt haben. Was macht mich glauben, daß andere Länder für gegen einen Austritt stimmen, wenn sie Gelegenheit dazu hätten? Was macht mich glauben, daß die alle unfähig sind, das Richtige zu erkennen?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.06.2016 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10496

Ich habe übrigens nicht gesagt, daß es falsch ist, für den Austritt zu stimmen. Ich meine bloß wie der weise Richard Dawkins, daß viele Leute, mich eingeschlossen, nicht genug wissen, um sich pauschal für oder gegen die Mitgliedschaft zu entscheiden. Ich könnte aufzählen, was ich daran gut finde und was nicht. Das ist bei der Politik in Deutschland und in Bayern ebenso, nur daß sich hier die Frage des Austritts glücklicherweise nicht stellt.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 30.06.2016 um 09.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10498

Lieber Germanist,

die Mengen "Staatsbürger" und "Wahlberechtigte" sind nicht unbedingt deckungsgleich, wie ich aufgezeigt zu haben glaube. Die Definition "Staatsbürger" ist für die Ermittlung des "Demos" (also der Wahlberechtigten) relevant, aber nicht unbedingt entscheidend.


Kommentar von Klaus Achenbach , verfaßt am 30.06.2016 um 22.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10500

Die Behauptung, die britischen Wähler hätten gegen "die da oben" gestimmt, ist erstens eine bloße Vermutung und zweitens ein abgegriffenes Cliché, nicht besser als das der "diffusen Ängste".

Bei uns wäre eine solche Behauptung angesichts des Kartells der "etablierten" Parteien auf den ersten Blick vielleicht glaubhaft. Für wen hätten deutsche Wähler aber stimmen sollen? Nicht einmal die AfD fordert ja den Austritt.

In GB ist die Lage ganz anders, denn dort sind "die da oben" ja selbst gespalten. Also haben die einen Wähler für die einen, die anderen für die anderen "da oben" gestimmt. Da ist es auch nicht so leicht, einer der beiden Seiten die Faktenkenntnis abzusprechen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.07.2016 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10501

In einigen Zeitungen wird erörtert, welche Folgen der Brexit für die Wissenschaftspolitik haben wird. Das ist schwer zu überschauen, nicht einmal die Betroffenen werden einen ausreichenden Überblick haben.
Weit verbreitet scheint in GB eine Abneigung gegen die gleichwohl unentbehrlichen EU-Ausländer zu sein, die dort arbeiten. Objektiv läßt sich das kaum erfassen und von anderen Gründen trennen.
Nur zwei Beispiele dafür, wie schwer es ist, eine solche Sache mit Ja/Nein zu entscheiden.
Daß viele Briten jetzt selbst kalte Füße bekommen, ist wohl keine Spekulation mehr.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 02.07.2016 um 10.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10508

Auf Herrn Mahlmanns letztem Beitrag möchte nur in einer Hinsicht eingehen, nämlich:

Was die Komplexität der EU angeht, ist das nun wahrhaftig kein Ruhmesblatt für die EU und auch nichts Erstrebenswertes oder ein Grund, in der EU zu bleiben. Ich habe gerade ein halbes Jahr damit zugebracht, Neuntkläßlern die EU mit ihren Institutionen und Zuständigkeiten zu vermitteln. Ein dickes Brett, fürwahr. Glauben Sie, das hat bei den Schülern Begeisterung für Europa, für die EU geweckt?

1. Die EU ist nicht komplexer als die Bundesrepublik Deutschland. Wahrscheinlich stellt das in Ihren Augen für den deutschen Staat, der ja Ihrer Meinung nach ohnehin über keine echte Verfassung verfügt, "kein Ruhmesblatt" dar.

2. In bezug auf die Brexit-Debatte bezieht sich die Komplexität in erster Linie auf die Konsequenzen für das Vereinigte Königreich, nicht die EU als solche. Alleine die eigentlich als erledigt angesehene Nordirland-Frage wirft zahllose Fragen auf, die während der Kampagnen nur von wenigen Medien angesprochen wurden und auf die niemand eine Antwort weiß.

3. Wenn Sie nicht in der Lage sind, Schülern die Grundzüge des nicht gerade komplizierten Aufbaus der EU zu vermitteln, sollten Sie vielleicht aufhören zu unterrichten. Angesichts Ihrer in diesem Forum geäußerten Ansichten würde es mich aber nicht wundern, wenn Sie das Thema dazu nutzten, Ihre Schüler zu EU-Kritikern zu erziehen, indem Sie die Materie als unnötig komplex präsentieren.

Auf die anderen Punkte werde ich separat eingehen.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 02.07.2016 um 16.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10510

"Auf Herrn Mahlmanns letztem Beitrag möchte nur in einer Hinsicht eingehen, [...]" - Ja, doch wohl nicht. Oder etwa doch?
Zu "Die EU ist nicht komplexer als die Bundesrepublik Deutschland": In diesem Fall hier kommt es eben darauf an, wieviel davon man guten Willens Neuntkläßlern beibringen möchte. Manche wollen sie ja sogar schon zur Wahlurne holen. Mich hat dagegen eigentlich schon immer die Idee Familienwahlrecht interessiert.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.07.2016 um 16.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10511

Mich auch. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Wir Rentner regieren das Land und lassen nichts anbrennen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2016 um 07.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10515

Wie soll die EU auf den Brexit reagieren?
Nach dem britischen Referendum streiten europäische Spitzenpolitiker über die Konsequenzen. Was meinen Sie: Was ist die richtige Antwort auf den Brexit?
Mehr Europa!
Weniger Europa!
Ein demokratischeres Europa!
Weiß nicht.

(Spiegel online 4.7.16)

Wir haben uns zu sehr an Umfragen dieser Art gewöhnt. Fehlt nur noch, daß das Volk entscheiden soll, ob es für mehr oder weniger "Europa" ist. Oder für das Wetter, die Nordsee, die Menschheit.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 06.07.2016 um 07.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10517

Ich hatte ja eine weitere Antwort auf die Beiträge von Herrn Mahlmann und Herrn Achenbach angekündigt. Aus Zeitmangel wegen der Inanspruchnahme durch ein Buchprojekt, von dem auf diesen Seiten wahrscheinlich demnächst zu lesen sein wird, möchte ich es einstweilen mit ein paar Links zu den Hintergünden des Referendums und dessen Ausgang belassen. Einzelheiten folgen separat.


http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/30/brexit-disaster-decades-in-the-making

http://www.theguardian.com/politics/2016/jul/05/how-remain-failed-inside-story-doomed-campaign

https://www.opendemocracy.net/uk/anthony-barnett/chapter-one-thatcher-s-two-headed-bequest

http://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/brexit-und-europa-churchill-haette-sich-zur-eu-bekannt-ld.103275#kommentare


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 06.07.2016 um 07.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10518

Nicht zu vergessen die brillanten Kommentare von Jürgen Kaube und Oliver Georgi in der F.A.Z.:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/am-tiefpunkt-ueber-planloses-dagegensein-als-politik-14319573.html

http://www.faz.net/aktuell/politik/brexit/farage-und-johnson-verantwortungslose-zocker-14323144.html


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 10.07.2016 um 22.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10520

Zu Wahlaltervorschlägen und wen manche z. Z. gerne an der Wahlurne hätten (#10510, #10511): "Naila (dpa). [...] Erst am Freitagabend hatte ein 18-jähriger Mann bei einem Volksfest im mittelfränkischen Treuchtlingen Tierabwehrspray in einem Festzelt versprüht. [/] 10.07.2016 10:47" - Gerade mal volljährig im Sinne des Gesetzes.



Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.07.2016 um 19.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10522

Ich kann an den beiden Kommentaren nichts Brillantes entdecken. Sie gehen vielmehr an den Realitäten vorbei und sind nur aus der Aufregung kurz nach dem Ergebnis des Referendums zu erklären.

Nur ein Aspekt:

Es ist absurd, Nigel Farage vorzuwerfen, "sich aus der Verantwortung zu stehlen". Er hat nie auch nur die geringste Aussicht gehabt, politische Verantwortung zu übernehmen. Seine Partei hat einen einzigen Abgeordneten im Unterhaus, die Konservativen haben die absolute Mehrheit.

Von ähnlicher Qualität sind die anderen Ausführungen.

Inzwischen ist zumindest in Teilen der FAZ wieder poltische Vernunft eingezogen.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 12.10.2016 um 08.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10616

Nachdem nun genau das eingetreten ist, was ich befürchtet hatte, möchte ich endlich noch einmal auf Herrn Mahlmann eingehen, genauer gesagt, auf den Kern der Sache.

Ich kein grundätzlicher Gegner von Volksentscheiden, aber das britische Referendum ist ein Paradebeispiel für den Mißbrauch dieses Instruments und außerdem ein Beispiel für einen undemokratischen Volksentscheid.

Zunächst einmal hatte David Cameron das alles nur veranstaltet, um die Extremisten in seiner Partei ("Bastards", wie John Major sie bezeichnet hatte) zu zähmen. Damit sind einerseits die Nationalisten gemeint, andererseits die Marktradikalen, die von Sozialgesetzgebung oder Umweltschutz rein gar nichts halten. Beide Gruppen weisen in ihren Zielen eine große Übereinstimmung mit UKIP auf, haben aber bessere Manieren und nicht so einen üblen Stallgeruch. UKIP wiederum besaß das Potential, die Konservativen in ihren Stammwahlkreisen so zu schwächen, daß Kandidaten anderer Parteien eine Chance gehabt hätten, diese zu gewinnen. Es handelte sich also um Parteipolitik und -management, und so etwas darf niemals Gegenstand eines Referendums sein.

Noch wichtiger ist aber, daß es unter anderem darum ging, alle Briten ihrer Rechte zu berauben, nämlich denjenigen, die sie als EU-Bürger hatten. Die Freizügigkeit für Personen ist nur eines dieser Rechte, aber wohl das bedeutsamste. Sollten Individualrechte Gegenstand einer Volksabstimmung sein?

Ich wiederhole außerdem, daß die unerhörte Komplexität eines EU-Austritts den wenigsten Wahlberechtigen bewußt gewesen sein konnte. Welche Engländer wußten etwa, daß ein Austritt, das Karfreitagsabkommen, das den Friedensprozeß in Nordirland eingeleitet hat, dadurch in Frage gestellt werden würde? Wer hat sich schon Gedanken über Gibraltar gemacht? Nicht zu vergessen Schottland: Im Vorlauf der Volksabstimmung zur schottischen Unabhängigkeit wurde den Schotten als eines der wichtigsten Argumente zum Verbleib im Vereinigten Königreich von Politikern aller Parteien (außer der SNP) immer wieder eingehämmert, ein unabhängiges Schottland könne nicht ohne weiteres EU-Mitglied werden, während die EU-Mitgliedschaft als Teil Großbritanniens gesichert sei. Nun haben die Schotten mit einer weitaus größeren Mehrheit als für den Verbleib im Vereinigten Königreich für den Verbleib in der EU gestimmt und müssen diese trotzdem verlassen. Was hat das, bitte schön, mit Demokratie zu tun?

Weiterhin ist zu bedenken, daß eine solche Entscheidung irreversibel ist. Sobald die britische Regierung den Austritt offiziell in Brüssel bekanntgegeben hat, führt kein Weg mehr zurück, es sei denn über erneute Beitrittsverhandlungen.

Man sollte doch meinen, daß angesichts der tiefgreifenden Folgen eines Austritts etwas mehr als nur eine einfache Mehrheit im gesamten Vereinigten Königreich erforderlich gewesen sein sollte, insbesondere wenn man die demographische Übermacht Englands in der Union bedenkt.

Der wichtigste Einwand gegen den demokratischen Charakter des Referendums ist aber die Alternative auf den Wahlzetteln, die danach fragte, ob Großbritannien Mitglied in der EU bleiben solle. Das klingt zunächst eindeutig, ist aber das genaue Gegenteil. Die eine Option (Verbleib) konnte sich auf Daten und Fakten stützen. Wer mit Ja stimmte, konnte wissen, worauf er sich einließ, denn die Verträge, Gesetzgebung usw. sind öffentlich zugänglich. Ganz anders sieht es bei der Austrittsoption aus, denn niemand wußte oder weiß bis heute, was das eigentlich bedeutet und welche Folgen es haben wird. Von einem Pro-forma-Austritt, der im wesentlichen alles so beläßt, wie es war, bis zum radikalen Bruch, wie ihn die Extremisten unter den Tories und UKIP fordern, war und ist so ziemlich alles möglich. Mit einer derart vagen Frage kann man unmöglich Volkes Willen ermitteln, und es ist genau diese Art von Referendum, die gerne von autoritären Regimen benutzt wird, um sich über jedwede Art von Kontrolle hinwegzusetzen.

Die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien zeigen nun, daß genau dies der Fall ist. Theresa May, angeblich gemäßigt, aber, wenn man sich ihre öffentlichen Äußerungen als Innenministerin ansieht, ziemlich weit rechts stehend, betreibt nun genau die Politik, die Premierminister wie Major oder Cameron immer vermeiden wollten, weil sie weiß, daß sie eine Revolte der Extremisten politisch nicht überleben würde, denn ihre Legitimation ist noch schwächer als die Camerons.

Das alles ließe sich bei der nächsten Unterhauswahl korrigieren, aber bedeutsamer ist, daß die Regierung May das Abstimmungsergebnis nun dazu nutzt, das Parlament auszuschalten. May will ganz alleine bestimmen, was das Ziel Großbritanniens während der Austrittsverhandlungen mit der EU ist. Das Parlament soll zwar informiert werden und darüber debattieren dürfen, aber keine Entscheidungen treffen können – alles mit dem Hinweis auf das Mandat, das sich aus dem Volksentscheid ergebe.

Bisher wurden die Proteste von Parlamentariern mit dem Hinweis aus Downing Street abgeblockt, die Sache sei durch das Referendum entschieden, und man möge bitte nicht die Abstimmungskampagne wiederholen!

Auch der nächste große Coup ist schon angekündigt, nämlich das "Great Repeal Bill", mit dem das "ECA" aus dem Jahr 1972 zur Rolle der EU-Gesetzgebung in Großbritannien rückgängig gemacht werden soll. Das Gesetz an sich ist auf den ersten Blick das genaue Gegenteil seines Titels. Zwar wird das Gesetz aus dem Jahr 1972 aufgehoben, aber die EU-Gesetze sollen statt dessen direkt in nationales Recht überführt werden. Bedeutsamer ist aber, daß die Regierung sich damit einen Freibrief ausstellen will, alle betroffenen Gesetze auf eigene Faust und ohne Zutun des Parlaments zu ändern (als sog. "Secondary Legislation", dem Äquivalent zum deutschen Durchführungserlaß). Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine Art kleines Ermächtigungsgesetz, mit dem das Parlament entmachtet werden soll.

Der Ausgang ist noch offen, aber mit Demokratie hat das alles nichts zu tun.


Kommentar von R. M., verfaßt am 12.10.2016 um 10.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10617

Man könnte sich fragen, warum das Konzept der Demokratie überhaupt jemals Zustimmung erfahren hat, obwohl das Verfahren doch ständig sore losers hervorbringt.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.10.2016 um 12.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10618

Ich habe auch schon Volksentscheide unterstützt, in S-H zur Rechtschreibreform und zur Abschaffung des Senats in Bayern, beide erfolgreich.
Die Optionen waren in beiden Fällen sehr überschaubar, auch die denkbaren Folgen.
Im Gegensatz dazu versuchen die Briten nun zu verstehen, worüber sie eigentlich abgestimmt haben. Das kann noch eine Weile dauern.
Viele Amerikaner versuchen zu verstehen, wen sie eigentlich so weit unterstützt haben, daß er Präsidentschaftskandidat werden konnte...
Die alten Griechen mit ihrer unvergleichlichen Erfahrung in solchen Dingen wußten schon ziemlich viel über die "Entartung" der Regierungsformen.

Ich habe wohl schon mal die bekannte psychologische Erkenntnis erwähnt, daß jemand ein Auto oder eine Kamera, für deren Kauf er sich einmal entschieden hat, noch jahrelang für die besten hält, auch gegen jede Empirie. Das muß man auch bei Wahlentscheidungen berücksichtigen. Es sorgt für eine gewisse Beständigkeit und Verläßlichkeit, sonst gäbe es nur noch Wechselwähler, und das Regieren ware fast unmöglich.


Kommentar von R. M., verfaßt am 12.10.2016 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10619

Viele Amerikaner versuchen zu verstehen, weshalb ihnen eine Kandidatin angeboten wird, die an Parkinsons leidet, eine Theokratie in Syrien errichten lassen will, Rußland mit Krieg droht usw. usf.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.10.2016 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10620

Das ist vielleicht nicht so schwer zu verstehen. Einige unserer amerikanischen Freunde haben es sehr gut verstanden und wollten gerade deshalb Trump wählen, kommen aber jetzt doch ins Schwanken. So richtig Clinton-Begeisterte kennen wir gar nicht.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.10.2016 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10621

Es scheint, daß Schauspieler wie Ronald Reagan doch die besseren Chancen haben, zum US-amerikanischen Präsidenten aufgestellt und gewählt zu werden.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.10.2016 um 18.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10622

Hat Reagans früherer Beruf ihm bei der Wahl geholfen? Daran kann ich mich nicht erinnern.


Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 15.10.2016 um 19.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10623

Herr Schaefer, indem Sie schreiben, die "unerhörte Komplexität eines EU-Austritts" sei den wenigsten Wahlberechtigten bewußt gewesen, drücken Sie aus, daß Sie es besser wissen. Sich für weiser und weitblickender als gesamte Völker oder doch deren große Mehrheit gehalten hat sich u. a. auch eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern; in derselben Ecke ist die Hybris zu Hause, die Amerikaner kollektiven Irrsinns zu zeihen, die Bush junior und Trump für geeignete Präsidenten halten. Ich habe keinen Anlaß zu glauben, daß Briten und Amerikaner zu dumm sind, politisch kluge Entscheidungen zu treffen.

Volksentscheide eignen sich hervorragend zur Manipulation; es kommt immer darauf an, wer die Frage formuliert. Mit geschickter Wortwahl kann er das Ergebnis vorzeichnen.
Bei der Brexit-Abstimmung ist das aber nicht der Fall. Die einfache Entscheidung EU ja oder nein ist von der Formulierung und der Wahlmöglichkeit her optimal für einen Volksentscheid.

Das Zustandekommen der Brexit-Abstimmung mag undemokratisch gewesen sein oder nicht; das ist für die Frage, ob die Abstimmung demokratisch war, ohne Belang. Es gibt auch berechtigte Zweifel daran, daß die Bundestagswahl 1983 demokratisch zustande kam; die Wahl selbst war gewiß demokratisch.

Sollen Individualrechte Gegenstand einer Volksabstimmung sein? Ja, warum denn nicht?
Es geht hier auch nicht nur um die Rechte der Briten in der EU, sondern auch um die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien. Wer sollte darüber entscheiden, welche Rechte Ausländer erhalten, wenn nicht der Staat Großbritannien? Wer bildet den Staat Großbritannien, wenn nicht seine Bürger?
Die Briten haben Rechte in Europa. Sie zahlen aber auch einen Preis dafür. Warum sollen sie nicht Bilanz ziehen und gegenüberstellen, was sie von der EU haben und was sie einbüßen? Und wenn sie der Meinung sind, daß der Saldo negativ ist, warum sollen sie dann nicht die Konsequenzen ziehen?

Sie sagen, die Abstimmung sei deshalb undemokratisch gewesen, weil man wußte, worauf man sich bei einem Verbleib einläßt, nicht aber, was beim Austritt genau passiere.
Wirklich? Steht fest, wohin sich die EU entwickelt? Ist die EU noch immer der Club, dem die Briten 1974 beigetreten sind? Konnten sie damals voraussehen, wie die EU sich heute darstellt? Hätte Großbritannien eine Möglichkeit gehabt, sich innerhalb der EU einer Entwicklung zu entziehen, die es ablehnt?
Es ging den Brexit-Befürwortern um die Freiheit, Großbritanniens Zukunft ohne Brüsseler Vorgaben zu gestalten. Niemand weiß sicher, was dann kommt. So ist das mit der Freiheit – sie ist unsicher.
Und das war auch der große Vorteil der Brexit-Befürworter im Wahlkampf. Sie konnten die Freiheit preisen, sie konnten den Briten versprechen, das Joch der Knechtschaft unter Brüsseler Despotie werde abgeschüttelt. Die Aussicht darauf, was alles zu gewinnen ist, ist viel verlockender als das ängstliche Zetern, was alles zu verlieren sei.

Die EU ist ein bürokratischer Moloch und hat sich von der Idee der europäischen Völkerverbindung der Römischen Verträge weit entfernt. Sie ist nicht attraktiv für prosperierende Staaten. Island hat sein Beitrittsgesuch zurückgezogen, Norwegen hat sich mehrmals gegen einen Beitritt entschieden, Dänemark separiert sich.
Der Brexit muß auch keine britische Isolation bedeuten. Heinsohn hat neulich eine Art neue EFTA-Gruppe vorgedacht. Großbritannien, Irland, Island, die skandinavischen Staaten, die Niederlande, Flandern, Schleswig-Holstein und Hamburg in einer Freihandelszone. Warum nicht? Die Zukunft ist offen, Großbritannien ist frei.

Probleme hat vor allem Deutschland durch den Brexit. Die südeuropäischen Staaten dominieren die EU fortan noch stärker als bislang schon. Wird sich Deutschland im künftigen Kurs der EU hinreichend wiederfinden? Daran kann man begründet zweifeln.

Das Parlament in London ist jetzt natürlich aufgerufen, sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Das schafft es schon.
Und doch! Es ist selbstverständlich demokratisch, daß manche Schotten zwar das Königreich verlassen wollen, aber nicht die EU, und daß sie beides nicht können. Sie haben zweimal eine Abstimmung verloren. Es ist eben demokratisch, daß die Minderheit gezwungen wird, den Mehrheitswillen mitzutragen.
C'est la vie.

Ihre unsägliche Einlassung zu meiner Lehrtätigkeit werde ich nicht durch eine Erwiderung ehren.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2016 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10624

Zur Sache will ich mich nicht äußern, nur zum ersten Satz, weil er auch mich betrifft. Wenn man etwas für zu komplex erklärt, schließt das nicht ein, daß man selbst es durchschaut hat, nicht wahr?

Es erinnert mich an etwas, was ich schon einmal erzählt habe. Als ich noch PEN-Mitglied war, wurde ich gefühlt jede Woche aufgefordert, eine Resolution zu unterschreiben, die irgendeinen Fall in Süd-Watumbi betraf, mir bisher völlig unbekannt. Ich habe nie unterschrieben, weil ich jedesmal dachte: Das ist mir zu kompliziert, da müßte ich mich erst einarbeiten. Das ist doch nicht arrogant.


Kommentar von R. M., verfaßt am 16.10.2016 um 11.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10625

Alles ist immer irgendwie »unerhört komplex« und jede Folgenabschätzung unvollkommen – man denke nur an Eheschließungen und Scheidungsraten. Daher ist es besser, alle Entscheidungen an Experten zu delegieren, die sich bekanntlich nie irren.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.10.2016 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10626

Nicht alles. Die Rechtschreibreform nicht, die Abschaffung des bayerischen Senats nicht. Und am anderen Ende: die Wahl der nächsten Regierung auch nicht.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.10.2016 um 07.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10627

Im Wirtschaftsteil der FAZ ein weiterer von tausend Artikeln, mit denen man überall die Folgen des Brexit zu ergründen sucht: Zölle, nichttarifäre Handelshindernisse (Produktstandards usw.) wirken sich zum Nachteil beider Seiten aus. Die Berechnungen mögen zutreffen oder auch nicht - die Frage ist, ob die Brexit-Wähler das alles bedacht haben. Das ist natürlich ganz ausgeschlossen. Sobald man ins Konkrete geht, zeigt sich, daß man die Katze im Sack gekauft hat. Die Entscheidung muß deshalb nicht falsch sein.
Bei meinem Lieblingsbeispiel Rechtschreibreform war das ganz anders. Jeder konnte wissen, was die Beibehaltung der gewohnten Schreibweisen bedeutet - für ihn selbst und für die Sprachgemeinschaft.


Kommentar von R. M., verfaßt am 17.10.2016 um 08.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=202#10628

Die Argumentation, daß Schleswig-Holstein zur »Rechtschreibinsel« werde, war ähnlich gestrickt.



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